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Die Gartenlaube (1887)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[649]

No. 40.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Lisa’s Tagebuch.

Erzählung von Klara Biller.
Dresden, den 8. Juni 1886. 

Du willst wissen, wie sich Alles zugetragen hat, liebe einzige Lenotschka? Da hast Du die ganze ausführliche Geschichte — wem theilte ich sie lieber mit als Dir!

Denke nur, noch kein Monat, seit wir in Riga von einander Abschied nahmen, und so Viel schon erlebt! Ja, liebes Herz, nun bin ich recht froh, daß Mademoiselle Vertueux mich auf den Gedanken brachte, Alles aufzuschreiben, was mich interessirt. Damals schien’s mir so unnöthig.

Du erinnerst Dich doch an den Tag, wo Mama mich aus der Pension holte und Mademoiselle Vertueux sagte: „Ich glaube, es ist überflüssig, gnädige Frau, daß Lisa ihr Piano übt oder singt — sie hat gar kein musikalisches Gehör.“

„Wie schade — so soll sie fleißig malen.“

„Mademoiselle Lisa fehlt leider auch für die Kunst das heilige Feuer, ohne das man Nichts erreicht.“

„Mein Gott,“ rief Mama enttäuscht, „hat meine Jüngste denn gar keine Talente?“

„Professor Steinberg findet, daß Mademoiselle Lisa sich mit der Feder gar nicht übel ausdrückt, und wenn …“

„Pfui — ein Blaustrumpf! In unserer Familie ein Blaustrumpf — Horreur!“

„Gnädige Frau — Madame de Sevigné gehörte zur besten Gesellschaft, obgleich sie sehr gute Briefe schrieb. Lassen Sie Mademoiselle Lisa jeden Tag ein paar Seiten aufsetzen über ein Buch, das sie gelesen, oder einen Besuch, den sie gemacht hat, oder …“

Mama seufzte schwer.

„Es ist das Rechte nicht — nein, durchaus nicht, aber immerhin eine Beschäftigung. Und wenn man ein junges Mädchen ohne jede Beschäftigung läßt, so kommt es auf unnütze Gedanken.“

Die arme Mama! Ich weiß, was sie traurig macht. Sie liebt und bewundert uns sehr und ist nie glücklicher, als wenn Andere uns auch bewundern. Haben wir Gäste und Natalie singt, sieht sie wie verklärt aus. Sie behauptet, Dimitri habe sich zuerst in Nataliens Stimme verliebt. Auch auf die fein ausgeführten Bildchen von Julie ist sie sehr stolz. Sie giebt so viel Geld für Rahmen aus.

Mit meinen Stilübungen kann sie freilich keinen Staat machen; ich glaube, sie schämt sich ihrer sogar ein wenig. Arme, liebe Mama! Ich will sie ja auch Niemand zeigen! (Außer meiner herzallerliebsten Lenotschka, versteht sich!)

Mir selbst haben sie schon glückliche Stunden gemacht. Wenn man das Herz so recht voll hat und Niemand, dem man sich anvertrauen kann, fängt man mit sich allein zu reden an …

Aber nun ist’s genug — jetzt darfst Du das Buch aufschlagen — das ist ja eine ordentliche Vorrede geworden!


Dresden, den 10. Mai 1886. 

Mama hat sich in Frau von Pestov nicht getäuscht, obgleich sie diese doch nur zweimal gesehen hat. (Ich glaube, Mama täuscht sich nie!) Sie war wirklich eine sehr gute Reisebegleiterin. Als wir das Tücherschwenken unserer Lieben von der „Olga“ aus nicht


Schwarzblattl.0 Nach einer Gouache-Zeichnung von Hugo König.


[650] mehr sehen konnten, erzählte sie mir ihre Ankunft in Riga nach der ersten Reise ins Ausland. Es war das Einzige, was mich in dem Augenblick interessirte. Auf der See hatte sie immer einen Shawl bereit, um ihn mir über die Schultern zu werfen. Bemerkte sie aber eine Lorgnette, oder auch ein unbewaffnetes männliches Auge auf mich gerichtet, gleich nahm sie mich unter den Arm und sprach:

„Viens, filette! Il-y a des courants d’air par ici.“

(Als ob solche „Zugluft“ Einem schaden könnte!)

In Berlin brachte sie mich nach dem Bahnhof – sie reiste zwei Stunden später nach Paris und empfahl mich zwei alten Damen, die sich’s im Koupé eben bequem gemacht hatten. Dann küßte sie mich auf beide Backen (der Kuß stach ein Bischen!) und hielt mir eine kleine Rede.

„Springen Sie nur ja nicht aus dem Wagen, ehe der Zug wirklich still hält! Ich hoffe, wir sehen uns in der Heimath wieder … Beruhigen Sie sich, Lisa – Sie reisen ja in guter Gesellschaft zu lieben Verwandten!“

Bei dem Wort: Heimath, wurde mir nämlich auf einmal so weh – so weh ! Ich mußte mich zusammennehmen, nicht laut zu weinen. Es war nicht wegen Frau von Pestov; es war das letzte Stück Rußland, von dem ich mich trennte.

Ich steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus, damit man meine Thränen nicht bemerkte. Von der Gegend weiß ich nichts zu berichten. Ich sah nur unser liebes altes Haus in Fennern. Es war gerade die Zeit, wann Jürri anspannt. Da steht Papa gewöhnlich vor der Thür und unterhält sich mit den Pferden. Er behauptet, daß er ihnen gleich anmerke, wenn sie mit Jürri nicht zufrieden wären.

Manchmal denke ich, Papa interessirt sich mehr für Pferde als für junge Mädchen. Aber es ist eigentlich recht gut, da wird er nicht ungeduldig, wenn er auf Mama warten muß. Sie sieht noch so hübsch aus, wenn Röth sich viel Zeit zum Anziehen nimmt, es ist immer nur Röth’s Schuld, wenn sie spät herunter kommt. Julie wird nicht mitfahren, wenn die Sonne in Fennern so hell scheint wie hier. Sie wird am Hochzeitsgeschenk für Natalie malen. Natti aber ist zur Spazierfahrt immer bereit – da vergeht ihr die Zeit, bis der Brief von Dimitri kommt.

Ob Sultan mich wohl gesucht hat? Mein treuer, alter Sultan! Ach – mich findet jetzt Niemand in Fennern …

Warum bin ich eigentlich fortgegangen? Wenn ich Heimweh bekomme, werde ich Tante gar nicht aufheitern können, und dazu schickt man mich doch nach Dresden. Tante Therese ist einsam und traurig, weil Cäcilie sich verheirathet hat. Sie behauptet, da Mama drei Töchter hätte und sie ihre einzige eben fortgegeben, müsse Mama ihr eine von uns borgen, unter Geschwistern müsse man sich aushelfen.

Ob Mama auch traurig sein wird, wenn Natti heirathet? Wahrscheinlich nur ein Bischen beim Abschied, aber innerlich ganz froh. Wir sind ja auch drei! Und Mama sagt, wenn man so viele Mädchen hat und nicht viel Geld, da dankt man Gott, wenn eine versorgt ist. Dimitri ist, glaub’ ich, sogar eine gute Partie.

„Hinter einem Hauptmannsgerichtsassessor da steckt immer eine alte Familie und darum hat Jeder vor ihm Respekt,“ behauptete neulich Papa.

Wenn ich nur wüßte, ob Natalie sich auf ihre Hochzeit freut? Sie thut so versteckt. Neulich hat Dimitri sie geküßt. Ich stand an der Glasthür hinter dem Vorhang. Sie sah sich sehr erschrocken um, aber nur weil sie glaubte, Jemand hätte es bemerkt. Ich hatte angestoßen. Als sie mich nicht sah, ließ sie sich ganz ruhig weiter küssen.

Vielleicht ist es gar nicht so unangenehm von einem Mann geküßt zu werden, wie Fräulein Vertueux behauptet …

„Wollen Sie mir nicht ein wenig Platz machen, Fräulein, ich möchte meine Füße gern ausstrecken,“ rief da eine von den beiden alten Damen.

Ich bin gewiß über und über roth geworden. Wenn sie geahnt hätte, an was ich gerade dachte!

11. Mai. 
Gestern kam ich nicht weiter. Tante bemerkte Licht in meinem Zimmer, als sie vorüberging – dummes Schlüsselloch! Da klinkte sie auf und sah mich am Schreibtisch.

„Der Brief kommt morgen noch zurecht, mein liebes Kind,“ rief sie, „heut gehst Du gleich zu Bett. Von Rußland hergereist! Da mußt Du ja müde sein!“

Warum muß ich? Mich ärgert’s, wenn Jemand besser wissen will, wie’s in mir aussieht, als ich selbst. Ich war gar nicht müde. Aber ich fürchte mich noch ein Bischen vor Tante, und so machte ich schnell meine Mappe zu und verlöschte ein paar Minuten später das Licht. Natürlich dachte Tante, ich schreibe einen Brief. Woher sollte sie auch wissen, daß ich mein einziges Talent übte!

Jetzt fahre ich fort, wo ich gestern stehen blieb, heut hab’ ich mein Schlüsselloch verstopft.

Die alten Damen, mit denen ich reiste, waren Schwestern; Beide mehr noch zusammengeschrumpft als klein, und etwas altmodisch, aber mit so freundlichen Gesichtern, als habe ein Photograph ihnen eben zugerufen: bitte – lächeln!

Sobald ich nicht mehr zum Fenster hinaussah, fingen sie mit mir zu reden an. Die Sprache klang sehr weich und komisch, paßte aber zu ihren Gesichtern. Ich merkte bald, daß sie in Dresden zu Hause seien und herausbekommen wollten, wer die „lieben Verwandten“ wären, von denen Frau von Pestov gesprochen hatte.

Sie frugen immer abwechselnd. Die Eine – sie hatte ihre abgetragenen, sehr weiten dänischen Handschuhe ausgezogen, und ich bemerkte einen goldenen und einen silbernen Trauring – war lebhafter und immer um eine Frage vor der andern voraus.

„Das ist wohl Ihre erste Reise?“

„Nein. Ich war schon in Petersburg, mit Papa.“

„Petersburg? Dort muß es ja schrecklich zugehen …“

„Hatten Sie denn keine Angst?“

„Weßhalb?“

„Nun, vor den Nihilisten!“

„In die Luft gesprengt zu werden, wenn Sie in die Nähe von einem kaiserlichen Palast kamen?“

„Wir dachten gar nicht daran.“

„Also in Riga sind Sie zu Hause?“

„In Fennern, ein paar Meilen von Riga.“

„Fennern? … Julchen, den Namen muß ich schon gehört haben.“

„Er kommt mir auch recht bekannt vor.“

Ich schwieg.

„Wir haben in Dresden viele Russen …“

„Und wir kennen einige russische Familien; es sind charmante Menschen darunter, z. B. die Herrmanns …“

Ich schwieg weiter. Fragt nur – dachte ich – Ihr sollt es nicht herausbekommen.

„Wahrscheinlich reisen Sie zu Verwandten?“ fing die mit den Trauringen nach einer kleinen Weile wieder an. „Doch nicht zu den Wassiliev’s?“

„Meine Verwandten sind keine Russen.“

„So, so! Da hat sich Ihre Frau Mutter wahrscheinlich aus Deutschland nach Fenndorf …“

„Fennern.“

„… nach Fennern verheirathet?“

„Ja – meine Mutter ist eine Deutsche.“ (Sie kommen wahrhaftig näher und näher!)

„Es ist recht schlimm für ein so junges Mädchen, in einer stockfremden Stadt allein anzukommen – meinst Du nicht, Julchen?“

„Das Fräulein wird wahrscheinlich auf dem Bahnhof erwartet. Sie haben doch genau angegeben, mit welchem Zuge Sie reisen?“

„Ja – ich schrieb es.“

„Und wenn man Sie verfehlt, werden wir Sie beschützen.“

„Sehr gütig.“

„Sollten Ihre Verwandten in unserer Nähe wohnen, so könnten wir ja zusammen einen Wagen nehmen, falls Sie Niemand auf dem Perron fänden?“

Was blieb mir übrig? „Das Haus meines Onkels liegt an der Bautzener Straße,“ sagte ich.

„Ach!“ rief da plötzlich die Eine, wie von einer Erleuchtung betroffen – „Professor Borneth’s erwarten ja ihre Nichte aus Lievland!“

Ich war wüthend! Da hatten sie es wirklich heraus.

„Ja – ich besuche die Borneth’s.“

„Das hätten wir uns eigentlich denken können. Fällt Dir nicht eine gewisse Familienähnlichkeit auf, Julchen?“

„Ich war davon gleich frappirt, als das Fräulein in den Wagen stieg.“

[651] Beide betrachteten mich nun aufmerksam. Ich versuchte gleichgültig auszusehen.

„Professor Borneth soll jetzt die Hochzeit zu Kana für das Refektorium eines österreichischen Stiftes malen,“ sagte die Eine.

„Das ist aber nett, daß wir mit der Nichte eines so berühmten Malers gereist sind!“ bemerkte die Andere.

„Werden Sie lange in Dresden bleiben?“

Wenn das so fortgeht, dachte ich, werden Sie meine ganze Lebensgeschichte herausexaminiren, meine Leibgerichte und welche Kinderkrankheiten ich gehabt habe. Glücklicher Weise stiegen zwei Damen ein – gleich gekleidet: hellgeblumte Battistkleider, hellgelbe runde Strohhüte mit Tulpenbouquetts. Sie lenkten die Aufmerksamkeit von mir ab. Beide schienen sehr aufgeregt. Ein Herr, mit dem sie im anstoßenden Koupé gereist waren, hatte eine Theatergeschichte erzählt und ein andrer dabei ausgerufen: „Gut, daß wir keine jungen Mädchen unter uns haben, sonst kämen Sie mit Ihrer Geschichte schön an!“

„Für wie alt hält man uns denn eigentlich?“ rief die erste Hellblumige.

„Sobald man über Achtzehn ist,“ sagte die Zweite, „gehört man in Deutschland schon ins alte Register.“

Ich taxirte sie zwischen dreißig und vierzig.

Die Dresdenerinnen nahmen sehr viel Antheil und ließen sich die Theatergeschichte wiederholen. Alle Vier waren empört, daß Männer in Eisenbahnkoupé’s solche Geschichten erzählten.

„Diese Dinge mögen vorkommen,“ rief wieder die Erste, „aber man spricht doch nicht davon.“

„Man befleckt sich ja nur damit!“ sagte die Zweite.

Ich konnte nicht recht begreifen, warum sie selbst die Geschichte nacherzählten.

Dresden schien mir reizend vom Wagenfenster aus, ich freute mich schon auf den ersten Ausgang. Als der Zug in den Bahnhof einlief, nahm ich schnell Abschied von den alten Damen, denn ich erblickte Tante. Es war schon etwas dämmerig unter dem Dache des Perrons, und sie erkannte mich nicht, obwohl Mama eine Probe von meinem Reisekleid geschickt hatte. Einen Augenblick sah ich sie mir an; ich stand ganz nahe. Sie hat sich wenig verändert, seit sie uns vor drei Jahren besuchte; sie gleicht Mama, aber Mama ist jünger und hübscher. Tantens Gesicht ist schmal und gelb, ihre Nase sehr spitz. Neben ihr stand ein Herr in etwas nachlässigem Anzug; klein, etwas korpulent, mit ernsten schwarzen Augen. Man sah im Gesicht immer nur die Augen. Sollte das Onkel sein? Einen Künstler hatte ich mir anders gedacht. Aber er war es. Tante, die sich ein goldenes Lorgnon vorhielt und nach der mir entgegengesetzten Seite blickte, sprach zu ihm:

„Natürlich hat sie sich verspätet und den Zug versäumt.“

„Das arme Kind – wie mag sie sich nun ängstigen!“ rief er.

Die Stimme klang sehr zutraulich. Ich hielt’s nicht länger aus und flog auf Tante zu:

„Hier bin ich ja!“

Sie küßte mich. „Grüß’ Dich Gott, Lisa! Wie hätte ich unsere kleine Wilde von damals auch erkennen können, die uns über den Kopf gewachsen ist! Da – gieb Deinem Onkel einen Kuß!“

„Willkommen, Elisabeth!“ rief dieser und drückte meine beiden Hände kräftig in den seinen, während die ernsten Augen mich ununterbrochen fixirten: „Ein kräftiger Typus! Das schlägt nicht in Deine Familie, Therese … und was sie für Augen hat! He – was sagst Du zu diesen Augen?“

Er sprach, als ob er vergessen hätte, daß ich dabei stand. Tante stieß ihn an:

„Sieh’ lieber nach ihrem Gepäcke, damit wir nun endlich nach Hause kommen.“

Ich hatte aber doch gemerkt, daß ich Onkel gefiel. Und man fühlt sich gleich so viel wohler in seiner Haut, wenn man das weg hat.

Eine reizende kleine Erkerstube ist für mich eingerichtet. Sie ist voll von neuen Möbeln und Kuriositäten. Auf dem Kamine steht eine blaue Pendüle von altem Meißner Porcellan mit einem Schäferpaar. Die Thürklinken sind von Krystall. Ueber der Thür ist ein Panneau eingelassen: darauf sechs Pierrots mit Angelruthen an einem Bache; einer immer kleiner als der andere, jeder hat einen rothen Schirm aufgespannt, man sieht, es regnet. Onkel hat das gemalt. Ich schlafe in einem Himmelbette mit blauseidenen Gardinen, und vom Kopfkissen aus kann ich die Elbe sehen mit vielen Schiffen, die Brücken und die Brühl’sche Terrasse. Ach! es ist himmlisch hier!

Aber, mein liebes altes Fennern, denke nicht, daß ich dich darüber vergesse; nie, nie will ich dir untreu werden!

12. Mai. 
Den ersten Tag – das war gestern – sehr zeitig aufgestanden. Ich konnte es gar nicht erwarten, mich umzusehen. Meine Koffer ausgepackt und eingeräumt. Von meinem kleinen pain-brûlé Kapothütchen sind die Federn etwas zerdrückt, aber das weiße Kleid mit den reizenden wolkigen Garnituren ist sehr gut angekommen. Röth kann stolz auf ihr Einpacken sein.

Ich kämmte mein Haar, als es klopfte.

Mein Schreck!

„Wer?“ frug ich.

„Mache nur auf, Kind!“

„Tante!“

Und bereits vom Spaziergattg zurück, in einem großen runden Strohhut mit Mohnblumen. Sie trinkt Brunnen und hatte mich vom Garten aus bemerkt.

„Stehst Du immer so zeitig auf?“

„Wenn es so viel Neues zu sehen giebt!“

„Aber die Reise – Du mußt ja noch angegriffen sein!“

Ich versuchte wie gewöhnlich mein Haar in einen großen Knoten zu schlingen, war aber sehr ungeschickt, weil Tante mich durch ihre Lorgnette betrachtete.

„Ich möchte, daß Du Dein Haar höher stecktest, Lisa. Alle Welt trägt das Haar jetzt hoch.“

„Meine Frisur gefällt Onkel, er sagt, sie zeigt die Kopfform.“

„Laß Dir nur von einem Maler nicht zu viel weismachen. Onkel versteht, was zu einem Bilde gehört. Aber für das, was comme il faut ist, hat er kein Auge.“

Beim Frühstück giebt Onkel mir Recht.

„Du wirst mir das Kind schön verwöhnen!“ sagt Tante.

„Das Kind – das Kind! Ei – solche Kinder sind zum Verwöhnen da!“

Es gefällt mir nicht, daß er klein und etwas dick ist, aber ich glaube, es steckt in ihm ein Prachtonkel.

Den 14. Mai. 
Heute gingen wir nach dem Frühstücke ins Atelier. Es nimmt einen großen Raum im Hause ein, beinahe die Hälfte. Man kann vom Garten aus eintreten, aber auch vom ersten Stock auf einer entzückenden Wendeltreppe hinuntersteigen. Zu beschreiben ist es nicht, weil so viel Dinge darin stehen, von denen ich die Namen nicht weiß. Aber ich habe nie etwas so Herrliches gesehen. Wenn ich mich umblicke, so ist mir, als ob ich Musik mit den Augen hörte.

„Du bist ja ganz aufgeregt, Lisa,“ sagt Tante.

„Es gefällt mir so gut hier.“

„Weil Du nicht aufzuräumen hast und die Spinnweben in den Ecken nicht bemerkst.“

Sie schüttelte dabei an einem Gobelinvorhang und blies den Staub von kleinen geschnitzten Figuren ab.

Onkel aber zog den Vorhang von dem großen Bilde, das in der Mitte steht und von dem die alten Damen im Waggon gesprochen hatten. Es ist noch nicht fertig; ein paar Figuren sind nur angelegt.

„Das ist die Hochzeit zu Kana im Augenblick, wo das Wunder geschieht“ – er beobachtete mich dabei, als ob ihm darauf ankäme, daß ich es schön fände, ich – Lisa! „Fällt Dir etwas auf?“ fragte er.

Der Bräutigam fiel mir auf. Ich fand ihn schöner als Dimitri, aber er erinnerte mich an diesen. Dimitri legt den Arm gerade so zärtlich um Natti’s Schulter. (Wenn sie’s ihm erlaubt! heißt das.)

„Nun – so sprich doch!“

Ich hätte gern gewußt, ob dieser Bräutigam wirklich existirte. Aber das wollte ich doch nicht fragen.

„Malst Du nach wirkkichen Menschen?“ sagte ich endlich.

„Und das ist Alles, was ihr bei diesem Bilde einfällt!“ Die Stimme klang fast traurig.

Ich fühlte, daß ich etwas Dummes gesagt hatte – er schien enttäuscht zu sein. Verlegen blickte ich zu Boden …

[652]

Die Aebtissin von Frauenchiemsee.
Nach dem Oelgemälde von C. v. Piloty.

[653] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [654] Da schoß er plötzlich wie ein Raubvogel auf mich zu, faßte meinen Kopf mit beiden Händen und schrie:

„Rühre Dich jetzt nicht, Elisabeth – hörst Du? Das ist endlich die Stellung, nach der ich so lange gesucht! … so – die Augen dorthin“ – er schob mit dem Fuß einen Pinsel nach der Stelle – „kannst Du still halten?“

„Ja!“

Ich zitterte vor Schreck und wußte gar nicht recht, was er eigentlich von mir wollte.

„Still also! – Ich hole nur meine Palette …“

Da rief mich Tante, die hinter einer spanischen Wand wirthschaftete und nichts gehört hatte. Unwillkürlich wandte ich mich um.

„So – da ist die ganze Stellung wieder hin!“ schrie Onkel und stampfte mit dem Fuße auf. „Es ist zum Tollwerden mit Euch Frauenzimmern! Da ist auch nicht Eine, die fünf Minuten ruhig auf ihren Untergestellen bleiben kann! Himmeldonnerwetter, Therese – was hast Du mir da wieder angerichtet! Endlich hat man die Bewegung – paff, ist sie wieder hin!“

Das Letzte galt Tante, die hinter ihrer spanischen Wand zum Vorschein kam. Er schleuderte dabei die aufgesetzte Palette zur Erde, lief mit großen Schritten hin und her und rollte die Augen. Ich weinte und bewunderte Tante, die ihre Ruhe nicht verlor.

„Das findet sich ja Alles wieder, Karl!“ rief sie mit ihrer gewöhnlichen Stimme, „freilich, wenn Du wie ein bengalischer Tiger herumfährst und das arme Kind zum Fürchten bringst, die zum ersten Mal einen Maler in seinem Revier sieht, wird sie schwerlich mit Dir allein bleiben wollen. Da – das hast Du verschuldet!“

Mein Weinen hatte sich bei Tantens Worten nämlich zum Schluchzen gesteigert. Es rührte ihn nicht.

„Ruhig, Lisa!“ flüsterte Tante mir zu – „wenn er rabiat wird, malt er immer am besten.“

Dann bückte sie sich nach der Palette, die mit der Farbenseite auf einem türkischen Teppich lag.

„Liegt Dir etwas an dem Teppich, Karl?“ frag sie ganz ruhig – „so gieb mir den Spartel, damit ich ihn reinige, so lange es noch Zeit ist.“

Er hielt einen Augenblick im Laufen inne und reichte ihr das Farbenmesser, mit dem sie vorsichtig die Farbe vom Teppich abhob und auf einen Porcellanscherben setzte. Darauf entfernte sie die Flecken mit Terpentin.

„Nun wollen wir Onkel aber ungestört lassen und uns zurückziehen – hörst Du, Lisa?“

Wie mit Absicht sprach sie laut.

Er kam schnell auf mich zu.

„Das fehlte noch, daß Du sie mir jetzt entführst!“

„Wenn sie Lust hat zu bleiben – mir ist’s recht.“

Schnell trocknete ich meine Thränen, denn ich hatte große Lust, auf dem herrlichen Bilde als Braut gemalt zu werden, und ich merkte wohl, daß es ihr Kopf sei, für den er mich brauchte. Er war nur mit ein paar Kohlenstrichen angedeutet.

„Ich will mir so viel Mühe geben, Onkel!“

Er sagte nichts, warf mir aber eine weiße Draperie über, ließ einen Vorhang hinter mir herab und warf dann ein Kissen auf ein großes bretternes Gestell. Auf das Kissen mußte ich mich setzen. Ich versuchte sogleich meinen Kopf in die Stellung zu bringen, die ihm vorher gefallen hatte. Es gelang mir.

„Du bist intelligent, Elisabeth,“ rief er, „nun will ich sehen, was Du im Stillhalten leisten kannst.“

„Da soll er mich kennen lernen!“ dachte ich.

Er hatte nach einer zweiten Palette gegriffen, die „aufgesetzt“ an der Wand hing, und begann zu malen. Ich bewegte mich nicht. Ein paar Thränen, die einmal im Rollen waren, trank ich mit den Lippen auf, um ihn nur nicht zu stören. Er sprach nicht, manchmal hörte ich ihn tief athmen, sonst war Alles mäuschenstill.

Wie lange ich gesessen, weiß ich nicht. Erst schien mir’s leicht, dann wurde mir der Hals sehr steif, alle Glieder thaten mir weh, aber ich wagte nicht, mich zu rühren.

„Bravo – bravo!“ rief Onkel ein paar Mal. Das war immer wie Balsam – ich biß da die Zähne zusammen und blieb unbeweglich.

„So – jetzt komm einmal her, Lisa!“ rief er endlich.

Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht. Da merkte er, wie steif ich war, sprang auf, streichelte mich und rieb mir Arme und Nacken ganz zärtlich.

„Da sieh einmal, was ich angerichtet habe! Wie man sich vergessen kann! Warum hast Du Dich nicht beklagt, mein armes Kind?“

Ich war selig. Für einen gewöhnlichen Menschen einen steifen Hals zu bekommen – was ist das? Aber für einen großen Künstler zu leiden, der in seiner Leidenschaft gleich Jemand umbringen könnte – das ist wohl etwas Anderes!

Er führte mich vor das Bild, wieder den Eindruck beobachtend, den seine Malerei auf mich machen würde.

„Onkel – so schön soll ich sein?“

„Wir sind nur Stümper neben der Natur!“ sagte er ernst. Eine Minute später aber rief er in einem ganz munteren Tone:

„Was der Kanaer sich für einen hübschen Schatz ausgesucht hat – he, Elisabeth?“

Er gefällt mir noch viel besser als sie.“

„Ei, sieh einmal an! Gut – das muß ich ihm wiedersagen.“

„Um Gotteswillen, Onkel! Ist das ein wirklicher Mensch?“

„Sogar ein wirklicher Mann!“

„Wer ist es?“

„Herr Heinrich …“ Und wie in Gedanken fing er leise zu singen an: „Herr Heinrich saß am Vogelherd“, während er mit seinem großen breiten Daumen in der frischen Farbe herumtupfte.

„So, Lisa“ – sagte er nach einer Weile – „wir können mit unserem Tagewerke heute zufrieden sein! Uebermorgen nehme ich Dich noch einmal vor. Wenn Du den bengalischen Tiger nicht fürchtest – heißt das!“

„Ach, Onkel!“ Da mußte ich ihn gleich umarmen.

„Nun geh’ aber und sag’ Deiner Tante, sie soll zusehen, daß wir bald etwas Ordentliches zu essen bekommen – hörst Du?“

Während ich die weiße Draperie zusammenlegte, begann er wieder mit auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab zu gehen. Diesmal ruhiger. Er pfiff dabei. Ich hatte noch nie so schön pfeifen hören.

„Er pfeift!“ sagte Tante, als ich heraus kam, „da hat er gut gemalt. Du siehst, es war nicht gefährlich.“

„Ah – Tante, wie hab’ ich mich vor ihm gefürchtet!“

„Wie ein Kind vor dem Donner! Merk’ Dir das: die Spektakelmacher, das sind die schlimmsten Männer nicht, man muß sie nur zu behandeln wissen!“

(Fortsetzung folgt.) 




Die Aebtissin von Frauenchiemsee.

Inmitten der weiten Chiemseefläche, durch breiten Wasserspiegel geschieden von dem Hochgebirg und dem zu seinen Füßen dahinbrausenden Reiseverkehr, liegt wie ein Eiland des Friedens das stille Frauenwörth. Alte Lindenbäume überschatten die Klostermauern; einfache Fischerhäuser liegen darum her in Obstgärten zerstreut; Morgens und Abends schallt das Glöcklein über die Wasser hin und ruft die frommen Frauen zur Matutina und Hora, wie es vor länger als tausend Jahren ihre Vorgängerinnen gerufen hat. Wer in der Stille einer schönen Sommerfrühe von dem treibenden Kahn aus dort Umschau hält, der kann leicht seine Gedanken zurückfliegen lassen in die Zeit, da Herzog Tassilo das Kloster gründete – viel anders als heute kann die Umgebung nicht ausgesehen haben. Die Wälder am Ufer sind allerdings zurückgewichen, aber im alten Glanz schimmern die Schneehäupter der Alpen, leuchtet der Seespiegel unter den blühenden Obstbäumen; am Gestade liegen die Einbäume, in denen schon der Pfahlbauer fuhr, und das Münsterportal zeigt die uralt-romanischen Säulen, die auf fratzenhaften Löwenköpfen ruhen, Zeugen der ersten deutschen Kaiserzeiten. Die Kirche freilich und das Kloster sind nicht mehr die alten, mehrfacher Brand hat sie in Asche gelegt, und im Laufe seines tausendjährigen Bestandes sah das Kloster neben guten und friedlichen auch viel wilde und [655] böse Zeiten. Von den Hunnenstürmen an bis zum Dreißigjährigen Krieg und darüber hinaus mußten die frommen Frauen vielmals in Todesangst um das Schicksal ihrer Insel sorgen, wenn drüben am Ufer die feindlichen Haufen sichtbar wurden.

Es that also oft genug Noth, daß die Aebtissinnen von Frauenwörth ein entschlossenes Herz und einen festen Muth hatten, und in der That fehlte ihnen Beides nicht. Von Irmengard an, der Tochter Ludwig’s des Deutschen, die wegen strenger Heiligkeit berühmt war und auch dem Kloster ihre königliche Krone hinterließ als Schmuck der Aebtissin bei feierlichen Gelegenheiten, beginnt eine lange Reihe frommer und pflichteifriger Frauen, die in bewegten Zeiten der anvertrauten Herde zum Schutz und ihren Unterthanen zum großen Segen gereichten, denn sie wehrten sich selbst und schützten ihre Unterthanen herzhaft gegen die Raubgelüste der adeligen Herren rings um den See, ja sie widerstanden sogar mit Erfolg den Bischöfen von Salzburg, die stets ein begehrliches Auge auf das Stift und sein reiches Eigenthum gerichtet hielten.

Das Kloster stand im 13. Jahrhundert schon in hoher Blüthe und konnte Etwas an die Verschönerung seiner Kirche durch Steinmetzarbeit und Altartafeln wenden. Seine liegenden Gründe reichten weit nach Tirol und Salzburg hinein, und als 1467 die Aebtissin Magdalena Auer einen Tag ausschrieb zur Ordnung der Lehensverhältnisse, da erschienen über hundert Lehensträger, darunter Herzog Sigismund von Oesterreich, und brachten reiche Geschenke.

Ihre Nachfolgerin, Frau Ursula Pfäffinger, sah schlimmere Zeiten. Der Landshuter Erbfolgekrieg tobte nach Herzog Georg des Reichen Tod (1503) im Lande und die Fraueninsel mußte auf unliebsamen Besuch gefaßt sein. Da ließ die entschlossene Aebtissin ihr Kloster mit Palissaden und Thoren befestigen und stellte unter Anleitung ihres Vetters, Herrn Hansen Herzheimer’s, der den frommen Frauen ein rechter Trost gewesen sein mag, neun Stück Geschütze auf. Freilich wurde bei dieser Maßregel wohl in erster Linie der moralische Eindruck in Betracht gezogen, denn jene „Stücke“ fügten einem Feindesheer noch keinen großen Schaden zu. Aber die gehoffte Wirkung blieb nicht aus: es geschah kein Angriff und der Klosterfriede wurde nicht gestört.

Viel schwerere Zeiten hatte das Kloster während des Dreißigjährigen Krieges durchzumachen: unerschwingliche Steuern wurden ausgeschrieben, im Jahre 1623 forderte der Kurfürst Maximilian von Frauenchiemsee allein 5000 Gulden. Da die Aebtissin so viel bares Geld nicht aufzubringen vermochte, so sandte sie schweren Herzens das gesammte Klostersilber als Unterpfand nach München. Es folgten nun, wenn der Krieg auch nicht unmittelbar im Lande tobte, entsetzliche Jahre voll Noth und Mißwachs, harte Winter und kalte Regensommer, das Kloster mußte überall helfend eintreten, seinen Unterthanen Zins und Kornlieferung erlassen und Scharen von armen Flüchtlingen, die keinen Unterhalt mehr hatten, aufnehmen. Die edeldenkende Aebtissin Magdalena Haidbucher jammerte nicht über die Last und die großen Unkosten, sondern über das Elend ihrer Leute. „Unser lieber Herrgott gäb Gnad, damit die armen Unterthanen wieder zu Haus khomben mögen!“ schrieb sie 1634 in das Tagebuch, welches sie vom Anfang ihrer Regierung bis zum Ende treulich führte.

Besonders furchtbar für Südbayern und den Chiemgau wurde das gräuliche letzte Drittel des Krieges, wo mit dem Verschwinden der großen Feldherren Gustav Adolph, Wallenstein, Bernhard von Weimar auch die großen Ziele verschwanden und der gemeine Raub- und Plünderungskrieg Deutschland verwüstete. Wiederholt mußte das Kloster die feindliche Invasion erwarten, die Zahl der Flüchtlinge, die hilflos und verzweifelt ankamen, wuchs, denn auch die bayerischen und österreichischen Truppen, welche den Schweden den Uebergang über den Inn wehren sollten, hausten nicht weniger bestialisch als der Feind. Kein Pferd, kein Rindvieh mehr war in der Umgegend zu finden, die Bauernhöfe waren ausgebrannt; die Bewohner lagen erschossen am Wege. Unter solchen Umständen gehörte wohl außergewöhnlicher Muth und unverzagtes Gottvertrauen dazu, um an der Spitze der geängsteten Frauenschar festzustehen und allen Wechselfällen die Stirn zu bieten, wie die Aebtissin Magdalena that.

Es kamen die letzten, schlimmsten Kriegsjahre, wo die Schweden noch einmal mit Hochdruck auf die Innlinie stürmten und Kurfürst Maximilian mit Verzweiflung sah, daß dieser Krieg, den er fanatisch hatte anschüren helfen – wie er ihn auch als einziger der Fürsten ganz erlebte und überlebte – ihm sein Land zur ausgebrannten Wüste machte. Er mußte vor den andringenden Schweden nach der österreichischen Grenze flüchten, alle Städte auf ihrem Wege, außer München, wurden mit Mord und Brand verheert.

„Unmöglich,“ sagt Frau Magdalena, „ist es zu beschreiben, welches Elend unter den Menschen gewesen. Viele hielten sich in den Wäldern auf, nicht wissend, von was sie leben sollten, also daß die Leidt nit anders ausgesehen, denn wie die wilden, als wär’ die Haut über ein Bein gezogen, ganz schwarz und gelb.“

Die Flucht riß Alles mit fort, jeder feste Platz wurde um Aufnahme bestürmt und eine wahre Springfluth von geistlichen und fürstlichen Gästen ergoß sich über die Fraueninsel. Die Aebtissin nahm Alle auf, ungeachtet ihrer eigenen schweren Sorgen, war Allen zu Rath und Trost und bewies in dieser Zeit, daß die frommen Liebeswerke einer edeln Frau die Kriegsthaten der Feldherren in Schatten stellen können.

Als nun im Juni 1648 die Kunde kam, die Schweden lägen vor Wasserburg, als man ihr schweres Geschütz Tag und Nacht auf der Insel donnern hörte, da ergriff große Verzagtheit alle Gemüther. Nun schien Alles verloren und das Ende des Bayernlandes gekommen. Niemand zweifelte einen Augenblick, daß der Feind den Inn überschreiten werde. Die Mönche der nahen Klöster Herrenchiemsee und Baumburg flohen, dringlich stellte man Frau Magdalenen vor, ein Gleiches zu thun und die ihr Anvertrauten in Sicherheit zu bringen. Sie aber verlor keinen Augenblick den hohen Muth, der sie bis dahin beseelt, und erwiederte Allen, sie verlasse sich fest auf den Schutz Gottes, der bis dahin das Kloster gnadenvoll behütet habe. Ihrer Pflicht bis zum Aeußersten kam sie nach, indem sie die ängstlichsten Schwestern nach dem Salzburgischen flüchtete und gut unterbrachte, sie selbst aber harrte dann mit sieben anderen muthigen Frauen in dem verlassenen Kloster aus, vor dem Hochaltar den Allmächtigen und die Himmelskönigin um Trost und Beistand anrufend.

Und die Gefahr ging vorüber; die Schweden zogen ab, das Kloster blieb verschont, als habe der Himmel beschlossen, durch ein sichtbares Wunder die Standhaftigkeit der Aebtissin zu belohnen. So deutete wohl die Volksphantasie die merkwürdige Thatsache, so stand sie jedenfalls vor dem schaffenden Geiste des Künstlers, der in einem bedeutsamen Bild den ganzen Jammer der Zeit, die ganze siegreiche Hoheit der Aebtissin Magdalena zusammenfassen wollte und deßhalb den sagenhaften Auftritt am Münsterportal malte.

Es ist ein schönes Vorrecht der Kunst, dasjenige mit einem lieblichen Symbol umkleiden zu dürfen, was die Geschichte in trockenen Worten berichtet, und alle großen Künstler haben davon Gebrauch gemacht. Auch Piloty liebte es, den spröden Stoff in freier Um- und Nachdichtung künstlerisch bildsam zu gestalten und dort die dichterische Phantasie walten zu lassen, wo der historische Bericht schweigt. Die historische Wahrheit im höheren Sinn hat er deßhalb doch für sich: so wie uns hier die Aebtissin an der Spitze ihrer Frauen entgegentritt, die beutelustigen Schweden mit einer hoheitvollen Bewegung aus der Nähe der Gottesmutter wegscheuchend, daß sie, von Ehrfurcht ergriffen, zurückweichen und die beabsichtigte Plünderung nicht zu vollziehen wagen: so steht sie in der That auf dem Hintergrund ihrer stürmischen Zeit, eine starke, fromme und heilige Frau, die treu und unverzagt ihres anvertrauten Amtes waltete.

Sie erlebte noch den Klang der Friedensglocken, die über das arme Deutsche Reich hintönten und Schmerz- und Freudenthränen aus den Augen der glücksentwöhnten Menschen preßten; sie sah ihre Unterthanen zurückkehren und die schwarzverkohlten Häuser aus Schutt und Trümmern wieder aufrichten. Dann nahte ihr ein sanfter Tod; sie starb 1650 im Alter von 74 Jahren, wovon sie 60 im Kloster und 41 als Aebtissin verlebt hatte. Ihr Andenken ist es wohl werth, im Gedächtniß der Nachwelt zu bleiben! R. A.     



[656]

Musikalischer Versuch.
Nach dem Oelgemälde von Hugo Kauffmann.

[657]

Vor Metz.

Eine Kriegserinnerung an den 16. August 1870.
Von E. v. Wald-Zedtwitz.

Wie hieß es doch, das alte Château? – – Château – Mon – Monte – Montagnard! Richtig!

Es sah aus wie ein Mausoleum im großen Stile. Graue, düstere Mauern, darin Fensterchen, schmal und winzig und in so geringer Zahl, daß man nach ihnen suchen mußte. Vier spitze, altmodische Giebel sahen nach allen vier Richtungen der Windrose aus, hinter ihnen strebte das Dach zusammen, von einem ehemals wohl vergoldeten, jetzt aber rostbraunen, im Verhältniß zu dem Ganzen viel zu großen Kreuze gekrönt.

Unheimlich – und dennoch das freudig ersehnte und jubelnd begrüßte Ziel meiner Kompagnie sowie ihrer Officiere und ihres Führers. Ein „höllischer“ – ein Kriegsmarsch im wahren Sinne des Wortes war’s gewesen. Heute Morgen noch einige Meilen hinter dem Schlachtfelde des 14. August, dann quer über das Leichenfeld hinüber – ein unerfreulicher Weg, um eine Stunde von Novéant diesseit der Mosel in Château Montagnard Alarmquartiere zu beziehen, denn das alte Raubnest lag mitten in dem eisernen Ringe, welcher sich nach und nach um den Riesenleib der Jungfrau Metz schmieden sollte.

Alarmquartiere! Also nach vierzehn Tagen wieder einmal eine Decke über den Kopf, Dielen unter den Füßen und – wenn’s Glück gut ist – eine Matratze oder ein ehemaliges Luxussofa, auf dem sich die ermüdeten Glieder strecken können.

Was das bedeutet, wenn man vierzehn Tage nur den griesgrämigen Regenhimmel, dem am Tage die Sonne, in der Nacht Mond und Sterne den Dienst versagten, über sich, einen sumpfigen Wiesengrund oder den Sturzacker unter sich spürte, wo selbst dem Anspruchsvollsten eine Schütte Stroh als ein kostbares Geschenk erschien!

„Château – feudaler Sitz – Haushofmeister – seidene Strümpfe und Schnallenschuhe – geflüchtete Marquise – Weinkeller – uralter Bordeaux – Veuve Cliquot – Küchenjunge – Bratenspieß – – das Wasser läuft mir schon im Munde zusammen – Poularde de BrestDindon aux truffes etc.“ – deklamirte der Premierlieutenant meiner Kompagnie, Maximilian von Westenberg.

Je näher wir dem alten Bau kamen, desto unwahrscheinlicher wurde es, daß er die Heimstätte der angenehmen Begriffe war, welche diese Worte bezeichneten.

„Rattennest – Burgverließ – hu – Gespenster – Knochengerüst – Särge – trockenes Brot und Wasser – Hunger – Durst –!“ deklamirte von Westenberg wieder.

„Schadet nicht, doch wenigstens ein Obdach!“ Damit suchte ich mich selbst und ihn zu trösten.

Von allen Seiten Soldatenströme. Metz zog, was kampfgerüstet war, magnetisch an, Château Montagnard schien ein Brennpunkt zu sein, ein Zankapfel war es jedenfalls. Der dicke Rittmeister der württembergischen Ulanen wenigstens versuchte es mir so energisch streitig zu machen, daß ich endlich die Hilfe meines Brigadekommandeurs in Anspruch nehmen mußte. Der arme, wohlbeleibte Württemberger! – Mutter Grün bot ihm und den Seinigen auch heute wieder Nachtquartier.

Westenberg hatte leider mit seinen letzten Stichworten das Richtige getroffen: alte, verwetterte Räume, dumpfe, eingeschlossene Luft, kaum trockenes Brot, Dindon aux truffes ein mehr als kühnes Phantasiegebilde – und statt des Haushofmeisters in Escarpins und Schnallenschuhen eine alte, griesgrämige, schlumpige Hexe als Cerberus dieses reizlosen Heims.

Meine Kompagnie ist in den zerfallenen Ställen und im sogenannten Ahnensaal untergebracht, obgleich auch nicht ein einziges Bild des Rittergeschlechts Montagnard diese Bezeichnung rechtfertigt – wahrscheinlich sind die alten Gemälde irgendwo versteckt oder die Ratten haben sie aufgefressen.

Ich liege auf einem zerschlissenen, mit großblumigem Seidenstoffe überzogenen Staatssofa in einem Zimmer des unteren Stockes. Neben mir auf einer zerflederten Matratze Premierlieutenant von Westenberg; in einer eisernen Bettstelle der Lieutenant Mackowski, ein geborner – wie wir seiner Sprache wegen scherzten, „gebrochener“ – Pole, und Fähnrich von Ucker balancirt auf einem dreibeinigen Rokokostuhl, der in besseren Tagen vier Füße und reiche Vergoldung aufzuweisen hatte.

Trotz der vorgerückten Jahreszeit haben wir uns im Kamin ein Feuer angezündet – dennoch ist uns zu Muthe, als säßen wir im Keller. Dem Fähnrich ist das Amt des Koches zugefallen, er ist für den Punsch verantwortlich, der im Feldkessel seine ersten Wallungen versucht.

„Fertig, Fähnrich? – Kosten!“

„Hm – da fehlt noch Gewürz, Citrone – und Gott weiß was.“

„Wahrscheinlich Alles! Haha –!“

„Ich werde doch einmal eine Rekognoscirungspatrouille übernehmen, ob nicht – für Geld und gute Worte –“

Er ist schon hinausgegangen – – und richtig, nach kurzer Zeit kehrt er nicht allein mit den kostbaren Gewürzen zurück, sondern hinter ihm erscheint, im höchsten Diskante lachend, die alte Schloßwardeinin, zwei bestaubte Flaschen unter dem Arme. Er selbst brüllt vor Lachen.

„Das Donnerwetter, Fähnrich, wie haben Sie denn das angefangen?“

„Rathet, Messieurs, rathet und bewundert meinen Opfermuth – haha!“ entgegnet der Junker.

„Hihihi!“ kichert dabei die Alte.

„Das ist unbezahlbarer Kognak! Für Geld ist er zum zweiten Male nicht in ganz Frankreich zu haben – hahaha!“

„Hihihi –“ hört man immer noch die Alte, und dabei laufen ihr die Thränen über das faltige Gesicht. Wie ein Raubvogel sieht sie aus.

„Nun für was denn, Junker?“

„Für – für – haha – für einen Kuß!“

„Einen Kuß!? – Mensch, Sie sind des Deibels! Sie – haben – – – der alten – Kartaune da –!?“

„Für einen Kognak von Anno 1847 – natürlich – das Leben gäbe ich darum!“ ruft vergnügt der Fähnrich. „Die alte Hexe wollte ja nun einmal durchaus einen Kuß von einem preußischen Junker haben.“

Wir hörten noch immer das schrille Lachen der Frau, doch nach und nach ging dasselbe in ein Schluchzen über, und endlich weinte sie laut auf. Der Eindruck war eigenthümlich, wir schwiegen und sahen uns betroffen an.

„Na, Alte, lag Euch denn gerade an einem Kuß von einem preußischen Junker?“

Sie nickte und weinte nun still vor sich hin.

„Aber warum mußte es denn gerade ein Junker sein?“

Sie wurde still, starrte ins Feuer, und als ich mir das jetzt durch den Widerschein der Flammen lebhafter gefärbte Gesicht näher ansah, bemerkte ich erst, daß ihre Züge noch immer edle Linien zeigten und daß sie in der Jugend gewiß schön gewesen war. Ihr eingefallener Busen kämpfte, tiefe Bewegung zuckte über ihr Gesicht.

„Das sind so Erinnerungen, so alte –“ Sie wandte sich beschämt ab. „Von damals noch, Messieurs, als die Preußen schon einmal zu uns kamen –“

„Aha – als wir Napoleon dem Ersten die Hosen klopften.“

Sie nickte. „Hm – ja – bon soir, messieurs!“

„Halt – hier geblieben! War damals Château Montagnard eben so gastlich wie heute?“

„Fast eben so.“

„Nur Ihr wart jünger – haha?“

„Freilich – freilich!“

„Da hattet Ihr auch preußische Einquartierung?“

„Hm – hm –“

„Und einen Junker? Ich merke – ja, ja, das sind Teufelsbengel! Saßen unsere Kameraden von damals auch so wie wir ums Feuer? Brachten Sie ihnen auch alten Kognak? Nun, so erzählt doch, Mutter! Was machtet Ihr denn? Wie war’s denn? – Raus mit der Sprache! – Wie heißt Ihr denn?“

„Nanette, mein Herr.“

„Nun also, wie war’s?“

[658] Nanette legte ein Scheit Eichenholz auf, sah nach dem Punsch und kauerte sich neben den Kamin.

„Hm – das war so wie heute, nur vergnügter, sie sangen, tranken, und endlich schleppten sie mich herein – wir tanzten –“

„Kam da der Kuß?“

Sie beantwortete meine Frage nicht.

„Und endlich mußte ich ihnen prophezeien.“

„Hurrah, Nanette! Wollen Sie noch einen Kuß?! – Hier meine Hand! Los – was ist da zu lesen?“ rief der Fähnrich, sprang auf und hielt ihr seine Rechte entgegen. Sie stieß sie zurück.

„Die nicht? Die Linke? Wie? Ihr wollt nicht? Nein? Doch – doch – ich bin nicht abergläubisch!“

„Nein, ich will nicht!“

„Habt Ihr dem Junker damals auch nicht wahrgesagt?“

„Doch – doch!“

„Nun – und –?“

Sie hielt sich die Ohren zu. Der Fähnrich wurde immer eifriger, riß ihr die Hände herunter. „Ich will’s aber wissen! Was habt Ihr ihm gesagt?“

Nanette sprang auf, wollte hinausgehen, aber er hielt sie am Rocke fest.

„Halt – hier geblieben! Was wurde aus dem Fähnrich?“

Sie versuchte sich loszureißen.

„Wurde er verwundet?“

„Nein!“

„Nun also – was hat’s denn für Gefahr?“ riefen wir Alle wie aus Einem Munde.

Nanette war verschwunden; wir hörten, wie sie die steinerne Treppe hinaufschlurfte und sich einschloß. Der Fähnrich wollte ihr nachlaufen. Doch plötzlich sprang Lieutenant Mackowski von seiner Bettstelle, ergriff Ucker’s Hand, sah hinein und rief lachend, seinen polnischen Dialekt absichtlich verstärkend:

„Bruder meiniges, frei Dich, wirst liegen morgen noch mit mir in Grab Deiniges!“

Der Fähnrich zuckte zusammen, entfärbte sich; dann lachte er gezwungen auf, hob das gefüllte Glas gegen ihn – und – „Prost Bruder – Grab Deiniges!“ – kam gepreßt über seine Lippen. – Das war unbehaglich. Am Vorabend eines Tages, der nach menschlicher Berechnung mit Pulver und Blei gefeiert wird, erweckt das auch bei nervenstarken Menschen ein Gruseln.

„Ach, Unsinn, Kinder!“ rief ich. „Laßt solche Thorheiten! Fähnrich, das Donnerwetter, passen Sie auf Ihren Dienst – der Punsch kocht über, schade um jeden Tropfen!“

Ucker beugte sich zu dem Feldkessel nieder, zog ihn vom Feuer, und ich hätte mich sehr irren müssen, wenn seine Hand dabei nicht zitterte.

Das Gebräu war herrlich, aber die alte Behaglichkeit wollte nicht wieder kommen, trotzdem ein weißhaariger Knecht hereinhumpelte und uns ein für die sonstigen Verhältnisse von Château Montagnard wahrhaft kostbares Abendessen brachte. Sprachen wir’s auch nicht aus, so waren wir Alle recht ärgerlich auf Nanette, mehr aber noch auf Lieutenant Mackowski. Es lag so etwas Beängstigendes in der Luft.

*               *
*

Der 16. brach an. Der Himmel ein Flammenmeer, von seinem Purpurüberfluß fluthete ein Theil durch das Fensterchen in unser Zimmer und beleuchtete das jugendlich mädchenhafte Gesicht des Junkers, welcher, den Tornister unter den Kopf geschoben, die Hände über der Brust gefaltet, auf platter Erde dicht am Kamin eingeschlafen war.

Ich sah ihn lange an. „Bruder meiniges“ – drängte sich mir unwillkürlich auf die Lippen. Der Anblick dieses jungen, unschuldigen Blutes that mir weh. Mackowski schlief auch noch. Sein Gesicht lag im Schatten. Es sah bleich aus, die Züge lang, scharf – dazu schlossen die Augenlider nicht ganz auf einander, ein schmaler, weißer Strich schimmerte durch die Wimpern.

Unheimlich – man hätte ihn für eine Leiche halten können.

„Aufstehen, meine Herren – an die Gewehre!“ rief ich, und die Schläfer reckten sich. Jetzt sprangen sie auf. Die Burschen kamen, um ihre Herren zu bedienen. Nur der Fähnrich lag noch auf dem Boden und stützte seinen Kopf schwer in die rechte Hand.

„Nun, Junker, wird’s bald!? Sie träumen wohl noch?“

„Ich? – Ja – nein – ich dachte nur –“

Er schoß in die Höhe, ging hinaus und war der Einzige, welcher die alte Nanette noch vor dem Ausmarsche sah. Am Fenster des südlichen Giebels hatte sie gestanden und ihm zugenickt.

Die magnetische Kraft der Riesenfeste wächst mehr und mehr. Armeen ziehen Armeen an. – Knack – knack – knackknackknack –. Niemand hört darauf; diese Vorpostenplänkelei, in den meisten Fällen eine kindische, alberne Spielerei, welche man einmal den Leuten nicht austreiben kann, ist man gewohnt.

Bum – bum – zschzschzschzsch – ketschbumbum – das wird schon ernster. Das war ein Gruß aus einem zarten Mündchen, das eiserne Zuckerhüte speit – Ein zweiter und ein dritter – nun Alles still. – Rummm – krrrrrr – krrrrrr – knattern dann die ersten Salven.

Ich lasse laden.

„Heute gilt’s, Jungens!“

„Hurrah – hurrah!“ ertönt’s aus den Reihen meiner Kompagnie.

„Bst – still, Leute – ich weiß, daß Ihr Kourage im Leibe habt.“

Nur der Fähnrich, sonst der lustigste, der kriegsbegeistertste von Allen, schweigt. Eine ihm bis dahin fremde Hast treibt ihn vorwärts, so daß er im Marsche oft über seine Rotte hinauskommt, dann stehen bleiben muß, um sich wieder aufnehmen zu lassen. Seine großen, blauen Augen glänzen stahlfarben, ein Flimmern tanzt darin; zwei Purpurrosen erglühen auf seinen Wangen.

Mackowski marschirt mit eiserner Ruhe dahin. Sein Gesicht ist bleich wie immer und in seinen scharfen Zügen liegt grauer Wegestaub.

Die Mosel ist erreicht. Kein Laut von drüben. Stille vor dem Sturm – drückende Gewitterschwüle! Ein Schlag wie der stärkste Donner! Metz brüllt aus Kanonenschlünden, das Signal zum tollen Reigen ist gegeben. Hei, wie die Furien des Krieges tanzen! Der Himmel glüht, es brennen Dörfer, schwere, qualmige Wolken dämpfen den Flammenschein, weißbläulicher Dampf, als wenn der Fuchs auf feuchten Wiesen braute, folgt schleierhaft dem leichten Zuge des Windes. Dazu lacht die Sonne vergnügt über das ganze alte Gesicht.

Nicht der Fuchs sitzt heute am Kessel, der Knochenmann mit blanker Sense mäht – mäht – mäht immer toller. Die Luft erzittert vom Gebrüll der Eisenschlünde.

„Die Fahne los! Berittene Officiere vom Pferde steigen!“

Es ist geschehen; das Banner bläht sich und zeigt uns den Weg zur Ehre. Die Kettenbrücke bei Novéant ist überschritten; Gorze, das friedlich kleine Städtchen, liegt hinter uns.

„Gehorsamer Diener –“ lacht Lieutenant von Westenberg. Die ganze Kompagnie, ich mit, macht der ersten Granate, welche über unsere Köpfe hinwegfliegt, die schuldige Antrittsverbeugung.

Wir klettern in Weinbergen empor wie Ziegen. Brrrr – kaak – kaak – brrrrr. Schade, zwei Edelfasanen gehen hoch, da laufen die Jungen in der Furche entlang – bum, bum – zschzsch – kerrrr – rummm – puh – paff – Kanonen, Mitrailleusen, Gewehre und Pistolen – Signale – und – pink, pink, pink – dazwischen ein Finkenhahn im leisen Liebeslocken – und nun – „O mein Gott – mein Weib – mein Kind – – oh – oh – oh –“ der erste Todesseufzer dicht neben mir.

Grausiges, furchtbares, welterschütterndes Koncert, wenn Völker in Stahl und Eisen mit einander singen!

Nun wirbelt Staub, nun fegt der Eisenhagel um uns – nun – hei – halloh – juchheisa! – nun sind wir auf dem richtigen Tanzplatz angelangt; nun heißt’s, die Beine heben und die Köpfe behalten. Ha, wie das wirbelt, und wie sie stürzen, meine lieben, lieben Jungen! Kein Stöhnen, kein Seufzer wird gehört, die Schlachtenmelodien übertönen die Menschenlaute.

„Heda, Mackowski, links schwärmen – gegen das Häuschen dort!“

Maison des rats – heißt das verfluchte Ding – da spuckt der Franzmann Eisen.

„Nehmen – koste, was es kostet!“

„Zu Befehl, Herr –“

Mackowski salutirt mit dem Degen, überschlägt sich wie ein im vollen Laufe geschossenes Wild – und ist todt. – Die Kugel sitzt ihm im Herzen. – Der Fähnrich sieht es – und stößt einen leisen Schrei aus.

[659] „Vorwärts! – Fähnrich, übernehmen Sie den Zug des Lieutenants Mackowski!“

„Zu Befehl –“ Fort ist er. Die erste natürliche Bangigkeit ist überwunden; der junge Löwe ist in ihm erwacht, unaufhaltsam stürmt er an der Spitze seines Zuges voran.

Nun geht’s Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Kolben fluscht – das kostet Schädel. Der Revolver tritt in seine Rechte; das Ding ist Leib an Leib leichter zu hantiren als ein großes Zündnadelgewehr. Essenkehrer – Neger fechten mit einander; Staub, Pulverdampf, Schweiß, Blut und Sonnenbrand geben der Haut eine wunderbare Farbe.

Um mich wird’s dunkel; ich fühle da eben etwas wie einen Flohstich am linken Bein, einen Schmerz über dem rechten Ohr – und – da lieg’ ich. Nun Alles still – dunkel – mein Gedächtniß, mein Gefühl ist verflogen.

*               *
*

Ich schlage die Augen auf. Die Schlacht hat ausgetobt – welche wunderbare Ruhe! Nur hier und da der lange, lange Klageseufzer eines Sterbenden – das schmerzerfüllte Wiehern eines blessirten Pferdes – und ab und zu noch der Schuß aus einem Gewehr, welches entladen werden sollte, der Bequemlichkeit wegen aber abgeschossen wurde.

Um mich Nacht – die Sterne leuchten. – Brennender Durst, schmerzende Glieder. Regungslose Körper mit starren, gläsernen Augen – Todte meiner Kompagnie dicht neben mir zu Wällen geschichtet. Ja, ja, heiß ist’s hergegangen. Mich fröstelt.

Einer regt sich, sieht mich an.

„Ach – Sie leben, Herr Hauptmann – Sie leben –“

„Gott sei’s gedankt! Nun, und wie steht’s um die Unsern?“

„Gewonnen!“ jubelt der leicht verwundete Soldat.

In diesem Augenblicke nahen dunkle, schattenhafte Gestalten. Sie kommen näher.

„Er lebt!“ – „Woher soll er denn leben?“ – „Er ist todt!“ – „Aber er hat keine Wunde!“ – „Ich begrabe ihn nicht.“ – „Laßt ihn ruhig liegen!“ höre ich abwechselnd Stimmen sprechen.

Der Soldat springt auf. „Sie bringen unsern Fähnrich!“ ruft er mir zu.

Es war der Fähnrich – kalt und starr, das Auge gebrochen; von einer Wunde war nichts zu entdecken.

„Legt ihn zu mir!“ befahl ich meinen Leuten.

Sie thun es und so liegen wir während der ganzen Nacht in schweigender Gesellschaft. Niemand kommt, um mich auf den Verbandplatz, geschweige denn unter ein schützendes Dach zu tragen. Wo Tausende Hilfe begehren, können Hunderte nicht helfen.

Der Morgen erglüht und übergießt das lächelnde Gesicht des Junkers gerade so schön wie der gestrige. Doch heute schläft er, um nie mehr zu erwachen.

Ein Arzt erscheint.

„Hm – keine Wunde – hm – ein Herzschlag!“

Zehn Schritte von mir entfernt hat Lieutenant von Mackowski gelegen; er ruht schon mit zwölf anderen Kameraden in einem Grabe. Ein Platz neben ihm ist noch frei – und dahin betten sie den Fähnrich.

„Bruder meiniges –“. Fieberfrost schüttelt mich – der Blutverlust, die Erregung – ich werde ohnmächtig. Zwölf Stunden später erwache ich auf einem Strohlager am Kamin in Château Montagnard.

Nanette kniet neben mir. „Der Fähnrich ist unverwundet gestorben,“ flüstere ich ihr zu. Sie spricht nicht, sieht mich nur tief traurig an.

„Ich wußte es,“ kann ich aus ihren Augen lesen, „gerade so wie mein – – –.“ Sie schluchzt laut auf. – – –




Nicht zu heiß!

Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird,“ sagt ein altes Sprichwort; es enthält gewiß eine unbestreitbare Wahrheit; es verschweigt aber eine andere ebenso unbestreitbare Thatsache, daß Vieles von Vielen zu heiß gegessen wird.

Die Köchin oder die Hausfrau bestimmt die Temperatur der Speisen; die Hausgenossen und Gäste beugen sich vor ihrem sachverständigen Urtheil. Wir essen dieses kalt, jenes warm, und das andere heiß, weil die allgemeinüblichen Küchenregeln es uns so vorschreiben.

Bis vor nicht langer Zeit kümmerte man sich wenig um die Bedeutung des Genusses kalter oder heißer Speisen. Der gesunde Magen verträgt viel und man muthet ihm nach beiden Richtungen hin alles Mögliche zu. Gefrorenes ißt man überall, und heißer Kaffee wird auch von Vielen für gesund gehalten. In Rußland trinkt man oft den Thee, wenn er noch beinahe siedend heiß ist und seine Temperatur gegen 80° Celsius beträgt. Bei uns ist auch ähnliche Unsitte im Schwang. Hat sich Jemand erkältet und soll er schwitzen, so muß er nach der alten Hausregel irgend einen Theeaufguß möglichst heiß trinken, und das Getränk wird auch hinuntergeschluckt, wenn es beinahe den Mund verbrennt. Auch der Glühwein wird möglichst heiß getrunken; die Sitte befiehlt es so.

Und was sagt der Magen dazu? Noch vor wenigen Jahren erging man sich in allerlei Vermuthungen über die Einwirkung heißer Nahrung auf diesen Tyrannen der Menschheit. Jetzt hat die Wissenschaft durch Versuche, zu welchen der hochverdiente Professor M. Pettenkofer Anregung gegeben hat, festzustellen vermocht, daß der Genuß überhitzter Speisen Blutüberfülluug der Magenschleimhaut zur Folge hat, welche zum Magenkatarrh führt und sogar Magengeschwüre erzeugen kann! Auch für die Zähne ist das Uebermaß der Wärme nicht zuträglich; das Email springt unter dem Einfluß zu heißer Speisen und Getränke. Hohlwerden und Verlust der Zähne sind die letzten Folgen eines solchen gesundheitswidrigen Genusses.

Was verstehen wir aber unter „zu heiß“? Es unterliegt keinem Zweifel, daß Speisen, welche die Temperatur des Blutes haben, am besten vertragen werden. Diese Temperatur beträgt nun bekanntermaßen 28° Reaumur oder 37,5° Celsius. Ein mäßiges Uebersteigen dieser Grenze um etwa 10° dürfte dem Magen keinen Schaden zufügen. Temperaturen von etwa 38° bis 40° Reaumur sind also als erlaubt anzusehen.

Und wie heiß speisen wir gewöhnlich? Wie heiß ist der Kaffee, den wir trinken, wie heiß die Suppe, der Braten?

Ich möchte wetten, daß von tausend meiner Leserinnen kaum eine auf diese Frage wird antworten können, und doch ist sie wichtig genug. Sie ist auch leicht zu beantworten; man braucht nur das Thermometer zur Hilfe zu nehmen. Viele werden alsdann zu ihrer Beruhigung sehen, daß sie die erlaubten Grenzen einhalten, viele aber auch die unangenehme Erfahrung machen müssen, daß sie ihren Magen jahrelang hindurch schwer geschädigt haben. Die Abhilfe kann hier leicht bewerkstelligt werden, und wenn Jemand nicht zu heiß speist, so verdirbt er sich dadurch den Genuß keineswegs, im Gegentheil, er erhöht ihn. Die Wärme hebt nämlich die Geschmacksempfindung auf; wenn wir die Zunge nur ½ bis 1 Minute in Wasser von 50° C. halten, so sind wir nicht mehr im Stande, mit ihr den süßen Geschmack des Zuckers wahrzunehmen. Bei höheren Wärmegraden tritt natürlich dieser Zustand sicherer und rascher ein. Diese Thatsache sollte namentlich von allen Köchinnen gewürdigt werden; denn in ihr ist eine heimliche Quelle des Versalzens der Speisen enthalten. Wer zu heiß die Suppe kostet, der kann ihren Geschmack nicht sicher prüfen und versalzt sie nur zu leicht.

Kein Wunder, daß in Anbetracht derartiger Thatsachen erfahrene Aerzte den Ausspruch nicht scheuten, daß auf den Eßtisch ein Thermometer gehöre und daß es an diesem Platze wichtiger sei als Salzfaß und Pfefferbüchse. Es gehört aber auch in die Küche; denn auch dort kann es beim Kochen und Backen treffliche Dienste leisten. Man hat sogar für die Küche besondere Thermometer konstruirt, welche die Temperaturen für verschiedene Speisen und Getränke angeben. Das Thermometer von Sophie Heuer, der Vorsteherin der Kieler Kochschule, welches, anstatt mit Quecksilber, mit unschädlich gefärbtem Alkohol gefüllt ist, hat die folgende interessante Skala: „Trichinentod. – Suppen, Fleisch und Gemüse. – Milch, Kaffee, Thee, Eierbier, Glühwein, Punsch. – Warmes Bad. – Hefeteig zum Aufgehen. – Mehl. – Zimmertemperatur. – Kaltes Bad. – Rothwein! – Trinkwasser, Bier. – Bier auf Eis, Weißwein. – Champagner.“

Das Thermometer in der Küche! Es klingt fast lächerlich, und in der That wäre es lächerlich, pedantisch und unnütz, wenn die Frau die Wärme aller Speisen mit dem Thermometer nachmessen wollte. Aber eine Zeit lang sollte jede Hausfrau auch in der Küche ein wenig mit dem Thermometer hantiren, um die Unterschiede zwischen heiß und zu heiß, kalt und zu kalt kennen zu lernen. Nach kurzer Uebung wird sie das Thermometer entbehren können und nach eigenem Gefühl die richtige Temperatur treffen. Die vorsichtige junge Mutter mißt ja auch zunächst die Wärme der Milch, welche sie in der Flasche ihrem Kinde reichen muß. Dabei kostet der Versuch nichts; denn Thermometer sind in jedem Haushalt vorhanden, und er ist auch interessant. – Ueber die erlaubte Grenze für heiße Speisen haben wir bereits Angaben gemacht; aber auch für kalte Getränke giebt es Grenzen, welche nicht überschritten werden sollten. Dr. J. Wiel giebt folgende Tabelle an:

Trinkwasser + 8° R.
Bier nicht unter + 9° R.
leichte Weine nicht unter + 10° R.
starke Weißweine + 6° R.
Rothweine + 12° R.

Selbstverständlich gilt das hier Gesagte nur für den gesunden Magen. Magenkranke müssen im Genuß zu kalter und zu heißer Speisen noch vorsichtiger sein. Für sie geben wir keine Vorschriften; denn es ist die Sache des Arztes für jeden einzelnen Krankheitsfall das Richtige zu treffen. C. Falkenhorst. 



[660]
Der Unfried.
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)

Inzwischen hatte Karli seine Kammer erreicht. Eilfertig packte er Alles, was für seine Reise nöthig war, in eine kleine hölzerne Truhe. Dabei dachte er an die eben überstandene Begegnung mit Kuni, kam von einem Gedanken auf den anderen, und so lebte der ganze vergangene Abend wieder in ihm auf. Da kam es ihm plötzlich so vor, als ob die sonderbare Fürsorge, welche sein langes Verweilen in der Stube bei Kuni erweckt hatte, immerhin zu einer näheren Untersuchung herausfordere. Mit kritischen Augen betrachtete er Kuni’s Verhalten während all der letzten Wochen; er dachte an die Art und Weise, in welcher sie die Nachricht von seiner Einberufung aufgenommen hatte; es fiel ihm ein, daß es Kuni gewesen, welche die kleine Kneiperei am vergangenen Abend veranlaßt hatte; er besann sich auf die Emsigkeit, mit welcher sie ihm das Glas gefüllt; er dachte an den doch etwas gar zu lustigen Aufzug, in dem sie vor ihm gestanden, er stellte sich ihr ganzes Benehmen vor und wiederholte sich all ihre Worte, in denen er nun mit einem Male einen recht merkwürdigen Doppelsinn zu ergründen vermeinte – und während er so sann und dachte, ging ihm – langsam, aber doch – nicht nur ein Kerzenlicht, sondern gleich ein ganzes Großfeuer auf. „Jetzt da schau – das is aber amal Eine,“ nickte er lächelnd vor sich hin. Und ganz allein seiner „G’scheitheit“ galt dieses Lächeln. Er hatte wohl seine kleine Portion Eitelkeit; die reichte aber doch nicht aus, um alle Beweggründe für Kuni’s angelnde Pläne lediglich in einer etwaigen Unwiderstehlichkeit seinerseits zu finden.

Der schöne Pointnerhof und so und so viel Tagwerk Wald und Wiesen – das war’s! „Ah, da legst Dich nieder!“ Und wie schlau sie das eingefädelt hatte! Da wurde zuerst der alte Bauer verhätschelt und verwöhnt, dann der heirathsfähige Sohn ins Netz gesponnen und zugleich mit ihm der ganze stattliche Hof. Aber sein guter Schutzengel war denn doch noch schlauer gewesen. Freilich hatte sie es gar geschickt verstanden, sich den Rückzug zu decken – das mußte sich Karli zugestehen, besonders wenn er an Kuni’s letzte Worte dachte.

„Beweisen kann ich ihr allweil nix! Aber es is bloß, daß man sich auskennt! Und unter vier Augen will ich’s ihr auch zum Merken geben.“

Mit dieser Meinung und Absicht schloß er seine kritische Thätigkeit, packte die Truhe bei den eisernen Henkeln und trug sie hinunter in den Hof, wo er sie dem Stoffel zur Verladung auf die Kutsche übergab. Während er über die Treppe niedergestiegen war, hatte ihm Kuni aus der Küche zugerufen, daß er zum Frühstück kommen möchte. Mit selbstbewußtem Lächeln und erhobenem Kopfe – er fühlte sich ja nun als Herr der Situation – betrat er die Stube. Da dampfte auf dem Tische schon die Kaffeeschüssel zwischen zwei riesigen Semmeln. Er rückte in die Bank und schaute mit lustig blinzelnden Augen auf Kuni, die seinen Löffel aus der Lade hervorsuchte. Als sie ihm denselben reichte, sagte sie: „Der Kaffee muß aber jetzt gut sein – drei Stund’ steht er schon in der Röhren drin.“

„No weißt – a g’sunder Hunger und a gut’s G’wissen, da schmeckt Ei’m Alles!“ lachte Karli.

Es war ein herausforderndes Lachen.

Kuni machte die Augen klein und etwas Drohendes zuckte um ihre Lippen. Aber wortlos kehrte sie dem Burschen den Rücken und legte sich mit den Armen in die Fensternische.

„Was is denn, siehst noch nix vom Vater?“ frug Karli unter Kauen und Löffeln.

„Na! Aber ich mein’, er könnt’ jetzt dengerst bald da sein. Das heißt, ich kann mich ja täuschen auch.“

„Täuschen? Warum? Thust Du Dich denn gar so leicht täuschen?“

Langsam richtete sich Kuni auf und schaute ihn mit zwei Augen an, so harmlos verwundert, als wüßte sie mit dem besten Willen nicht zu verstehen, was der stichelnde Ton seiner Worte bedeuten sollte. „Täuschen? Wie so? Was meinst denn da damit?“

„Geh’ – so a g’scheit’s Deandl wie Du – und so a kurz’ G’mirk! Das sollt’ man gar net meinen!“ spottete Karli. „Aber ja – was ich sagen will – was is denn nachher mit demselbigen Andenken, wo mir anhängen hast wollen – weißt, daß ich auf ’n Pointnerhof net vergessen sollt’ – und auf seine Leut’?“

Kuni biß sich auf die Lippen – sie schien an dieses im Uebermuth gesprochene Wort nicht mehr gedacht zu haben; doch konnte Karli von dieser Wirkung seiner Frage nichts gewahren; er hörte nur, wie Kuni in einem Tone, als wäre nun die Reihe zu sticheln an ihr, über die Schulter zu ihm zurücksprach: „Jetzt laßt aber bei Dir ’s G’mirk aus! Ich hab’ Dir’s doch gestern g’sagt, daß man zu so ’was brav sein muß – und gar so brav, mein’ ich, bist net g’wesen.“

„Ah ja – so brav, wie Du g’meint hättst, daß ich sein sollt’, bin ich freilich net g’wesen.“

Karli hatte das letzte Wort noch auf den Lippen, da stand die Dirne schon hoch aufgerichtet und mit blitzenden Augen vor ihm am Tische.

„So – ah so – jetzt fang’ ich erst zum merken an, was denn Dein g’spaßig’s Reden eigentlich zu bedeuten hat,“ stieß sie in abgerissenen Lauten hervor, als wäre sie vor Zorn und Entrüstung nicht mehr ihrer Sprache mächtig. „Mir scheint ja gar, Du bild’st Dir ein –“ Da brach sie nun plötzlich wieder in helles Gelächter aus, trat mit einem raschen Schritt auf Karli zu und faßte ihn mit derber Hand beim Schopf. „Ja was fang’ ich denn an mit Dir, Du Grashupferl, Du dalket’s! Jetzt den schau an – was der sich einbild’t!“

„Geh’, Du – hör’ auf mit Deine Sachen!“ brummte Karli, während er sich auf eine nicht besonders sanfte Art von Kuni’s Hand befreite. „So kannst fein mit ei’m Buben reden, der noch aufs Millipfandl ansteht, aber net mit mir! Wir Zwei, wir haben ausg’scherzt mit einander!“

„Ja, Recht hast, daß sich der Ernst bei so ’was besser für mich schicken thät’,“ fiel Kuni mit hart und scharf klingender Stimme ein. „Aber Du, mein’ ich, Du könntest dengerst z’frieden sein, daß ich die Sach’ von der g’spaßigen Seiten nimm – und Dei’m Vater nix sag’ davon. Denn weißt, wie Du Dich aufg’führt hast und jetzt g’rad aufführst, das paßt sich in gar kei’m Fall net – und am allerwenigsten Einer gegenüber, zu der bald Mutter sagen mußt – verstehst mich!“

Dem Burschen blieb der Bissen im Halse stecken, und klirrend fiel ihm der Löffel aus der Hand. Eine brennende Röthe überzog sein Gesicht; er würgte und schluckte, und während er mit zitternden Armen sich in die Höhe stemmte, schaute er die Dirne mit erschrockenen Augen an und stotterte: „Was – was is – was soll jetzt das für a Reden sein?“

Um Kuni’s Lippen zuckte ein grausames Lächeln.

„No also – gelt – da schaut sich jetzt die Sach’ doch anders an? So wie der Pointner g’meint hat, hättst es freilich erst erfahren sollen, wann von die Manöver z’ruckkommst. Aber jetzt hab’ ich Dir’s doch wohl sagen müssen – weißt – denn von ei’m Deandl, wo Tag und Nacht schon an nix als wie an d’ Hochzeit denkt, von dem wirst ja dengerst net glauben, als könnt’s noch Augen auf an Andern haben – und gar auf ihrem Hochzeiter sein’ halbg’wachsenen Buben!“

Mit verstörten Blicken irrten Karli’s Augen durch die Stube. „Vater – der Vater – wo is der Vater?“

„Fort is er – ich hab’ Dir’s ja schon g’sagt. Und wer weiß – ’leicht is er am End’ gar zum Pfarrer ’nauf. Denn daß ich Dir’s sag’ – ja, völlig pressiren thut’s ihm, daß wir in der Kirchen verkünd’t werden mit einander – ich und Dein Vater.“

„Du – im Guten sag’ ich Dir’s – mein’ Vater laß mir aus’m Spiel!“ fuhr Karli mit bebenden Worten auf. „Und überhaupt – jetzt hab’ ich’s g’nug – die ganze Narretei!“ Mit geballten Fäusten, mit zorngeröthetem Gesichte und drohenden Blicken trat er vor Kuni hin, welche ruhig stand und ihm

[661]

Auf der Fasanensuche.
Nach dem Oelgemälde von G. v. Maffei.

[662] mit blitzenden Augen entgegensah. „Oder – oder meinst am End’, daß heut schon Fasnacht is?“

Da ließen sich rasche, trippelnde Schritte vom Flur herein vernehmen.

Lauschend hob die Dirne den Kopf; dann trat sie mit boshaftem Lächeln um ein paar Schritte zurück und sagte: „No schau – wann mir net glaubst – da kannst ja jetzt Dein’ Vater fragen, wie lang noch is – bis auf d’ Fastnacht.“

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als sich die Thür öffnete und der Pointner in feinem Sonntagsstaat auf der Schwelle erschien.

Der Bauer schaute drein, als hätte er das Räuschlein vom vergangenen Abend noch nicht völlig ausgeschlafen. Als er den Burschen gewahrte, warf er die Arme in die Höhe und lachte gezwungen: „Ah, da schau – da bist ja noch! Ja g’rad freuen thut’s mich, daß ich Dich dengerst noch –“ Da stockte er mitten im Worte – Karli’s Aussehen mochte ihm wohl zu denken geben – und mit schiefen Augen, aus deren scheu verlegenen Blicken kein besonders gutes Gewissen sprach, betrachtete er die Beiden, die vor ihm in der Stube standen. „Ja was is denn?“ stotterte er, drückte mit zitternden Händen hinter sich die Thür zu und gab sich alle Mühe, ein lustig verwundertes Lächeln zu zeigen.

Karli stand, als hätte eine Lähmung seinen Körper befallen; nur die Arme konnte er strecken; aber die Zunge wollte ihm kaum gehorchen, als er dem verlegen Lächelnden mit tonlosen Worten zurief: „Vater – na, Vater, thu’ kein’ Schritt net weiter – kein’ Schritt net, eh mir net g’sagt hast, ob’s denn wahr is – ob’s denn wahr sein kann!“ Wie jäh hervorbrechendes Schluchzen klang dieses letzte Wort.

Da schien dem Pointner schwül zu werden. Er blies die Backen auf, nahm den Hut mit den schweren Goldtroddeln vom Kopfe und strich sich die Haare in die Stirn. Dann machte er einen Versuch, seinem Buben mit muthigem Blick in die Augen zu schauen. Aber es blieb beim Versuche; er schielte nur mit hilfloser Jammermiene zu Kuni hinüber und greinte: „Jetzt schau – jetzt hab’ ich Dich so viel ’bitt’ – und hast mir’s auch versprochen – und jetzt hast es ihm dengerst g’sagt!“

Kuni zuckte die Schultern und drehte ihm den Rücken zu.

Einen Augenblick war Todtenstille in der Stube, dann aber hallte ein dumpfer, gurgelnder Aufschrei von Karli’s verzerrten Lippen. Und unter diesem Aufschrei stürzte der Bursche mit erhobenen Armen auf den Vater zu und packte den erschrocken Lallenden mit beiden Fäusten an der Brust. „Vater – Vater!“ schrie er in zornerstickten Lauten auf ihn ein, während er ihn rüttelte und schüttelte, als hätte er einen Berauschten vor sich, den er gewaltsam zu nüchterner Besinnung bringen müßte.

Plötzlich fühlte er seine Arme niedergeschlagen und sich bei Seite geschleudert. Keuchend richtete er sich auf und sah, wie Kuni Hand in Hand mit seinem Vater stand, wie zum Schutze des Alten, dem unter Karli’s Fäusten Hören und Sehen vergangen schien. Und während der Pointner, Angst und Zorn in dem schlotternden Gesichte, unter schnaubenden Athemzügen und unverständlichem Stottern mit der zitternden Linken an seinem zerrauften Hemde nestelte, verrieth sich offene, ungeheuchelte Entrüstung in den funkelnden Augen der Dirne und wirklicher, ehrlicher Zorn in der bebenden Stimme, mit der sie den Burschen anfuhr: „Bist Du a Mensch von Fleisch und Blut – a Mensch – der Hand anlegt an sein’ leiblichen Vater!“

Karli stand regungslos und bleich bis in die Lippen. Nun schwellte ihm ein tiefer, stockender Seufzer die Brust und dicke Thränen füllten seine Augen.

„Ja – der liebe Herrgott soll’s an meiner Hand net strafen, was ich mit ihr verübt hab’ im gachen Zorn,“ so stotterte er vor sich hin. Dann wieder seufzte er und schaute mit traurigen Blicken auf den Vater. „Ob mir mein’ G’waltthat verzeihen kannst – ich weiß net und will Dich auch net fragen drum. Und ich will Dir auch net reden von der Mutter selig – und will Dir auch net reden von Deine Jahr’ und Dei’m guten Nam’ – und will Dir net reden von mir und daß ich Dich g’wiß in Ehren g’halten und gern g’habt hab’, und daß ich Alles ehnder um Dich verdient hätt’, als – als – ah na – von gar nix will ich reden, denn ich weiß ja, daß ich ’s Recht zum Reden mit meine hitzigen Händ’ verspielt hab’. Und im Uebrigen – Du bist der Herr im Haus – und mußt Dir selber sagen, was thust – und was thun willst!“

Karli schwieg; unter Thränen war ihm die Stimme erstickt. „Na – na, Karli – schau, laß mit Dir reden,“ stammelte der Pointner, dem der tiefe, unverhehlte Kummer des Burschen ins Herz zu greifen schien.

Karli aber hörte nicht auf die Worte des Vaters. Er wischte die Hände über die Backen und wandte sich gegen Kuni, die ihm mit finsteren Blicken in die nassen Augen sah. „Und Du – jetzt freilich – wie Alles steht – da hat’s jetzt freilich auch für mich den Anschein, wie wann’s ich ganz allein wär’, der sich ’täuscht hat. G’rad Einer hat die richtigen Augen g’habt – der Götz – der Götz da draußen! Der hat mir so ’was prophezeit am ersten Tag! Aber mag’s jetzt gehen, wie’s will – ich wünsch’ Dir auch nix Schlecht’s net an – und wünsch’ Dir a Leben, a langs – aber – aber wenn auch alt wirst und weiße Haar wann kriegst – daß ich Mutter sag’ zu Dir, das, Kuni, das wirst net erleben!“ Schluchzend ging er, indeß sich der Pointner unter greinendem Stottern die Haare kraute, auf das Fenster zu, in dessen Nische die Soldatenmütze lag. Da fielen seine Blicke auf eine verblaßte Photographie, die unter dünnem Goldrahmen an der Wand hing. „Geh’, Mutterl,“ weinte er mit leiser Stimme und drehte das Bild gegen die Wand, „dreh Dich um und mach’ Deine Augen zu – sonst könnt’st am End’ was sehen, wo Dir d’ Augen übergehn!“

Als er sich von der Wand wieder abkehrte, stand Kuni dicht vor ihm; sie hielt den Arm gestreckt, als hätte sie verhindern wollen, was Karli gethan.

„Ah so, mir scheint, das taugt Dir net, an was ich Dich jetzt g’rad g’mahnt hab’?“ fuhr er sie mit neu ausbrechender Bitterkeit an. „Hast ja selber a Mutter und an Vater g’habt – aber das kann ich Dir sagen: gar viel Ehr’ machst ihnen net! Freilich, sie werden Dich halt ’zogen haben darnach!“

Da ging in Kuni’s Zügen eine erschreckende Wandlung vor sich. „Karli, ich rath’ Dir’s im Guten,“ schrie sie mit einer Stimme, welche bebte vor wildem Zorn, „bring’ mein’ Mutter net in d’ Red’ – und den net, der mein Vater war!“

„Du bringst ja d’ Red’ von selber drauf! Man braucht g’rad merken, was Du für Eine bist, so kann man’s leicht errathen, was das für an Acker g’wesen sein muß, der Dich in d’ Höh’ ’bracht hat!“

In fahler Blässe erstarrte Kuni’s Gesicht. Einen Augenblick stand sie regungslos; dann stürzte sie auf Karli zu, und während sich der Pointner mit stammelndem Schelten vergebens zwischen die Beiden zu drängen suchte, krampfte sie die Hände um die eine Hand des Burschen, krümmte ihm in sinnloser Wuth die Finger und schrie und schluchzte: „Karli – die Red’ nimm z’ruck – ich rath’ Dir’s im Guten – die Red’ nimm z’ruck! Leicht könnt’ mich noch a Reu’ ankommen, daß ich mich ’neing’stellt hab’ zwischen Dein’ Vater und Dich – aber die Red’ nimm z’ruck – jetzt auf der Stell’ – oder ich müßt’ dran denken mein Leben lang – und vergelten müßt’ ich Dir’s in Haß, weil mir das Einzig’ verschandelt hast in Schimpf und Spott, was mir lieb’ is g’wesen, seit ich leb’! Die Red’ nimm z’ruck – und wann ich Dir d’ Finger brechen müßt’ – die Red’ nimm z’ruck!“

„Na – na – und net a Wörtl nimm ich z’ruck – kein einzigs Wörtl net!“ keuchte der Bursche in Schmerz und Zorn. Dann riß er sich gewaltsam los, stülpte schwerathmend die Mütze über das Haar und schritt zur Thür.

Nun aber schoß der Pointner auf ihn los, faßte ihn beim Arm und kreischte: „Ja Himmelsakra – jetzt wird’s mir aber z’ bunt; jetzt bleibst mir da und laßt in Güt’ und Frieden mit Dir reden!“

„Geh, Vater – geh! Du b’haltst Dir ja Dein’ Fried’ im Haus; der Unfried’ bin ja ich – und ich muß fort!“

Mit einem ungestümen Ruck befreite Karli seine Arme und war zur Thür draußen, noch ehe der Pointner ihn von Neuem haschen konnte.

„Karli – Karli – ja Kreuzsaxen – Karli – hörst denn net –“ zeterte der Alte und rannte hinter dem Burschen in den Flur hinaus. Unter der Hausthür aber blieb er stehen, blies kopfschüttelnd die Backen auf und wischte sich mit dem Aermel die nasse Stirn. Er mochte wohl unwillkürlich die Empfindung [663] haben, daß es ihm wenig gezieme, den häuslichen Streit vor die Augen der Dienstboten hinauszutragen; denn drüben vor den Ställen sah er Zenz und Martl bei einander stehen, und während Stoffel eben die beiden Flügel des Zaunthores aus einander zog, stand Götz inmitten des Hofes vor der mit einem kugelrunden Schimmel bespannten Kutsche, zur Abfahrt fertig, Zügel und Peitsche in Händen.

Mit verwunderten und besorgten Blicken schaute Götz in die bleichen, erregten Züge und auf die nassen, gerötheten Augen des Burschen, der in erregter Eile auf ihn zugeschritten kam.

„Ja, Karli, han, was is denn?“

„Zeit is, daß ich fortkomm’ – mach’ weiter, Götz – ich mein’, mir brennt der Boden unter die Füß’.“

Da trat unter der Hausthür drüben Kuni an des Pointner’s Seite; ihre Augen, die wie zwei glühende Kohlen aus dem blassen, starren Gesichte funkelten, überflogen mit einem raschen Blitz den Hof und dann flüsterte sie dem Bauer einige Worte ins Ohr.

„Na, na, das thu’ ich mei’m Karli net an – na – g’wiß net,“ wehrte sich der Pointner, um kleinlaut beizufügen: „Das heißt – wann Du’s halt haben willst – aber mußt es ihm schon selber sagen!“

Und mit scharfer Stimme rief Kuni in den Hof hinaus: „Du, Götz, der Bauer will haben, daß an Andrer fahrt! Dich braucht er daheim bei der Arbeit!“

„Aber, Bauer, was is denn auf amal – ah na, das laß ich mir fein net anthun!“ fuhr der Knecht mit unmuthigen Worten auf.

Karli aber nahm ihm schon mit heiserem Lachen Zügel und Peitsche aus den Händen. „Geh, Götz – sei z’frieden – ich weiß ja, warum. Man fürcht’ sich halt vor der Nachred’, wo mir zwei mit einander halten könnten. Sei z’frieden, Götz, und thu’ Dich bei der Herrschaft net verklamperln wegen meiner! Dein Herr is ja der Bauer auf der Point – und b’hüt’ Dich Gott, Götz, b’hüt’ Dich Gott! Aber wenn ich Dich net haben kann – kein’ andern Fuhrmann brauch ich net! Ich stell’ halt in der Station drin ’s Roß zum Wirth ’nein – da kannst es holen lassen – b’hüt’ Dich Gott, Götz, b’hüt’ Dich Gott!“ Die Thränen liefen ihm über die zuckenden Backen, während er sich mit zorniger Hast in den Wagen schwang. Er zog die Zügel an und ließ den Schimmel die Peitsche kosten, daß das erschrockene Thier mit fuchtelnden Hufen in die Höhe stieg. „Fort, Schimmel, fort – und b’hüt’ Dich Gott jetzt, Glück und Fried’!“

Mit schnatternden Rädern sauste die Kutsche zum Thore hinaus.

Regunglos stand Götz inmitten des Hofes. Ein herbes Lächeln irrte ihm über die Lippen, und langsam glitten seine Augen von dem enteilenden Gefährt hinüber zu der Stelle, an welcher Kuni stand.

Der Pointner aber humpelte über die Stufen herunter, wischte sich die Augen und kreischte dann, mit erhobenen Armen winkend, dem Wagen nach: „B’hüt’ Dich Gott – b’hüt’ Dich Gott, Karli – und gelt – schau fein a Bißl auf Dich – und daß mir g’sund wieder heimkommst! B’hüt’ Dich Gott!“

Drüben vor der Stallthür puffte inzwischen die Zenz ihren Ellbogen an Martl’s Arm und zischelte: „Du, da paß’ auf – da hat’s was ’geben – wirst es sehen – ganz ’was B’sonders! Leicht hat dem Unfried da der Frieden schon gar z’lang dauert, und da wird s’ halt nachher a Bißl ’was aufg’rührt haben.“

Martl zuckte die Achseln, spuckte durch die Zähne und schlurfte brummend in den Stall.

Vorn am Zaune drückte Stoffel die beiden Thorflügel zu, und als das Geräusch der Räder verhallte, warf er die Quaste der Zipfelmütze von der einen auf die andere Seite und sang gedankenlos und gähnend vor sich hin:

„’s Radel geht um und um,
Hurax dax do –
’s Glück findt man über Nacht,
Ja – aber wo!“




8.


Seit drei Tagen stand Karli beim Regimente. Der angestrengte Dienst gestattete ihm nicht, sich allzu viel mit sich selbst und mit den Angelegenheiten zu beschäftigen, die er zu Hause verlassen. Das Alles ging ihm freilich keinen Augenblick aus dem Kopfe; aber er wußte keinen Gedanken zu fassen, der ihn weiter brachte, der ihm irgend welchen Trost oder Rath geboten hätte. Es lag wie eine Betäubung über ihm, die sich nur löste, wenn er an Sanni dachte, um dann einem tiefen, hoffnungslosen Kummer Platz zu machen. Sobald aber Karli bei solchem Empfinden zu dem Momente gelangte, in welchem seine Zukunft ihm so schwarz erschien, daß er sie schwärzer nicht mehr malen konnte, so kam auch immer wieder in ihm zum Durchbruch, was er von der leichtsinnigen Natur des Vaters geerbt hatte. Dann war er nicht übel geneigt, Alles, was er mit wachen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatte, für einen bösen Traum zu halten, aus dem er jählings zu Freude und glückseligem Behagen erwachen müßte. Dann meinte er, das Alles müßte von selbst sich lösen und verschwinden, wie ein Herbstnebel beim Erwachen der Sonne, und da konnte er etwas Anderes sich gar nicht vorstellen, als daß er nach seiner Rückkehr von den Manövern im Pointnerhofe Alles so finden würde, wie es seinen Wünschen am besten taugte. War aber seine steigende Hoffnung auf solcher Höhe angelangt, dann kam der Rückschlag, unter dessen Wirkung ihm wieder ganz schwarz vor den Augen wurde, wenn er an die Zukunft dachte.

Das war der immergleiche Kreislauf seines rastlosen Brütens. Das ging in ihm herum wie ein Mühlrad, welches von weiß Gott welcher Kraft in Bewegung gesetzt wurde, nur nicht von des Burschen eigenem Willen. Er war zu verstört, zu betäubt, um zu einem bewußten Willen kommen zu können.

Erst am vierten Tage, der einen dienstfreien Nachmittag brachte, weil mit dem folgenden Morgen der Abmarsch ins Lager erfolgen sollte – als er da um die Mittagsstunde mit todmüden Gliedern auf seiner Pritsche lag, mit brennenden Augen aufstarrend zur Decke, da erst wurde es ein wenig heller in seinem Kopfe, und er begann sich zu sagen, daß ihm aller Zorn und Kummer nicht nagelgroßen Nutzen brächte, daß vielmehr irgend etwas unternommen werden, irgend etwas geschehen müsse. Aber was? Das war nun freilich eine heikle Frage, und Karli vergrübelte eine lange Stunde, bis ihm einfiel, daß er ja an den Vater schreiben und ihm in Güte vorstellen könnte, was eben „verstandsamer“ Weise dem Pointner in dieser Sache vorzuhalten war.

Bei diesem Gedanken sprang er mit gleichen Füßen von der Pritsche und setzte sich zum Schreiben fertig ans Fenster. Das Datum schrieb er dicht an den oberen Rand des Bogens, mit winzigen Buchstaben – ihm war ja das Herz so voll, und Alles, was da drinnen war, mußte jetzt heraus und auf das Papier hin – da hieß es natürlich mit dem Platz sparen. Dann ging es an die Ueberschrift, mit schönen Zügen und einem kühnen Schnörkel um das Ganze: „Mein lieber Vater!“

Weiter kam er nicht, der Schweiß brach ihm aus allen Poren; vor Erregung zitterten ihm die Hände; mit knirschenden Zähnen zerkaute er die Spitze des Federstiels; hundertmal fuhr er in die Tinte, beklexte das Fenstergesimse und seine Finger – aber weiter kam er nicht.

Es war aber auch ein waghalsiges Unterfangen, schreiben zu wollen bei diesem Spektakel, wie er hinter Karli’ s Rücken tobte. Seine Kameraden putzten sich für den Ausgang und genossen schon das Vorgefühl der kommenden Nachmittagsfreuden. Von dem Schabernack, den sie trieben, bekam auch Karli seinen Theil zu kosten, und als er zornig wurde, lachten die Andern vor Vergnügen. Dann wieder wollten sie wissen, was er denn so Wichtiges zu schreiben hätte, ob er um ein „Busserl“ ans „Schatzerl“ oder ans „Mutterl“ um eine „Rauchwurst“ schriebe. Schließlich zogen sie ihm die Feder aus den scheckigen Fingern, rissen ihm das Papier unter den Händen fort, und da half ihm nun kein Sträuben, er mußte die gute Montur aus der Truhe holen, und dann ging es hinaus zum Tempel, geraden Wegs zum „Schimmelwirth-Garten“, wo die Blechmusik unter grünen Bäumen schmetterte und das Hofbräu schäumte in steinernen Krügen.

Dort saß nun Karli wie ein „angemalter Türk’“ inmitten der lustigen Schar. Als aber einmal das Gespräch aufs „Dahoam“ kam und jeder mit leuchtenden Augen von seinem „Ort“ erzählte, fing er doch an, die Ohren zu spitzen und sich mit Eifer in das Gespräch zu mischen. Und da sah er es nicht als einen Zufall, sondern als eine offenkundige Fügung Gottes an, daß einer der Kameraden in Rosenheim zu Hause war, ein anderer im Oberisarthal, in Kuni’s Heimath.


(Fortsetzung folgt.)


[664]

Der Probestrumpf.
Nach einem Oelgemälde von G. Jakobides.
Photographie im Verlag von Franz Hanfstängl in München.

[665]
Was ist ein Kind werth?
Ein Wort für kinderlose Gatten und elternlose Kinder.

Sollte die obige Frage satirisch behandelt werden, so würde man die schlagendste Antwort in einer Zeitung von 1885 finden, welche über eine Versteigerung von Kindern an den Mindestverlangenden Bericht erstattet. Derselbe lautet: „Die Steigerung fand Dienstag Abend den 14. April statt. Die arme Mutter, Wittwe eines Arbeiters in der Gasfabrik B., wohnte dem Akte in unbeschreiblicher Aufregung bei und hörte nicht auf, den Ausrufer zu unterbrechen. ‚Ein Knabe von 10 Jahren, um welchen Preis nimmt Jemand diesen Knaben bis zum Ende des Jahres?‘ 40 Franken! 35, 30, 28 Franken! Zugeschlagen! Die Mutter protestirt, sie will das Kind behalten um 20 Franken, ohne Entschädigung; sie verlangt nichts, wenn man ihr nur die Kinder läßt, morgen schon will sie den Ort verlassen. Man gebietet ihr Schweigen; der Handel geht weiter mit den übrigen drei Kindern, und bald sind die armen Kleinen alle ,untergebracht’. Ein Mädchen von 8 Jahren für 31 Franken, ein anderes von 6 Jahren für 40, das dritte, kaum 2 Jahre alt, für 70 Franken. Das wäre also der Pauschalwerth eines Kindes?“

Wir wollen weder den Namen der Zeitung noch des Landes nennen, auf welches diese Thatsache einen Schatten werfen könnte. Ist doch kein Land von solchem Schatten frei und das Los vieler armer und verwaister Kinder noch immer das beklagenswertheste – trotz der sehr anerkennenswerthen Fürsorge von Regierungen, Ortsbehörden und Wohlthätigkeitsvereinen für dieselben.

Es ist ein erhebendes Zeugniß für das Walten edler Sitte und Bildung, daß in dem Grade, wie sie blühen, auch das Los der armen Waisen sich gestaltet. War dies schon im alten Griechenland und Rom (namentlich unter Kaiser Trajan, den beiden Antoninen und Alexander Severus) der Fall, so erwies doch erst das Christenthum, als es zur Herrschaft über Europa gelangt war, sich vor Allem auf dem Gebiete der Wohlthätigkeit als die wahre Religion der Liebe. Wo Stiftungen und Klöster sich der Armen, Kranken, Wittwen und Verlassenen annahmen, da erbarmte man sich auch der verlassensten Armen, der Waisen. Berühmtheit erlangten durch Stiftungen und Gründungen dieser Art in Italien Karl Borromeo im 16. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert Vincenz von Paul in Frankreich und in Deutschland August Hermann Francke, der Stifter des großen Waisenhauses in Halle an der Saale. Doch hatten schon im Mittelalter die durch Handel und Industrie zu hoher Blüthe gediehenen deutschen Städte und namentlich die freien Reichsstädte (Augsburg voran) in der Gründung von Waisenhäusern viel Gutes geleistet. Dabei hing freilich immer die Behandlung und Pflege der Kinder von der glücklichen Wahl oder strengen Beaufsichtigung der sogenannten Waisenväter ab. Nicht immer zum Vortheil dieser Anstalten gereichte es, als neuere gesetzliche Regelungen des Armenwesens die Sorge für die Waisen da, wo keine Stiftung für sie bestand, den Stadt- oder Dorfgemeinden zuwiesen. Es muß erwähnt werden, daß die vielen Kriegsjahre in Deutschland die Verarmung vieler Landstriche herbeigeführt hatten, und wir müssen es wohl als eine der traurigsten Folgen der schweren Schicksale der Nation angeben, daß man noch zu Anfang unseres Jahrhunderts so häufig Irren-, Zucht- und Waisenhaus unter einem Dach finden konnte. Die Waisenkinder waren eben eine öffentliche Last, die man, weil man sie tragen mußte, sich möglichst leicht zu machen suchte. Armen- und Hirtenhäuser mußten herhalten, wo es keine Waisenhäuser gab, und selbst wo diese als öffentliche Anstalten erhalten wurden, verrieth schon das Aeußere der Waisen, daß vom Glück der Kindheit wenig auf sie kam.

Da sahen wir sie, wenn sie vom Waisenvater ins Freie geführt wurden, je Zwei und Zwei in langer Reihe blaß und freudlos dahin wandeln; wie neidisch blickten sie zu den Spielplätzen der andern Kinder hin, von denen sie für immer geschieden waren, und wäre es nur wegen ihrer Waisenkleidung gewesen. Unwillkürlich stellte man sich die Frage: warum diese armen Kinder von Allem entfernen, was die Familie allein dem Kinde bieten kann? – Da konnte es wohl einem kinderfreundlichen Poeten einfallen, mit zornigen Versen an die Herzen der Menschen zu Pochen, wie:

Müssen Waisenkinder blaß aussehen?
Muß das Waisenkleid die Armen scheiden
Ewig von der Kindheit Blumenthal?
Darf kein Hauch der Liebe sie umwehen
Darf erwärmen sie kein Freudenstrahl?

O wie jauchzt der freie Schwarm im Spiele,
Wangen roth und Augen lusterglüht –
Streng in Reihe nach gestrengem Ziele
Zieht die Schar der armen bleichen Kinder,
Matten Auges, wie im Keim verblüht.

Schweigt, die ihr von Liebe liebt zu sprechen
und der wahren Liebe Wort nicht glaubt!
Jedes Waisenhaus ist ein Verbrechen
An den Herzen all der armen Kinder,
Denen es das Glück der Liebe raubt! -“

Niemand wird leugnen, daß es eine Zeit gab, wo diese Klage gegen viele Waisenhäuser eine gerechte war; dafür zeugt ja am lautesten der Eifer, mit welchem man den Gedanken erfaßte, Waisenkinder in Pflege und Erziehung in Familien unterzubringen. Das arme, ohne Eltern- und Geschwisterliebe in der Welt stehende Kind sollte nicht mehr durch das Waisenkleid von allen andern Kindern geschieden werden: es sollte einem häuslichen Kreise angehören, sollte wenigstens Theil haben an der Liebe, welche den Kindern der Familie zu Gute kam. Das klang so schön und hätte so segenbringend für die Kinder sein können, wenn nicht wieder die obrigkeitlichen Rechenexempel dazwischen gekommen wären. Anstatt für jedes Kind, dem Alter angemessen, eine bestimmte Summe für Nahrung und Pflege festzusetzen, versteigerte man die Kinder an die Mindestfordernden – offenbar nicht zum Besten der armen Kinder, sondern zu dem der Gemeindekassen. Unter solchen Umständen mußte das Schicksal der Waisen dem glücklichen Zufall ungewöhnlicher Gutmüthigkeit solcher Pflege-Eltern überlassen sein. Wo aber ein Kind nur des Kostgelds wegen aufgenommen war, da hatte es auch den obrigkeitlichen Kassenvortheil als bitteren Nachtheil zu tragen. Schon den Beispielen von Mißhandlung solcher Kinder, welche an die Oeffentlichkeit gekommen sind, ist die traurige Vermuthung zu entnehmen, daß der gute Gedanke dieser Einrichtung recht oft nicht in Erfüllung gegangen ist.

Daß die „Engelmacherei“ nicht bloß in England, Frankreich etc. zu suchen war, sondern auch bei uns die Reihen der Kindergräber schreckbar vermehrte, hat zu dem Guten geführt, daß dem Ziehkinderwesen von verschiedenen städtischen Armenämtern endlich eine gewissenhafte Aufsicht zu Theil wurde.

Wenn diese dem Ziehkinderwesen allenthalben gewidmet würde, so wäre von demselben der schwerste Vorwurf genommen, denn ein anderer, der von der eifrigen Verfechterin des Anstaltssystems, Helene Adler („Ueber Waisenerziehung“, Frankf. a. M., W. Erras), erhoben wird: „daß mit diesem System das Kind zu einer Erwerbsquelle für Andere erniedrigt werde“, greift zu weit und ist auch den Anstalten nicht ganz zu ersparen. Soll aber, neben Nahrung und körperlicher Pflege, ein Hauptgewicht auf die Erziehung gelegt werden, so gewinnt eine in allen Theilen gute Anstaltseinrichtung, bei welcher „das Zusammenleben der Kinder in einem gemeinschaftlichen Hauswesen“ nicht zu „Schablonendressur und sklavischer Zucht“ mißbraucht wird, allerdings wieder die Vorhand, denn Das ist wenigstens unwiderleglich, „daß man leichter einen oder mehrere tüchtige Erzieher für Hunderte von Waisen, als gleiche Hunderte von würdigen und fähigen Pflege-Eltern finden kann“.

Die größte Empfehlung für das Anstaltssystem sind in jüngster Zeit die Reichswaisenhäuser zu Lahr, Schwabach und Magdeburg und das Kriegerwaisenhaus zu Römhild geworden. Dabei ist’s erfreulich, daß man von Lahrer Seite ausdrücklich erklärt, die Leiter des Reichswaisenhauses seien keineswegs grundsätzlich gegen die Erziehung der Waisen in Familien, wenn dieselbe im rechten Sinn und Geiste geführt werde; sie sähen aber in der Anstalt, unter gleicher Führung, auch nichts Anderes, als eine Familie im Großen, die bemüht ist, arme, verlassene Waisen für ihr späteres Leben glücklich zu machen. – Wir stimmen der Meinung [666] bei, daß beide Richtungen der Waisenpflege sich nicht bekämpfen, sondern beide bemüht sein sollen, jede für ihren Theil auf diesem wichtigen Gebiet der öffentlichen Wohlfahrt das möglichst Beste zu leisten; dann wird ja mit der Zeit der Erfolg lehren, welches der beiden Systeme den Vorzug verdient. Auch hier gilt das Wort der Schrift: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen und dann an dem Werth, den sie dem Kinde beilegen und verleihen.

Höhere Ansprüche an Menschenliebe und Opferfähigkeit, als diese beiden Verpflegungsarten, erhebt an die Wohlthäter die Versorgung, für welche die „Gesellschaft der Waisenfreunde“ seit Jahren im Stillen thätig ist: die Versorgung von armen Waisen bei kinderlosen Ehegatten. Hier erhält der Werth des Kindes seinen höchsten Preis, denn nur er vermag zu entgelten, was die freie Liebe darbietet; keine fremde Hand drängt sich mit Beisteuer und Weisung zwischen Kind und Pfleger; es tritt das reine Elternverhältniß in sein Recht.

Dieser Versorgungsweg duldet kein geräuschvolles Werben in der Weise der Reichsfechtschulen, kein lautes Hinausschreien der Kinder- und Elternnamen, kein öffentliches Lob glücklicher, keinen lauten Tadel mißlungener Wahl; es handelt sich um eine Herzenssache, deren Wohl oder Wehe das Haus allein beseligt oder betrübt. Auswahl und Annahme eines armen Kindes von Seiten kinderloser Gatten, welche in Verhältnissen leben, die sie in den Stand setzen, für die Zukunft eines ihnen anvertrauten Wesens nach menschlicher Einsicht genügend sorgen zu können, kann nur eine Handlung höchsten Ernstes und größter Gewissenhaftigkeit sein, und zwar nicht bloß für die betreffenden Ehegatten, sondern auch für die vermittelnden „Waisenfreunde“, die keinen Augenblick vergessen dürfen, daß sie die Verfügung über das Schicksal eines Menschenlebens in die Hand nehmen.

Je größer die Verantwortlichkeit auf beiden Seiten, um so freudiger dürfen sich Pflege-Eltern und Waisenfreunde die Hände drücken, wenn ein solcher Wurf gelang, und wir können es mit Genugthuung aussprechen: wir haben nur wenige Fälle zu beklagen, wo die Wahl mißlang. Wir müssen in dieser Beziehung auf den Bericht verweisen, welchen der Geschäftsführer unserer „Gesellschaft der Waisenfreunde“, Herr Schuldirektor K. O. Mehner in Burgstädt bei Chemnitz,[1] demnächst dieser allgemeinen Erinnerung an dieselbe wird nachfolgen lassen: er, der mit vollster Hingebung alle seine pflichtfreie Zeit, die Andere der Erholung widmen, diesem Liebeswerke opfert, hat es wohl verdient, daß er auch die Freude genieße, über die Erfolge seiner Geschäftsführung selbst die Mittheilung zu machen.

Dagegen haben wir noch ein Wort über Mutterliebe und Kindeswerth hinzuzufügen. Wir haben unsere Pflegemütter, der Mehrzahl nach nunmehr Mütter von an Kindesstatt angenommenen Waisen, gegen einen Vorwurf zu vertheidigen, der zwar von einer männlichen Feder geschrieben, doch in einer „Frauenzeitung“ abgedruckt war. Geschah dies auch vor längerer Zeit und könnte man die Phrase, welche offenbar nur eine Schmeichelei für die Mütter sein sollte, als längst vergessen bezeichnen, so hat man es doch hier mit einem tiefverletzenden Ausspruch zu thun, der ein schwankendes Frauengemüth von dem besten Entschluß für ein armes Waisenkind zurückschrecken kann. Jene Phrase ist direkt an ein Waisenkind gerichtet, das alle mögliche Liebe erfahren haben muß, aber dennoch auch noch Folgendes erfährt: „Wenn Dich auch diejenige, die an die Stelle der todten Mutter trat, innig liebte, wenn Dir auch alle Rauhheit und Bitterkeit des Lebens fern gehalten wurde – eines ist Dir nicht geworden – Mutterliebe, Mutterliebe ist Sonnenlicht, warmer goldner Strahl; die Liebe derer, die an verwaister Stätte walten, gleicht der künstlichen Wärme des Treibhauses – natürlich ist sie nicht.“ – In gleichem Geiste müßte nun das Kind logisch folgern: da man mir die Mutterliebe schuldig geblieben ist, so ist auch meine Kindesliebe nicht natürlich, und es ist somit jede solche Adoptivwohlthat ein unnatürliches Unterfangen.

Der Phrasenklingklang wäre der Beachtung nicht Werth, wenn er nicht schon nahezu Unheil angestiftet hätte. Ein Ehrenmann, der, nach längerer kinderloser Ehe, seiner kinderfreundlichen Gattin den sonst so öden Weihnachtstisch mit einem Waisenkindchen, einem zweijährigen Knaben, geschmückt hatte, schreibt uns in Bezug auf das Obige: „Meine Frau wurde durch diese Zeilen wie von einem erkältenden Hauche berührt; sie meinte, wenn diese Worte Wahrheit enthielten, so sei ja all die warme Liebe, die wir unserem angenommenen Sohne entgegenbringen, eine verlorene, alle Freuden, die wir bisher an ihm erlebt und noch von der Zukunft erwarten, Truggebilde, die wir uns selbst vorlügen. – Zum Glück bin ich über den Begriff ‚Liebe‘ in der hier in Betracht kommenden Beziehung etwas anderer Meinung, als der Verfasser obiger Zeilen. Wie nun dann, wenn ein Kind seine leiblichen Eltern überhaupt nicht gekannt hat, und wenn stellvertretende Eltern nie das Gefühl kannten, das den Besitz eigener Kinder begleitet? Ist denn die entstehende gegenseitige Zuneigung zwischen Pflege-Eltern und dem angenommenen Kinde nicht Liebe, und ist diese Liebe wirklich nicht natürlich? Ist es wirklich unnatürlich, wenn meine Frau äußert: ,Ich gebe unsern Sohn (den wir nun sieben Jahre haben) um alle Schätze der Welt nicht wieder her’? – Leider werden nicht alle Leser und Leserinnen jener Frauenzeitung so unbefangen denken und urtheilen, wie ich, und es dürfte der Gesellschaft der Waisenfreunde durch den genannten Artikel ein schlechter Dienst erwiesen worden sein.“

So weit unser Freund; seine Befürchtung glauben wir durch die Mittheilung seines eigenen Briefs gemildert zu haben. Eine Verstärkung dieser Milderung aber hat uns eine treffliche Frau gebracht, deren Worte ebenfalls verdienen, hier mitgetheilt zu werden, denn sie stützt sich auf unsere Behauptung, daß nur deßhalb so wenig kinderlose Eheleute sich zur Annahme einer Waise entschließen, weil sie den Werth eines Kindes nicht zu schätzen wissen; nur zur Weihnachts- und Osterzeit, wenn Kinderjubel selbst die armen Familien beglückt, geht ein Schatten durch das kinderleere Haus trotz seines sonstigen Glanzes und Ueberflusses.

Die treffliche Frau, die wir eben erwähnten, schreibt uns: nach siebenjähriger, kinderloser, aber trotzdem glücklicher Ehe starb die Schwester ihres Gatten sechs Tage nach der Geburt eines äußerst schwächlichen Kindes, für das die entsprechende Pflege im Hause des Wittwers nicht vorhanden war. Mit Zustimmung ihres Gatten nahm die Frau, in der Sorge um das bedrohte junge Leben, das Kind zu sich – und um nichts halb zu thun, wurde es auch sofort adoptirt und in allen Kindesrechten etwa noch zu erhoffenden eigenen Kindern der Gatten gleichgestellt. Wir erfahren weiter:

„So hatte ich denn plötzlich für ein so kleines, hilfloses Wesen zu sorgen; dasselbe war zwar organisch gesund, aber über die Maßen zart und bedurfte, nach der Aussage des Arztes, überaus sorgfältige Behandlung, um am Leben erhalten zu werden. Eine ungeahnte Fülle von Arbeit, Nachdenken, Prüfen, Aufmerken war über mich gekommen, um gewissenhaft den Vorschriften des Arztes zu entsprechen, – aber der Erfolg lohnte alle Mühe; das Kind gedieh, wurde mit den Jahren an Körper und Geist gesund und kräftig, – und es blieb auch unser einziges Kind.

Das war der äußere Erfolg. Welche Fülle des Glücks mir aber durch dies Kind erschlossen wurde, vermögen keine Worte zu schildern. Noch nie habe ich eine Minute bereut, was ich für dasselbe gethan habe, und das höchste Glück, das ich mir vom Schicksal erflehe, ist, daß es mir vergönnt sein möge, die Erziehung des Kindes zu vollenden und es zu einem nützlichen Menschen herangebildet zu sehen. Und mein Mann? Ihn mit dem Kinde jubeln zu sehen, ist ein wahrhaft rührender Anblick; er ist im Besitz desselben so glücklich, wie ich es bin.“

Ist das nicht Elternliebe, ist das nicht Mutterliebe in aller Wahrheit und Natur? Und ist der Werth eines Kindes höher zu schätzen, als dieser Adoptivvater, diese Adoptivmutter es gethan? Der Werth eines Kindes ist unschätzbar und nur durch die reinste Liebe zu vergelten. – Mögen denn hiermit abermals Kinderlose, welche die Leere im Haus und im Herzen still beklagen, auf die Gelegenheit hingewiesen werden, durch die Bereitwilligkeit der Gesellschaft der Waisenfreunde den herrlichsten Ehrenschmuck für Herz und Haus durch die Beglückung eines Kindes zu erwerben!
Friedrich Hofmann.



[667]

Blätter und Blüthen.

Der König des Zululandes und sein Krokodilorden. Der Afrikareisende Augustus Einwald, welcher jetzt auf der fünften Forschungsreise nach dem Hererolande, Srambolande, Bamangwato und Sambesi und in das noch unbekannte Centralafrika begriffen ist, brachte im Jahre 1885 längere Zeit im Zululande zu, um die Kolonisirung desselben durch Deutsche ins Werk zu setzen. König Dinizulu, ein Sohn des bekannten Ketschwayo, ging darauf bereitwillig ein und hat Einwald zu dieser Besiedelung urkundlich eine Landstrecke überlassen. Der jugendliche, sehr intelligente König kannte die deutschen Zustände genau und sprach insbesondere auch mit großer Verehrung von dem mächtigen Kaiser Wilhelm und seinem unbesiegbaren Heere. Das Zululand ist das „Paradies von Afrika“, wie denn auch der Name Zulu „Kinder des Himmels“ bedeutet. Das Heer des Königs Dinizulu ist wohlgeordnet und in Regimenter und Divisionen eingetheilt. Das Land bietet unerschöpflichen Reichthum; so die Küste bei Port Natal Zucker, Korn, Hafer, Mais, Kohlen, Eisen und Gold. Der große Vortheil der Kolonisirung würde darin liegen, daß eine direkte Verbindung von der Sanct Lucia-Bay nach Angra Pequena geschaffen würde. Charakteristisch für den König Dinizulu ist es, daß er einen Orden gestiftet hat. Derselbe führt den Namen Krokodilorden, zerfällt in zwei Klassen und wird am grün-gelb-rothen Bande getragen. Ein solcher erster Klasse, der uns vorliegt, ist Eigenthum Einwald’s und ihm von Dinizulu persönlich überreicht worden. Er zeigt ein rundes goldenes Schild, in dessen oberem Felde ein Sekretärvogel mit einer Schlange im Schnabel, im unteren Felde ein Krokodil und im Mittelfelde Streifen in Grün und Roth dargestellt sind. Die Einfassung bilden vier mit grünem Krystall ausgefüllte Spitzen und vier Kriegsschilder aus weißem Email. Dazwischen treten acht goldene Speere, Assagais, hervor.

Krokodilorden des Zulukönigs, 1. Klasse.

Der Krokodilorden zweiter Klasse wurde, auf Einwald’s Befürwortung, in Folge einer erwiesenen Aufmerksamkeit, von Dinizulu einem Leipziger Buchhändler verliehen. Diese Dekoration hat Medaillenform und die Größe eines Fünfmarkstücks. Auf dem Avers befindet sich ein geschweifter Schild mit drei Feldern, deren oberes den Sekretärvogel mit der Schlange, das mittlere den Kriegsschild und das untere das Krokodil zeigt. Oben treten auf jeder Seite vier Speere hervor. Die Krönung des Schildes bildet eine Ananas zwischen zwei Straußenfedern, von einem Häuptlingsring umschlungen. Eingefaßt ist das Ganze auf einer Seite von der Kaffeepflanze und auf der andern von der Fächerpalme. Die Kehrseite der Medaille lehrt uns auch die Zulusprache kennen. Die hier befindliche Inschrift lautet: „Dinizulu inkos ka ilizwe amazulu Uku Ludwig Fischer ngokuba fanela. Emnyati 1885.“ Das heißt in der Uebersetzung: „Dinizulu, König des Zululandes, seinem Ludwig Fischer für Verdienste. Emnyati (Königskraal) 1885.“ Diese beiden sehr hübsch und heraldisch richtig ausgeführten Dekorationen des Zulu-Krokodilordens dürften die einzigen sein, welche nach Europa gekommen sind. Wie Augustus Einwald, der vorigen Herbst in Leipzig war, uns mittheilte, wird bei seiner Rückkehr von der jetzigen Reise, die auf 1889 festgesetzt ist, ihn der König Dinizulu mit einigen seiner vornehmsten Häuptlinge begleiten und auch in Leipzig Aufenthalt nehmen, von wo er eine gastliche Einladung erhalten und angenommen hat.

Der Philosoph von Königsberg. Von dem großen Immanuel Kant, welcher seiner Vaterstadt den Namen „Stadt der reinen Vernunft“ verschaffte, von diesem berühmtesten Denker des vorigen Jahrhunderts werden sich unsere Leser, selbst wenn sie mit seinen großen Werken vertraut sind, meistens doch kein in scharfen Umrissen gehaltenes Bild machen können. In seiner interessanten Schrift „Kulturbilder aus Altpreußen“ (Leipzig, Karl Reißner) giebt uns Alexander Horn nach den Berichten der Zeitgenossen ein wohlgetroffenes Portrait des Philosophen, das sich in den geschichtlichen und landschaftlichen Bilderfries, der uns des deutschen Ordens Fahrten und Sitten, des Volkes Eigenthümlichkeiten, des Landes Städte, Seen und Berge, vor Allem die Hauptstadt am Pregel vorführt, als fesselndes Medaillon einfügt. Da berichtet ein Besucher des „Patriarchen“:

„Er hat etwas Bewegliches, Feines, Freundliches um den Mund und um seine hellen blauen Augen. Er geht schon gebückt und sein Haarbeutel fällt ihm immer vor, weil er etwas schief ist. Beim ersten Besuche, Morgens halb acht Uhr, fand ich ihn im gelben Schlafrocke mit einer rothen seidenen polnischen Binde, in der Schlafmütze arbeitend. Er empfing mich sehr freundlich, sprach sehr viel – schwatzte beinahe meist von Kleinigkeiten, scherzte mit sehr viel Witz und sagte einige ganz originelle Bemerkungen über Schwärmerei und besonders über die gelehrten Damen und ihre Krankheiten. Er liest Logik öffentlich, täglich Morgens sieben Uhr, zweimal in der Woche physische Geographie. Sein Vortrag ist ganz im Tone des gewöhnlichen Sprechens und, wenn Sie wollen, nicht eben schön.

Stellen Sie sich ein altes kleines Männchen vor, das gekrümmt, in braunem Rocke mit gelben Knöpfen, eine Perücke und den Haarbeutel nicht zu vergessen, dasitzt; denken Sie noch, daß dieses Männchen zuweilen seine Hände aus dem zugeknöpften Rocke, wo sie verschränkt stecken, hervornimmt und eine kleine Bewegung vors Gesicht macht, wie wenn man Einem etwas so recht begreiflich machen will, so sehen Sie ihn auf ein Haar.“

Der größte Denker des 18. und der größte Feldherr des 19. Jahrhunderts, Kant und Napoleon, waren beide von auffallend kleiner Statur. Kant war kaum 5 Fuß groß, von flacher Brust; sein rechter Schulterknochen trat etwas vor; sein strahlendes blaues Auge erglänzte beim Vortrage; seine Haare waren blond, seine Gesichtszüge bis ins hohe Alter frisch und gesund; sein Gehör ungemein scharf; seine einfache regelmäßige Lebensweise hielt bis in sein höheres Alter größere Krankheiten von ihm fern. Er stand pünktlich Sommer und Winter 5 Uhr früh auf, schlief (nur Nachts) 7 Stunden. Nachmittags ging er eine Stunde spazieren, mochte das Wetter noch so schlecht sein; seine Kleidung war immer gewählt und anständig. Seine Spaziergänge, sein regelmäßiges Erscheinen auf dem Philosophendamm und sein Diener Lampe sind bekannt. Mit Hilfe eines Freundes, eines englischen Kaufmanns, hatte er sich ein bedeutendes Vermögen gesammelt, das ihn im Alter der Sorge überhob, obwohl mancher Student das Honorar schuldig blieb und Kant es nie gefordert hat. Seine Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit achtete und ehrte in jedem Menschen dessen besondere Eigenthümlichkeiten, und niemals ist er schroff oder absprechend aufgetreten. Seine Vorlesungen hielt er pünktlich und hat in den Jahren 1775 bis 1780 und 1784 bis 1793 nicht eine einzige Stunde ausfallen lassen. Er saß auf geringer Erhöhung vor einem kleinen Pulte und sprach die ganze Stunde frei nach einem Notizenzettel, so leise, daß man Mühe hatte ihn zu verstehen, mit einem Geistreichthum, der den seiner Bücher weit übertraf, dabei mit einer Klarheit des Gedankenausdrucks, den alle seine Zuhörer einstimmig anerkannten. Selbst in seinen Tischgesprächen warf er massenweise geniale Gedanken hin, die oft verloren gingen, weil er nicht mehr darauf zurückkam.

Kant hatte ein kindliches Gemüth und hielt sich selbst für keinen großen Mann. Viele, die heute dicke Bücher über ihn schreiben, bilden sich weit mehr auf ihre Leistungen ein; doch Bescheidenheit ist stets eine Mitgift des wahren Genius.

Die Fasanenjagd. (Mit Illustration S. 661.) Ein klarer Oktobermorgen lacht über der parkartigen Landschaft; die wenig geschlossenen Baumgruppen und das dichte niedrige Gestrüpp prangen in buntem Blätterschmuck und auf den absterbenden Gräsern glitzern Reif und Thau. Aus der Ferne ertönt der heisere Ruf ka – kack. Der Fasanenhahn verräth seine Anwesenheit und lockt den Jäger. Der schmucke Vogel hat jetzt sein prächtigstes Kleid angelegt und um diese Zeit ist auch sein Fleisch am mundgerechtesten. Also auf mit dem Hühnerhund zur Fasanenjagd! Zu den interessantesten Jagden dürfte sie schwerlich gehören; denn das Wild, dem sie gilt, ist keineswegs schlau und klug. Der Hund eilt vorwärts auf der frischen Fährte; durch Busch und Gestrüpp folgt ihm der Jäger und bald ist das Wild gestellt im vollsten Sinne des Wortes. Der gut geschulte Hund bleibt bei dem Anblick des Vogels stehen, und auch dieser hält, vom Schreck gebannt, still und schaut mit starren Blicken seinen Feind an: eine seltsame Gruppe! Da knackt das dürre Reisig unter den Tritten des nahenden Jägers; der Fasan erwacht aus seiner Starrheit; er flieht gerade aus, ko … ko … ko … tönt sein Angstruf; er steigt mit schwerem Flügelschlag empor und für einen geübten Schützen ist der Schuß wahrlich kein Kunststück. Aber er muß sich beeilen; denn der Fasan weiß sich bald sicher in dem dichten Gestrüpp, und wenn er dasselbe erreicht hat, bietet die Jagd nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Wiederholt wird das Wild aufgetrieben; aber in dem Labyrinth von Dornhecken und niedrigen Büschen versteht dasselbe, den Hund und den Jäger unzählige Male zu täuschen. Dann wird die Fasanensuche mit einem Male ein schwieriges Waidwerk; dann erfordert auch sie kaltes Blut und mehr als eine andere die Kenntniß des Terrains.

Freilich, ein Fasan gleicht nicht dem anderen. Bei uns ist er ein fremder, von Menschen eingeführter und von Menschen gepflegter Vogel. Obwohl er in parkartigen Waldungen in Freiheit gesetzt wird, bleibt er in der Regel keineswegs sich allein überlassen. In der Brutzeit sucht man mit Hunden das Terrain ab und sammelt aus den Nestern die Fasaneneier, welche daheim auf dem Hühnerhofe oder in der Fasanerie die Truthenne ausbrütet; denn für das junge Fasanengeschlecht ist diese eine viel sorgsamere Mutter als die Fasanenhenne.

Der Aufenthalt im Geflügelhofe schärft keineswegs die Sinne unseres Vogels, und wenn er auch später freigelassen wird, so haftet ihm doch immer etwas von dem träumerischen Charakter unseres Hühnervolkes an: er bleibt ein halbgezähmter Vogel, welcher dem Jäger ein leichtes Spiel bietet.

Hier und dort findet man jedoch Fasanen, die schon seit Generationen in der Freiheit großgewachsen sind, und es unterliegt keinem Zweifel, daß diese im Kampf ums Dasein gestählten und vorsichtig gemachten Naturen ein schwer zu erlegendes Wildgeflügel abgeben.

Auf alle Fälle aber ist die Aufzucht eines größeren Bestandes von Fasanen stets mit vieler Mühe verbunden, und der Fasan bleibt immer ein „theurer Braten“, der mehr kostet, als er werth ist. *

„Gelehrte Bauern“. Die Chronik früherer Zeit und der Gegenwart berichtet uns gleichmäßig von gelehrten Bauern. In dem Dorfe Rothenacker bei der freundlichen Kreisstadt Schleiz hat von 1606 bis 1671 jene einzigartige, phänomenale Erscheinung in der Gelehrtengeschichte des 17. Jahrhunderts gelebt, welche kurzweg als „der gelehrte Bauer“ bezeichnet wird. Nikol Schmidt, genannt Künzel, seines Zeichens zeitlebens ein Bauer, war mit 51 meist orientalischen Sprachen mehr oder weniger vertraut; er sprach dieselben entweder oder er besaß in der [668] Mehrzahl derselben schulmäßige Kenntnisse. Zu diesen Sprachen gehörten: lateinisch, griechisch, hebräisch, chaldäisch, syrisch, arabisch, persisch, armenisch, abyssinisch, ägyptisch, äthiopisch, türkisch, samaritanisch etc. Das Neue Testament konnte er in 14, das alte in 6 Sprachen auswendig. Den 16jährigen Analphabeten unterweist der im Dienste des Vaters stehende Kuhjunge, der die Winterschule besucht hat, während der Arbeit in Feld, Wiese und Wald im Buchstabiren, Des Vaters strenges Verbot fährt dazwischen. Aber dann erkrankt Nikol. Mit heißem Eifer studirt nun der zur Arbeit Untaugliche das A-B-C-Buch und buchstabirt den Katechismus durch. Des Sonntags merkt Nikol in der Kirche wohl auf, wie der Prediger die ihm zu schwer gewesenen Worte ausspricht. Dann lehrt ihn der Mutter Bruder schreiben. Und nun bricht sich das seltene Talent des Bauernsohnes energisch Bahn. Einen Katechismus in lateinischer Sprache hält Nikol gegen den deutschen und vergleicht beide mit einander. Dann wandert er zu den Buchhändlern bez. Buchbindern in Schleiz, Jena, Hof und Nürnberg und schafft die Bücher herbei, die ihm für seine in stiller Nacht und oft nur beim bleichen Scheine des Mondes mit heißem Bemühen betriebenen Studien nothwendig sind. Nach vier Jahren versteht er einen leichten lateinischen Schriftsteller. Dann bedeckt er die Wände der Scheune im väterlichen Gehöft mit dem griechischen, hebräischen, chaldäischen, arabischen Alphabet, und während der junge Bauer drischt, studirt er die fremden Schriftzeichen.

Allmählich war „der gelehrte Bauer“ in weiteren Kreisen bekannt geworden. Er wird an die Höfe zu Weimar, Schlackenwerth, Dresden und Gera „begehret“ und überall ist er Gegenstand ungeheuchelter Bewunderung. Nicht ohne Rührung betrachtet man den großen Selbstzögling, der die vollendete Reife eines gründlich gebildeten Gelehrten vor Männern entfaltet, die selbst als ausgezeichnete Gelehrte glänzen. Neben prosodischen Uebungen beginnt „der gelehrte Bauer“ dann physikalische, astronomische, meteorologische, botanische, chemische, optische, mathematische Studien. Auf einem seiner Wohnhäuser legt er sich eine Sternwarte an, und sucht mit Hilfe der auserlesensten mathematischen und astronomischen Instrumente die Geheimnisse der Fernen des Himmels zu erforschen. Bei seinen meteorologischen Beobachtungen nimmt er sorgsam Rücksicht auf die Polhöhe von Rothenacker, die er ziemlich genau mit 50° 30′ bezeichnet. Allein die grimmige Noth seiner Zeit schonte auch seiner nicht. Haus, Hof und Felder wurden in den Stürmen des Krieges verwüstet. Die Geißel der Sorge treibt den materiell zu Grunde Gerichteten auf den Markt. In Folge des reiflich erwogenen Zuredens einflußreicher Freunde wird aus dem gelehrten Sprachenkenner ein deutscher Kalenderschreiber, der den gerade damals brennend gewordenen Kampf zwischen Julianismus und Gregorianismus in die Wege der goldenen Mitte leitet. Die von der Endterischen Buchhandlung in Nürnberg verlegten Schmidt-Künzel’schen Kalender fanden reichen Absatz. Und als am 26. Juni 1671 Nikol Schmidt im Sterben lag, durfte seine das Todtenbett mit Thränen umstehende Familie dankbar anerkennen, daß er auch ein treusorgender Vater gewesen, den die Mit- und Nachwelt mit Recht nicht anders bezeichnete, als mit dem Ehrennamen „der gelehrte Bauer“.

In neuer Zeit kommt uns Kunde von einem schwäbischen Bauernpoeten, der auch über ein reiches Wissen gebietet. Daß man den Pegasus an den Pflug spannen kann, beweist ein so begabter Dichter wie Christian Wagner aus Warmbronn, dessen „Sonntagsgänge“ in zweiter Auflage erschienen sind (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer). Er ist ein Landmann, der in einfachsten Verhältnissen lebt und nicht einmal von seiner schlichten Thätigkeit erfreuliche Erfolge sieht; denn es geht oft sehr karg bei ihm zu. Geboren ist Wagner am 5. December 1835 in Warmbronn bei Leonberg als einziges Kind eines Schreinermeisters; er war in frühen Jahren kränklich und schwächlich, erstarkte aber allmählich, und jetzt ist er ganz gesund. Die „Sonntagsgänge“, die der Dichter gemeinsam mit dem Sohn Oswald und einem Brahminen antritt, athmen den Geist einer seltenen Schonung und Verehrung alles Lebendigen, wie er im Lotosblumenlande üblich ist: die Dichtung enthält sinnige Märchen und eine Menge philosophischer Betrachtungen in Versen, die oft recht schwunghaft sind, hier und dort an Rückert und Leopold Schefer erinnern. Ein Bauer als Gedankenpoet: das ist jedenfalls etwas Seltenes.

Altrömischer Luxus. Als König Tiridates sich zu Rom als Gast befand, ließ Kaiser Nero alltäglich zur Bestreitung seines Hofstaats 20 000 Thaler anweisen, so daß der Besuch, als er nach neunmonatlichem Aufenthalte abreiste, 5 400 000 Silberkronen gekostet hatte. Der Kaiser Caligula führte einen so verschwenderischen Haushalt, daß er in einem Jahre 671 Tonnen Goldes brauchte, also während seiner noch nicht vierjährigen Regierungszeit beinahe 73 Millionen Thaler. Heliogabal war ein solcher Verschwender, daß er ein Kleid, wenn auch noch so kostbar, nicht mehr als einmal anlegte. In den Lampen brannte der köstlichste Balsam; ganze Bassins ließ er mit Rosenwasser füllen und die kostbarsten Edelsteine schmückten seine Schuhe. Das geringste seiner Kleider bestand aus Goldstoff und Sammet, und die einfachste Mahlzeit durfte nicht weniger als 3000 Goldstücke kosten. Bei einem Festmahle ließ Heliogabal 6000 Straußenköpfe aufsetzen, aus welchen die Gäste nur das Gehirn genießen sollten, und nachher fand im Park auf einem mit Wein gefüllten Bassin ein kleines Seetreffen statt. Die Fußböden seiner Gemächer und der Schaubühne waren mit gefeiltem Golde bestreut, damit man sanft auftreten konnte, und die gewöhnlichsten Geschirre bestanden aus den edelsten Metallen. Da die Wahrsager Heliogabal verkündet hatten, er werde keines natürlichen Todes sterben, so ließ er sich für den Nothfall, um durch eigene Hand zu sterben, Stricke von Gold und indischer Seide und goldene edelsteinbesetzte Dolche anfertigen, auch einen mit Gold und Edelsteinen überladenen Thurm zum Herabstürzen bauen. Er konnte jedoch diese Todesmittel nicht verwenden, denn am 6. März des Jahres 222 wurde er durch seine Leibwache ermordet und der Körper in den Tiber geworfen.

Grausame Strafe für Bienenfrevler. Im Lande Lauenburg und Bütow, welches der Kurfürst von Brandenburg 1657 von Polen zu Lehen empfing und dem Herzogthum Hinterpommern einverleibte, nachdem es vorher zu Polnisch-Preußen gehört hatte, wurde auch die Bienenzucht eifrig betrieben, welche durch eine aus vorbrandenburgischer Zeit stammende Ordnung geschützt wurde. Dieselbe enthielt einige sehr strenge, ja grausame Strafen. Artikel 16 des Büthener- (das ist Bienenzüchter-, Zeidler-) Rechtes lautete: „Wer eigenwillig fremde Bienen besteiget, oder heimlich bestielt, soll ohne einige Gnade mit dem Galgen bestraft werden.“ Die Bienenstöcke waren in den Wäldern in abgestandenen Bäumen angelegt. Eine fürchterliche Strafe stellte aber der folgende Artikel in Aussicht; er lautet: „Wer entweder seine eigene oder fremde Bienen aus der Büthen (Bienenstock) ganz ausnimmt, der soll ohne einige Gnade dem Henker überantwortet werden, welcher ihm alles sein Gedärme und Eingeweide umb die bestohlene Fichte herumwinden, und ihn hernach an eben selbiger erhenken soll.“ Also sogar gegen ihren eigenen Besitzer wurden die Bienen durch diesen Paragraphen geschützt. Auch noch auf andere Vergehen gegen diese Ordnung stand die Todesstrafe; leichtere Uebertretungen derselben wurden durch Geldstrafen und Spenden von Bier gesühnt.

Alte Tänze. So erfinderisch auch unsere Ballettmuse sein mag – sie kann doch noch bei den gesellschaftlichen Tänzen des Mittelalters in die Schule gehen. Im Jahre 1404 gab die Stadt Berlin dem Ritter Dietrich von Quitzow, mit dem sie vorher in arger Fehde gelebt, ein Ballfest zur Feier der Versöhnung: auf dem Rathhause wurde tüchtig geschmaust und die Gäste wurden dann, wie es sich wohl nöthig zeigen mochte, mit Laternen in ihre Herbergen geleitet. Man tanzte auf dem Feste 1. den Zwölfmonatstanz, bei welchem die Paare durch Bewegungen das Zu- und Abnehmen des Mondes und der Jahreszeiten nachahmten; 2. den Todtentanz, wobei ein Herr oder eine Dame sich todtstellte und von den Uebrigen geküßt wurde; 3. den polnischen Tanz, der in Kippen und Wippen des Leibes bestand; 4. den Schmoller, das Schmollen und Sichversöhnen Liebender darstellend, und andere Tänze. Gegen dies reichhaltige und originelle Tanzrepertoire muß das Programm unserer heutigen Ballabende ziemlich einförmig und dürftig erscheinen.

Allerlei Kurzweil.
Die Burgruine.


Buchstaben-Räthsel.

Am Heilquell kannst Du es in Scharen
Bald krank, bald frisch mit B gewahren;
Mit L ein Meister ist’s von Werken,
Die vieler Frommen Andacht stärken;
Mit R ein Gott, dem einst erklang
Der Slawenpriester Lobgesang. G. Lindner.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

B. in K. Die Sitte oder vielmehr die Unsitte, vor dem Keltern die Trauben mit den Füßen zu treten, hat schon Karl der Große in seinen Kapitularien verboten. Petrus de Crescentius verlangte im 13. Jahrhundert, daß die Füße wenigstens rein seien, daß man aus der Kelter nicht ein- und auslaufen, in derselben der Reinlichkeit halber nicht essen und trinken solle. – An einigen heute noch berühmten Orten wurde der Wein schon vor mehr als 1000 Jahren gebaut. So besitzen wir schriftliche Aufzeichnungen über Weinberge in Aßmannshausen aus dem Jahre 800 n. Chr., in Ingelheim aus dem Jahre 835, in Rüdesheim aus dem Jahre 864. Ausführlichere Mittheilungen über die ersten Weinberge in Deutschland und Oesterreich-Ungarn finden Sie in dem Werkchen „Beiträge zur Geschichte des ältesten Weinbaues in Deutschland und dessen Nachbarländern“. Von Karl Reichert (Reutlingen, J. Kocher, 1886).

E. L. in Konstanz. Gärtnerschulen giebt es viele. Wir nennen: 1) Königliche Gärtnerlehranstalt in Potsdam. Die Schülerzahl ist beschränkt, die Aufnahme daher unsicher; 2) Königliche pomologische Lehranstalt zu Proskau in Oberschlesien; 3) Königliche Lehranstalt in Geisenheim am Rhein, Direktor Oekonomierath Göthen; 4) Pomologisches Institut von Fr. Lucas in Reutlingen (Württemberg), gut, jedoch billiger als die erstgenannten. Auf Verlangen werden Programme geschickt. Alle Anstalten verlangen eine praktische Vorlehre von mindestens 1 Jahr. Die Reutlinger Schule nimmt auch Lehrlinge von 15 Jahren auf.

Jacob Geyer. 517 Main Straße. Springfields, Mass. U. S. A. Wir veröffentlichen gerne an dieser Stelle Ihre Adresse, um Ihren Bruder oder dessen Nachkommen zu veranlassen, mit Ihnen in Verbindung zu treten.


Inhalt: Lisa’s Tagebuch. Erzählung von Klara Biller. S. 649. – Schwarzblattl. Illustration. S. 649. – Die Aebtissin von Frauenchiemsee. S. 654. Mit Illustration S. 652 und 653. – Vor Metz. Eine Kriegserinnerung an den 16. August 1870. Von E. v. Wald-Zedtwitz. S. 657. – Nicht zu heiß! Von C. Falkenhorst. S. 659. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 660. – Der Probestrumpf. Illustration. S. 664. – Was ist ein Kind werth? Ein Wort für kinderlose Gatten und elternlose Kinder. Von Friedrich Hofmann. S. 665. – Blätter und Blüthen: Der König des Zululandes und sein Krokodilorden. Mit Abbildung. S. 667. – Der Philosoph von Königsberg. S. 667. – Die Fasanenjagd. S. 667. Mit Illustration S. 661. – Gelehrte Bauern. S. 667. – Altrömischer Luxus. S. 668. – Grausame Strafe für Bienenfrevler. S. 668. – Alte Tänze. S. 668. – Allerlei Kurzweil: Die Burgruine. S. 668. – Buchstaben-Räthsel. Von G. Lindner. S. 668. – Kleiner Briefkasten. S. 668.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Es sei hier geschäftlich daran erinnert, daß alle Anmeldungen von Waisen durch die Vormünder oder Waisenfreunde und eben so die Anträge von kindersuchenden Ehegatten direkt an Herrn Schuldirektor Mehner in Burgstädt zu richten sind, während man die Beitrittserklärungen zur „Gesellschaft der Waisenfreunde“ an Herrn Direktor K. G. Dießner in Leipzig (Emilienstraße 36) einzusenden bittet.
    D. V.