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Die Gartenlaube (1887)/Heft 36

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]

No. 36.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


3.

Karli und Götz betraten den Hof. Den Beiden folgten Martl und Stoffel, zwei steife vierschrötige Gestalten – Martl, der einen grauen, struppigen Vollbart trug, in kurzer Lederhose, Hut und Joppe – Stoffel, dem unter dem pechschwarz gewichsten Schnurrbart eine spitz zulaufende „Mücke“ hakenförmig abstand, in enger, langer, an den Knöcheln gebundener Tuchhose, in Hemdärmeln, die Zipfelmütze mit der baumelnden Quaste auf dem eckigen Kopfe.

Die Viere machten verdutzte Augen und schienen an dem gastlichen Tischlein des Pointner’s vorüber marschiren zu wollen. Und so im Vorübermarschiren grüßte Karli: „Grüß’ Gott, Vater! – und Götz grüßte: „Grüß’ Gott, Bauer! Dabei rückten sie gleichzeitig die Hüte vom linken auf das rechte Ohr. Martl nickte nur, und Stoffel schlenkerte die Quaste der Zipfelhaub von der einen Schulter auf die andere.

„So? Kommt’s amal heim!“ fuhr der Bauer auf, indem er seine Verlegenheit hinter Groll und Eifer zu verbergen suchte. Aber gleich wieder fiel er aus dem Tone, mit der lachenden Frage: „Da schau, Karli! Was sagst, was ich für an Gast hab’?“

Karli musterte die Dirne mit einem mißtrauischen Blick; doch als er ihren blitzenden Augen begegnete, schaute er wieder auf den Vater, verzog die Lippen und nickte mit dem Kopfe. – Einige Sekunden mühte sich der Pointner unter Zwinkern und Blinzeln, den Sinn dieses Nickens zu ergründen. Dann gab er die vergebliche Mühe auf und wandte sich keifend an Martl und Stoffel.

„Wo seid’s denn gar so lang g’wesen? Wenn von Euch zwei amal Einer draußen is, kann man ’s Heimkommen auch nimmer erwarten!“

Stoffel schnitt eine Grimasse, beugte den Oberkörper nach vorne und stellte sich auf die Absätze. Martl aber erwiederte:

„No, no! Es hat so noch a halbe Stund’, bis Futterzeit is. Wir sind halt a Bißl vor’m Schulhaus umeinander g’standen. Ja – und noch a ganze Masse Leut’ waren da. Und was das für a Reden


Invalide von 1813.
Nach dem Oelgemälde von E. Stammel.

[582] g’wesen is – über den Bygotter! Du – der hat sich fein verändert! Den hätt’ ich nimmer ’kennt! Und was der für Sachen treibt! Weißt – wie wir a Zeit lang so dag’standen sind, da is er auf amal unter d’ Hausthür ’raus ’kommen, sein Deandl an der Hand. Und da hat er a völlige Ansprach’ an d’ Leut’ g’halten, daß g’meint hast, Du hast an Vater Kapazinner im Bauernfrack vor Dir. Weißt, vom Joseph in Aegypten hat er ’was g’sagt, als wie wenn er der Joseph wär’ und kämet jetzt heim zu seine Brüder, damit er ihnen ihre Sünden vorhalten könnt’ – und g’rad ermahnt hat er d’ Leut’, sie sollten Buß’ thun und sollten sich aussöhnen mit ihrem himmlischen Vater. ‚Denn das Gericht ist na … he, das Gericht ist na … he, es schwebbet über Euch!‘ hat er allweil g’schrieen. No, jetzt da kannst Dir doch denken, wie d’ Leut’ g’lacht haben. Und die Burschen haben sich gleich an G’spaß aus der Sach’ g’macht und haben a Litanei ang’stimmt: ‚Heiliger Knotzensepp, bitt’ für uns! Heiliger Bygotter, erlöse uns!‘ Ja g’rad krumm werden hättst mögen vor Lachen. Dem Andern is nachher der Kampl g’schwollen, und g’rad d’rauf los g’schimpft hat er – der Moses hat net ärger schimpfen können, wie er vom Berg Sinai ’runterg’stiegen is und seine Juden ums goldene Kalb ’rum g’funden hat. Und in der ganzen Zeit hat er sein Deandl an der Hand bei ihm dort stehen g’habt. Völlig erbarmt hat Ein’ das Madl. Ganz kaasweiß is ’s g’wesen, hat ’zittert am ganzen Leib und g’rad ’neing’starrt hat’s allweil in Boden. Na, na, das sind Sachen! Da möcht’ man gleich lieber weinen, wenn’s net gar so zum lachen wär’!“ Brummend wandte er sich und schritt dem Stalle zu.

Unter unwilligem Schnuffeln schlenkerte Stoffel die Mützenquaste in den Nacken und schlorpte seinem Kameraden nach.

„Na, na, was sind jetzt das für G’schichten! Han, Kuni, was sagst denn Du zu so ’was?“ lachte der Pointner und stieß die Dirne mit dem Ellbogen an.

Kuni fuhr auf wie aus tiefen Gedanken. Sie schien von Martl’s Worten wenig gehört zu.haben. Eine Weile hatte sie den Götz mit forschenden Blicken betrachtet; dann waren ihre Augen auf Karli hinübergeglitten und an ihm haften geblieben. Und offen hatten ihre Mienen das Wohlgefallen verrathen, das sie an der strammen, schmucken Erscheinung des Burschen zu finden schien.

Karli merkte und ahnte nicht, welch einer eingehenden Betrachtung er unterzogen wurde. Während Martl’s Worten hatte er fast regungslos gestanden, eine leichte Blässe auf den Wangen, die Augen mit schwermüthigem Blick zur Erde gesenkt.

Was aber ihm entgangen war, das hatte Götz gewahrt. Und während mitfühlende Theilnahme aus seinen Augen sprach, wenn sie auf dem Burschen ruhten, war ein nicht sehr freundliches Empfinden aus ihnen zu lesen, wenn sie ihre scharfen, durchdringenden Blicke hinüberschossen nach der Stelle, an welcher der hübsche Gast des Pointner’s saß. Dazwischen warf er ab und zu auch einen Blick nach dem Himmel empor, den das dunkle Wettergewölk schon völlig überzogen hatte.

Jetzt fuhr um die Hausecke ein jäher Windstoß, der auf dem Tische das Linnen hoch aufblähte und Alles, womit der Tisch bestellt war, auf die Erde zu schleudern drohte.

Der Pointner und Kuni griffen mit beiden Händen zu; schon aber hatte Götz das Linnen erfaßt und niedergedrückt unter den gelassenen Worten: „Ho, hü, jetzt wird’s aber ernst, wie’s scheint!“ Und achtsam hob er den Tisch empor und trug ihn langsamen Ganges in das Haus.

„Sapra! Jetzt hätt’s aber bald klappern können!“ meinte der Pointner; dann wandte er sich lachenden Wortes an Karli: „Aber was is denn mit Dir? Weßwegen stehst denn gar so verdattert da? Geh’ weiter, rühr’ Dich, komm auch a Bißl ins Reden! Da schau her! Da hast a G’sellschaft, wie Dir a schönere net aussuchen kannst.“ Schmunzelnd griff er der Dirne unter das runde Kinn.

Kuni runzelte die Brauen und wehrte sich mit den Armen gegen die Freundlichkeit des Pointner’s.

„Geh’, Maderl, geh’, was hast denn –“ so wollte er gegen diese ihn verblüffende Abwehr Protest erheben, als auf der Straße ein johlender Lärm sich näherte. „Ja was is denn jetzt da schon wieder?“ frug der Pointner, erhob sich und trippelte in neugieriger Hast dem Zaune zu; kaum hatte er ihn erreicht, da rief er kichernd zu Karli zurück: „Jeh, Du, da komm’ her – – der Bygotter!“

Der Bursche zuckte leicht zusammen. Zögernd that er einige Schritte gegen den Zaun und blieb wieder stehen.

Kuni verwandte keinen Blick von ihm und in reger Spannung erweiterten sich ihre Augen.

Jetzt hörte man von der Straße her eine Stimme, die den Pointner grüßte.

„Grüß’ Gott, grüß’ Gott!“ rief der Bauer lachend entgegen und winkte mit der Hand einem etwa vierzigjährigen, in einen frischgewaschenen Leinwandanzug gekleideten Manne zu, der raschen Ganges draußen vorüberschritt. Es war der Lehrer des Dorfes. Erregung und Unmuth sprachen aus seinem dunkel gerötheten Gesichte. An seiner linken Seite ging eine hochgewachsene, hagere und dennoch breitschulterige, steife Mannsgestalt. Die Füße staken in hohen, fuchsigen Stiefeln; die eine Hand trug einen breitkrempigen Filzhut, die andere führte einen knorrigen Hakenstock. Die langen Flügel eines schwarzen, eng zugeknöpften Rockes flatterten im Winde, und über die Schultern wehten die Spitzen eines mächtigen Bartes, in dessen silbernes Grau vom Kinn weg zwei schmutzig gelbe Strähne sich mischten. Der Mund verschwand unter dem zottigen Schnurrbart. Eine schmale, scharfe Hakennase krümmte sich aus dem fahlen, steinernen Gesichte. Graue, starrblickende, rothumränderte Augen funkelten unter weißen buschigen Brauen, über denen sich eine hohe, knochige Stirne wölbte. Diese Stirn war kahl bis über den Scheitel hinaus; jedoch vom Hinterhaupte und von den Schläfen flatterte ein halb ergrautes Haar in dicken, zerzausten Büscheln.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Pointner dem Manne ins Gesicht und murmelte: „Der hat sich freilich verändert – o mein Gott! Der ganze Jeremias, wie er auf die Trümmer von Jerusalem hätt’ sitzen können.“

Nun lachte er über seinen eigenen Scherz und blinzelte nach dem Mädchen, das zur rechten Seite des Lehrers ging, mit gesenktem Köpfchen, mit blassem, verstörtem Gesichte, mit den zitternden Händen am Schürzenbande nestelnd.

So schritten die Drei an dem Bauer vorüber – und da richtete Sanni zögernd das Köpfchen auf, und ihre Blicke trafen sich mit Karli’s Augen. Hastig nickte er ihr unter herzlichem und doch auch wehmüthigem Lächeln einen Gruß zu. Sie winkte ihm einen traurig stillen Dank zurück und überflog dann mit scheuen, furchtsamen Blicken den Troß der schreienden Buben, die den Dreien ein unliebsames Geleite gaben und hinter denen noch eine lachende, plaudernde Schar von Burschen, Dirnen und alten Weibern sich nachdrängte.

Karli folgte dem Mädchen mit den Augen, bis er Kuni plötzlich mit halblauter Stimme dicht an seiner Seite sagen hörte: „Das is aber amal a liebs und a freundlichs Deanerl!“

Hastig schaute der Bursche auf, erröthete und wandte sich wortlos wieder ab. Auf Kuni’s schwellenden Lippen verstärkte sich das Lächeln, wieder maß sie die Gestalt des Burschen mit musternden Blicken, und in ihren Augen zuckte etwas auf wie trotziger Uebermuth. Dabei merkte sie nicht, daß ihr stilles Gebahren einen aufmerksamen Beobachter gefunden hatte – in Götz, welcher mit verschränkten Armen unter der Haustür lehnte.

Jetzt kam der Pointner kopfschüttelnd vom Zaune zurück und berichtete auf die Frage seines plötzlich gar neugierig gewordenen Gastes, was er über den Bygotter zu berichten wußte.

„A g’spaßiger Nam’ – Bygotter?“ meinte Kuni.

„Weißt, eigentlich heißt er Knotzensepp – ja – Josef Knotz. Aber als a Bursch is er amal im Algäu wo im Dienst g’standen und da hat er sich’s auf a Zeitlang so ang’wöhnt, daß er überall, wo unsereins ‚g’wiß is wahr‘ oder sonst ’was sagt, nix Anders g’sagt hat als wie: ‚By Gott, by Gott!‘ Und drum haben s’ ihn halt nachher den Bygotter g’heißen.“

Während dieser Erklärung des Pointner’s hatten zwei dralle, blonde Dirnen den Hof betreten. Mit stillem Gruße gingen sie vorüber und musterten die Fremde mit neugierigen Blicken. Als sie sich den Ställen näherten, schauten sie noch einmal zurück und stießen sich kichernd mit den Ellbogen an.

Kuni sah es, schoß den Dirnen einen zornigen Blick ihrer dunklen Augen nach und griff nach ihrem Bündel.

„Jetzt mein’ ich doch, es wär’ amal Zeit für mich. Bei dene zwei is ja wohl mein’ versprochene Wegweiserin dabei. [583] Oder –“ und lächelnd wandte sie sich an Karli, „wie is denn mit Dir? Wär’s Dir arg z’wider, wann mich zum Wirthshaus hinführen müßtest?“

„Z’wider?“ brummte Karli. „Wann ’s sein müßt’ – was lieget denn dran?“

„Geh’ weiter! Jetzt Du bist amal a Leimlackl, a langweiliger!“ zürnte der Pointner und suchte Kuni mit den Worten zu trösten: „Mach’ Dir nix draus, Madl! Wann’s Dir recht is, bin ich selber Dein Führer!“

„Du, an Dei’m Vater kannst Dir a Muster nehmen,“ lachte Kuni. „Der hat fein schon a liebers Reden als wie Du! Und so freundlich aufg’wart’t hat er mir! Ja, und ganz erbarmt hat er sich über mich, so daß er mir völlig den Antrag g’macht hat, ich sollt’ dableiben im Pointnerhof. Aber natürlich, ich hab’ Na g’sagt, weil ich mir doch gleich ’denkt hab’, er macht sich bloß an freundlichen G’spaß mit mir. Oder – han, Bauer, is ’s am End’ net a so? Gelt? Hast Dich lustig g’macht über mich?“

„Was? Lustig g’macht.“ stotterte der Pointner, wobei er einen unsicheren Blick auf Karli warf, als wäre ihm jetzt die Sache doch nicht ganz geheuer. „Nix da! Mein Ernst is g’wesen! Mein völliger Ernst. Aber – freilich – Du hast ja schon g’sagt –“

„Ja – wenn’s dengerst Dein Ernst wär’ –“ warf Kuni zögernden Wortes ein und lächelte den Bauer mit blitzenden Augen an.

„Aber g’wiß! Mein Ernst! Aber g’wiß!“ stammelte der Pointner. „Ich werd’ doch in der einen Stund’ net babb sagen und in der andern bibb? Gelt, Karli, gelt, das giebt’s fein net bei mir!“ Dabei faßte er den Sohn an der Weste und redete mit sprudelnden Worten auf ihn ein: „Ah na! Ah na! Gelt, das wär’ schon Dir net recht, wann Dei’m Vatern sein Wort nix mehr gelten thät’! Ja – weißt – und da is jetzt nachher das Deandl ’kommen – das Deandl da – ja – Kuni – Kuni Rauchenberger heißt’s – weißt – und weil ’s Madl jetzt g’rad kein’ Dienst hat, da hab’ ich mir ’denkt – weißt – und weil so wie so an Micheli unser Kathl aussteht, wo bis jetzt Alles in der Kuchl b’sorgt hat – natürlich, das Gausl, das fürwitzig’, muß heirathen – ja, und drum hab’ ich mir ’denkt, die Kuni könnt’ gleich bei uns bleiben, zum Kochen, weißt, und so quasi als Hauserin. Ja, das scheint mir a ganz guter Gedanken – meinst net auch?“

Der Pointner ließ Karli’s Weste fahren und schaute mit einem erwartungsvollen Blick seiner zwinkernden Aeuglein zu dem nicht besonders freundlichen Gesichte des Burschen auf, wobei er zögernd wiederholte: „Meinst net auch?

Karli schwieg, zuckte die Achseln und nickte bedächtig vor sich hin. Das war nun ein Ja und ein Nein, ganz wie es der Pointner nehmen wollte. Vielleicht nahm er es als ein Nein; denn er schnitt eine verdrießliche Miene, und es schienen ihm bereits ärgerliche Worte auf der Zunge zu liegen, als Kuni mit einer Stimme von ganz unerwartet bescheidenem und schüchternem Klang das Schweigen brach.

„Wenn’s Dir fein net recht is, Karli, daß ich dableib’ – vor mir brauchst Dich mit’m Reden g’wiß net z’scheuen. Ich find’ überall mein Platzl; denn das möcht’ ich beileib’ net, daß ich aufs Wort vom Bauern hin auf an Antrag eingeh’, der dem g’wachsenen Haussohn kein’ b’sondere Freud’ net z’machen scheint. Freilich – Du kannst ja net wissen, wie ich mich in der Arbeit anstell’, und wie ich –“

„Aber – was redst denn jetzt da daher! Mir is ja im Traum net eing’fallen, daß ich ’was dagegen zum sagen hätt’,“ wurde sie von dem Burschen mit stockenden Worten unterbrochen. „Ich hätt’ ja kein’ Grund net dazu, daß ich Dich beleidigen thät’. Ah na – der Vater wird schon wissen, was er thut – und –“

„No also, nachher bleib’ ich auch gern, weil ich weiß, daß es Dir g’rad so recht is wie Dei’m Vater,“ fiel Kuni ein. „Und arbeiten will ich g’wiß, was ich kann, und auf Euer Sach’ will ich schauen, wie ich’s versteh! Und da denk’ ich, daß wir mit der Zeit dengerst noch gute Freund’ zu einander werden – Du und ich.“ Dabei streckte sie ihm freundlich die Hand entgegen.

Karli schlug ein und sagte unter verlegenem Lächeln: „No, ja – mußt halt richtig auf’n Vater schauen, und daß er sein Sach’ und sein besseres Essen in der Ordnung kriegt; nachher, mein’ ich, werden wir schon auskommen mit einander.“

„No also! No freilich!“ jubelte der Pointner und rieb sich in hellem Vergnügen die Hände. „Han, Madl, was sagst? Gelt, das is a Bua? Ja – mein Karli – der schlagt mir nach! Das is einer! Der hat a G’müth! Der sorgt sich für sein’ Vater! Aber komm, Madl – komm’ – jetzt komm’ nur gleich mit ’rein ins Haus! Jetzt weis’ ich Dir gleich Dein Stüberl an, und morgen in aller Fruh muß der Martl nach Reichenhall ’neinfahren und Dein’ Kufer holen!“ Dabei faßte er das Mädchen mit beiden Händen am Arme und zog es mit sich fort.

Götz, der noch immer unter der Thür stand, trat bei Seite, um die Beiden einzulassen.

„Geh, schau, da is ja gleich wieder einer vom Haus,“ lächelte Kuni, während sie vor Götz die Schritte verhielt und ihren Arm aus des Pointner’s Händen löste. „Du bist der Götz, gelt? Ja – und wie ich schon g’merkt hab’, wirst Du mein Fürg’setzter beim Schaffen sein. Mußt halt a Bißl Geduld haben mit mir. No also – auf gute Ehhaltenfreundschaft!“

Zögernd legte Götz seine rauhe, sonnverbrannte Hand in die weiße, weiche Hand der Dirne. „Ich mein’, wir zwei werden net gar z’oft mit einander im G’schirr sein,“ sagte er leichthin. „Dein’ Hand schaut sich net an, als wie wenn s’ b’sonders flink nach der Bauernarbeit greifen möcht’.“

„Das is auch gar net nöthig,“ eiferte der Pointner; „die Kuni is da zum Kochen und zu der Nahterei – ja – und zu meiner Pfleg’! Das hättst ja hören können; das hat sich mein Karli gleich zur Bedingung g’macht! Aber komm’, Madl – komm’!“ Wieder zog er die Dirne an den Händen hinter sich her und verschwand mit ihr in der Stube.

Karli näherte sich langsam der Schwelle, zog die Brauen hoch und schaute den Knecht mit einem Blicke an, der zu fragen schien: „Was sagst jetzt da dazu?“

Götz nickte unter einem eigenartigen Lächeln mit dem Kopfe; dann zuckte er die Schultern und sagte: „No – ’s Madl is sauber, da is nix zum reden – und – sie kann Ei’m auch g’fallen, so zum Aufputz in d’ Stuben. Aber – mir schwant, das is kein’ Tauben, die an Fried’ ins Haus bringt. Hast es net g’sehen – die g’wissen Falterln ums Göschl ’rum? Ich bild’ mir ein, die könnten ’was erzählen. Und nachher – in ihre Augen hat s’ Dir so a ganz an eigens G’spiel –“

„Aber jetzt geh’ weiter! Was Du net Alles siehst! So gar g’fährlich wird’s ja doch net sein!“ meinte Karli. „Und schau – über ihre Augen sollst ja gleich gar nix sagen! G’wiß wahr, wie Ihr g’rad so vor einander g’standen seid, da hat’s mich völlig erstaunt, wie sich Dein G’schau mit dem ihrigen gleicht. Ja – an Augenblick is mir’s ordentlich g’wesen, daß ich mich hab’ fragen müssen: hast jetzt Du ihre Augen oder hat sie die Deinen im Kopf.“

„Was net sagst!“ lächelte Götz. „Aber ein Unterschied, mein’ ich, wär’ dengerst dabei: meine Augen schauen nach der Arbeit aus; nach was aber dem Deandl seine Augen ausschauen, das weiß ich net – und – wenn ich mir’s denken könnt’, ’leicht möcht’ ich’s nachher net sagen.“ Damit nickte er dem Burschen einen Gruß zu und schritt, einen prüfenden Blick auf den finsteren Himmel werfend, über den Hofraum hinweg den Oekonomiegebäuden zu.

Eine Weile stand Karli in Gedanken versunken. Dann näherte er sich vollends der Thür, machte aber kurz vor der Schwelle wieder Kehrt und schlug den Weg ein, welchen Götz genommen. Er trat unter die offene Stallthür und schaute schweigend den Knechten bei der Wartung der Pferde zu.

Da hörte er vom Brunnen her eine erregte Mädchenstimme: „Du, Kathl, hast es schon g’hört? Die bleibt fein da im Hof!“

„Aber, Zenz! Wirst doch net denken, daß ich mich da drüber verwundern soll!“ gab eine andere, dünn und spitzig klingende Stimme zur Antwort. „Das hab’ ich mir ja gleich ’denkt, wie ich sie g’sehen hab’. Da müßt’ ich unsern Bauer net kennen –“

Die Dirne verstummte und starrte erschrocken und verlegen in das zorngeröthete Gesicht des jungen Pointner’s, den sie so unerwartet vor sich stehen sah.

„Ich sag’ Dir’s, Kathl,“ fuhr Karli die Magd mit bebender Stimme an; „noch an einzigs solches Wörtl – und Du brauchst Micheli nimmer abz’warten! Da kannst lieber heut’ als morgen Dein’ Kufer packen.“

[584]

Auf die Mensur!
Originalzeichnung von C. Gehrts. Photographie im Verlag von Fr. Hanfstängl in München.

[585] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



Lieber als des Hofrats Lehren, war mir stets der Schläger Klang.
Wer wird eitle Worte hören, den der Burschengeist durchdrang?
Wer wird in Collegien schwitzen, wem empörts nicht die Natur.
Wenn die blanken Schläger blitzen, wenn begrenzt ist die Mensur?

[586] Kurz wandte er sich von der maulenden Dirne und schritt mit verdrossenem Gesichte dem Hause zu. Schließlich beeilte er sich, die Schwelle zu erreichen. Es fielen schon einzelne schwere Tropfen.

Nun grollte, ohne daß man einen Blitz hätte aufflammen sehen, ein dumpfer Donnerschlag durch die Lüfte, und dicht fallender Hagel prasselte nieder über die Dächer.




4.


Das Dorf hatte zu reden. Im Pointnerhof die neue Dirne – und draußen im „Binderholz“ der Bygotter!

Es verging während der nächsten Tage keine Stunde, ohne daß nicht ein paar Neugierige hinausrannten nach dem Binderholze. Das war ein herrlicher, weit sich hindehnender Tannenwald, der wie ein grüner Riesenriegel zwischen das Bergthal und das ebene Land geschoben lag. In sanfter Neigung zog der Wald sich beiderseits gegen die Berge hinan. Die Straße durchkreuzte ihn, dem Gehänge der Hügel folgend, in beträchtlicher Höhe über dem breiten Schluchtengrunde, durch welchen der Bach in kiesigem Bette seinen Weg nach der Ebene suchte. Je mehr sich der Wald dieser tiefsten Stelle des Thales entgegensenkte, desto reichlicher zeigte sich das sanftere Grün der Buchen und Birken zwischen den dunklen Wipfeln der Tannen, so daß in nächster Nähe des Baches nur noch vereinzelte Nadelpyramiden die dichten, langgestreckten Weiden- und Birkenfelder überragten.

Ein schmaler Fußpfad lenkte vom Dorf einher den Bach entlang und kreuzte sich im tieferen Walde mit einem schlecht gehaltenen, von der Straße sich abzweigenden Holzfuhrwege. Nahe bei dieser Kreuzung lag zwischen Tannenwald und Birkengehölz ein dreieckiger Wiesenraum, auf welchem das magere Gras in wucherndem Moose zu ersticken drohte. Ein verwahrloster Stangenzaun umgrenzte den Raum, in dessen stumpfem Winkel zwei uralte Eichen ein kleines, halbzerfallenes Haus mit dem spärlichen Schatten ihrer knorrigen, laubarmen Aeste bedachten. Das üppige, freundliche Grün des Epheus, der in engen Windungen die beiden Stämme umschlang, zwischen den Aesten sich fortspann und von ihnen seine netzartig verflochtenen Ranken niedersenkte über Dach und Wände dieses Hauses, vermochte den traurigen öden Anblick des Bildes nur wenig zu mildern.

Einer der Stürme, die hinweggebraust waren über die schutzlose Stätte, hatte den Kamin gebrochen, und die Trümmer lagen ausgestreut über das halbvermoderte und übel zerzauste Strohdach. Ueberall an den Wänden war der grobe, verwitterte Mörtelbewurf von der Mauer gebröckelt, und wo er noch an den Steinen hielt, war er durchzogen von klaffenden Rissen. An den Fenstern waren die Scheiben erblindet und zum Theile zerschmettert; die Läden hingen schief in ihren rostigen Angeln; Gras und Moos wucherte auf der verfaulten Schwelle, und graugelbe Schwämme wuchsen aus den Fugen der verschobenen Thür. Unter dem morschen Gebälk des vorspringenden Daches, wo einst mit fröhlichem Gezwitscher die Schwalben hausgehalten in sauberen Nestern, hatten sich die scheuen, piepsenden Rothschwänzchen mit Schmutz und Unrath eingemiethet. Aber auch sie waren davongeflattert und nicht wiedergekehrt, als der Bygotter mit seinem Kinde Einzug gehalten hatte in dieses armselige Haus, das sein Heim und Eigen war.

Vor vierzehn Jahren, da hatte der Bygotter wohl noch inmitten des Dorfes ein freundliches Häuschen besessen; in einer Nacht aber war es niedergebrannt bis auf die Grundmauern. Nur das nackte Leben hatten die Leute gerettet, und der Bygotter hätte betteln gehen müssen mit Weib und Kind, wenn nicht die alte Macksederin mit dem Schwiegersohn ihr Bischen Erspartes getheilt hätte, das sie im Laufe der Jahre von dem kümmerlichen Pensionsgehalte, das sie als Försterswittwe bezog, noch hatte zurücklegen können. Da hatte dann der Bygotter für eine geringfügige Summe das Binderholzhäuschen erworben, das sich schon damals in gar üblem Zustande befand, hatte das alte Gerümpel, mit dem es bestellt war, halbwegs wieder in brauchbaren Stand gesetzt und hatte sich mit den paar Gulden, die ihm noch zur Verfügung blieben, neues Handwerkzeug beschafft. Er war ein gelernter „Dusenmacher“, fertigte aus Lindenholz die verschiedenartigsten Tabackdosen, Büchsen und Kästchen, die mit gepreßten Birkenrinden überkleidet wurden, und war daneben, wie es sein Handwerk mit sich brachte, ein halber Zimmermann und halber Schreiner.

So begann er nun drauf loszuarbeiten – „viechmaßig“, wie ihm das ganze Dorf zugestand; aber Noth und Elend kauerten einmal an seinem Tische und fühlten sich gar wohl und heimisch unter dem unfreundlichen Dache. Die beiden Leute arbeiteten sich im wahrsten Sinne des Wortes die Nägel von den Fingern; aber sie saßen nun einmal auf dem dürren Zweige, und da war kein Loskommen mehr. Und immer noch verlor die Frau den Muth nicht, aber dem Mann begann die Kraft zu erlahmen; dabei wurde er allmählich das, was die Leute im Dorfe einen „Sinnirer“ nennen, ein Mensch, der unablässig die Frage auf den Lippen führt: „Was hab’ ich denn verschuldet, daß ’s g’rad mir so gehen muß?“ – und der, je müder ihm die Hände werden, um so fleißiger all sein Hoffen auf einen unerwarteten Glücksfall setzt.

Die unklaren Gedanken, mit denen der Bygotter verbitterten Gemüthes solch einem ersehnten Unerwarteten entgegensah, gewannen mit einem Mal eine bestimmte Richtung. Es war im dritten Jahre, nachdem er das Binderholzhäuschen bezogen. Da hatte ihm der Zufall eine jener Schwindelbrochüren in die Hände gespielt, welche die Versuchung hinauftragen bis in die höchsten Bergdörfer. Die utopischen Versprechungen, die der Bygotter aus dem abgegriffenen Büchlein herausbuchstabirte, gingen ihm Tag und Nacht nicht mehr aus dem Kopfe. Sein einziger Gedanke war nur noch das „Goldland über’m Wasser drüben“. Er sah sich in seinen Träumen schon inmitten des Urwaldes, den er sich ungefähr vorstellte wie die verwahrlosten Altholzbestände des Binderholzes; er sah und hörte schon die Bäume stürzen unter seiner sausenden Axt, sah auf der urbar gemachten Erde sein stattliches Haus stehen, sah schon die „Farmerer“, die er sich so ähnlich dachte, wie den reichen Freithhofbauern, den alten Pointner und den dicken Grundübler, mit Schmunzeln ihre Prisen aus seinen Birkendosen schnupfen, als hätten sie just auf den Bygotter und seine Schmalzlerbüchsen gewartet – und sah sich nach so und so viel Jährlein zurückkehren in die Heimath, das behäbige Bäuchlein umschnürt mit der von „Dullers“ strotzenden Geldkatze. Von Noth und Elend getrieben, verrannte er sich mit Kopf und Herz in diese für ihn so sonnenklaren Pläne und setzte zu ihrer Verwirklichung die ganze eiserne Zähigkeit ein, die er vorerst vergebens aufgeboten hatte, um sich aus seiner trostlosen Lage emporzuarbeiten. Ganz unerwartet fand er dabei einen eifrigen Helfer im Pfarrer des Dorfes. Dem hatten die „unchristlichen“ Reden nicht sonderlich getaugt, die der Bygotter in der letzten Zeit zu führen liebte; so suchte er diese Reisepläne in jeder nur denkbaren Weise zu fördern, brachte es zuwege, daß dem Bygotter alle Rückstände unter dem Titel eines „Gemeindegeschenkes“ erlassen wurden, und veranstaltete sogar noch eine Sammlung, welche einige hundert Gulden abwarf. Der Bygotter selbst machte zu Geld, was nur einen Käufer fand, sein Handwerkszeug, seinen Hausrath, seine Holzvorräthe – nur für das abgelegene, zerfallende Haus im Binderholze wollte sich kein Liebhaber nennen. Dafür aber gab die alte Macksederin ihr Letztes her – unter der Bedingung freilich, daß ihr Enkelkind, das sechsjährige Sannerl, unter ihrer Obhut in der Heimath verbleibe. Wie sehr auch Sanni’s Mutter dagegen jammern und sich wehren mochte: der Vater hatte ein rasches Ja gesagt, dem er auch Geltung zu verschaffen wußte. Es wäre so besser für das Kind, meinte er; dabei blieben ihm alle vorläufigen Mühsale erspart, während ihm die Annehmlichkeiten der späteren, glücklichen Zeit desto mehr zugute kämen. So siedelte das Sannerl zu der alten Macksederin über, die im Forsthause zwei kleine Hinterstübchen bewohnte – und der lachende Bygotter fuhr mit seinem weinenden Weibe auf einem mit Birkenreisern geschmückten Wagen zum Dorf hinaus, „fort ins Amerika“.

Elf Jahre waren seitdem vergangen, und nun war der Bygotter zurückgekehrt, ohne Weib, ohne gefüllte Geldkatze, mit einer Kiste, welche halb mit Zimmermannswerkzeug, halb mit zertragenen Gewandstücken und allerlei Bücherwerk angefüllt war, und daneben mit jener seltsamen Errungenschaft, um derentwillen er für die Meisten im Dorfe schon in der ersten Stunde seiner Ankunft ein Ziel des Spottes und Gelächters, für wenige ruhiger Denkende ein Gegenstand des Mitleids und der Besorgniß, für den hochwürdigen Herrn Pfarrer aber ein Gegenstand des höchsten Aergernisses geworden war.

Diese Befürchtungen schienen sich aber vorerst in nichts zu bewahrheiten. Der Bygotter ließ sich während der nächsten Tage [587] im Dorfe vor keinem Auge blicken, und die Annäherungsversuche all Jener, die theils aus Neugier, theils aus Gutmüthigkeit, theils des Juxes halber hinauswanderten in die Nähe des Binderholzhäuschens, wies er mit stechendem Blick und starrem Schweigen zurück. Sehen konnten ihn alle, die da kamen: bald vor dem Hause, bald am Rande des Gehölzes, in Hemdärmeln, mit nackten Füßen, mit wehendem Bart und Haupthaar, das Beil oder die Säge in Händen, rastlos arbeitend, schweißtriefend und keuchend wie ein Thier, dem das drückende Joch auf der Stirne liegt. Krachend stürzten unter den hallenden Schlägen seiner Axt die Bäume zur Erde; aus ihnen zimmerte er Bohlen und Pfosten, verbolzte die frisch mit Lehm beworfenen Wände, ergänzte die Schwelle, fügte aus dicken Brettern eine neue Thür, besserte die Fensterkreuze und die Stellung der Läden, deckte das Dach mit plumpen Schindeln und schränkte aus den Aesten der gefällten Bäume rings um den Wiesenraum einen dichten, übermannshohen Zaun, als wäre das Binderholz der Urwald des fernen Westens, als hätte er sich vor reißenden Thieren und farbigen Horden zu schützen.

Die Leute schüttelten die Köpfe und schauten ihm unter Wispern und Flüstern lange Stunden hindurch zu. Manchmal versuchten es ein paar übermüthige Bursche, durch stichelnde Reden den emsig Schaffenden zur Sprache zu reizen; rastlos aber schwang der Bygotter in seinen nervigen Armen das blitzende Beil, und keine Miene seines Gesichtes verrieth, als wäre eine dieser Reden an sein Ohr gedrungen. Nur einmal geschah es, daß sie wenige Worte von ihm zu hören bekamen, die dann aber auch reichlichen Stoff zu Gelächter und langem Gemunkel gaben. Er hatte eine riesige Tanne gefällt, und an dem Stürzen und Krachen schien er seine Freude zu haben; denn aus seinen Augen flackerte ein wildes Feuer. Als der grüne Riese regungslos auf dem Moosgrund lag, schmetterte der Bygotter mit wuchtigem Hiebe die Axt bis an das Heft durch die splitternde Rinde und hob die Arme gegen den Himmel, mit dumpf grollender Stimme aufsprechend in die Lüfte: „Wie dieser Baum dahinstürzt vor der Faust des Mächtigen, so wird, o Herr, der Thron der falschen Götzen stürzen, wenn einst der Tag des Lichtes anbricht, der Deinen Knecht zum Dienste ruft!“ Dann wieder riß er mit jähem Ruck die Axt aus dem Stamme und wetterte mit dem scharfen Eisen in das zitternde Geäst, daß die Zweige flogen und die Späne zischten.

(Fortsetzung folgt.)

Auf die Mensur!


Ich sitze allein auf unserer Kneipe; rings im Kreise blicken mich Schläger, Schilder, Bilder, zum Theil Zeugen einer längst vergangenen Burschenherrlichkeit, zutraulich an, als grüßten sie in mir einen alten, guten Freund und Bekannten; und sie haben Recht, denn der frohe Burschensang, der oft in diesen geheiligten Räumen klang, zog mich gar oft mit magischer Gewalt in seinen Zauberkreis. Da fällt mein Auge auf ein Bild, das an hervorragender Stelle prangt. Das Bild ist so frisch und lebenswahr aufgefaßt; aus jedem Eckchen blitzt uns das volle Verständniß des Vorwurfs entgegen, daß jeder Kundige die Unterschrift „Nach dem Leben“ mit gutem Gewissen unterschreiben wird. Es ist auch in der That draußen im grünen Wald entstanden unter Kommandoruf und Schlägerklang. Der Maler desselben, Carl Gehrts, welcher während eines längeren Sommeraufenthalts in Bonn mit unserer Burschenschaft in nähere Berührung trat und auf der Kneipe wie bei der Mensur stets ein willkommener Gast war, fand an dem forschen Waffenspiel flotter Studenten so viel Anregendes, daß er sich entschloß, die studentische Mensur in ihren verschiedenen Phasen getreu im Bilde zu verewigen. Wir Jungen, als die kompetentesten Sachverständigen, haben ihm mit unserm Rath nach Kräften beigestanden, und so ist dieses Bild entstanden, welches wohl für junge und alte Kouleurstudenten eine willkommene Gabe bildet. Aber auch weitere Kreise, die dem studentischen Leben fernstehen, wird es gewiß interessiren. Bietet es doch einen trefflichen Einblick in das streitige Wesen der Mensur. Es bringt Vorzüge und Nachtheile derselben gleichmäßig zur Anschauung und bietet dem Freunde wie dem Feinde der Mensuren gleich willkommene Beispiele zur Bekräftigung ihrer Anschauungen.

Wir aber wollen bei der Erklärung des Bildes uns mit der Streitfrage nicht befassen, weder Paukanten noch Sekundanten sein, sondern unparteiisch das Bild durch das Wort ergänzen.

In der Mitte des Tableaus beginnt die Mensur. Die beiden feindlichen Brüder stehen sich kampfbereit gegenüber; Jeder hat zur Seite den treuen Sekundanten, welcher, mit einem stumpfen Schläger bewehrt, zu achten hat, daß die einzelnen Gänge commentmäßig verlaufen, oder auch wohl einen Hieb, der seinen Paukanten treffen würde, herausfängt (was aber verboten ist). Der Unparteiische, mit Karte und Bleistift versehen, steht etwas weiter zurück; er ist bei der Mensur die höchste Instanz; sein Urtheil geht auf Ehrenwort und ist für beide Parteien bindend und unfehlbar. Im Vordergrunde links steht der Paukarzt in langer Schürze und Hemdsärmeln; meist ist es ein älterer Kandidat der Medicin, der mit größerer oder geringerer Geschicklichkeit die blutigen Häupter zusammenflickt. Seitwärts, an den Baum gelehnt, liegt ein Philister, der auch mal Mensuren sehen wollte; es scheint ihm aber schlecht bekommen zu sein; beim Anblick des ersten „Blutigen“ ist ihm die blasse Furcht in die Glieder gefahren und nun sammelt er in einer erquickenden Ohnmacht frische Kräfte. Im Vordergrunde rechts sehen wir den Kouleurdiener, auch Fax genannt, beschäftigt, für die durstige Corona das eigens dazu mitgebrachte braune Naß in die Gläser zu füllen, während seitwärts neben ihm ein Füchslein die frisch eingezogenen Speere prüft.

Die großen Abtheilungen, welche das eigentliche Mensurbild einrahmen, verbildlichen uns die verschiedenen Abstufungen der Mensur. Oben links wird das Bandagiren dargestellt. Die Kouleurbrüder sind gerade damit beschäftigt, den Paukanten in den „Paukwichs“ zu werfen. Die Mensurhose (ein fester, lederner Schurz, der bis hoch an die Brust reicht und der alle edleren Theile schützt) wird gerade festgeschnallt; die Armbandagen sind auch schon befestigt; es fehlt nur noch die Paukbrille, eine massive eiserne Brille gewöhnlich ohne Gläser zum Schutz der Augen.

Die Flickscene rechts oben zeigt uns den für den Paukanten unangenehmsten Theil der Mensur. Die Schmisse spürt er kaum, aber das Flicken! Der Paukarzt hat wohl eben den Schaden rasirt und ist im Begriff die „Schmisse“ mit einer verdünnten Karbolsäurelösung vermittelst eines Irrigators auszuspritzen und zu reinigen; dann kommt erst die eigentliche Annehmlichkeit des „Flickens“, das heißt das Legen der Nadeln. Ein guter Freund reicht dem armen Schlachtopfer einen Schluck Wein zur Stärkung.

Die beiden unteren großen Bilder zeigen uns zwei Pausen während der Mensur. Bei dem einen: „Pause. Speer krumm,“ hat die eine Partei Pause genommen, um den Speer, der durch das „Flachmeiern“ etwas verbogen ist, gerade zu biegen. Der Schleppfuchs stützt den ermüdeten Arm, während der Testant den Speer zurecht biegt. Der Paukarzt benutzt auch die Pause, um einen Schmiß zu komprimiren, das heißt durch Druck die Blutung zu stillen. – Auf dem andern Bilde „Wie lange geschlagen?“ frägt der Sekundant den Unparteiischen, wie viel Minuten bereits die Mensur dauert. Die gewöhnliche Schlägermensur geht nämlich auf 15 Minuten oder 60 Gänge, das heißt jeder Gang zählt in der Regel eine Viertel Minute. Kommen auf beiden Seiten keine größeren Verletzungen vor, so wird nach 15 Minuten (also abgerechnet der Pausen) die Mensur ex erklärt, das heißt die Paukanten haben ausgepaukt.

Sitzt auf einer Seite ein Schmiß, der nach dem Urtheil des Paukarztes ein Weiterschlagen unmöglich macht, so wird „Abfuhr“ erklärt, das heißt, der eine Paukant wird als überwunden abgeführt. In der Regel ohne Groll gegen den siegreichen Gegner und gemäß dem alten Studentenliede, welches mit Recht sagt:

Hat ein Schmiß gesessen,
Ist der Tusch vergessen
Von dem kreuzfidelen Bruder Studio!“

Das Bildchen „Versöhnung“ giebt eine solche Scene wieder. Kein Wunder, daß der Ernst der Situation hierauf bald vergessen wird und die Parteien sich gegenseitig friedlich im Bierskat bemogeln.

Die vier kleinen Medaillonbilder zeigen uns Bruder Studio vor, während und nach der Mensur. Oben am Kopf der eigentlichen Mensurscene, eingerahmt von Mensuremblemen, als da sind Schläger, Paukbrille, Paukhandschuhe, Paukkravatte etc. der junge, bartlose Fuchs, dessen Milchgesicht noch kein „langes Messer“ berührt; unten der alte inaktive Bursch im Glanz seiner Renommirschmisse, auf die er nicht wenig stolz ist. Links auf dem großen Bilde der mit Paukbrille und Paukkravatte vollständig zur Mensur fertige, und rechts der geflickte, mit Kompresse und Wickelbandage gezierte Jüngling. – Oben links lugt noch die Karte des Unparteiischen heraus, in welche die einzelnen Gänge durch einen Strich markirt werden: vier Gänge bilden ein Quadrat gleich einer Minute. Der Zirkel, der halb von einem Eichenblatt verdeckt ist, ist das Zeichen der einen Burschenschaft; die zwei Striche unter demselben bedeuten, daß der Paukant derselben bereits zwei erklärte „Blutige“ hat. Auf der andern Ecke der Karte ist der Zirkel der Gegenpartei, der auf unserem Bilde verdeckt ist.

Wir glauben, das Bild genügend erklärt zu haben, welches trotz des Wandels der Zeit eine so treffliche Illustration zu den Versen aus Scheffels „Trompeter“ bildet:

„Bin ein flotter Bursch dann worden,
Streifte viel durch Wald und Felder;
Streifte nächtlings durch die Straßen
Serenadend, sporenklirrend,
und so Einer schief wollt’ blicken,
Fuhr die Hand mir an die Wehre –
Auf Mensur! Die Klingen bindet!
Los! Das schwirrte durch die Lüfte;
Und in manche glatte Wange
Hat mein Schläger flott und schneidig
Sich ein Stammbuchblatt geschrieben.“ –

Skl. 

[588]
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Hängende Fäden.

Erzählung von A. Godin.

Die letzten Strahlen der feurig untergehenden Sonne spielten zwischen den Zweigen der Eschenreihe, welche einen der schönsten Plätze Münchens begrenzt, und erhellten ein nach dieser Seite gelegenes Zimmer der Pension Fischer noch hinreichend, um der am Sofatisch sitzenden Dame die Vollendung ihres Briefes möglich zu machen. Ihre Gedanken schienen den rasch über den Bogen laufenden Zeilen noch vorauszueilen; ein zufriedener Zug umspielte den feinen Mund.

Während sie so lautlos beschäftigt saß, verhielt sich ein am offenen Fenster stehendes junges Mädchen eben so schweigend. Jede Bewegung der schlanken, noch fast kindlichen Gestalt, jeder Zug des beredten Gesichtchens verrieth aber sprühendes Leben. Die leise Heiterkeit der Mutter erglühte in der Tochter zur hellen Freude, ihre rothen, vollen, in diesem Moment etwas getheilten Lippen schienen alle Luft des Lebens einathmen zu wollen; das aus der Stirn zurückgestrichene Haar äffte muthwillig die moderne Stirnzierde nach, indem krause, der Zucht entschlüpfte Löckchen sich im Windhauche regten. Selbst in der Haltung der erhobenen, von einer Strähne rothen Garnes umspannten Arme lag etwas Triumphirendes, und die kleinen Hände wickelten so energisch ab, als gälte es, wirkliche Fesseln eiligst zu lösen, während übermüthige nußbraune Augen darüber fort nach den Anlagen des Platzes schweiften. Da sprang unversehens der rothe Knäuel aus der Hand auf das Fensterbrett und von dort in raschem Satz hinab auf den zwischen Haus und Allee führenden Weg.

Das dunkle Köpfchen beugte sich lachend zum Fenster hinaus, begegnete zwei blauen, aufwärts gerichteten Augen und erblickte den Flüchtling zwischen den Fingern eines jungen Mannes, auf dessen blonder Mähne ein breitrandiger Filzhut saß, der eben leicht gelüftet wurde. Ein Zeichen des Stehengebliebenen deutete an, daß sein Fund zur Eigenthümerin zurückkehren solle. Er machte sich einen Moment mit dem Knäuel zu schaffen, kurz genug, um dem Bilde im Fensterrahmen, mit dem ihn der hängende Faden verband, kaum Zeit zur Besinnung zu lassen, bis der rothe Ball mit geschicktem Wurf emporflog und von eben so gewandter Hand flink aufgefangen wurde.

Beide jungen Menschen lachten einander einen Augenblick an; dann grüßte der Schlanke nochmals und ging seines Weges. Das Mädchen sah ihm fröhlich nach, bis sein wallendes Haar und der leichte Fuß zwischen den Bäumen verschwanden; dann fiel ihr Blick auf den Knäuel, und ein überraschter Laut entschlüpfte ihr, der die Mutter aufschauen und fragen ließ:

„Was ist, Lisbeth,“

„Ein Abenteuer!“ rief Lisbeth mit blitzenden Augen und frischer Schminke auf dem brünetten Gesicht. „Sieh nur – so kehren verlorene Habseligkeiten vom Münchener Pflaster zurück!“

Ein kleiner Strauß frischer Veilchen war zwischen die rothen Fäden geschoben. Indem sie ihn löste und an das zierlich geschwungene Näschen führte, sprach sie lebhaft weiter:

„Und ein Münchener Künstler war es, der mich’s erleben ließ, Mama! Ist das nicht ein glückliches Omen? Er sah aus wie Balder, der Gott des Lichtes – ich will ihn Dir zeigen!“ Sie zog den Bleistift aus einem auf dem Tische liegenden Notizbuche und entwarf mit kecken Strichen die Kontour der Jünglingsgestalt mit aufwärts gerichtetem Kopfe, eine lose gehaltene Mappe unter dem linken Arm, den rechten zum Wurfe gehoben. „Denke Dir leuchtende Blauaugen hinzu, Mama, und Du hast eine Vorstellung vom Helden meines Fensterabenteuers.“

„Tollkopf!“ schalt die Mutter, „zettelst Du, drei Schritte von mir, bereits Unsinn an, wie soll ich Dich allein lassen?“

Lisbeth fiel ihr um den Hals. „Ach, Mama, ich werde ja so vernünftig sein, als ob ich meine eigene Großmutter wäre; nur heute, heute nimm es damit nicht so genau! Ich bin zu glücklich; es ist mir wie ein Märchen, daß ich nun wirklich hier sein und bleiben, daß ich Künstlerin werden darf, wonach sich mir die Seele verzehrt hat, seit mir träumt, was Kunst bedeutet. Soll ich nun an diesem ersten Glückstage meine fünf Sinne am Schnürchen halten? Unmöglich, Mama! Sie tanzen in mir wie Mücken im Sonnenstrahl.“

Die Augen der Majorin wurden feucht; das nahe Scheiden kam ihr gerade in diesem Moment schmerzlich zum Bewußtsein, doch unterdrückte sie jede Aeußerung, welche die Freudigkeit ihres Kindes hätte trüben können.

„Es wird Zeit, zu Ahrens zu gehen,“ sagte sie und schob ihren Brief in das Kouvert. „Mache Dich fertig!“

„Sehr neugierig bin ich auf meine Kollegin,“ äußerte Lisbeth, indem sie ihr graues Hütchen feststeckte, „die Frau Doktor hat mir bei unserem gestrigen Besuche und auch heut, als sie hier bei uns war, sehr gut gefallen, und ihre Tochter scheint recht nett zu sein. Wenn der Student und die Kunstschülerin eben so angenehme Leutchen sind, wird sich’s dort gut hausen lassen!“

Ein kurzer Weg führte Mutter und Tochter in die Arcisstraße, wo die Freundin wohnte, unter deren Obhut Majorin Rüttiger ihr Kind zurücklassen wollte. Scharfe Herbstkühle war mit dem Scheiden der Sonne eingetreten, und die Dämmerung brach rasch heran. Als die bereits Erwarteten im Wohnzimmer der Doktorin freundlich empfangen wurden, war dasselbe schon erleuchtet und die Familie am runden Tisch in der Mitte des traulichen Gemaches versammelt: die Hausfrau, zwei hübsche Mädchen und ein junger Mann von einnehmender Erscheinung, den Frau Ahrens als ihren Sohn vorstellte, nachdem sie zuvor Martha Brohl, ihre Pensionärin, genannt hatte. Der jugendliche Gast, als baldige Hausgenossin Mittelpunkt des Interesses Aller, fand sich schnell zurecht und war im zutraulichsten Geplauder mit ihren Altersgenossen, als sich, nach dem Thee, die Mütter auf ein Ecksofa zurückzogen.

„Wie schwer muß es Dir fallen, Dich von diesem Kinde zu trennen,“ sagte Frau Ahrens mit hellem Blick auf Lisbeth, „solcher Frische und Natürlichkeit bei so viel geistiger Begabung begegnet man nicht oft bei unseren heutigen jungen Mädchen!“

„Ja! es fällt mir schwerer, als sich sagen läßt, und doch, liebe Marie, betrachte ich es als großes Glück, so weit zu sein. Jedes ausgesprochene Talent fordert sein Lebensrecht. Seit Lisbeth’s kurzem Aufenthalt bei unseren Berliner Verwandten, der sie zuerst mit wirklichen Kunstwerken bekannt machte, hat die heiße Sehnsucht sie nicht mehr verlassen, ihre eigene Anlage ausbilden zu dürfen. Du machst Dir keine Vorstellung von den Kämpfen, die es kostete, bis Rüttiger dazu seine Einwilligung gab. Er fand den Gedanken abenteuerlich und nicht standesgemäß, der Kostenpunkt war auch eine harte Klippe. Weißt Du, mein Mann hält es, wie viele Andere, im Grunde für selbstverständlich, daß Alles, was etwa vorhanden sei, in erster Linie dem männlichen Theil der Familie zukomme. Da er aber bei Alledem eine heimliche Schwäche für sein Töchterchen hat und ich ihr tapfer zur Seite stand, brachten wir ihn endlich dahin, ihr für ein Jahr das Kunststudium zu gestatten. Daß Du, liebe alte Freundin, so bereitwillig meiner Anfrage zustimmtest, erwies sich dabei als sehr wesentlich, denn nach Berlin, wo wir eine Menge Bekannte haben, hätte Rüttiger das Kind keinenfalls gehen lassen. Er verbindet merkwürdiger Weise mit der Vorstellung, seine Tochter wolle Künstlerin werden, die Idee, daß sich dies für Fräulein von Rüttiger nicht schicke.“

„Das giebt sich! Aber – ein Jahr, sagst Du? In diesem Punkte scheinst auch Du Dir falsche Vorstellungen zu machen. So begabt Lisbeth sein mag, hat sie mit dem Beginn anzufangen, und es bedarf langer Zeit, um etwas zu erreichen. Martha Brohl ist nun anderthalb Jahre hier und noch lange nicht über den Zeichensaal hinaus.“

Die Majorin lächelte fein: „Kommt Zeit, kommt Rath. Hier war nur der Anfang schwer, ihn weiter zu führen, ist mir nicht bange. Ich habe Dich als die alte treue Seele wiedergefunden, in Deiner Häuslichkeit weht gute, reine Luft, und so lasse ich Dir meine Lisbeth in der Zuversicht, daß Du sie liebgewinnen wirst und sie selbst sich hier wohl fühlt.“

Als Lisbeth am Schlusse dieses Abends ihre Mutter zur guten Nacht küßte, war sie durch alle erlebten Eindrücke so freudig erregt, daß Frau von Rüttiger den Gedanken an die letzte gemeinschaftliche Nacht nicht zu Worte kommen lassen mochte. Der Seufzer des Mutterherzens verklang ungehört. Ehe das Mädchen [589] in ihr Bett schlüpfte, vertauschte der kleine Veilchenstrauß seinen provisorischen Platz im Wasserglase mit dem dauernden in Lisbeth’s Skizzenbuch. Er sollte dort als Omen heimathberechtigt bleiben; ein Datum daneben zu verzeichnen schien nicht nöthig. –

Die neuen Eindrücke, welche Lisbeth in München empfing, halfen ihr über den Schmerz der Trennung von ihrer Mutter hinweg.

Lisbeth athmete das neue Leben in vollen Zügen. Ihr war, als sei sie eben erst auf die Welt gekommen, und wirklich ließ sich ihr gegenwärtiger Zustand dem eines Kindes vergleichen, das in den ersten Lebensjahren mehr in sich aufnimmt als jemals später: eine ganze Sprache, die Kenntniß aller Dinge um sich her, das Aufdämmern eigener Gedanken. Und einem Kinde gleich machte das junge Mädchen jetzt instinktiv alle Schritte und Bewegungen, welche ihre Phantasien in das Wirkliche übersetzten. Jeder, der um diese Zeit mit ihr in Berührung trat, hatte seine Freude daran, sie gleich einem Schmetterling dem Lichte zufliegen zu sehen – nicht dem Feuer, das die leichten Flügel verbrennt, sondern der Sonne, die den Farbenschmelz erhöht. Freudigste Wärme ging von der jungen Seele aus und wirkte belebend auf ihre Umgebung.

Bulgarin im Festkleide.
Nach dem Oelgemälde von Professor Anton Weber.

Zwischen den vier jungen Hausgenossen herrschte schönste Harmonie. Jedes von ihnen war in seiner Weise begabt und eigenartig genug, um den anderen stets interessant zu bleiben und allerlei Räthsel aufzugeben. Besonders die Abende dieses Hauslebens schienen Lisbeth aller Freuden voll. Im elterlichen Hause war, wenn die Lampe auf dem Tische stand, Schweigen die Losung. Die Brüder saßen bei ihren Schularbeiten, der Vater las, und auch später, bei Tische, kam selten eine gute Familienplauderei in Gang. Wie anders hier! Nach vollbrachtem Tagewerk gewann die Stunde, welche Alle wieder zusammenführte, gleichsam etwas Leuchtendes. Es gab zu berichten; Jedes hatte irgend etwas erlebt, das jugendliche Quartett überbot sich in guten Einfällen. War der Student zu Hause, was häufig geschah, da er, im letzten Semester seines Studiums der Philologie stehend, mit verdoppeltem Eifer arbeitete, so wurde er die Zielscheibe für den Witz der drei Mädchen, den er in bester Laune parirte, dabei aber oft durch eine geschickte Wendung die ganze Tafelrunde tieferem Fahrwasser zuführte. Seine Schwester Resi, „die Talentlose“, wie sie sich selbst zu bezeichnen liebte, besaß in hohem Maße das Talent guter Einfälle und den weiblichen Sinn, das Haus zu schmücken. Sie war ihrer Mutter rechte Hand. Der Sonnabend blieb ein- für allemal geselligem Verkehr gewidmet. Einige Freunde Richard’s fanden sich dann zur Theestunde ein, auch die Zahl der Mädchenköpfe vermehrte sich durch geladene oder Zufallsgäste. Es wurde musicirt, zuweilen etwas vorgelesen, improvisirte oder vorbereitete Charaden, naiv in Ausführung, geistreich in Erfindung, kamen zur Darstellung, und der Ehrgeiz, Neues zu ersinnen, förderte manchen originellen Einfall zu Tage. Um alles in der Welt hätte Lisbeth nicht eingestanden, daß jeder dieser Samstage leise Spannung in ihr weckte, daß sie, so oft sich die Thür aufthat, Jemand erwartete, der niemals erschien. Es fehlte nicht an schlanken Blondins, keiner glich aber nur entfernt dem Veilchenspender. Mehr als einmal war sie in Versuchung, Letzteren Richard Ahrens zu schildern und zu fragen, ob er seines Gleichen kenne. So oft das Wort auf die Lippe wollte, spürte Lisbeth aber schon im Voraus, daß sie roth werden würde wie eine Granatblüthe, und schwieg still, um nicht eine Fluth von Neckereien heraufzubeschwören. Sie selbst war zu harmlos, um sich darüber zu verwundern, daß die so flüchtig geschaute Erscheinung sich wiederholt die Freiheit nahm, in ihren Träumen umherzuspazieren, ganz unwillkürlich sah sie aber auf der Straße oder bei größeren Versammlungen nach dem Bilde aus, das ihr wie ein Titelbild des Münchener Lebensbuches vorkam. Es blieb unverrückt und mit unverwischbaren Zügen auf der ersten Seite stehen.

Der Winter brachte manchen Anlaß zu solcher vergeblichen Ausschau. Theater oder Koncerte zu besuchen, war Lisbeth selten vergönnt, da Luxusausgaben nicht in Betracht kommen konnten. Doktorin Ahrens lebte zurückgezogen, seit sie Wittwe geworden war, schlug aber im Interesse des jungen Völkchens niemals die Einladungen aus, welche zu den alljährlichen Künstlerfesten an sie gelangten. Die Pracht und Schönheit dieser Feste, der Reichthum an Farben und Formen, welche vergangene Zeiten wiederspiegelten, wirkten auf Lisbeth förmlich berauschend. Während sie [590] ganz Auge war, mischte sich dennoch die Phantasie ein und zeigte ihr von fern unter irgend einem Sammtbarett, einer Straußenfeder das wallende, wehende Blondhaar, um dann am zufällig Näherkommenden einem gleichgültig fremden Gesichte zu begegnen.

Vielleicht war es diese geheime Spannung auf ein bestimmtes Bild, was Lisbeth mancher Huldigung gegenüber so unbefangen erhielt. Obgleich Martha Brohl und Resi Ahrens viel hübscher waren als sie, zog doch Lisbeth’s interessantes Köpfchem das koncentrirte Feuer ihres Naturells die jungen Leute, welche in dem Hause verkehrten, sichtlich am meisten an. Vor Allen wurde es Richard Ahrens nichts weniger als leicht, dem strengen Hausgesetze seiner Mutter, daß er keiner ihrer Schutzbefohlenen den Hof machen dürfe, stets zu gehorchen. So sehr ein junger Mann aber auf der Hut sein möge, wird seine Erkorene doch immer recht gut wissen, wie es um ihn steht, und blieb auch des Mädchens Herz unberührt, empfand sie doch, ohne eine Spur von Koketterie, das stäte Bemühen, ihr Angenehmes zu erweisen, als Erhöhung der tausendfachen Freuden und Genüsse ihres gegenwärtigen Lebens. Die Korrespondenz mit der geliebten Mutter war eine hohe Ziffer in diesen Freuden, und die Aussicht, bei Ferienschluß der Schule nach Hause zu reisen, glänzte in die reichen, gegenwärtigen Tage hinein.

Ehe diese Zeit herangekommen war, traf unheilvolle Botschaft ein. Major von Rüttiger, dessen Regiment zum Manöver ausrückte, stürzte bei einer Uebung mit dem Pferde und verletzte sich schwer. Seine Frau war sogleich zu ihm geeilt, an Lisbeth erging die Weisung, zu bleiben, wo sie war, da der Kranke zunächst an Ort und Stelle gepflegt werden mußte. Es fiel ihr überaus schwer, in der Ferne weilen zu sollen, während die Eltern litten; ihr ganzes Herz drängte heim; doch blieb ihr nichts übrig, als sich zu fügen. Die nächsten Wochen brachten beruhigendere Nachrichten. Des Vaters Leben war nicht bedroht; er kehrte unter Obhut und Pflege seiner Frau in kleinen Etappen nach der Garnison zurück. Dennoch klangen der Mutter Briefe bedrückt, sie deutete auf Unentschiedenes, auf mögliche Veränderungen hin, ohne Lisbeth’s dringende Fragen anders zu beantworten, als daß sie mahnte, alles Weitere in Geduld abzuwarten. Das lastete schwerer auf des Mädchens Seele als eine bestimmte Sorge, der sie einen Namen hätte geben können – so glaubte Lisbeth wenigstens. Mit ihrer Fröhlichkeit war es vorbei, sie wurde still und schweigsam, eine Ahnung drohenden Unheils ließ sie nicht mehr los.

Da traf Doktorin Ahrens Lisbeth eines Mittags, als sie nicht auf den Glockenschlag bei Tische erschien und deßhalb von ihr aufgesucht wurde, ganz aufgelöst in Thränen. Vor einem Stuhle knieend barg sie das Gesicht in beiden Armen und schluchzte so gewaltsam, daß die gute Frau heftig erschrak.

„Schlimme Nachrichten?“ sagte sie, als sie einen offenen Brief auf dem Tische liegen sah.

Lisbeth fuhr in die Höhe, strich sich wie betäubt die Haare aus dem Gesicht und nickte. „Des Vaters Knie bleibt steif; er ist um seinen Abschied eingekommen; wir ziehen nach Braunschweig und ich – ich – soll nach Hause!“

Die Doktorin legte den Arm um ihr vor Erregung bebendes Pflegekind und strich ihr leise über das Haar.

„Leider sagst Du mir nichts Neues!“

„Nichts Neues?“ rief Lisbeth mit weit geöffneten Augen. „O, gewiß haben Sie nicht verstanden! Ich soll meine Studien aufgeben, für immer, das Geld, welches meine Ausbildung kostet, müsse zu Nöthigerem verwendet werden, schreibt Papa, und auch die Mama scheint dieser Meinung zu sein. Giebt es denn Nöthigeres als vorwärts zu kommen? Mitten auf dem Wege umzukehren ist doch nicht möglich! Gerade jetzt gilt es, alle Kräfte anzuspannen, in ein paar Jahren kann ich den Meinigen eine Stütze werden. Unbegreiflich, daß sie dies nicht einsehen –“

Als Frau Ahrens nicht antwortete und nur theilnehmend das Mädchen ansah, warf Lisbeth beide Arme um ihren Hals und rief leidenschaftlich:

„Helfen Sie mir! Ich will auf Alles verzichten, eine Dachkammer ist mir recht; von Wasser und Brot will ich leben, nur nicht loslassen, woran mein Leben hängt, nicht jetzt nach Hause müssen, wo ich doch nichts helfen und auf meiner Bahn nie, nie vorwärts kommen kann!“

„Wir haben lange überlegt, Deine Mutter und ich, liebes Kind! Mancher Brief ist über diesem Thema gewechselt worden; Du solltest wenigstens nicht mit der Ungewißheit zu kämpfen haben, so lange ein Fünkchen Hoffnung blieb, Dir dies Leid zu ersparen. Daß ich hierzu that und vorschlug, was in meinen Kräften stand, darfst Du mir glauben, und Deine arme Mutter war zu jedem Opfer bereit. Der Wille Deines Vaters ist aber unbeugsam, er fordert entschieden, daß Du heimkehrst und den Gedanken an Malerei als Lebensberuf aufgiebst. Das steht da wie eine Mauer, denn leider läßt sich nicht leugnen, daß noch Jahre vergehen müssen, ehe Deine Kunst nach Brot gehen kann.“

Lisbeth senkte den Kopf ohne zu antworten. Also auch hier kein Verständniß ihrer Noth, auch hier die Ansicht, daß sie sich mit Unabänderlichem abzufinden habe.

Entsagung ist und bleibt ein bitteres Kraut, auch für Die, welche den Kelch schon wiederholt geleert haben. Mit neunzehn Jahren, in einem von leidenschaftlicher Sehnsucht erfüllten Herzen, wo jede Blutwelle von Feuer durchströmt ist, hat Vernunft kein ausreichendes Gewicht, um schwerem Verzicht die Wage zu halten. In Lisbeth’s glühenden Schmerz mischte sich ein Trotz, der ihr im Augenblick jede Anschauung verdunkelte. Der Gedanke, nicht zu gehorchen, stieg in ihr auf – Alles, was sie je über Menschen gehört und gelesen hatte, die allen Hindernissen, der Armuth, dem Alleinstehen zum Trotze ein hochgestecktes Ziel zu erreichen gewußt hatten, glitt an ihrem erregten Geiste vorüber. Es fiel ihr nicht ein zu bezweifeln, daß die schaffende Kraft in ihr wirklich jedes Opfers fähig und würdig sei, der Gedanke an ihre Mutter genügte jedoch, die Versuchung aus dem Felde zu schlagen.

Während der Abschiedstag näher rückte, durchwandelte Lisbeth bald mit überströmenden, bald mit starren Augen noch einmal alle Stätten, die ihr hier vertraut und theuer geworden waren, riß sich von jedem Bilde, jeder Statue einzeln los und hätte in der brausenden Isar, deren weißschäumende Gefälle sie so liebte, ihr Leben hinströmen mögen.

Mit dem natürlichen Egoismus der Jugend, die jede Wallung zu Worte kommen läßt, erschwerten die bisherigen Hausgenossen Lisbeth das Scheiden durch lebhafte Klagen und eben so lebhafte Zeichen ihrer Zärtlichkeit. Wo junge Leute beisammen sind, behält elegische Stimmung aber nur für kurze Zeit das Uebergewicht. So schlug das Bedürfniß der Freudigkeit alle Abschiedsgedanken nieder, als die Mädchen am letzten Tage vor Lisbeth’s Abreise unter Richard’s Geleit eine Morgenwanderung nach dem Nymphenburger Parke ausführten. Das seit einer Woche naßkalte Wetter hatte sich über Nacht plötzlich geändert, einer der sonndurchwärmten Oktobertage, wie sie München öfters beschert werden, blaute nieder, und der während des Frühstücks vorgeschlagene Gang im sonnigen Morgenlichte weckte die fröhliche Laune des jungen Völkchens. Lisbeth selbst vergaß ihr Leid, um sich mit der ihr eigenen Genußfähigkeit ganz an die Stunde hinzugeben.

Der schöne Park stand im Herbstschmuck. Die Natur hatte ihre kräftigsten Farben mit unübertrefflichem Geschmack vertheilt; die stillen Wasserflächen spiegelten all die bunte Pracht leuchtend zurück. Kein Lüftchen regte sich, kein anderer Fuß, als der unserer jungen Leute, wandelte zu dieser Stunde im Umkreis der weitgedehnten Anlage. Ringsum war Alles still, frisch und glänzend; die mythologischen Gestalten sogar schienen ganz ungeziert von ihrem hohen Sockel niederzulächeln.

Als die Spaziergänger den Teich umschritten, bemerkte Richard, der neben Lisbeth ging, daß diese auf einmal wortkarg wurde, bald hier, bald dort stehen blieb, um einen purpurrothen Blätterzweig zu knicken oder träumerisch zu den Baumkronen aufzuschauen. Sein Herzensinstinkt verrieth ihm, daß Lisbeth nach Alleinsein verlange, und schnell knüpfte er an ein von den vorausgehenden Mädchen zurückgeworfenes Wort, um sich ihnen anzuschließen.

Er hatte richtig empfunden. Lisbeth fühlte sich hier plötzlich wieder von heißem Weh überfallen. Da lagen die Kähne, in denen sie während des Sommers das ruhige Wasser überschifft hatte; sie liebte überhaupt diese Stätte, besonders seit der erste Ausflug, den sie in München erlebte, sie nach Nymphenburg geführt – auch im Herbst, als der Park, wie heute, in allen Farben des Feuers stand.

Als sie jetzt den Steg betrat, der einen der Kanäle überbrückte, blieb sie, vom Teiche abgekehrt, gedankenvoll stehen und blickte, über das Geländer lehnend, stumm zum Wasser hinab, auf dem goldige Blätter einzeln, träge hinschwammen! Das erschien ihr wie ein Bild der eigenen Existenz. So golden hatten [591] ihre Tage geglänzt; nun sollten sie langsam, langsam weitergleiten, nicht von lebendiger Welle geschaukelt, sondern auf regloser, fast stagnirender Oberfläche, deren dunkler Grund ohne Tiefe war. Der schöne Tag leuchtete ihr nicht mehr in das Herz; sie neigte sich weit über das Geländer und starrte tiefsinnig hinab auf ihr eigenes Spiegelbild, das ihr unbewegt entgegensah. Da erblickte sie auf einmal drunten neben ihrem Gesicht einen zweiten Kopf mit wallendem lichten Haar, dem sie träumerisch zulächelte, seine Züge glitten oft genug durch ihre Phantasie, um ihr jetzt nicht befremdlich zu erscheinen. Als aber das Bild nicht verschwand, sondern sich regte und gleichfalls lächelte, fuhr sie zusammen und wendete unwillkürlich den Kopf. Hinter ihr, den schlanken Oberkörper etwas vorgebeugt, stand ein junger Mann, der nun höflich den Hut vor ihr zog.

(Fortsetzung folgt.)




Bulgarische Bilder.

Von Karl Braun-Wiesbaden. 0 Mit Driginalzeichnungen von F. Schlegel.

Donaulandschaft bei Sistowa.

Ich habe Bulgarien zu verschiedenen Zeiten bereist, sowohl vor als nach dem russisch-türkischen Kriege von 1877. Vor dem Kriege war die Stimmung in Bulgarien panslawistisch, oder wenn man es kurz sagen will: russisch. Selbst die orthodoxe (griechische) Kirche wollte los von dem Patriarchen in Konstantinopel und strebte nach dem Anschluß an Rußland. Von der andern Seite machte die römisch-katholische Kirche Propaganda – ein Unternehmen, das Napoleon III. eingefädelt hatte. In Konstantinopel sagte man 1875, der russische Botschafter Ignatieff gedenke Bulgarien zu russischen Agitationszwecken zu bereisen.

„Ich wette, er geht nicht hin,“ meinte ein französischer Diplomat, „denn er befindet sich in Verlegenheit mit dem Glauben. Soll er zu den Priestern gehen, die es mit dem Patriarchen, oder zu Denen, die es mit Rußland halten?“

Nach dem Kriege fand ich die Stimmung geändert. Jetzt ist sie antirussisch, und die Abneigung gegen Rußlaud ist so groß, daß man sogar die Aeußerung hörte: lieber wieder türkisch als russisch.

Ein seltsamer Umschwung in wenigen Jahren! Dazu kommt, daß die Gelehrten entdeckt haben: die Bulgaren, obgleich sie jetzt slawisch sprechen, sind ethnologisch eigentlich gar keine Slawen sondern ein eingewanderter mittelasiatischer Volksstamm, am nächsten verwandt mit den Finnen und den Magyaren – Eroberer gleich diesen.

So meldet der altrussische Chronist Nestor. Indessen herrscht Streit über diese Frage. Unstreitig aber ist es, daß die Bulgaren einen andern Charakter haben als die übrigen Slawen im Süden. Ich möchte sagen: sie sind aus einem härteren und dauerhafteren Stoffe gebacken als z. B. die Serben, obgleich letztere mehr westeuropäischen Schliff haben und auf den ersten Blick uns mehr für sich einnehmen.

Ich reiste 1875 in Bulgarien mit einem englischen Freunde. Dieser faßte mir gegenüber sein Urtheil in die Worte zusammen: „Was die Deutschen auf dem europäischen Festland, das sind die Bulgaren auf der Balkan-Halbinsel. Sie sind kräftig an Körper und Geist, mäßig und bedächtig, fleißig und sparsam, kaltblütig und beinahe phlegmatisch, aber dabei beharrlich und, wenn es sein muß, auch tapfer. Der Bulgare unterscheidet sich von den übrigen slawischen Völkern der Balkan-Halbinsel, die keck, lebhaft und beweglich sind, durch jene, ich möchte sagen deutschen Eigenschaften namentlich durch seine zähe Geduld, durch seine Hartnäckigkeit und seine kluge Berechnung. Seine Nachbarn pflegen ihn nicht zu lieben, aber zu achten. Entschuldigen Sie meine Offenheit: ich möchte wiederholen, es ist gerade wie mit den Deutschen. Auch der Bulgare weiß dem härtesten Druck zu widerstehen. Scheinbar unterwürfig, sinnt er auf Befreiung. Man kann ihn biegen, aber nicht brechen. Er konspirirt wider den Türken, wie einst die Deutschen gegen die Fremdherrschaft der Franzosen.“

Türkische Straße in Tirnowa.

So mein englischer Freund. Er war mir, dem Deutschen, gegenüber zwar nicht allzu höflich, aber offenherzig und ehrlich; und während der bulgarischen Krisis und ihres Verlaufes seit 1885 ist mir oft jene treffende Aeußerung des vielgereisten Mannes wieder eingefallen.

Den wahren Typus des Bulgaren, das heißt des „slawisirten Tataren“ oder Finnen, findet man bei den dortigen Bauern. Sie sind groß, stattlich, muskulös, aber nicht ungeschlacht. Freilich, sie sind nicht so beweglich wie die Serben. Ihr Gesicht zeigt einen intelligenten aber ruhigen Ausdruck, und es hat starke Backenknochen.

Eigenthümlich kontrastirt ihr langes, blondes, schlichtes Haupthaar mit ihrer dunklen Gesichtsfarbe; sie lassen nur den Schnurrbart stehen, ältere Männer rasiren sich wohl [592] auch das Kopfhaar bis auf einen einzigen langen Haarschopf, den man in zwei Flechten theilt und unter der Mütze trägt. Wir finden dieselbe Sitte bei den Tataren. Auch der Bulgare ist, wie der Tatare, der Sohn der Steppe, unzertrennlich von seinem Pferde. Auch der Aermste hat ein solches, wenn es auch noch so klein ist.

Bulgarische Bäuerin.

Das Hauptkleidungsstück ist ein weitärmeliges Hemd, verziert mit bunten Stickereien. Im Sommer trägt er weite Leinenbeinkleider, im Winter gleichartige aus weißem Wollstoff, die er unter dem Knie mit rothen Wollbändern oder mit Riemen fest macht, ferner einen rothen Leibgürtel und als Schutz gegen die Kälte entweder eine Jacke oder einen langen Rock aus weißem Tuch, daneben auch einen Schafpelz oder einen Kapuzenmantel. Seine Kopfbedeckung ist eine Lammfellmütze, seine Fußbekleidung selbstgefertigte Bundschuhe, „Opanken“, wie es auf slawisch heißt.

Die Bulgarinnen auf dem Lande, namentlich die Mädchen, sind schön, aber es ist eine schnell vergängliche Schönheit. Ihr reiches langes Haar, das sie zu Zöpfen flechten, ist im Gegensatze zu dem der Männer immer dunkelfarbig, meist von Natur – wird aber auch häufig gefärbt, da die dunkle Haarfarbe der Mädchen dort für schön gilt.

Die Stirnen der Mädchen sind wie die der Männer etwas breit, aber doch schön geformt, die Augenbrauen langgeschweift, die dunklen Augen von sanftem, etwas melancholischem Ausdrucke, der durch die langen feinen Wimpern noch vermehrt wird; Nase und Mund oft von klassischer Schönheit. Ihre Gestalten sind schlank, ihre Formen vollkommen, dazu kommt die bunte und reiche Nationaltracht, die in jedem Kreise ihre kennzeichnenden Eigenthümlichkeiten aufweist. Sie tragen an Sonn- und Festtagen Blumen: Nelken hinter den Ohren und eine Rose über der Stirn. Auch lieben sie es, das Haar mit Münzen und Bändern zu zieren. Mit größter Sorgfalt verfertigen ihre kunstreichen Hände die bunten Seidenstickereien mit denen ihr weißes Hemd wie das der Männer geziert ist; diese Stickereien verrathen Erfindungsgabe und feinen Farbensinn.

Dame aus Rustschuk.


Der Rock besteht aus dickem, farbig gestreiftem oder einfarbigem Wollstoff und wird in enge Falten gebreitet; darüber tragen sie eine Schürze aus ähnlichem Gewebe und beide werden mit einem kunstvoll gearbeiteten Gürtel um den Leib zusammengehalten. Um den Hals und an den Armen tragen die Bulgarinnen gern allerlei Schmuck, wie Korallen, Perlen, Gold- und Silbergeschmeide.

Bemerkt zu werden verdient, daß der Brautwerber außer der Sittsamkeit seiner zukünftigen Frau vorzüglich ihre physische Stärke und Arbeitsamkeit in Betracht zieht, und nicht allein das Heirathsgut, für ein dünnbevölkertes Land, wie Bulgarien, ist diese „Selektion“ Naturgebot, und aus ihr ist eine kräftige, arbeitstüchtige Bevölkerung erwachsen.

Die bulgarische Bauersfrau muß ein sehr thätiges Leben führen, sie muß die treue Gehilfin des nicht minder fleißigen Mannes sein, man sieht sie immer und überall beschäftigt, am Herde, am Webstuhl, im Stalle, auf dem Felde – und bei allen diesen Arbeiten findet sie noch Zeit, ihren Säugling zu stillen, der zuweilen bis in sein drittes Lebensjahr an der Mutterbrust hängt.

Die Kinder genießen eine spartanische Erziehung. Bei jedem Wetter sieht man sie, auch in dem rauhen Gebirge, sich im Freien umhertummeln. Unter diesen Umständen ist die Kindersterblichkeit groß, um so mehr, da die griechischen Aerzte, welche hier zuweilen prakticiren, wie mir scheint, nicht allzuviel verstehen. Auch sind deren wenig, und man behilft sich mit Hausmittelchen, wie sie die „Großmuhme“ verordnet. Dafür pflegen die überlebenden Kinder desto kräftiger zu werden.

Türkische Hamals in Varna.

Die Bauern leben in einem größeren Familienverbande zusammen, an dessen Spitze der Stareschina, der Aelteste, steht. Das Grundeigenthum gehört dieser großen Gesammtfamilie, auch Kommunion genannt. Daneben kann aber auch der Einzelne und die Einzelfamilie Sondereigenthum haben. Es ist die altslawische Gesellschaftsverfassung, gleichsam eine Erinnerung an die primitive Landwirthschaft, welche der Nomadenzeit folgte. Um das aus besserem Materiale erbaute Haus des Familienoberhauptes, des Stareschina, sind die kleineren Häuser der verheiratheten Söhne ringsum aufgebaut, und dieses kleine Gesammt-Familiendorf umschließt ein hoher aus Zweigen geflochtener Zaun. Bei der Ausstattung des Wohnhauses legen die bulgarischen Bauern besonderen Werth auf schönes Hausgeräth; die Prunkstube ist durch den großen Wandschrank und die an den Wänden angebrachten Ruhebetten oder Divans charakterisirt, die mit schönen Teppichen belegt sind. Auf die Teppiche ist die Hausfrau [593] stolz. Sie zeigt solche dem Fremden gern, weil ihre geschickte Hand sie gewebt hat. Auch fehlt es im Hause nicht an schönen Krügen, Oellampen und allerlei Kupfergeschirren.

Montenegrinische Kawassen.

Das Familienleben der bulgarischen Bauern hat eine patriarchalische Innigkeit. Groß ist die Achtung vor den Eltern und überhaupt vor dem Alter. Die landwirthschaftlichen Geräthe sind von primitiver Einfachheit und Unbeholfenheit. Trotzdem ist der Bulgare ein tüchtiger Landwirth. Konstantinopel lebt von dem Gemüse, das die bulgarischen Gärtner ihm liefern. Das Hauptprodukt des Bodens ist Mais (Kukuruz). Außerdem erzeugt das Land Weizen, Roggen, Reis, Tabak, Wein, Bauholz etc. Auf den Almen des Balkan wird Viehzucht betrieben. In den wärmeren Geländen treibt man Seidenbau. Die bulgarischen Grains werden von den italienischen Seidenhändlern geschätzt und erzielen hohe Preise. Von den geschmackvollen Produkten der Hausindustrie habe ich schon gesprochen.

Der mit Büffeln bespannte bulgarische Bauernwagen rasselt nicht; denn es befindet sich kein Eisen an demselben, aber das biegsame Holz ächzt beim Fahren über die schwierigen Wege in allen Tonarten.

Der Bauer steckt leider noch voll allerlei Aberglauben, und die Popen thun wenig, um ihn aufzuklären. Auch die zahllosen Fest- und Fasttage fördern die Kultur nicht. Auf dem Land glaubt man allgemein noch an Vampyre und dergleichen.

Die Städte, namentlich die an der Donau, zeigen meist noch einen türkischen Charakter. Sie steigen amphitheatralisch terrassirt an dem Berg in die Höhe, und über die braunen hölzernen Häuser erheben sich weiße Minarets und schwarzgrüne Cypressen gen Himmel. Der Türke will von seinem Haus eine Aussicht haben. Aber die Einsicht verbaut er; die Fenster, namentlich die des Harems, sind geschlossen mit hölzernem Gitterwerk, das man „Musch-arabi“ nennt. Der obere Stock des Hauses springt meist vor. Die Straßen der Stadt sind eng, naß, schmutzig, verwahrlost; desto schöner ist es im Innern der Häuser. Der Türke liebt schöne Gärten, laubige Bäume und fließendes Wasser. Der Bulgare in der Stadt ist ein geriebener Kaufmann. Er ist dem Griechen, dem Juden und sogar dem Armenier vollkommen gewachsen. Die bulgarischen Juden stammen meistens aus Spanien. Als man sie dort vertrieb, lud man sie nach der Türkei ein, und der Sultan Bajaset sagte: „Wie dumm ist doch mein Bruder in Spanien, so nützliche Menschen zu vertreiben!“

Bulgarischer Gendarm.

Die ärmeren Türken verrichten hier die schwersten Arbeiten. Sie sind „Hamal“ (Lastträger) und „Kaikdschi“ (Kahnführer), beide bewundernswerth in ihren Kraftleistungen. Diese Hamals tragen Lasten, die wir kaum einem starken Pferde aufladen würden, auf dem Rücken, und dabei sieht man sie leicht wie Balletttänzer hinspringen; der Bulgar verschmäht solche Dienste. Die großen Magazine in den Städten sind in den Händen der Bulgaren und der Juden.

Die Residenzstadt Sofia hat einen ganz neuen Stadttheil, der einen westeuropäischen Charakter trägt. Das Kriegsministerium, das Bankgebände und der Palast des Fürsten sind geschmackvolle Renaissancebauten. Die Stadt hat jetzt etwa 25000 Einwohner, darunter 5000 Türken. Sie soll noch 1850 über 50000 Einwohner gezählt haben. Dies ist aber eine türkische Uebertreibung. Tirnowa an der Jantra ist die alte Kapitale des Landes und zeigt heute noch diesen Charakter. Sie ist im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts von Papst Innocenz III. gegründet. Sie hatte später ihren eigenen Patriarchen, im Gegensatz zu dem in Konstantinopel.

Zwei Menschenklassen verdienen noch erwähnt zu werden, weil sie sich in der letzten Zeit sehr bemerklich gemacht haben, nämlich erstens die montenegrinischen Kawassen und zweitens die bulgarischen Gendarmen. Die Ersteren pflegten die Ruhe und Ordnung zu stören und die Letzteren sie wieder herzustellen und aufrecht zu erhalten. Ein Kawaß ist ein bewaffneter Reise- oder Herrschaftsdiener, nebenbei auch eine Art Condottiere. Diese montenegriner Kawassen sind hier ein zucht- und meisterloses, freches und listiges Volk. – Das Gendarmeriekorps hat der Fürst Alexander nach deutschem Muster geschaffen. Es sind stramme Soldaten, die auch im Kriege Rühmliches geleistet. Sie fürchten sich nicht, weder vor den Serben noch vor den Montenegrinern.

Zum Schlusse empfehle ich noch Jedem, der sich über die jüngste Geschichte Bulgariens unterrichten will, zwei Bücher von A. von Huhn. Das eine ist betitelt: „Der Kampf der Bulgaren um ihre Nationaleinheit“, das andere „Aus bulgarischer Sturmzeit“. Jenes behandelt das Jahr 1885, dieses das Jahr 1886. Sie enthalten anschauliche und wahrheitsgetreue Darstellungen der Ereignisse, welche der Verfasser als Korrespondent der „Kölnischen Zeitung“ an Ort und Stelle miterlebt hat.

Bulgarisches Bauerngespann.

[594]

Der Hypnotismus und die Justiz.

Es giebt Lobredner des Hypnotismus: sie erblicken in ihm ein neues wirksames Mittel, welches den Aerzten Krankheiten zu erkennen und Krankheiten zu heilen gestattet. Es giebt aber auch Schwarzseher, die vor der Schädlichkeit hypnotischer Versuche warnen und in der Ausbreitung derselben schwere Gefahren für die Menschheit wittern. Frankreich ist gegenwärtig das Land, in welchem man sich dem Studium dieser räthselhaften Erscheinungen mit größtem Fleiße hingiebt, und dort wurde auch kürzlich in Folge einiger Vorfälle die interessante Frage aufgeworfen, in wie weit der Hypnotismus zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werden kann und welche Stellung ihm gegenüber die Gerichte einzunehmen haben.

Wir wissen ja, daß die Hypnotisirten ihren eigenen Willen verlieren und den Eingebungen des Operators, welcher sie in den Zustand der Hypnose versetzt hat, blind folgen. Die Hypnotisirten thun Alles, was ihnen befohlen wird, Gutes und Böses ohne Unterschied. Sie sind auch im Stande, Verbrechen zu begehen, vor denen sie in wachem Zustande zurückschaudern würden. Sie sind auch, wenn die Hypnose vollständig ist, nicht fähig, sich selbst zu wehren; man kann mit ihnen vornehmen, was man will, und sie zu Handlungen, welche sie selbst schädigen, veranlassen.

Diese Thatsachen sind durch zahlreiche wissenschaftliche Beobachtungen außer Frage gestellt. Die Salpetrière, das berühmte Pariser Krankenhaus, ist die klassische Stätte derartiger Versuche, die selbstverständlich mit der nöthigen Vorsicht ausgeführt wurden, so daß Niemand daran Schaden nehmen konnte. Dort wurden zahlreiche Fälle konstatirt, in welchen Kranke unter dem Einfluß der Hypnose schriftlich Forderungen anerkannten, die niemals bestanden, erdichtete Sachen niederschrieben, die sie kompromittirten, ja sogar zu Mordversuchen schritten. Vielfach gab man in der Salpetrière den Hypnotisirten einen Streifen Papier, erweckte in ihnen den Glauben, dies sei ein Dolch, und befahl ihnen, einen der Assistenten zu ermorden. Der Befehl wurde regelmäßig mit solcher Wucht ausgeführt, daß sich schließlich nur wenige bereit fanden, die Faustschläge der hypnotischen Mörder zu ertragen.

Warum, fragt man nicht ohne Unrecht, sollten sich nicht geübte Gauner finden, welche diese Thatsachen zu ihrem Nutzen verwerthen könnten?

Die Möglichkeit eines derartigen verbrecherischen Handelns muß an und für sich zugegeben werden, und die Gemeingefährlichkeit desselben wird um so augenscheinlicher, wenn wir einige besondere Erscheinungen des Hypnotismus in Betracht ziehen.

Der blinde Gehorsam, mit welchem der Hypnotisirte die Befehle des Operators ausführt, erstreckt sich nicht allein auf die Zeit des hypnotischen Schlafes. Wir können unter Umständen dem Hypnotisirten aufgeben, daß er eine Stunde nach dem Erwachen einen Schrank öffnet und das in demselben liegende Geld an sich nimmt. Mit peinlichster Genauigkeit führt er diesen Auftrag aus, indem er unter dem Einfluß eines unwiderstehlichen Dranges handelt. Die Wirkung der „Suggestion“, dieser sonderbaren Eingebung, erstreckt sich erwiesenermaßen in zahlreichen Fällen auf Stunden und sogar Tage und Monate nach dem Erwachen aus dem hypnotischen Schlafe. Es liegt auf der Hand, daß unter solchen Umständen der Hypnotisirte zu einem mit fürchterlicher Sicherheit arbeitenden Werkzeug eines Verbrechers werden kann.

Dazu kommt noch ein anderer schwer wiegender Umstand: die Trübung der Gedächtnißkraft des Kranken. In der Regel erinnert sich der Hypnotisirte des während der Hypnose Vorgefallenen nur dunkel, wie ein Erwachender sich der Vorgänge während des Schlafes erinnert. Es steht aber in der Macht des Operators, den Hypnotisirten Alles vergessen zu lassen, was sich unmittelbar vor und während des Hypnotisirens ereignet hat, und ihm lediglich das Wissen des geplanten verbrecherischen Anschlags zu belassen. Dann weiß der Unglückliche in der That nicht, wer ihn hypnotisirt, wer ihn zu der verhängnißvollen Handlung bestimmt hat.

Wie annehmbar auch nach diesen Darstellungen die Möglichkeit des Mißbrauchs der Hypnose zu verbrecherischen Zwecken erscheinen muß, so schränken andere Erfahrungen diese Gefahr doch auf ein sehr geringes Maß ein. Vor Allem ist darauf hinzuweisen, daß die Natur ja doch nur einer verhältnißmäßig kleinen Anzahl von Menschen ein Nervenystem verliehen hat, welches hypnotischen Einflüssen unterworfen ist, und selbst Diejenigen, welche dazu Anlage haben, kann man in der Regel nicht gegen ihren Willen – gleichsam durch Ueberraschung – hypnotisiren.

Freilich zeigt auch diese Regel Ausnahmen. Die Leichtigkeit, in den hypnotischen Schlaf zu verfallen, wächst mit der Zahl der an Hypnotischen vorgenommenen Versuche, und schließlich ist es möglich, den Kranken durch einen einzigen Blick, eine einzige Handbewegung in den gewünschten Zustand zu versetzen.

Die französischen Aerzte Binet und Féré haben oft ähnliche Versuche angestellt. Sie begegneten derartigen Personen im Hofe des Krankenhauses; ein lauter Ruf, eine einzige rasche Handbewegung genügten, um den Gang der Betreffenden augenblicklich zu hemmen und sie in der starrsten Katalepsie an Ort und Stelle zu bannen.

Die beiden Forscher gingen noch weiter in ihren Untersuchungen. Sie wollten prüfen, wie viel Zeit man dazu brauche, um eine der oben geschilderten Personen zu irgend welcher Handlung beeinflussen zu können. Das Ergebniß dieser Versuche war überraschend im höchsten Grade. In fünfzehn Sekunden vermochte man die Betreffenden einzuschläfern, in ihnen den Somnambulismus mit Sinnestäuschungen zu erzeugen, ihnen die Suggestion einer bestimmten Handlung zu geben und sie wieder zu wecken.

Der Gedanke an die Möglichkeit, in fünfzehn Sekunden zum blinden Werkzeug eines Bösewichts werden zu können, ist gewiß ein furchtbar peinlicher, und auf ihm läßt sich ein Schauerroman ersten Ranges aufbauen. Glücklicher Weise giebt es aber einen gewaltigen Unterschied zwischen wissenschaftlichen Versuchen, die das Tageslicht nicht scheuen und vor Aller Augen ausgeführt werden, und den geheimen verbrecherischen Anschlägen, welche ihre Vorbereitungen in Dunkel hüllen müssen. Der Hypnotismus ist außerdem ein zweischneidiges Schwert und liefert auch gegen den Gauner scharfe Waffen. Wohl kann der Hypnotisirte gezwungen werden, daß er alles vergißt, was während der Operation mit ihm vorgenommen wurde; aber auch dieses Vergessen hat seine Grenzen. Wird der Unglückliche wiederum hypnotisirt, so erinnert er sich oft mit überraschender Schärfe an alles, was sich während der früheren Hypnosen mit ihm zugetragen hat, und er wäre dann im Stande, genaue Angaben darüber zu machen und den Verbrecher zu entlarven. Der Schauerroman erreicht dann sein Ende, wie man es sich schöner nicht wünschen kann: die Moral triumphirt zum Schluß!

Der Hypnotismus kann, wie wir gesehen haben, wie Alles in der Welt mißbraucht werden; Alkohol und Opium sind auch verderbliche Mittel in der Hand der Verbrecher. Aber die Wissenschaft hat stets einen gewaltigen Vorsprung vor den geübtesten Gaunern und versteht ihre geheimen Schliche aufzudecken. Darin liegt das beruhigende Moment der neuesten wissenschaftlichen Forschungen über den Hypnotismus. Sie werden ein neues Licht werfen auf viele noch unklare Erscheinungen im Geistesleben des Menschen; sie werden auch vor das richterliche Tribunal gerufen werden, und die Wissenschaft wird den strafenden Arm der Justiz aufhalten, wenn er sich gegen einen unglücklichen Somnambulen oder dergleichen richtet, wie sie schon seit Anfang dieses Jahrhunderts die armen Irren vor dem richterlichen Schwert zu schützen weiß. Die neueste Forschung wird auch ihr Licht strahlen lassen in das Dunkel vergangener Zeiten. Wir wandern durch eine Galerie historischer Gemälde, die in früheren Jahrhunderten entstanden sind und vergangene Sitten und Gebräuche getreu wiedergeben; Gerichtsscenen ziehen an unserem Auge vorüber; der Kulturhistoriker versteht nicht die sonderbar verzerrten Gesichtszüge, die krampfhafte Haltung der Angeklagten, der Hexen und Besessenen, zu deuten; der moderne Arzt und Naturforscher erkennt in ihnen Nervenkranke, Hysterische, Epileptische und auch Somnambule; er giebt dem Kulturhistoriker den Schlüssel zur richtigen Deutung früherer Verirrungen der Menschheit; er giebt dem Staatsmann die Richtung an, auf welcher er fortschreiten soll zu dem hohen Ziel reiner Humanität.

Die Bedeutung der neueren Forschung auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten ist in der That auch für die Justiz von weittragendster Bedeutung; aber nicht die Gefahren ihrer verbrecherischen Ausbeutung fallen hier in die Wagschale; unendlich größer ist der Nutzen der Aufklärung, welchen sie unserem Jahrhunderte bringt und den sie auf spätere Zeiten vererben wird.

Das Eine steht aber fest, das Hypnotisiren kann unter Umständen die Gesundheit schwer schädigen, und aus diesem Grunde sollten Laien und sogenannte „Amateurs“ davon absehen. Sonst können sie selbst leicht, wie dies schon der Fall war, mit dem Strafrichter in nähere Berührung kommen und zu empfindlichen Strafen verurtheilt werden.
*




Blätter und Blüthen.

Franz Liszt und die Frauen. Ueber Franz Liszt gehen die Urtheile weit aus einander; jedenfalls aber ist es unrichtig, ihn, wie Max Nordau, für einen psychologisch uninteressanten, unbedeutenden Menschen zu erklären, der für eine überwundene Kulturepoche die bezeichnendste Gestalt sei. In seinen „Ausgewählten Pariser Briefen“ (Leipzig, Wartig’s Verlag) giebt Nordau uns einen Essay über Franz Liszt und die Frauen und spricht darin jene geringschätzige Meinung aus; jeder aber, der den Meister kannte, wird zugestehen, daß er eine geistig bedeutende Persönlichkeit war, reich an schlagkräftigem Witz und mit einem geistigen Horizont, der über die Interessen der Musik hinausging. Daß ihm ein so enthusiastischer und übertriebener Kultus geweiht wurde, daran trägt er ja selbst nicht die Schuld; er ließ ihn sich gefallen, und das würden die meisten andern Sterblichen auch gethan haben. Darin muß man freilich Nordau Recht geben, daß die Blüthezeit dieses Kultus in die vormärzliche Zeit fällt und daß die Gegenwart sich zu so enthusiastischen Huldigungen für einen Meister des Klavierspiels nicht mehr aufzuraffen vermag. Die Schilderung des Sonst und Jetzt wird von Nordau mit feiner Pikanterie ausgeführt. Wenn Liszt in vormärzlicher Zeit in einer Stadt erschien, wurden ihm Triumphbogen errichtet und selbstverständlich die Pferde ausgespannt, die Zeitungen widmeten ihm Leitartikel, Feuilletons, Kunstberichte und Tagesneuigkeiten. Damen der höchsten Aristokratie führten gegen einander diplomatische Feldzüge, ja lieferten sich homerische Schlachten, um das Recht zu erobern, in seinem Koncert die Notenblätter umzuwenden; sie fielen wie Tiger über die Handschuhe her, die er die Gewohnheit hatte, bei seinem Erscheinen auf der Bühne mit einer majestätischen Bewegung unter das Klavier zu werfen, und zerrissen sie in kleine Stückchen, um sie als Reliquien aufzubewahren. Ein Gypsabguß seiner wunderwirkenden Hand war jahrelang in einem Pariser Boulevardschaufenster zu ehrerbietiger Betrachtung ausgestellt, wie ein Heiligenbild auf einem Hochaltar. Sogar Männer wurden von dieser Bewegung mit fortgerissen. Mächtige Herrscher baten ihn ihre Orden anzunehmen; seine ungarischen Landsleute zeichneten ihn wie einen Schlachtengewinner mit einem Ehrensäbel aus, und Vörösmarty, den die Magyaren als einen ihrer größten Dichter verehren, richtete eine Ode an ihn, worin er ihn mit tragischem Ernst beschwört, seine Titanenkraft in den Dienst seines Vaterlandes zu stellen und demselben Freiheit und Unabhängigkeit zu erringen.

Gegenüber diesen glänzenden Bildern aus den Ehrentagen des jugendlichen Liszt stellt nun Max Nordau eine Schilderung des Eindrucks, [595] welchen der greise Meister machte, als im April 1868 seine Graner Messe in der Kirche von Saint-Eustache in Paris in seiner Anwesenheit aufgeführt wurde. „Das Schauspiel hielt nicht ganz, was ich mir davon versprochen hatte, Franz Liszt selbst zwar und die vornehmen Damen, die seinen Hofstaat bildeten, waren durchaus auf der Höhe ihrer Aufgabe und befriedigten alle Erwartungen. Allein das Publikum, welches die Kirchenschiffe füllte, ließ zu wünschen übrig und störte die Einheitlichkeit des Bildes. Franz Liszt war in Ruhe und Bewegung herrlich zu schauen; er trug ein kühn, aber glücklich erfundenes Phantasiekostüm, in welchem sich die wichtigsten Elemente des Priestertalars, des bekannten vom persischen Schah auf seinen europäischen Reisen getragenen brillantenbesetzten Waffenrockes und der Rokoko-Tanzmeistertracht klug vereinigten. Die in Kniehöschen, feinen Strümpfen und grausam zugespitzten helllackirten Schnallenschuhen steckenden Beine und Füße waren entschieden die eines Tanzmeisters. Seine Länge und die würdige Faltung der wallenden Schöße nahm der Rock vom Priestergewande; durch die mit sechsundvierzig edelsteinbesetzten Ordenssternen und Kreuzen behangene Brust (ernste Geschichtschreiber des großen Ereignisses haben sie gezählt) suchte derselbe dem Staatskleide des Schah zu gleichen. Als Liszt in die Kirche trat, empfingen ihn die Musiker mit Fanfaren und Orgelklängen. Eine Schar meist überreifer, doch kunstvoll und prächtig geschminkter Damen, keine weniger als Gräfin, stürmten ihm entgegen und bemächtigten sich seiner Hände, die er ihnen mit gnädigem Lächeln zum Handkuß überließ. Dann reichte er den beiden reichsten und am gediegensten geschmückten Damen (vielleicht sind es auch die vornehmsten gewesen) je einen Arm und schritt mit ihnen äußerst langsam und feierlich auf einen für ihn neben dem Hochaltar errichteten Thronsessel zu, während hellebardenbewaffnete Kirchendiener in Feldmarschalluniformen ihm voranzogen, die Kadenz ihrer Schritte durch Aufstoßen der Hellebarde auf das dröhnende Estrich markirend, und die Damenschar mit Verzückung in Blick und Miene ihm folgte. Liszt nickte der Menge wohlwollend zu und ließ von Zeit zu Zeit ein Wort, ohne Zweifel eine Offenbarung, zu seinen Begleiterinnen niederfallen, die zu ihm mit einem Augenaufschlag emporsahen – nein, diesen Augenaufschlag kann ich nicht schildern. Da müßte ein genialer Stift oder Pinsel der Feder zu Hilfe kommen. Der unvergleichliche Oberländer hatte vor einiger Zeit in den ‚Fliegenden Blättern‘ eine Zeichnung, die einen vegetarischen Dichter inmitten einer Versammlung gerührter Hausthiere darstellt. Die Pferde, Kühe, Schafe etc. blicken zu dem milden Sänger, der die unblutige Pflanzenkost feiert, so innig seelenvoll, so gedankentief und schwärmerisch auf, daß selbst ein Großinquisitor hierüber bis zu Thränen lachen müßte. Diesen ganz einzigen Augenaufschlag der Oberländer’schen Hausthiere habe ich bei den aristokratischen Damen in der Saint-Eustache-Kirche wiedergefunden.“

Der sarkastische Schilderer meint indeß, die Kundgebungen der unbegrenzten Verehrung hätten nicht den Eindruck der Aufrichtigkeit gemacht; jene Damen hätten auch an den Reporter hinter dem Pfeiler gedacht und an den Bericht in den Boulevardblättern. Die übrige nichtbetheiligte Menge habe die köstlichste Unabhängigkeit der Gesinnung, ein lustiges oder spöttisches Lächeln gezeigt; es seien kritische und zweifelsüchtige Kinder der zweiten Hälfte dieses rasch auskühlenden Jahrhunderts gewesen.

Wenn auch jeder übertriebene Kultus eine satirische Geißelung verdient, so ist doch die Satire zurückzuweisen, so weit sie sich gegen Liszt selbst richtet. Die Bedeutung dieses jedenfalls interessanten und geistreichen Mannes ist mit seinem Klaviervirtuosenthum nicht erschöpft; er hat auf die neueste Entwickelung der ganzen deutschen Musik einen maßgebenden Einfluß ausgeübt, edlen Sinnes neidlos für Andere gewirkt und geschafft, mit seinem Feuereifer in Wort und Schrift die Theilnahme für schöpferische Geister in tonangebenden Kreisen entzündet.

Die Herbstfrische. Die Hochsaison der Badeorte hat ihr Ende erreicht. Der Menschenstrom, welcher aus den überhitzten Stadtmauern in die frische Waldesluft oder an die Seeküsten geflüchtet war, kehrt allmählich in die Städte zurück. Mit der Sommerfrische ist es nun für dieses Jahr vorbei; aber diejenigen, welche noch der Erholung bedürfen, brauchen nicht zu denken, daß es zu spät sei, eine Erholungsreise anzutreten. Im Gegentheil! Jetzt erst beginnt die schönste Jahres- und die eigentliche Reisezeit.

Die Herbstwitterung zeichnet sich durch ihre Beständigkeit aus. Die Herbstluft ist kühl und regt zu Fußwanderungen an; sie erfrischt den Körper mehr, als dies die heiße Lust des Sommers vermag, und stärkt ihn in wunderbarer Weise gegen krankhafte Einflüsse. Das Reisen ist in den Monaten September und Oktober auch billiger als im Juli und August, wo die Hochsaisonpreise herrschen. Man hat das Alles nicht immer beachtet und bis jetzt die Vorzüge der Herbstfrische viel zu wenig gewürdigt. Die Tage sind in dieser späteren Jahreszeit nicht so kurz, wie man glaubt; man muß sie nur richtig auszunützen wissen. Im September dauert der Tag noch immer 13½–12 Stunden; im Oktober 11½–10 Stunden. Der Herbstfrischler braucht nur mit dem Sonnenaufgang ins Freie zu gehen, und er hat bis zum späten Abend den schönsten Naturgenuß; denn der Herbst trägt bei uns ein farbenprächtiges Kleid, und der buntgefärbte Wald, von goldenem Sonnenglanz durchwoben, ist nicht minder schön als der junge grüne Wald im Wonnemonat.

Gegen die kühle Witterung findet man in passender Kleidung den besten Schutz, und eine Decke und ein Ueberzieher an einem Schnallriemen tragen sich im Herbste leichter als im Hochsommer. Nur eine Gefahr birgt die Herbstfrische in sich: die langen Abende. Sie verlocken leider Viele, in den Gaststuben zu sitzen und den Tabaksqualm zu athmen; sie treiben den Herbstfrischler in allerlei gesellschaftliche Vergnügungen, welche die guten Folgen des Aufenthaltes in Wald und Feld wieder aufheben. Mit diesen Unsitten muß der Herbstfrischler brechen und lieber eine längere Nachtruhe genießen; dann wird sich der Erschöpfte im Herbst rascher und besser erholen als im Sommer. Die Herbstfrische verdient auch darum besonders gewürdigt zu werden, weil die Zahl derjenigen, welche auf sie angewiesen sind, eine sehr große ist. Gerade die Sommerhitze spannt die Meisten ab und erzeugt in ihnen das Bedürfniß einer Erholung; an viele Andere werden gerade in den Sommermonaten höhere Anforderungen gestellt, da sie ihre verreisten Kollegen vertreten müssen; nun, sie können dafür den Herbst ausnützen, und außerdem fallen ja in den Herbst die Michaelisferien, welche das Reisen den weitesten Kreisen erleichtern.

Und noch eins! Man glaube nicht, daß es gleich nöthig sei, viele Wochen auf Urlaub zu gehen, und daß ein kürzerer Aufenthalt in freier Natur nur wenig oder gar nicht nütze. Gegen die Krankheit unsrer Zeit, gegen die „Nervenschwäche“, haben sich bereits kurze Reisen aufs Land von nur wenigen Tagen Dauer sehr erfolgreich gezeigt; und gegen gewöhnliche Erschöpfung wirken sie Wunder. Nur zu wahr sind die Worte, welche der Badearzt Dr. Adams veröffentlicht hat: „Die Frühjahrsreise ist eine Art Heilmittel gegen die vom Winter gesetzten Nachtheile. Die Sommerreise ist nur eine Unterbrechung der nachtheiligen Einflüsse, eine willkommene und angenehme zeitweilige Ausspannung und Erfrischung. Richtet man aber seine Reise im Herbst ein, so gewinnt man eine wahre hygienische Vorbeugung: die Nachtheile des Sommers werden ausgeglichen und für den Winter wird neue Frische und Widerstandsfähigkeit eingeheimst.“ Darum rufen wir auch unsern Lesern zu: wer es irgend kann, wähle für seine Reise und Erholung die Herbstzeit! *

Der wirkliche Komponist der Marseillaise scheint endlich in Frankreich entdeckt worden zu sein. Es ist ein alter Kirchenkomponist, Jean Baptiste Lucien Grison, von 1775 bis 1787 Kapellmeister an der Kathedrale zu St. Omer (Pas-de-Calais). Während dieser Zeit komponirte er ein Oratorium „Esther“, Text der gleichnamigen Tragödie Racine’s entnommen, dessen erste Nummer, „Die Verleumdung“ betitelt, Note für Note die Melodie der Marseillaise zeigt. Somit ist Grison’s Komposition mindestens 5 Jahre älter als die Nationalhymne Rouget de Lisle’s, der bisher auch als Komponist seiner Strophen galt – wenn dies auch oft und mit Recht angezweifelt worden ist. Er selbst hat sich übrigens nur einmal, 1825, also erst 33 Jahre nach der Entstehung seiner Hymne, öffentlich auch als deren Komponist genannt.

An der Autorschaft Grison’s in Bezug auf die von Rouget de Lisle benutzte Melodie ist nicht zu zweifeln, da der Entdecker dieses wirklichen Komponisten der Marseillaise, Arthur Loth, in seinem vor einiger Zeit erschienenen Buche: „Le Chant de la Marseillaise et son véritable auteur“ („die Marseillaise und ihr wahrer Komponist“) zugleich den Beweis für die Wahrheit seiner Angabe antritt und die Komposition Grison’s mit allen dazu nöthigen Urkunden mittheilt. Hiermit wären denn alle anderen Ansprüche an die Autorschaft der bedeutsamen Melodie beseitigt, auch die, welche von deutscher Seite erhoben worden sind.

Diese deutschen Ansprüche wurden übrigens in erster Linie von französischer Seite veranlaßt. Sollte doch nach einer Lesart das Gedicht von J. G. Forster, die Musik von J. F. Reichardt herrühren und das Ganze später, mit deutschem und französischem Text und den oben genannten Namen versehen, bei Rellstab im Druck erschienen sein. Die deutsche Autorschaft der Marseillaisen-Melodie lag gleichsam in der Luft und der Glaube daran lebte fort. Da kam 1861 Herr Fridolin Hamma und erklärte in der Presse (siehe „Gartenlaube“, „Kölnische Zeitung“ vom 24. April 1861), die Melodie der „Marseillaise“ sei dem Credo einer Messe aus dem Jahre 1775 von einem Kapellmeister „Holtzmann“ entnommen und diese Messe befinde sich in Meersburg am Bodensee. Die Behauptung trat trotz ihrer sonstigen sich widersprechenden Angaben in der Hauptsache so bestimmt auf, indem sie zugleich einem Jeden die Möglichkeit bot, sich von ihrer Wahrheit persönlich überzeugen zu können, daß man wohl daran glauben mußte, wie sie denn auch von den verschiedensten Blättern geglaubt und den Lesern mitgetheilt wurde. Doch den Beweis für seine Angabe hat Herr Fridolin Hamma bis heute nicht erbracht, wie auch andere Wißbegierige dazu nicht im Stande gewesen sind. Jetzt wird dies wohl auch nicht mehr nothwendig sein, denn einstweilen steht es fest, daß der wirkliche Komponist und Erfinder der Marseillaisen-Melodie nicht Rouget de Lisle, sondern der alte Kapellmeister Grison in St. Omer gewesen ist.

Der Invalide von 1813. (Mit Illustration S. 581). Der ehrwürdige, mit dem Eisernen Kreuze von 1813 geschmückte Invalide der Befreiungskriege, der an der Gedenktafel seiner gefallenen Kameraden vorüberschreitet, mit ernster Wehmuth der vergangenen Zeiten sich erinnernd – er ist einer jener Tapferen, welche das Napoleonische Joch abschütteln halfen, und sein Eisernes Kreuz gemahnt uns an die Tage von Leipzig und Belle-Alliance. Wenn auch sein Körper gelähmt ist: die freien Schwingen seines Geistes sind es nicht, und das Bewußtsein, für das Vaterland gekämpft und gelitten zu haben, tröstet ihn darüber, daß er die freie Beweglichkeit verloren hat, die zum unverkümmerten Lebensgenuß gehört.

Doch neben dem Invaliden des Bildes sehen wir andere im Leben, welche auf den Schlachtfeldern des Jahres 1870 verwundet wurden, in jenen glorreichen Kämpfen, welche das Deutsche Reich begründet haben. Am Sedantage, dem Geburtstage deutscher Einheit, die in Versailles ihre Taufe empfing, gedenken wir mit Wehmuth nicht bloß der zahlreichen Opfer, die der große Krieg gekostet hat, sondern auch der Ueberlebenden, die, oft nach langem Schmerzenslager genesen, doch nie sich wieder frei mit den andern Glücklichen durchs Leben bewegen konnten. Das Vaterland schuldet ihnen seinen Dank – und Niemand wird ohne Achtung und Mitgefühl bei einem jener hochverdienten Krieger vorübergehn, denen mehr noch als das neue Eiserne Kreuz die Krücke zum Schmuck und zur Ehre gereicht, auf die gestützt sie durchs Leben wandern.

Das Pentagramm als Wirthshausschild. Unsere Leser kennen die Stelle des Goethe’schen „Faust“, wo der Drudenfuß auf der Schwelle, das Pentagramma, dem Mephisto „Pein macht“, indem es ihn am Weg gehen hindert. Das Sternfünfeck rührt bekanntlich von den Schülern des Pythagoras her, die darin das Band harmonischer Vereinigung und das Symbol der Gesundheit erblickten. Die Figur zeigt auf überraschende Weise das Verhältniß des „goldenen Schnittes“, welches darauf beruht, [596] daß der kleinere Theil sich zum größeren wie der größere zum Ganzen verhält. Soll ein Ganzes in ungleiche Theile getheilt werden, die doch zugleich die Einheit im Unterschiede bewahren, so ist dieses Verhältniß das logisch richtigste, wie es ästhetisch das wohlgefälligste ist; darum herrscht es in der Natur wie in der Kunst.

Ein Pythagoräer kehrte nach langer Fußwanderung durch eine öde Gegend in einem Wirthshause ein, wo ihn eine schwere Krankheit befiel, so daß er nach langem Siechthum nicht mehr im Stande war, dem Wirthe die Pflege und Zeche zu bezahlen. Kurz vor seinem Ende schrieb er ein seltsames Zeichen auf eine Tafel, die er dem Wirthe übergab, mit der Weisung, dieselbe vor seinem Hause aufzuhängen und darauf zu achten, ob ein Vorübergehender das Zeichen erkenne; der werde dann die Auslagen zahlen und sich dankbar erweisen für das, was an dem Verstorbenen geschehen sei.

Nach langer Zeit kam wirklich ein Pythagoräer vorüber, erkundigte sich nach dem Zeichen und bezahlte, als er den Hergang erfahren, die Schuld des Verstorbenen. Wegen dieses guten Dienstes, den das Gruß- und Erkennungszeichen der Pythagoräer dem Wirthe geleistet, soll das Pentagramm bei den Gastwirthen überhaupt zu Ansehen gekommen sein und daher die Sitte stammen, es in seiner ursprünglichen oder doch etwas modificirten Form als Wirthshausschild oder Bierzeichen zu benützen.

Menschenfresser unter deutscher Reichsflagge. Seitdem das Deutsche Reich Besitzungen in fernen Oceanen erworben, befinden sich unter seinem Schutze allerlei vielfarbige zahme und wilde Menschenexemplare, und selbst an Kannibalen fehlt es darunter nicht. R. Parkinson, ein Plantagenbesitzer auf der Insel Neu-Britannien, welche jetzt aus dem Englischen ins Preußische übersetzt worden ist und den Namen Neu-Pommern führt, hat seine Erlebnisse und Betrachtungen in einer Schrift „Im Bismarck-Archipel“ zusammengestellt (Leipzig, F. A. Brockhaus). Während er die unvergleichliche Fruchtbarkeit des Landes rühmt, kann er den Eingeborenen nicht ein gleich günstiges Zeugniß ausstellen; ohne gerade von besonderer Kriegslust beseelt zu sein, führen sie doch nicht selten Krieg mit einander und oft aus den unbedeutendsten Anlässen. Wird ein Hund gestohlen, der dem Eigenthümer nicht zurückgegeben oder nicht in Muschelgeldwerth ersetzt wird, so ist dies ausreichender Grund zu einer Kriegserklärung; weniger befremden wird es Alle, welche etwas von der „Schönen Helena“ und dem Trojanischen Krieg gehört haben, daß auch in Neu-Pommern die Entführung einer Gattin durch den Genossen eines benachbarten Stammes schon oft eine Kriegserklärung zur Folge hat. Dies ist auch der Fall, wenn ein Ehemann aus irgend einem Grunde seiner Gattin müde geworden ist und sie schimpflich zu ihren Verwandten zurückschickt. Die Kriege werden mit geschleuderten Steinen und Speeren, auch mit Feuerwaffen geführt; es fehlt nicht an jenen Herausforderungen und Verhöhnungen, wie sie die Homerischen Helden lieben; im Ganzen bleiben indeß die Kämpfer in respektvoller Entfernung. Wohl aber haben die Bewohner Neu-Britanniens die üble Gewohnheit, die Leichen der erschlagenen Feinde gelegentlich zu verzehren. Wenn ein solcher Leichnam heimgebracht worden ist, so versammeln sich auf ein mit der großen Holztrommel gegebenes Zeichen sämmtliche Bewohner des Dorfs und die Zertheilung beginnt. Der Leichnam ist Eigenthum Desjenigen, der ihn gebracht hat und der die einzelnen Stücke an die Umstehenden verkauft. Gewöhnlich sind der Theilnehmer so viele, Männer, Weiber und Kinder, daß höchst selten einer ein Stück erhält, das groß genug ist, um sich daran satt essen zu können. Der Kannibalismus ist eigentlich als ein Akt des Hasses und der Rache gegen den erschlagenen Feind und dessen Stammesgenossen anzusehen, wie denn auch die letzteren nicht eher ruhen, als bis sie wieder ihrerseits einen Mann aus dem feindlichen Stamme verspeist haben.

Ein Geständniß Ernesto Rossi’s. Der auch in Deutschland gefeierte italienische Künstler giebt unter dem Titel: „Vierzig Jahre Künstlerleben“ seine Memoiren, von denen soeben der erste Band erschienen ist, in seiner Muttersprache heraus; er hat sich jetzt sehr eifrig der schriftstellerischen Thätigkeit zugewendet; denn erst vor zwei Jahren ist ein Werk seiner Feder mit Lebenserinnerungen und kritischen Erläuterungen dramatischer Charaktere der deutschen Sprache angeeignet worden. Rossi weiß lebhaft zu erzählen und sagt sich selbst gelegentlich manches Gute nach; doch fehlt es auch nicht an offenherzigen Bekenntnissen. So erklärt denn Rossi selbst es für unkünstlerisch, daß ein Schauspieler seine Kunst ausübe in Gemeinschaft mit andern, die eine andere Sprache sprechen; sein künstlerisches Gewissen empöre sich dagegen – und doch müsse er sich immer wieder dies Opfer auferlegen; denn sein Versuch, mit einer italienischen Truppe Nordamerika zu durchreisen, sei gescheitert; immer wieder müsse er im fremden Lande mit fremden Schauspielern zusammenwirken.

Wie der Künstler darüber denkt, ist seine Sache; aber das Publikum, besonders das deutsche, sollte eigentlich sich solchen Sprachmischmasch nicht gefallen lassen, durch den ja jede Illusion zerstört wird. Wenn Edwin Booth in englischer Sprache, Rossi, Salvini, die Ristori in italienischer Sprache ihre Leidenschaften und Affekte in einer für das große Theaterpublikum unverständlichen Weise zum Ausdruck gebracht, dann werden sie von deutschen Schauspielern abgelöst, welche mit einer weniger genialen Verständlichkeit ihr Pensum in der wohlbekannten Muttersprache hersagen. Das erinnert an die bunten Flecke einer Harlekinsjacke; doch freilich, wer die großen Künstler des Auslandes kennen lernen will, der muß diesen kläglichen Mißstand mit in den Kauf nehmen. Uebrigens hat Rossi selbst das Bestreben gezeigt, ihn nach Kräften zu beseitigen; er hat ja Gutzkow’s „Königslieutenant“ in deutscher Sprache gespielt. Doch ein Künstler, der eine fremde Sprache spricht, ist wie ein ans Land geworfener Fisch: er zappelt, aber er schwimmt nicht mehr.

Transportable Gefängnisse im 16. Jahrhundert. Die Strafe des Einsperrens kannte man in früheren Zeiten noch nicht; wer sich gegen die Gesetze vergangen hatte, wurde an Leib und Leben und mit Verbannung gestraft. Erst eine humanere Zeit führte die Gefängnißstrafe ein. Es waren daher vorzugsweise nur Untersuchungsgefangene, welche die Gefängnisse der Vorzeit, meist scheußliche Aufenthaltsräume, bevölkerten. Herrschte nun ein starker Andrang, so erwiesen sich die Gefängnisse als unzureichend; wie man sich dann zu helfen suchte, geht aus einem Erlasse des Grafen Johann von Nassau vom 11. Juni 1583 hervor, in welchem zunächst konstatirt wird, daß in den gräflichen Häusern (Burgen), Städten und Flecken großer Mangel an Gefängnissen herrsche, „daher die Gefangenen uns aus anderen Aembtern häufig zubracht und unsere Diener, indem sie mit ihnen verhandlen, an anderen unseren nothwendigen Verrichtungen gehindert werden. Befehlen darauf Euch in Gnaden, daß ihr daran seid und verschaffet, daß in unserem Hause zu N. etliche solcher Custodien, die man uf den Nothfall von einem Orte verrücken und transferieren möge, von Holzwerk fast uf die Form eines Meisen Kars alsobald zurichten und verfertigen lasset. Auch wie und welcher Gestalt Ihr solches verrichtet habt, anhero in der Person berichtet.“ Es wurde also die Anfertigung transportabler Gefängnisse in der Form von Vogelhäuschen, wohl unseren heutigen Menageriekäfigen ähnlich, anbefohlen, die man je nach Bedarf da oder dort gebrauchen konnte. Soweit hat es das 19. Jahrhundert doch noch nicht gebracht!

Bulgarin im Festkleide. (Mit Illustration S. 589.) Anschließend an unsern Artikel „Bulgarien“, bringen wir das Bild einer Tochter dieses Landes, nach einem auf der diesjährigen Berliner Kunstausstellung befindlichen Gemälde von Professor Anton Weber in Berlin. Der Künstler, in Weimar, Dresden und Paris gebildet, gehört zu den geschätztesten Bildnißmalern Berlins, wie seine vortrefflichen Portraits beweisen, die er von unserem Kaiser und dem Kronprinzen sowie vom Herzog von Koburg etc. nach dem Leben geschaffen. Der Künstler zeichnet sich namentlich durch feine Charakteristik aus und so wußte er auch in unserem Bilde in graziöser Weiblichkeit das vornehme Selbstbewußtsein, das dem Balkanvolke eigen ist, auf gewinnende Weise zu schildern.

Schach.
Von Georg Chocholous in Bodenbach.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.
Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 548.
Weiß: Schwarz:
1. S g 2 – e 1 T h 6 – g 6:!
2. T f 3 – e 3 beliebig.
3. S resp. D setzt matt.

Varianten: a) 1. … S a 6, 2. D c 6 etc. – b) 1. … d 3, 2. D d 3: etc. – c) 1. … d 5, 2. D c 7 + etc. – d) 1. … S g 3:, 2. D a 2 etc. – Weiß droht nach dem ersten Zuge mit 2. T e 3 oder 2. T f 4; der Gegenzug T g 6: erzwingt 2. T e 3, denn auf T f 4 würde T g 3:! folgen.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

U. U. in Hamburg (mit 15 Mk. zur Unterstützung Hilfsbedürftiger) – Marie K. in St. Petersburg (mit 6 Rubel = 11 Mk. 10 Pf. für arme Kinder). – B–s in Kelberg a. d. Eifel (mit 3 Mk. 60 Pf. für die Armen). Wir danken Ihnen aufs Wärmste für diese Gaben, welche wir Ihrem Sinne gemäß verwendet haben. Möchte Ihre menschenfreundliche Gesinnung doch recht viele Nachahmer finden, denn das Elend, welches fast täglich mit herzzerreißenden Bitten an uns herantritt, ist sehr groß. Namentlich fehlt es uns an Mitteln zum Ankaufen von Krankenfahrstühlen. Jede Gabe, auch die kleinste – in Briefmarken – wird mit herzlichem Danke aufgenommen.

G. F. in Görlitz. Der Gedenktag der fünfzigjährigen Errichtung des Gutenberg-Denkmals ist in Mainz am 14. August festlich begangen worden. Ein Gutenberg-Album mit interessanten Beiträgen namhafter Künstler und Schriftsteller ist an diesem Tage erschienen.

Wulfhild. Der betr. Künstler lebt in Dresden.


Inhalt: Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 581. – Auf die Mensur. S. 587. Mit Illustrationen S. 584 und 585. – Hängende Fäden. Erzählung von A. Godin. S. 588. – Bulgarische Bilder. Von Karl Braun-Wiesbaden. S. 591. Mit Illustrationen S. 591, 592 und 593. – Der Hypnotismus und die Justiz. S. 594. – Blätter und Blüthen: Franz Liszt und die Frauen. S. 594. – Die Herbstfrische. S. 595. – Der wirkliche Komponist der Marseillaise. S. 595. – Der Invalide von 1813. S. 595. Mit Illustration S. 581. – Das Pentagramm als Wirthshausschild. S. 595. – Menschenfresser unter deutscher Reichsflagge. S. 596. – Ein Geständniß Ernesto Rossi’s. S. 596. – Transportable Gefängnisse im 16. Jahrhundert. S. 596. – Bulgarin im Festkleide. S. 596. Mit Illustration S. 589. – Schach. S. 596. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 548. S. 596. – Kleiner Briefkasten. S. 596.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.