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Die Gartenlaube (1887)/Heft 29

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[469]

No. 29.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.
(Fortsetzung.)


3.

Während der nächsten Tage gingen allerhand Veränderungen im Rawlston’schen Hause vor, mit denen sich die öffentliche Meinung in Shanghai lebhaft beschäftigte: Edith war zu Frau Onslow gezogen. Sie machte und empfing keine Besuche. Man sah sie von Zeit zu Zeit neben ihrer Freundin im Wagen spazieren fahren. Die Männer grüßten sie ehrerbietig und sie dankte ruhig und vornehm.

Georg Büchner hatte sich im amerikanischen Viertel am äußersten Ende der fremden Niederlassung eine kleine Wohnung gemiethet, in der er zurückgezogen lebte. Die Meinung der Kolonie über ihn war getheilt. Die Mehrzahl seiner ehemaligen Genossen war der Ansicht, daß er ein ehrlicher Mann sei; aber hier und da wurden die Augenbrauen in die Höhe gezogen, die Köpfe geschüttelt und die Achseln gezuckt. Ob Büchner nun ein ehrlicher Mann oder ein Dieb war – seinen unangefochtenen guten Namen hatte er eingebüßt. Was er darunter litt, konnte Niemand sagen, denn er sprach nicht davon; aber wer ihn erblickte, der konnte in dem gramverstörten Gesichte deutlich lesen, daß er einen unglücklichen Menschen vor sich sah.

Büchner hatte sich nicht von der Welt abgeschlossen. Mehrere seiner Freunde pilgerten nach seiner Wohnung hinaus und besuchten ihn und sprachen zu ihm mit einer künstlichen Unbefangenheit, die bei den rauhen Männern etwas Rührendes hatte. „Wollen wir nicht eine Partie Kegel machen ? – oder einen gemüthlichen Rubber? – Reiten Sie heute nicht aus?“ Büchner schüttelte auf solche Anfragen stumm das Haupt. Er ging zu Niemand, er zeigte sich an keinem öffentlichen Orte. Wer ihn sehen wollte, der mußte ihn aufsuchen. Unter Denen, die dies thaten, erschien Keiner häufiger, als sein ehemaliger Kollege im Hause Rawlston, der Seideninspektor Prati. Büchner hatte gar nicht gewußt, daß er einen so guten Freund an dem kleinen Italiener habe, und empfand es dankbar, daß dieser sich in der Stunde der Noth treu zeigte.

Prati war der Einzige, der sich nicht Mühe gab, die Gedanken zu verhehlen, mit denen Alle zu der Zeit über Büchner’s Schwelle traten. Er sprach offen mit diesem von dem nahe bevorstehenden Processe, in dem Büchner der Unterschlagung verdächtig vor den Schranken des Gerichts erscheinen sollte.

„Nehmen Sie sich doch die Sache nicht so zu Herzen, Büchner! Sie sind unschuldig. Das wissen Sie, das weiß alle Welt. Niemand, um den Sie sich zu kümmern haben, zweifelt an Ihrer Unschuld.“

„Rawlston!“ warf Büchner dazwischen.

„Ach was, Rawlston! Der weiß ebenso gut wie ich, daß Sie ein Ehrenmann


Marlitt’s Arbeitszimmer.


[470] sind. – Sie haben keine Idee, wie niedergeschlagen er ist; und er hat Grund, verdrießlich zu sein, denn sein Benehmen Ihnen gegenüber ist gar nicht zu rechtfertigen. O, ich habe es ihm gestern wieder gesagt, ich fürchte mich nicht vor ihm. Und wenn Sie sähen, wie klein er sich macht! Er ist einen Kopf größer als ich, aber wenn ich Ihren Namen ausspreche, dann sinkt er zusammen und reicht mir nicht bis zur Schulter. Sie wissen, daß er unter keinen Umständen als Ihr Ankläger auftreten wollte. Hätte es in seiner Macht gelegen, so wäre die ganze Sache zurückgezogen worden. Aber es ist gut, daß der Staatsanwalt sich veranlaßt gefühlt hat, auf die Anzeige der Polizei hin gegen Sie vorzugehen; denn Sie müssen die Genugthuung haben, vom Gericht für unschuldig erklärt zu werden. Und das wird geschehen! – Und dann, Büchner, dann versprechen Sie mir, wieder ein vernünftiger Mensch zu werden. Wollen Sie, Büchner? Versprechen Sie es mir!“

Der lange Holländer lächelte traurig. „Sie sind ein guter Freund,“ sagte er.

Jeden Abend um neun Uhr begab sich Büchner zu Frau Onslow, wo er seine Braut antraf und sodann in Gesellschaft der beiden Damen etwa zwei Stunden verblieb. Daß dies geschah, war Frau Onslow’s Werk. Büchner hatte an demselben Tage, an dem er mit Rawlston gebrochen, einen betrübten, aber keineswegs kläglichen Brief an Edith geschrieben und ihr auseinandergesetzt, weßhalb er sich für verpflichtet halte, ihr ihre Freiheit wiederzugeben: als er um sie geworben, habe er geglaubt, sie glücklich machen zu können, wenn sie ihr Schicksal an das seinige knüpfen wolle, nun dürfe er dies nicht mehr hoffen, denn er sei plötzlich ein unglücklicher Mensch geworden. Er sage ihr Lebewohl, und er bitte sie, ihm ein gutes Andenken zu bewahren. Als Antwort hatte er auf einer offenen Karte den kurzen Bescheid von Frau Onslow erhalten, sie bitte ihn, am Abend um neun Uhr im engsten Kreise den Thee bei ihr einzunehmen. – Büchner war erschienen und hatte Herrn und Frau Onslow angetroffen, von denen Ersterer nach kurzer, herzlicher Begrüßung wieder verschwunden war, wogegen die Dame des Hauses ihm eine längere Rede gehalten hatte, um ihm klar zu machen, daß in seinem Verhältniß zu Edith nichts geändert werden dürfe.

„Wofür halten Sie denn meine junge Freundin? – Für ein leichtfertiges Geschöpf, das ihr Herz heute giebt und morgen zurücknimmt? Man sieht, daß Sie ein Europäer sind, der nicht ahnt, was ein ordentliches amerikanisches Mädchen werth ist. Edith wird Sie nicht verlassen, sie hat sich Ihnen versprochen und sie gehört Ihnen. Ihr Glück liegt da, wo ihr Herz und ihre Pflicht sie hintreiben: bei Ihnen. – Herr Büchner, es giebt eine Art schlecht verstandenen Edelmuthes, der in seinen Folgen ebenso traurig ist wie beabsichtigte Bosheit. Wenn Sie Edith jetzt verlassen wollen, nachdem sie Ihretwegen mit James gebrochen hat und mit der ganzen Welt brechen würde, so wäre das eine schlechte Handlung, gleichviel ob Edelsinn oder Feigheit Sie dazu triebe. Seien Sie ein Mann! Sagen Sie nicht: Alles ist verloren. Das soll ein Mann, der das gute Recht auf seiner Seite hat, nicht thun. Kämpfen Sie bis zum Ende um das höchste Gut, das Ihnen auf Erden beschieden ist: um ein reines, treues Frauenherz.“

Es bedurfte nicht so langer Reden, um Büchner zu überzeugen. Er wünschte nichts sehnlicher, als was Frau Onslow ihm aufdrang. Er drückte ihr tief bewegt die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen.“

Darauf erhob sich Frau Onslow triumphirend und kehrte nach wenigen Minuten mit Edith zurück, die blaß und niedergeschlagen aussah, aber deren Wangen sich rötheten und deren Augen aufleuchteten, als Büchner ihre kleine Hand nahm, sie sanft streichelte und dazu leise sagte: „Mein ganzes Leben kann Ihnen nicht für diese Stunde danken.“

Ja, Edith fühlte sich glücklich. Ihre Liebe zu Büchner hatte, ohne sein Zuthun, in wenigen Tagen erstaunliche Fortschritte gemacht. Das unverdiente Unglück, unter dem sie ihn leiden sah, machte ihn in ihren Augen nur noch liebenswerther. Ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, ihm sein schweres Los zu erleichtern und es ihn womöglich vergessen zu machen.

„Du bist zu gut, meine Edith,“ sagte er. „Wie kann ich es Dir je vergelten?“

„Warte nur,“ antwortete sie lächelnd, „bis Du wieder sorglos und heiter bist, dann werde ich Dich schon genug quälen. Du sollst mit schweren Zinsen zurückzahlen, was Du jetzt empfängst.“

Wenn Büchner am Abend den dunklen Wussongfluß entlang über den verödeten „Bund“ nach seiner entfernten Wohnung heimkehrte, dann dachte er darüber nach, was Edith ihm gesagt hatte. Konnte er je wieder froh werden?

Der Wussong ist ein breiter, tiefer Strom. Inmitten einer baumlosen sumpfigen Ebene wälzt er seine gelben, schlammigen Wasser dem riesigen Yang-tse-kiang zu. Zur Zeit der Ebbe, die sich bis weit hinter Shanghai fühlbar macht, verfolgt er in wilder, wüthender Hast, gurgelnd und zischend, seinen mächtigen Lauf. Dies Gurgeln und Zischen schien einen eigenthümlichen Reiz für den langen Holländer zu haben, denn oftmals blieb er stehen und lauschte dem unheimlichen Getöse. – Konnte er je wieder froh werden? – In seiner Wohnung angelangt, entkleidete er sich langsam und suchte das Lager; aber er fand keine Ruhe. Dann erhob er sich wieder und trat auf die Veranda. Dort hörte er das Rufen des dunkeln Stromes! Ueber ihm breitete sich der tiefe, mit unzähligen Sternen besäete Nachthimmel. Und sein Blick richtete sich immer und immer wieder auf einen und denselben Stern, der im Zenith, aus unergründlichen Fernen in kaltem, ruhigem, wunderbarem Lichte auf ihn herabstrahlte. Mit welchen Gedanken sich seine Brust dabei füllte, das kann kein Mensch wissen; aber sie mußten bitter und schwer sein, denn er blickte in solchen Augenblicken hilflos, verzweifelt um sich, und dann sank er ganz geknickt zusammen und stöhnte laut. – Wenn er nur Ruhe finden, wenn er nur schlafen könnte! – Er trat in das Zimmer zurück, füllte ein großes Glas mit Brandy und leerte es. Dann steckte er einen Cheroot an und begann zu rauchen. Die Augen wurden ihm schwer, und er schloß sie. – Aber plötzlich fuhr er aufgeschreckt in die Höhe. – Wer hatte ihn gerufen? – Tiefe Stille ringsumher. Das ununterbrochene Gurgeln und Zischen des dahinschießenden Wussong, das deutlich vernehmbar war, gehörte zu der Stille der Nacht. – Er trank ein zweites Glas Brandy und dann warf er sich auf sein Lager, wo er in schweren unerquicklichen Schlaf versank, aus dem er am Morgen mit einer Last auf dem Herzen und dumpfem Kopfschmerz erwachte. – So lebte er nun seit drei Wochen, und es fiel Allen auf, wie sehr er sich in dieser kurzen Zeit verändert hatte, wie sehr er gealtert war.

Auch James Rawlston war nicht mehr der Alte. Freude und Jugend hatten sein Haus mit Edith verlassen. Verdrießlich verbrachte er den Tag in seinem Arbeitszimmer, verdrießlich saß er des Abends einsam bei Tische, von stummen, gleichgültigen Dienern umgeben, und verdrießlich bis spät in die Nacht hinein auf der Veranda, allein mit unerfreulichen Gedanken. Denn Büchner’s Freunde ließen ihn fühlen, daß sie sein Benehmen diesem gegenüber mißbilligten. Sie vermieden ihn. Er war zu stolz, Annäherungsversuche zu machen, und so blieb er allein, vereinsamt in dem großen Hause, in dem noch vor wenigen Wochen mit und um Edith frisches, junges Leben geherrscht hatte. Von Zeit zu Zeit ließ er Herrn Wallice oder Herrn Prati bitten, mit ihm zu speisen. Herr Wallice erschien mit dem Glockenschlage sieben, in schwarzem Frack und tadelloser, weißer Binde. Er aß und trank guten Appetits und war in dieser Beziehung ein vorzüglicher Tischgenosse, aber er sprach unaufgefordert kein Wort, und er hatte ein eigenthümliches Talent, auch verwickelte Unterhaltungsgegenstände durch kurze Antworten zu erschöpfen. Die langen Pausen, die oftmals eintraten, machten Rawlston geradezu verlegen, Herr Wallice schien sie nicht zu bemerken, sondern saß, wenn er nicht mit Essen beschäftigt war, kerzengrade hinter seinem Teller, den Blick sinnend auf die Blumen gerichtet, die in der Mitte des Tisches standen. – Prati war eine redseligere, aber deßhalb für Rawlston nicht gerade angenehmere Gesellschaft, denn er schien sich die Aufgabe gestellt zu haben, seinem Vorgesetzten Vorwürfe über dessen Benehmen Büchner gegenüber zu machen; und zwar wußte er dies in so höflicher Form zu thun, daß Rawlston, der an seinem Tische einem Gaste gegenüber artig bleiben wollte, ihn nicht zur Ruhe verweisen und dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte.

„Was verlangen Sie eigentlich von mir?“ fragte Rawlston eines Abends, nachdem Prati sich wieder in der ihm eigenen [471] pathetischen Weise über das unverdiente Unglück des armen Büchner ausgesprochen hatte. „Können wir denn über Niemand und nichts Anderes in der Welt sprechen als über Herrn Büchner und seine traurige Lage? Fast hat es den Anschein, als liege es in Ihrer Absicht, mich zu verstimmen.“

„Das können Sie bei meiner Ihnen bekannten Verehrung für Sie unmöglich glauben; aber da Sie mich dazu auffordern, so erlaube ich mir, ganz offen mit Ihnen zu sprechen. Ja, ich wünschte, daß Sie etwas für Büchner thäten, nachdem Sie ihn unglücklich gemacht haben.“

„Ich bin mir nicht bewußt, ihn unglücklich gemacht zu haben.“

„Sie haben das gegen Ihre Absicht und ohne Ihr Wissen, aber Sie haben es doch wirklich gethan. Hätten Sie Ihren Verdacht nicht so bestimmt geäußert, so wäre Herr Büchner heute noch in derselben Lage wie Herr Wallice zum Beispiel, dessen Stellung und Ruf durch den bei Ihnen verübten Diebstahl in keiner Weise berührt worden sind. Dadurch allein, daß Sie dem Brautpaar gegenüber eine zwecklos feindliche Haltung eingenommen haben – denn verhindern können Sie die Verbindung zwischen den Beiden schließlich ja doch nicht, da Fräulein Rawlston Ihrer Vormundschaft entwachsen ist, – dadurch haben Sie meinen Freund aus Ihrem Hause getrieben und ihn in die schreckliche Lage versetzt, in der er sich jetzt befindet. Denken Sie an sein Los, Herr Rawlston! Malen Sie sich aus, was der Unglückliche zu erdulden hat – und zwar unverschuldet – und auf Ihre Veranlassung. Und sagen Sie selbst, die Hand aufs Herz: halten Sie Büchner einer Unterschlagung für fähig?“

Vor drei Wochen hätte Rawlston darauf unbedingt mit „Ja“ geantwortet, aber seitdem war seine Zuversicht geschwunden. Auch der Polizei-Inspektor, mit dem Rawlston noch verschiedene Unterredungen gehabt hatte, war seiner Sache durchaus nicht mehr ganz sicher. Büchner hatte nämlich einen Schritt gethan, auf den die Beiden nicht vorbereitet gewesen waren: an demselben Tage, an dem er seine Stelle aufgegeben, hatte er an Rawlston einen Check für den ganzen abhanden gekommenen Betrag mit einem kurzen Schreiben eingesandt, in dem gesagt war, er, Büchner, betrachte sich für die von ihm geführte Kasse verantwortlich und überweise deßhalb den Betrag, der an derselben fehle. Rawlston hatte die Anweisung zurückgesandt: es sei in China nicht Gebrauch, daß ein Kassirer die Verantwortlichkeit dafür übernehme, daß seine Kasse nicht ausgeplündert werde. Aber Büchner hatte das Geld nicht zurücknehmen wollen, sondern es auf dem amerikanischen Konsulat niedergelegt: „zur freien Verfügung der Herren Rawlston & Co. bis zu dem Tage, an dem die jüngst abhanden gekommene Summe von zehntausend Dollars wieder in deren Besitz gelangt sein würde.“ Büchner’s Guthaben bei Rawlston & Co. hatte nur achttausend Dollars betragen, die fehlende Summe war ihm geliehen worden und zwar, wie man später erfuhr, von seinem Kollegen und Freunde Prati, der sich im Besitz eines Vermögens von etwa zwanzigtausend Dollars befand, die er während der letzten glücklichen Jahre als Seideninspektor verdient hatte.

Als der Polizei-Inspektor erfahren, die zehntausend Dollars seien bei Rawlston wieder eingezahlt worden, hatte er zunächst gesagt: „Ich gratulire Ihnen, da sind Sie ja wieder zu Ihrem Gelde gekommen!“ Aber gleich darauf war er nachdenklich geworden, hatte sich das Kinn gestrichen und hinzugesetzt: „Das ist eigenthümlich. Ein ordentlicher Dieb hätte das Geld nicht so leicht wieder herausgegeben; der hätte es verscharrt oder irgendwo in Sicherheit gebracht, um später die Hand wieder darauf legen zu können.“ – Mit der Zeit war der Beamte immer unsicherer geworden, er hatte noch einmal die genauesten Erkundigungen über alle Bewohner des Hauses eingezogen und schließlich gesagt: „Mein Latein ist zu Ende. Vielleicht ist der Mensch so unschuldig wie Sie und ich.“ – „Der Mensch“ war Büchner, und es wurde Herrn James Rawlston recht unbehaglich zu Muthe, wenn er daran dachte, daß er „diesen Menschen“ ins Unglück gestürzt und sich seinetwegen mit Edith überworfen habe. – Als Prati ihn deßhalb fragte: „Halten Sie Büchner einer Unterschlagung für fähig?“ und ihn dabei mit seinen klugen Augen scharf ansah, zerrte Rawlston eine Weile an seinem Schnurrbart und antwortete endlich langsam: „Sie können Recht haben.“

„In diesem Falle habe ich sicherlich Recht,“ entgegnete Prati mit großer Bestimmtheit. „Unter den anständigen Menschen in Shanghai herrscht darüber nur eine Meinung. – Was die Andern sagen und denken, ist von keinem Werth und kümmert Sie nicht.“

„Das Geschwätz der Leute kümmert mich überhaupt nicht. Aber es ist in der That meine Sorge, das zu thun, was recht ist.“

„Nun wohl, Herr Rawlston, dann machen Sie Ihr Unrecht wieder gut. schreiben Sie an Ihre Schwester oder an Herrn Büchner und geben Sie Ihre Zustimmung zu deren Vermählung.“

„Nein, heute kann ich das nicht thun. Zunächst muß ich den Ausgang des Processes abwarten, in den Büchner verwickelt ist.“

„Das halte ich für falsch, denn einmal dürfte Ihre Haltung in der Sache auf die Richter, so unbefangen sie auch sein mögen, von großem Einfluß sein, und sodann werden weder Büchner noch Fräulein Rawlston in Ihrer Zustimmung, wenn dieselbe nach Büchner’s unzweifelhafter Freisprechung erfolgt, eine Genugthuung für das ihm von Ihnen zugefügte Unrecht erblicken.“

„Es würde mir sehr leid thun, wenn ich mich für immer mit meiner Schwester entzweien sollte, aber ich muß mich auch darüber hinwegsetzen, wenn es sich darum handelt, eine Pflicht zu erfüllen, und ich halte es für meine Pflicht, der Verlobung meiner Schwester mit einem Manne, der noch unter dem Verdacht eines Verbrechens steht, meine Einwilligung zu verweigern. – Weit wichtiger für meine Entschließungen ist Ihre erste Betrachtung. Ich möchte die Richter in keiner Weise beeinflussen, am wenigsten zu Ungunsten Büchner’s. Aber nach dem, was nun einmal geschehen ist, weiß ich nicht, was ich in der Sache thun könnte.“

Prati sann einen Augenblick nach und dann sagte er: „Sie könnten vielleicht dem Untersuchungsrichter ein Wort schreiben. Sie brauchten in dem Briefe nur zu wiederholen, was Sie eben gesagt haben, nämlich: daß Sie Ihre Zustimmung zur Vermählung Ihrer Schwester einfach deßhalb noch nicht gegeben hätten, weil Herr Büchner durch ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände in den Verdacht gerathen sei, eine unehrliche Handlung begangen zu haben. Sie selbst wären der Ansicht, daß der Verdacht ein unbegründeter sei, und nähmen an, daß auch der Gerichtshof sich in diesem Sinne aussprechen würde. Jedenfalls wollten Sie den Herrn Untersuchungsrichter darauf aufmerksam machen, daß Ihre augenblickliche Haltung Herrn Büchner gegenüber keineswegs einen Verdacht gegen diesen in sich schließe, und Sie im Gegentheil hofften, ihn bald als Ihren Schwager begrüßen zu können.“

„Den Brief will ich schreiben, “ sagte Rawlston, augenscheinlich befriedigt, irgend etwas zur Beruhigung seines Gewissens thun zu können. „Und um Ihnen zu zeigen, daß ich bereit bin, ganz in Ihrem Sinne zu handeln, bitte ich Sie, das Schriftstück selbst aufzusetzen und mir morgen früh zur Unterschrift vorzulegen. Sind Sie nun zufrieden mit mir? Sehen Sie nun ein, daß mein Benehmen durch keinerlei Feindseligkeit gegen Büchner, sondern nur durch berechtigte Fürsorge für meine Schwester beeinflußt ist?“

„Sie handeln wie ein Ehrenmann, Herr Rawlston, und ich hatte nichts Anderes von Ihnen erwartet. Ich werde Ihnen den Brief morgen früh auf Ihr Zimmer senden, denn es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Die Verhandlungen sind, wie ich erfahre, auf übermorgen angesetzt.“




4.

Der verhängnißvolle Tag war gekommen, und Büchner stand vor den Schranken des Gerichts, das über sein Schicksal entscheiden sollte. Sein Aeußeres machte einen günstigen Eindruck. Seine Kleider saßen zwar etwas schlotterig auf dem abgemagerten Körper, aber es waren die Kleider eines Mannes aus der guten Gesellschaft, und daß Büchner dazu gehörte, das sah man sofort. Er trat ohne Aengstlichkeit und ohne Uebermuth auf: bescheiden und ernst. Das Gesicht war blaß, der Mund fest geschlossen, und die großen Augen hatten einen traurigen und gleichzeitig unverzagten Blick. Der Mann sah sicherlich nicht wie ein gemeiner Verbrecher aus! – Das hatte sich schon der Untersuchungsrichter gesagt, und in den Akten war von der guten Haltung des Angeklagten während des Verhörs gesprochen; das sagten sich jetzt auch die Mitglieder des Gerichtshofs, als sie in den öden Saal traten. – Derselbe war nämlich ganz leer. Die Freunde und Bekannten Büchner’s hatten unter einander verabredet, Keiner solle den Gerichtsverhandlungen beiwohnen. Sie wollten Büchner [472] ersparen, in einer so bedrängten Lage von Denjenigen gesehen zu werden, mit denen er Jahre lang frei und freundschaftlich verkehrt hatte und hoffentlich bald wieder verkehren würde. Nur in einer Ecke des Zuschauerraumes saß ein einzelner Herr, der sich so klein wie möglich machte, den bebrillten Kopf tief gebeugt hielt und eifrig schrieb: der Berichterstatter des „North China Herald“.

Das Verlesen der Anklageschrift, das Verhör des Angeklagten, das Vernehmen der Zeugen, die Reden des öffentlichen Anklägers und des Vertheidigers, die Darlegung des ganzen Falles durch den Präsidenten endlich: alles Dies nahm viel Zeit in Anspruch. Das Verfahren hatte um zehn Uhr begonnen – nun war es ein Uhr. Büchner sah zum Erbarmen aus: todtenblaß mit fieberhaft leuchtenden Augen. – Der öffentliche Ankläger war sehr gelinde mit ihm umgegangen, aber der Präsident hatte gewissenhaft seine Pflicht erfüllt, ohne jede Voreingenommenheit Alles abzuwägen, was für und gegen die Anklage sprach, und dabei hatte sich Büchner eigentlich zum ersten Male klar gemacht, wie schwer, ja wie berechtigt der Verdacht sei, der auf ihm lastete. Seine Freunde, Prati besonders, hatten seine Unschuld als etwas so Selbstverständliches behandelt, daß auch er schließlich dazu gekommen war, seine Freisprechung als zweifellos zu betrachten. Bei der kalten, geschäftsmäßigen Zusammenstellung aller Momente, die dafür sprachen, daß Büchner der Dieb sei, überlief es ihn kalt. Wie wenn er schuldig befunden würde, schuldig eines Diebstahls? – Er konnte den Gedanken nicht ausdenken; er war zu schrecklich. Es summte ihm in den Ohren, es schwirrte ihm vor den Augen. Er schloß die Lider, und da erhob sich dicht vor ihm und schwebte auf und nieder der in Phosphorlicht bläulich leuchtende Stern, zu dem er wochenlang allnächtlich empor geblickt hatte; und seine Ohren vernahmen das Vorbeirauschen des dunkeln Wussong, der sich zu seinen Füßen dem unermesslichen Meere zuwälzte. Das schimmernde Licht erblasste, das summende Getöse verstummte; es wurde schwarz und still um ihn her. Er saß noch eine Weile, deren Dauer er nicht mehr ermessen konnte, mit geschlossenen Augen. Endlich schlug er sie wieder auf. Vor ihm stand sein Rechtsanwalt mit einem feuchten Taschentuch in der Hand, das nach Aether roch. – Büchner fühlte eine erfrischende Kühle an den Schläfen. Er blickte langsam, blöde um sich. Der Saal war leer; der Gerichtshof hatte sich zurückgezogen.

„Fassen Sie sich, Herr Büchner, haben Sie guten Muth!“ sagte der Advokat.

Gleich darauf öffnete sich eine Thür vor ihm, und die Richter erschienen wieder.

„Nichtschuldig!“

Mehr hörte er nicht. Er nahm alle Kraft, die er besaß, zusammen. Er wollte sich nicht ein zweites Mal schwach zeigen.

„Ein Glas Brandy,“ murmelte er. Der Advokat nahm ihn am Arm und führte ihn aus dem Gerichtssaal ins Freie.

Dort sah er sich plötzlich von einer jubelnden Menge umringt: „Hurrah für den alten Büchner!“ Zwanzig Hände streckten sich ihm entgegen; Prati, der erregbare Südländer, weinte laut und sprach in seiner Aufregung italienisch. In der ganzen Versammlung war nur ein Gesicht, das nicht freudig bewegt war: das des Freigesprochenen. Dieser blickte stumm und anscheinend theilnahmlos um sich und sagte endlich leise: „Bitte, meinen Chair.“ Der Tragstuhl war sogleich bereit, und die vier starken Kulis trabten mit ihrer Last davon.

„Wohin, Master?“

„Zu Frau Onslow!“

Als er durch den Garten getragen wurde, der vor Frau Onslow’s Hause lag, erblickte er auf der Veranda die lichte Gestalt Edith’s. Sie eilte ihm entgegen, aber einige Schritte vor ihm blieb sie stehen und wurde so bleich wie er.

„O Georg, o Georg! Ist es möglich? Sprich! Sag’, daß ich mich irre!“

Aber er konnte nicht sprechen, es war ihm, als müsse er ersticken. – „Meine Edith, meine einzig geliebte, gute, arme Edith!“ brachte er endlich hervor. Da brach das Mädchen mit einem leisen Aufschrei zusammen. Ihre Ohnmacht gab ihm seine Kraft wieder. Er nahm sie und trug sie auf die Veranda, und in demselben Augenblick erschien auch Frau Onslow.

„Freigesprochen!“ sagte Büchner kurz, und dann bemühte er sich mit Frau Onslow um die Ohnmächtige.

„Lassen Sie uns einen Augenblick allein,“ sagte diese ruhig; „das wird schnell vorübergehen. – Rufen Sie das Kammermädchen; sie soll kaltes Wasser und Eau de Cologne bringen.“

Büchner entfernte sich schleunigst und that, wie ihm geheißen war. Dann sah er am äußersten Ende der Veranda, wie die zwei Frauen mit der Leidenden beschäftigt waren; aber er wagte sich nicht in ihre Nähe. Die Kammerfrau kam und ging. Frau Onslow drehte ihm beharrlich den Rücken und verdeckte durch ihre breite Gestalt die vor ihr liegende Edith. Endlich wandte sie sich um, und durch ein freundliches Zeichen mit dem milde lächelnden Haupte beschied sie Büchner in ihre Nähe. Vor ihm, mit aufgelösten, feuchten Haaren und bleichem Antlitz, aber mit einem Ausdruck innigen Glückes in den großen Augen, lag seine Braut.

„Du böser Mann,“ sagte sie, „wie Du mich erschreckt hast!“

„Aber womit denn, mein Kind? Ich begreife nicht.“

„Du sahst aus, als ob man Dich verurtheilt hätte.“

„Um Gottes willen! Sag’ das nicht. – Wie konntest Du es nur denken?“ Er fuhr schaudernd zusammen.

„Nun ist Alles gut. Gieb mir Deine Hand, mein guter, alter, großer Georg.“

(Fortsetzung folgt.)




E. Marlitt.

Wer an einem Freitag im März des Jahres 1866 die Königsstraße in Leipzig herunterging, den fesselte ein seltenes Straßenbild. Dort an der Ecke, wo sich das stattliche Haus der „Gartenlaube“ seit nunmehr zwei Jahren erhob, standen an Gitter gelehnt, saßen auf den Treppenstufen „Leute aus dem Volk“ und lasen eifrig die neueste, soeben erschienene Nummer des illustrirten Blattes, welches Ernst Keil mit so warmer Ueberzeugungstreue und so seltenem Geschick redigirte. Kein Wunder! konnte man denken. Es gährte damals überall in Deutschland; Kriegswolken umhingen den Himmel, und die politischen Tagesneuigkeiten wurden von Allen mit Ungeduld erwartet. Und doch war dieses Bild grundverschieden von ähnlichen Scenen, welche sich vor den Ausgabeschaltern der Tagespresse abspielen. Hier fahndete kein Neugieriger nach den neuesten Depeschen, kein Stellenloser suchte die Annoncen der Arbeitsangebote; hier lasen die Leute mit fieberhafter Spannung – die letzten Fortsetzungen eines Romans! „Goldelse“ war der Titel desselben und E. Marlitt der Name der Schriftstellerin, welche durch eine kleine Erzählung schon früher bekannt wurde, jetzt aber den ersten großen Erfolg feierte.

Oft noch in den nächsten Jahren konnte der Vorübergehende dieses Straßenbild betrachten, welches den unbefangenen Beurtheiler mehr als zehnfache Auflagen eines Werkes über die Bedeutung der Verfasserin belehrte: Die Erfolge der Marlitt in einem Volksblatte, wie die „Gartenlaube“, waren eben darum so überraschend und nachhaltig, weil sie den volksthümlichen Ton zu treffen wußte, weil ihre Schöpfungen, während sie sich auf den Salontischen der gebildeten Frauen einbürgerten, doch schlicht genug waren, um auch von dem einfachsten Manne verstanden zu werden, dabei fesselnd und spannend, von poetischen Schilderungen durchwoben, von inniger Herzenswärme durchdrungen – und von idealer Weltanschauung getragen. Diese außerordentlichen Erfolge konnten nicht verfehlen, eine besonders scharfe und nicht immer gerechte Kritik herauszufordern. Die strengste Kritik aber, wenn sie gerecht bleiben will, wird den gelungeneren Werken von E. Marlitt die obigen Eigenschaften nicht absprechen können. Man nannte sie die beliebteste Erzählerin der Frauenwelt; und es ist wahr, daß sie mehr von Frauen als von Männern gelesen wurde; aber welcher Romanschriftsteller der Gegenwart theilt nicht dasselbe Los mit E. Marlitt?

Dieser Standpunkt ist von der öffentlichen Kritik nicht genügend hervorgehoben worden, und heute, wo das Leben und Wirken von E. Marlitt abgeschlossen vor uns liegt, halten wir es

[473]

E. Marlitt.
Nach einer Photographie von Chr. Beitz in Arnstadt
auf Holz gezeichnet von R. Huthsteiner.

[474] für unsere Pflicht, ihn ganz besonders zu betonen. Nur von ihm aus läßt sich das treue langjährige Zusammenwirken der Marlitt mit der „Gartenlaube“ richtig beurtheilen. Mag Vielen der Titel eines „Volksblattes“ nicht hoch genug erscheinen; wir sind stolz auf ihn und dankbar einem Jeden, welcher uns hilfreiche Hand bietet, diesen Titel wirklich zu verdienen.

Dankbar sind auch der Marlitt Millionen unserer Leser und Leserinnen für die Stunden der edlen, das Herz erwärmenden und die Seele erfreuenden Unterhaltung, die sie ihnen seit mehr als zwanzig Jahren bereitet, und sie werden gewiß mit warmer Theilnahme die Lebensschicksale derjenigen verfolgen, die jahraus jahrein als trauter, herzlich willkommener Gast in ihrem Hause erschienen war.




Das Schicksal war offenbar in freundlichster Stimmung, als es Eugenie Marlitt ins Leben rief; denn sie wurde mit fürstlichen Ehren empfangen. An jenem 6. December 1825 feierte das Regentenhaus Schwarzburg-Sondershausen das jährlich freudig begrüßte Geburtsfest des damals regierenden Fürsten, Großvaters des jetzt regierenden, und die Festfanfaren schmetterten vom Rathhausbalkon hinüber zu dem Hause Nr. 7 am Markte, wo in demselben Augenblick Frau John ihr jüngstes Töchterchen der Welt gab.

Diese Welt weiß nunmehr, daß das Kind sich solcher Ehre allezeit würdig gehalten hat. Stammte es doch aus einer Familie, in welcher Kunstbegabung zu den persönlichen Erbschaften gehörte. Der Vater, Ernst John, von Haus aus Kaufmann, widmete sich mit Vorliebe der Malerei. Kunstbegabt war auch sein Sohn Hermann; davon zeugt schon das schöne Gipsrelief, dessen Holzschnittreproduktion unsere heutige Nummer schmückt (vergl. S. 476), und welches uns die jugendlichen Züge der Marlitt zeigt. Sie war in der That eine reizende Erscheinung, die kleine Eugenie mit dem schwarzumlockten Gesichtchen und den Schelmengrübchen in den Wangen. Höhere Beachtung erregte jedoch ihr geistiges Aufblühen. Im achten Jahre hatte sie die erste Klasse der Mädchenschule erreicht. Sie war der Stolz des alten Herrn Rektor Wagner, seine beste Schülerin, deren deutsche Aufsätze ihn eben so erfreuten, wie die formvollendeten Gedichte, mit welchen sie damals besondere Vorkommnisse, wie z. B den Tod ihres Kanarienvogels, auszeichnete. Noch einflußreicher, als Rektor Wagner, wurde Kantor Stade auf das Schicksal des jungen Mädchens. Er konnte seiner Entzückung über die wundervolle Stimme Eugeniens keinen besseren Ausdruck verleihen, als daß er ihr Gelegenheit gab, schon vom achten Jahre an in Koncerten und bei anderen Musikfestlichkeiten öffentlich zu singen. Auch der Charakter des Kindes zeigte in frühester Zeit besondere schärfer ausgeprägte Eigenschaften, und zu diesen ist vor Allem die Begierde nach dem Aufsuchen und Ergründen von Geheimnißvollem und Unheimlichem zu rechnen. Da gab es bei Arnstadt einen damals wüstliegenden Garten – die „Wuchelei“ genannt; alle Kinder gingen scheu daran vorüber, Eugenie bahnte sich einen Eingang durch die Hecke und weilte am liebsten bis in die Dämmerung in der verrufenen Einsamkeit; eben so suchte sie um solche Zeit oft ganz allein den Friedhof auf, als kämpfte sie besonders gern gegen das Gruseln der Furcht. Und wo ein Geheimniß winkte, das mußte erforscht werden, wie jenes runde Fensterloch an dem sogenannten steinernen Hause in der Kohlgasse. Dort, auf dem großen Hausplatz ihrer damaligen Elternwohnung, war in einer Ecke ein Bretterverschlag angebracht, dessen Zweck Niemand kannte. Eugenie entdeckte ein rundes Loch in der Mauer, und nun gab’s kein Halten mehr, Vater John mußte so viel Bretter von dem Verschlag abreißen, daß sein Töchterlein durch die Oeffnung in den dunkeln Raum hinabgelassen werden konnte. Dort fand sie ein Beil, einen Strick und ein Häufchen Papiere. Es war ein werthloser Fund; aber sie hatte ihre Forschung durchgesetzt. Finden wir nicht dichterische Ausschmückungen solcher Situationen in ihren Werken wieder?

Eugenie war Nahe daran, aus den kurzen Kleidern in die langen hineinzuwachsen, als Vater John es nicht länger ertragen konnte, das Talent seiner Tochter der schulgerechten Ausbildung entzogen zu sehen. Es war 1841, wo, wie damals fast jedes Jahr, der fürstliche Hof von Sondershausen einige Sommermonate im Schlosse zu Arnstadt zubrachte. Auch das Theaterpersonal folgte dem Hof. Diese Gelegenheit benutzte Vater John, um der jugendfreudigen und kunstverständigen Frau Fürstin Mathilde sein Kind zu empfehlen. Noch an demselben Tage erschien im Aufträge der Fürstin der Bassist Krieg von der fürstlichen Oper bei Johns, um Eugeniens Stimme zu prüfen. Das einzige Instrument im Hause war ein Spinett, dessen dünne Tönchen Krieg zum Nachsingen anschlug, – aber schier erstaunt fuhr er zurück, als aus dem zierlichen Körper Eugeniens eine Tonfülle hervorquoll, die in allen Höhen und Tiefen ihre Glockenreinheit bewahrte. Krieg’s Bericht und das persönliche Erscheinen des Mädchens vor der Fürstin machten diesen Tag zu einem Tag der Freude für das ganze John’sche Haus. Eugenie kam zunächst auf die höhere Mädchenschule von Sondershausen; hier gab sie sich neben Klavier- und Gesangunterricht auch geschichtlichen und Sprachstudien mit stürmischem und erfolgreichem Eifer hin. Vollendet hat sie ihre Kunststudien in Wien, wo sie in der Fr. von Huber’schen Familie freundliche Aufnahme gefunden hatte.

Wenn die rastlosen Anstrengungen Eugeniens und die Bemühungen ihrer Lehrer das Ziel erreicht hätten, welches offenbar dem Geiste der Sängerin vorschwebte, so würde es ein Genuß sein, nach den sorgsam geführten und erhaltenen Tagebüchern derselben den schweren Weg zu ihren Triumphen zu schildern. Das Schicksal hatte es anders verhängt. Es stellte sich ein Gehörleiden ein, das zwar nicht, wie vielfach behauptet wurde, in Taubheit ausartete, aber doch störend genug wirkte, um der Künstlerin jede fernere Bühnenleistung unmöglich zu machen. Sie war in ihrer kurzen Strebezeit in Sondershausen, Leipzig, Wien, Graz und Lemberg aufgetreten; sie kämpfte rastlos gegen ihren ärgsten Feind, das Lampenfieber, und sie wäre sicher seiner Herr geworden – ohne den tief niederschmetternden Schlag.

Als der Kunsttempel sich für die Sängerin geschlossen hatte, rief die edle Fürstin Mathilde ihren niedergebeugten Schützling in ihre Nähe: Eugenie wurde Vorleserin und als solche auch Reisebegleiterin der Fürstin. Ihr scharfes Auge, das schon während ihrer Kunstreisen ein schönes Stück Welt und Menschheit gesehen, fand nun erst recht Gelegenheit, Menschenkenntnis und Lebenserfahrung zu sammeln. Sie begleitete die Fürstin ins Hohenlohesche, nach Oehringen und Friedrichsruhe, nach München, in die oberbayerischen Berge, zum Schliersee etc., und Alles, was sie an Eindrücken sammelte, half ihr, die innere Verbitterung niederzukämpfen, – aber nicht ganz. Das Herz bedurfte einer Ableitung für das, wovon es voll war, und da kam ihr die lyrische Dichtkunst zu Hilfe. In den Jahren 1854 bis 1856 legte sie in einem starken Goldschnittband, der die Inschrift „Herbarium“ trug, Vieles von dem nieder, was ihr Herz bedrängte. Aus dieser Zeit stammt auch das folgende Gedicht:

Beim Wiederfinden meiner Gedichte aus der Kinderzeit.

Ich fand ein altes Buch als Ruhestatt,
Drin haben meine Lieder lang gelegen;
Es quoll aus dem vergilbten, alten Blatt
Mir wahrer Maienblüthenhauch entgegen.
Mein krankes Herz, vom steten Ringen matt,
Durchbebte da ein längstvergess’nes Regen.
Es taucht’ empor mein einstig Hoffen, Träumen
Aus der Erinn’rung dunkelgrünen Räumen.

Die Geister wallten durch die Dämmernacht
Von längst dahingeschied’nen Lebensplänen.
O junges Herz, in deiner Blüthenpracht,
Du nahmst für echtes Gold dies falsche Wähnen!
Es wandelt stets des Schicksals finstre Macht
Heimtückisch jeden Wunsch zu bittern Thränen.
Die Jugendträume, lieblich und erhaben, –
Ich hab’ sie alle still und leis begraben.

So ist, was kühn das Herz gewollt, zerschellt,
Der Hoffnung Grün umhüllt mit Trauerflören;
Es glimmen unter jener Trümmerwelt
Nur Wünsche noch, die nicht der Welt gehören,
Nicht jener Macht, die grausam sich gefällt
Im ewigen Vernichten und Zerstören.
Ruh’ aus, empörtes Herz, in dem Gedanken,
Daß sich der Hoffnung Zweig’ ins Jenseits ranken.

Trotz dieser Seelenkämpfe bildet der Aufenthalt Eugeniens am Hofe der Fürstin die schönste Zeit ihres Lebens. Der Glanz dieser farbenprächtigen Erinnerungen verschönte noch die letzten Tage ihres Lebens, und sie erzählte gern von ihrer hohen Gönnerin, mit welcher sie noch im Briefwechsel stand, als sie den Hof längst verlassen und in Arnstadt eine neue Wirkungsstätte gesunden hatte.

Hier im Kreise ihrer Familie, im Hause ihres bereits verheiratheten Bruders Alfred John, wo sie die liebevollste Aufnahme [475] fand, erwachte in ihr der dichterische Beruf. Was in den Herzen der Eltern knospte, was in den andern Kindern keimte, die Wunderblume der Kunst, sie sollte jetzt in der jüngsten Tochter sich zur vollsten Blüthe entfalten.

Schon während ihres Aufenthalts mit der Fürstin in Friedrichsruhe war Eugenie John mit Schuldirektor Kern in Ulm in Briefwechsel getreten, und dieser alte Herr

Marlitt’s Lieblingsplatz.

war es, der sie zuerst auf den Werth ihres schriftstellerischen Talents aufmerksam machte, und nicht vergeblich, denn von da an scheint sie sich im Stillen für die neue Lebensbahn vorbereitet zu haben. Aber erst fast zehn Jahre später, im Jahre 1865, wagte sie sich wieder an die Oeffentlichkeit. Ihr Bruder Alfred übersandte im Auftrag von E. Marlitt an die Redaktion der „Gartenlaube“ eine Dorfgeschichte „Schulmeisters Marie“ und „Die zwölf Apostel“. Verzagt, durchaus nicht überzeugt von dem Werth ihres Talentes, gab sie die längst fertigen Manuskripte dazu her. Und als der Bruder das Packetchen verpackt hatte und ihr es auf dem Weg zur Post noch einmal zum Fenster herauf zeigte, nickte droben der dunkle Lockenkopf und rief: „Ach Gott, meine armen Kinder! – Wie wird es euch ergehen!“

Wir wissen jetzt, daß diese schriftstellerische Laufbahn mit Glück begann. Ernst Keil erkannte sofort den Werth dieser Erzeugnisse, nahm „Die zwölf Apostel“ an und wies „Schulmeisters Marie“ mit der Entschuldigung zurück, daß die durch die Nachahmer Auerbach’s herabgebrachten „Dorfgeschichten“ jetzt durch die „Gartenlaube“ nicht wieder gepflegt werden dürften. – Dieser Erfolg gab Muth zu neuem Schaffen, und nun entstand eine von Marlitt’s lieblichsten Schöpfungen, die „Goldelse“.

Wie groß der Erfolg dieses Romans war, das haben wir bereits im Eingang dieses Artikels geschildert. Der Name E. Marlitt wurde mit einem

Marlittsheim.

Schlage zu einem der volksthümlichsten, und sein Ruf wurde überall hingetragen, wohin die „Gartenlaube“ reichte, die schon damals ihren Leserkreis nach Hunderttausenden zählte.

Freudig ging nun die Dichterin an neues Schaffen und schrieb ihr zweites Meisterwerk „Das Geheimniß der alten Mamsell“. Sie stand in jener Zeit auf dem Gipfel ihres Glücks. Sie erfreute sich noch der blühendsten Gesundheit. Weiß man doch aus jenen Tagen nicht genugsam ihren leichten und eleganten Gang zu rühmen; ja, in Wien hat man lange nicht vergessen, daß Fräulein John eine Tänzerin von unnachahmlicher Grazie war.

Die innere Befriedigung, welche aus der Anerkennung dichterischen Schaffens entspringt, wurde auch durch äußere Erfolge gehoben. E. Marlitt trug sich mit dem Gedanken, auf einer Anhöhe Arnstadts, auf der sogenannten „hohen Bleiche“ sich ein eigenes Heim zu gründen; es sollte ein lauschiges Plätzchen werden, dieses neue „Marlittsheim“; Bruder Alfred, der Oberlehrer an der Realschule zu Arnstadt, würde schon den Bau leiten und für schattige Baumanlagen und blühende Rosengänge sorgen!

Aber in derselben Zeit begann Marlitt’s körperliches Leiden, die Gicht, welche die arme Dulderin nie mehr verlassen hat. Und in das thurmgeschmückte Haus, das zum ersten Male so neugierig in die grüne Berglandschaft Thüringens hinausschaute, zog eine an den Fahrstuhl gebannte Frau ein. Sie konnte nicht mehr fröhlich zwischen den aufblühenden Rosenbäumchen und duftenden Blumenbeeten schreiten; zu dem Lieblingsplatz unter der Kastanie, welche von Jahr zu Jahr breitästiger und blühender wurde, mußte sie an sonnigen Tagen im Rollstuhl gefahren werden. Aber nur äußerlich war die Kraft der Dichterin gebrochen; heiter war ihr Geist geblieben; das Feuer jugendlicher Herzenswärme glühte nach wie vor in ihrer Brust; die Wunderblume der Romantik blühte in ihrem Herzen; ungeschmälert war die Zauberkraft ihrer Phantasie.

Und sie vergaß oft ihre Leiden unter der treuherzigen Obhut ihrer Lieben, die mit ihr das Marlittsheim bezogen; sie fühlte sich glücklich, daß sie fremden Händen die Pflege ihres schwachen Körpers nicht anzuvertrauen brauchte, und sie schuf neue Werke, welche draußen in der weiten Welt Millionen ungeduldig erwarteten, welche, kaum daß sie in der „Gartenlaube“ erschienen waren, schon in fremde Sprachen übersetzt wurden. Ueber die Grenzen des deutschen Sprachgebiets hinaus war inzwischen ihr Ruf gedrungen; nun erzählte sie in allen Kultursprachen ihrer lauschenden Zuhörerschaft in Süd und Nord, in West und Ost jenseit der Marken des Reiches, jenseit des großen Oceans.

Aber je bekannter ihr Name wurde, um so mehr fand sie das Bedürfniß, sich von der Welt zurückzuziehen. Lange war das Geheimniß ihres Namens der Welt verhüllt geblieben; jetzt, wo man endlich erfahren hatte, daß es eine deutsche Frau war, welche so viele Herzen bannte, ließ sie neugierige Blicke in ihr stilles Heim nicht schauen. Geheimnißvoll wurde nun ihr Dulden und Schaffen.

Heute stehen die Räume offen, welche einst so Viele nicht betreten durften; durch das Thor, vor welchem so oft Neugierige und Verehrerinnen abgewiesen wurden, hat man den mit Rosen geschmückten Sarg hinausgetragen. Betreten wir jetzt das Haus, schildern wir das Marlittsheim nach den Angaben ihrer nächsten Vertrauten.




In den unteren Räumen des Hauses ist Marlitt’s Arbeitszimmer gelegen; eines der drei Fenster, gen Norden, läßt die alten Linden der vorüberführenden Allee und manch neugierig spähendes Besucherauge hereinlugen. Die Bäume hätten die Schreibende an ihrem Arbeitstisch sehen können, aber die Menschen nicht, denn just unter diesem Fenster steht ein Blumentisch, dessen große Blattpflanzen jeden Einblick unmöglich machen. In seiner Nähe befindet sich die trauliche Sofa-Ecke, das Asyl der Lese-Abende, wo um den fort und fort tickenden Regulator Bilder und Blumen gruppirt sind. Zur Rechten sieht man ein bescheidenes Bücherregal und nicht weit von demselben steht das [476] „Prachtstück“ von Marlittsheim, ein uralter Schreibtisch mit Aufsatz und Kommode, gar kunstvoll ausgelegt, von Meisterhand gearbeitet und hell polirt; die Messingbeschläge blitzen geheimnißvoll: sie schmücken ja einen Reliquienschrein; in seinen Fächern und Kästen und im glasthürverschlossenen Mittelfach liegen sie alle, die vergilbten, verblichnen, verwelkten und doch so beredten Erinnerungszeichen vergangener Tage; auch jenes schlichte, braune Buch, das „Herbarium“, hatte darin seinen Platz. Bilder hängen zu des Schrankes Seiten, auch ein kleines von Freundeshand schlicht gemaltes Mädchenstübchen – Marlitt’s Wohn- und Studirzimmerchen in Wien. Die Mittelthür vom Flur und die an der südlichen Wand, vom Salon herüber, verhüllen braune Portièren; die Ecke zwischen beiden füllt der große, weiße Porcellanofen und neben diesem steht ein brauner „Großvaterstuhl“, in welchem Marlitt’s greiser Vater zu sitzen pflegte, wenn er manchmal während des Tages die fleißig schaffende Tochter zu „stören“ kam.

In Wirklichkeit störte er nie; sie saß arbeitend auf ihrem braungepolsterten Fahrstuhl vor dem Schreibtisch; am zweiten Fenster nach Osten, der gemüthlichen Ofenbank gegenüber, steht dieser Tisch. Er erscheint ein Bischen derb für Damendienst; seine lederüberzogene Platte trägt das große hübsch ausgelegte Schreibzeug – ein Geschenk der Fürstin – und alle nöthigen Schreibutensilien; daneben liegen Hof- und andere Kalender, Uhr und Thermometer, das Fernglas, welches ihre geliebten, bewaldeten Berge näher rückt; zu jeder Jahreszeit aber schmückt ihn eine Fülle von Blumen und Blümchen, welche Bruderhand für die Schwester gezogen, oder welche Nichten aus Wald und Feld, manchmal auch für schwer erübrigte Sparpfennige herbeigetragen. Zur Linken das große Buch mit gelbem Hängeschloß ist der Manuskriptenkasten, zu welchem der Schlüssel an seidener Schnur nie von Marlitt’s Halse kam.

Eugenie John.
Nach dem Gipsrelief ihres Bruders Hermann John
aus dem Jahre 1849.

Manchmal, mitten im Schreiben, fächelte und nickte sie nach dem Vater oder sonst einem ihr lieben Gesicht hinüber oder sie blickte zur Linken: dort zwischen den beiden Fenstern hängt über einer Marmorkonsole der „Verräther“, ein großer Spiegel, der alles draußen Vorüberhuschende, -gehende und -fahrende getreu vor ihre Augen hinmalte. Rechts, von dem epheuumrankten Gestelle sowie von der braun und weiß tapezierten Wand herab grüßten sie die Bilder ihrer Lieben – Vater und Mutter in Pastell, von Ersterem gefertigt, Bruder, Schwester, die längst verstorben; dort hängen auch zwei kleine Gemälde aus Elfenbein, von der Künstlerhand des Vaters dereinst gemalt. Unter ihnen erblicken wir einen zweiten hellpolirten Schreibtisch ohne Aufsatz; er ist der treueste Freund früherer Tage, scheint aber seine einstige Bestimmung vergessen zu haben; denn willig beut er seine Fläche mancherlei Kästen und Vasen und Bildergestellen mit Ansichten aus dem bayerischen Gebirge, wo die Dichterin so oft und gern mit der Fürstin geweilt, und vor Allem der wohlgetroffenen Photographie Ernst Keil’s.

Eigenartig war Marlitt’s Schaffen. Des Morgens im Bett schrieb sie auf einzelne Blätter mit Bleistift und am Nachmittage wurde das Geschriebene verbessert sogleich ins Reine übertragen. Das geschah in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. So fest und stilfertig waren diese Reinschriften, daß fast nie eine Korrektur vorkam.

Aber wie sicher verwahrte die Dichterin ihr entstehendes Werk vor jedem fremden Auge! Der Bruder und die Schwägerin, die doch Beide sonst in engstem, herzinnigem Verkehr, in regem Gedankentausch mit ihr lebten, wußten nie mehr als den Titel des neuen Werkes, oft diesen nicht.

Als einmal ein von der Dichterin beschriebenes Blatt ihren Händen entglitt und zu Füßen ihrer Schwägerin niederfiel, hob diese es auf und warf unwillkürlich einen flüchtigen Blick darauf. Sofort zerriß Marlitt das Blatt: so sehr störte es sie, wenn ein Wort ihrer Arbeit verrathen worden war. Sie ging sehr vorsichtig zu Werke; alle beschriebenen Blätter wanderten in den erwähnten Manuskriptenkasten. War aber das Manuskript vollendet, dann kamen für die treuen, geduldig Ausharrenden wahrhafte Feierstunden von inniger, unbeschreiblicher Schönheit: die Lese-Abende!

Punkt halb acht Uhr rollt der Fahrstuhl in das Arbeitszimmer herein – Marlitt hält das Buch mit dem Manuskript auf dem Schoße. Das Schloß wird geöffnet und der Titel klingt von ihren Lippen! Nach so langer Zeit der Spannung endlich die Enthüllung! Getragen von der Poesie ihres eigenen Schaffens, ihr klangvolles, wunderbar biegsames Organ jeder Wendung anschmiegend, reißt die Vorleserin die Herzen mit sich fort, hinauf, hinab, durch Schmerz und Freude. Sie liest prachtvoll; wie ausdrucksvoll ist diese Aussprache, wie tief dieses Verständniß und Gefühl! An der spannendsten Stelle schließt sie mit übermüthigem Lachen, ihr kleines Publikum auf „morgen Abend“ vertröstend.

Diese an Freuden und Ehren so reiche Dichterlaufbahn wurde vor einigen Jahren durch einen schrecklichen Zwischenfall unterbrochen. In der Zeit, als Marlitt an ihrem letzten Roman „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“ schrieb, weilte sie einmal, wie öfter; in dem Thurmzimmer ihrer Villa. Als sie dann in ihrem neuen Tragstuhl heruntergetragen wurde, kam sie zu Fall und stürzte zu Boden. Schwer krank mußte sie lange Zeit ihren Beruf ganz unterbrechen. Von diesem Fall hat sie sich nie wieder erholt. Die Vollendung dieses Romanes war ein Kraftstück geistigen Sieges über den Schmerz. Trotzdem füllte schon wieder Blatt um Blatt die geheime Mappe, als sie im Oktober vorigen Jahres an einer Rippenfellentzündung erkrankte, zu der sich später ein Magenleiden gesellte. Dasselbe wurde zwar durch Massage momentan gelindert, wiederholte sich aber öfter. So währten die Leidenstage fort, bis zuletzt bei der schweren Erkrankung Bruder und Schwägerin kaum von ihrem Schmerzenslager wichen. Der Name des geliebten Bruders „Alfred!“ war ihr letztes Wort.

Zeugnisse der tiefen Trauer, die ihr Tod überall erweckt, nicht nur in den höheren Kreisen, sondern auch beim Volk, sind die vielen Sendungen von Sarg- und Grabschmuck und von Briefen und Gedichten aus allen Kreisen. – Marlitt’s Wirken war volksthümlich, haben wir in der Einleitung gesagt, und in der That, die meisten Beileidsbriefe von unbekannten Lesern, welche sowohl der trauernde Bruder wie auch die Redaktion der „Gartenlaube“ erhalten hatten, entstammen einfachen Bürgerhäusern und schlichten Arbeiterhänden. Dort hat sie ja den meisten Sonnenschein verbreitet, und dies ist ihr herrlichstes Verdienst.

Aber auch aus fernen Ländern kommen Worte der Trauer und des Beileids, und an den Gestaden Neapels singt Woldemar Kaden der Marlitt nach:

„So lange deutsche Lenze blüh’n,
Wird Dein Geschaffnes blühen;
So lange junge Herzen glüh’n,
Und segnend übers Grab hinaus
Gehst Du noch spät von Haus zu Haus!“

Noch einmal wird die Feder Marlitt’s die Spalten der „Gartenlaube“ schmücken; denn wir können allen unseren Lesern und Leserinnen die erfreuliche Nachricht geben, daß die Dahingegangene ihren letzten Roman „Das Eulenhaus“ zwar nicht vollendet, aber doch so weit gefördert hat, daß derselbe in ihrem Sinne von einer dazu berufenen Kraft vollendet werden kann. Wir sind bemüht, dieser uns von der Verstorbenen überkommenen Verpflichtung in pietätvoller Weise gerecht zu werden, und können unseren Lesern schon heute mit Sicherheit versprechen, daß das hinterlassene Werk E. Marlitt’s spätestens zu Anfang des nächsten Jahres erscheinen wird.



[477]

St. Moritz-Bad.

Ein Oberengadiner Sommerbild von Woldemar Kaden.

 „Ihr Alle fühlt geheimes Wirken
 Der ewig waltenden Natur,
 Und aus den untersten Bezirken
 Schmiegt sich herauf lebend’ge Spur.“
 Faust, II. Theil.

Das dritte Kraut des Monds wird genannt Chynostacte (Hundsträuble). Sein Safft hilfft ab den Verbitterungen des Magens und der Brust, heilet die Kröpfe, die Ohrmützel und das Zäpflein, indem es sich erweißt ein Kraut des Monds. Die Blüte eben dieses Krauts reinigt die grosse Miltz und heilet sie: weilen es ab- und zunimmt wie der Mond.“ Dies ist ein Receptpröbchen aus dem wunderlichen Werke „Ein Gebünd oder Buch der Geheimnissen Alberti Magni. Von denen Tugenden der Kräuter, Steine und etlicher Thiere. In Verlegung Johann Hoffmann’s, Buch- und Kunsthändlers. Nürnberg 1678“.

Dies wäre denn also ein Werk aus der Zeit der „dunklen Ehrenmänner“, wie Faustens Vater einer war, „der in Gesellschaft von Adepten“ in „schwarzer Küche“ die widrigsten Arzneien braute und über dessen mit ihm in Gemeinschaft verübter Medicinpfuscherei sein Sohn die schwere Anklage ausspricht.

„So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Thälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest gehaust.“

Ihre Patienten starben, und nur sogenannte Pferdenaturen überwanden die gewaltthätigen ärztlichen Eingriffe.

Campfèr mit Blick auf Crest’alta und Piz della Margna.
Nach einer Photographie von R. Guler, Zürich und St. Moritz.

Dagegen ist es denn nun eine Freude zu sehen, wie wir es so herrlich weit gebracht. Zwar verordnet man den Patienten noch immer Steine, Kräuter und Wasser, aber mit dem Unterschied, daß sie dieselben an Ort und Stelle, im Wald und auf der Wiese, in Thälern und Gebirgen, mit einem Wort in der „lebendigen Natur“ aufsuchen müssen. Die medicinischen Werke und die Apotheker lösten sich in Wasser und Luft auf, und statt der klassificirten tausend Arzneimittel hat man jetzt eine herzerfreuende Klassifikation der Kurorte, die sich in zwei grosse Gruppen theilen: in solche mit Mineralquellen und in solche ohne Mineralquellen. Beide sind zahllos gerade in der Schweiz vertreten, und fast keine Krankheit bleibt ohne ihre helfende Quellnymphe; nur muß man durch seinen Arzt die richtige herausfinden lassen, muß man wissen, ob man einfache Kochsalzquellen, salinische, Natronquellen, Säuerlinge, Kalkquellen, Eisenquellen, Schwefelwasser, jodhaltende oder indifferente Quellen zu gebrauchen und also nach Baden-Baden, Marienbad, Wildungen, Pyrmont, Lippspringe, Rigi-Kaltbad – oder nach St. Moritz zu gehen hat.

Hier heißt es: sage mir, was Dir fehlt und ich werde Dir sagen, was Dir nützt.

Du bist eine schwache Person, bedarfst nach schwerer Ueberarbeitung der Erholung, Deine Ernährung im Allgemeinen wie in Bezug auf einzelne Organe ist gestört, Du leidest an Skrophulose oder Rhachitis; Deine Rekonvaleseenz von der letzten Krankheit ist eine erschwerte, Du bist blutarm, bleichsüchtig, hysterisch, hypochondrisch, verbringst Deine Nächte schlaflos, bist häufig chronischen Magen- und Darmkatarrhen unterworfen – gehe, dies ist der Rath des Arztes, nach St. Moritz-Bad, und nach drei bis vier Wochen wirst Du einen neuen Adam angezogen haben. St. Moritz-Bad, das weiß heute alle Welt, ist das Quisisana aller Heilbedürftigen.

Wo aber liegt dieses Quisisana?

In den vierziger Jahren, wo der Name des „Engadin“ in Europa noch fast unbekannt war, hätten nur Wenige diese Frage beantworten können, heute weiß jeder Sommerfahrgast, wo er das Engadin und mit ihm St. Moritz-Bad zu suchen hat. In heller Begeisterung hebt er seine Hand, deutet nach der Schweiz hinab und spricht:

„Dahinten, da, wo der Piz Bernina, 4052 Meter hoch, ein majestätischer Herrscher, silberweiß in den Aether steigt, wo der Inn seine kräftigen Wogen durch drei krystallklare Seen wälzt, [478] wo die Eisfelder des Morteratsch und Roseg ihren Fächer über die grüne Thalsohle breiten, da liegt das Engadin und an seiner vornehmsten Höhe St Moritz!“

Und der Weg dahin? Eine überflüssige Frage heute, wo Eisenbahn und Post für uns denken und, wie nach Rom, auch in das Engadin gar viele Wege führen. Das Engadin liegt so ziemlich in dem Mittelpunkte Europas und steht mit den umliegenden Ländern durch seine Gebirgspässe und die dieselben überschreitenden, trefflich chausssirten Poststraßen in Verbindung. Sieben prachtvolle Alpenstraßen sind nach und nach entstanden, und wo die Eisenbahn, von Nord, Ost, Süd und West her, hält, wartet die treffliche eidgenössische Post auf den Reisenden, und die genußreiche Fahrt über den Maloja oder über den Albula, den Julier, den Flüela beginnt.

Die genußreiche Fahrt!

Gar mächtig ergreift es unsere Seele, wenn wir, am besten in einer milden Sommernacht, von Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden, im Postwagen aufgebrochen, an Churwalden vorbei, über die Lenzer Heide und Tiefenkasten, höher und höher hinauf, in immer ödere und wildere Felsenlandschaften hinein, wo die Vegetation nur noch Vertreter in den reizenden Alpenblumen findet, endlich die Paßhöhe des geheimnißvollen Juliers erreichen. Hier erzählen zwei Säulen alte Märchen: von Julius Cäsar oder dem keltischen Sonnengotte Jul, dem in dieser feierlich erhabenen Einöde geopfert wurde. Hier sehen wir beim eiligen Abfall der Strasse nach Silvaplana, bald begrüßt von grünenden Lärchenbäumen, die silberglänzenden Häupter des Oberengadiner Alpenlandes, eines nach dem andern auftauchen, alle in dem reinen schimmernden Gewande ihrer Schneefelder und Gletscher, gesäumt von der breiten Zone ihrer frischgrünen Wälder – und dann blitzt es empor in dem Glanze des Smaragdes: ein See, der von Silvaplana, dann der von Sils, der St. Moritzer; das freundliche Thal thut sich auf, der strömende Inn glitzert und flimmert zwischen den lachenden Ortschaften; die gastlichen Engadiner Häuser, die Kirchen und Hôtels grüßen herauf, und über das Ganze spannt sich ein tiefblauer Himmel, so rein und frisch, daß er mit keinem andern als dem süditalienischen sich vergleichen läßt. Eine entzückende, nach frischem Gras und Nadelholz duftende Luft, kühlend, erquickend und weich zugleich, weht uns an, wir athmen tief und freudig, und unsere Seele füllt sich mit Luft.

Das ist das Engadin aus der Vogelschau.

Villa Planta in St. Moritz.
Nach einer Photographie von R. Guler, Zürich und St. Moritz.

Der Inn, der nördlich vom Malojapaß, am Fuße des Septimers entspringt und von da, aus einer Höhe von gegen 5800 Fuß, bis zur Martinsbruck ungefähr 2500 Fuß Fall hat, durchströmt das Engadin in seiner ganzen Länge, und von ihm wird der alte Name als „Innoberland“ gedeutet: „en co d’Oen“, „in capite Oeni“.

Ueberall in Engadin ist gut wohnen, überall finden wir das unübertroffene Höhenklima, das so unendlich stärkend und belebend auf den Organismus einwirkt. Wir aber setzen uns mit tausend Anderen in St. Moritz-Bad fest, wo die Königin aller Quellen fließt, der das Engadin seinen so bedeutenden Weltruf fast einzig verdankt.

Schon Theophrastus Paracelsus schrieb um 1530 über dies St. Moritzer Wasser: „Ein Acetosum fontale, das ich für alle, so inn Europa erfaren hab, preiß, ist im Engadin zu St. Mauritz; derselbige lauft im Augusto am sauristen; der desselbigen Tranckes trincket, wie einer Artznei gebürt, der kann von Gesundheit sagen.“

Den Quellen zu Ehren, zu Ehren ihrer aus aller Welt zusammenströmenden Gäste haben die Hüter der Quellen, die rührigen Engadiner, um jene her einen Bade-Ort entstehen lassen, der an vornehmen, modern komfortablen Einrichtungen allen, auch den höchsten und verwöhntesten Ansprüchen gerecht wird.

Nicht an allen Kurorten ist, beispielsweise, die Hôtelfrage so trefflich und genügend erledigt, wie in St. Moritz. Allen Abstufungen ist in Bezug auf Lage und Ausstattung in den Hôtels Kurhaus St. Moritz, Hôtel Viktoria, Hôtel du Lac, Hof St. Moritz, Hôtel Engadin, Hôtel Bellevue u. A. Rechnung getragen.

Das Kurhaus ist der älteste Bau, jedoch nur in seiner mit den Quellen und Bädern in gleicher Front liegenden zweiflügeligen Anlage; an diese schließt im rechten Winkel sich der vornehme und schöne Neubau an, der seine Fronten nach Ost und West kehrt, während ein Mittelflügel den großartigen Speisesaal enthält. Von jedem Zimmer des alten wie neuen Gebäudes aus kann man durch gedeckte Gänge zu den Bädern und Trinkhallen gelangen, und auch an sonstigen Bequemlichkeiten repräsentirt das Kurhaus eine kleine komfortable Stadt für sich. Der Gast findet den Arzt im Hause, freundliche Konversations- und Damensalons, einen Koncertsaal, Restaurationssäle, 18 Privatsalons mit Balkonen, 219 Logirzimmer mit über 300 Betten, Post und Telegraph, Bankkomptoir, Bazars, Koiffeur, eine eigene Musikkapelle, Stallungen, Remisen für Privatequipagen; ferner Badekabinen, Douchen, Milchkurstube, zu Ausflügen in die prächtigen Umgebungen stehen jederzeit Equipagen, Reitthiere, Führer und Träger bereit. Dieser gewaltige Apparat aber wird von dem „Maschinenmeister“ in vorzüglicher Weise dirigirt; er funktionirt vollständig geräuschlos. Dieser nicht zu unterschätzende Vorzug ist, neben trefflichster Küche, sämmtlichen St. Moritzer Hôtels nachzurühmen, auch nach dieser Seite hin ist für unsere Nerven gesorgt.

Wer zuerst an diesen Quellen sich Gesundheit getrunken, Niemand weiß es zu künden, selbst die Sage nicht. Das Dorf „San Murezzan“, wie es im Romanischen heißt, bestand aber schon im 11. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert spielte es nur eine Rolle als Wallfahrtsort, und die Quellen flossen noch ungefaßt und unbenützt dem See zu. Die älteste Fassung stammt vielleicht aus der Zeil des dieser Wasser in preislicher Rede gedenkenden Paracelsus. Erst im 17. Jahrhundert ward ein Schutzdächlein über der Quelle errichtet, denn viele Schweizer und Italiener kamen jetzt, um sie zu benutzen. Dann gerieth sie in Vergessenheit. Das war zur Zeit der französischen Revolution und der darauffolgenden politischen Wirren, und die Blüthe, zu welcher der Ort bis 1780 gelangt war, welkte rasch dahin. Am Orte, wo wir heute jene Prachthôtels und reizenden Villen sehen, gab es nichts als eine stallartige baufällige Hütte. Eine Beschreibung des „Kurortes“ vom Jahre 1819 erwähnt drei Wirthshäuser: „den Löwen, dessen Wirth als Schlächter seine Gäste täglich mit [479] frischem Fleisch versehen könne, das Rößli, in welchem die Wirthin als gute und reinliche Köchin walte, und endlich den vorzugsweise von Veltlinern besuchten Adler.“

1830 bildete sich eine Aktiengesellschaft mit gegen 8000 Gulden Kapital. Damit war nichts zu machen und es wurde auch nichts gemacht. Die Zeit für St. Moritz war noch nicht erfüllt.

1852 lief der Kontrakt der alten Gesellschaft ab, und nun begann eine neue Kommission vorzüglicher Männer ihr Verbesserungswerk, dessen vornehmster, wenn auch schwierigster Theil, die Neufassung der Quellen war. Das waren die richtigen „Felschirurgen“, von denen es im „Faust“ heißt:

„Die hohen Berge schröpfen wir,
Aus vollen Adern schöpfen wir.“

Bald wurde aus dem Vollen geschöpft: die Quellen hatten quantitativ und qualitativ ganz ungemein gewonnen. Früher flossen etwa drei Liter in der Minute ab, jetzt 22, die aber bis auf 60 in der Minute erhöht werden können.

Vom Jahre 1853 datirt dann die zweite Blüthe des Kurortes und sein Weltruf, welchen die Männer, denen die Quellen anvertraut wurden, mit allen Kräften zu erhalten und zu erhöhen bemüht sind. Jedes Jahr verzeichnet neue großartige Verbesserungen.

Zwei Hauptquellen sind am Orte, beide sind natronhaltige Eisensäuerlinge, die chemisch sich nicht sehr wesentlich von einander unterscheiden, nur etwa in der Weise, daß die neue Quelle mehr Eisen, die alte etwas mehr kohlensaures Natron enthält.

Hier, wo ich, „des trocknen Tons nun satt“, mir zur Lust von den Reizen der Landschaft schreiben möchte, von Bergen und Wäldern, von Pässen, Gletschern und Seen, muß ich leider abbrechen, denn die Reize der Engadiner Landschaft vermögen Worte schwerlich zu schildern. Besser geben sie die Skizzen unseres Malers wieder.

Er führt uns nur bequeme, auch von schwachen Füßen zu begehende Pfade, zunächst nach der im Arvenwalde liegenden „Meierei“, der Acla Silva, am östlichen Ufer des Sees und nur wenige hundert Schritte von diesem entfernt. Auf dem Wege dahin kommen wir über die Brücke an der See-Ausmündung, unterhalb deren der grüne Inn als Fall in die Chiarnadurasschlucht stürzt, in der vor Zeiten ein Exemplar von „der Drachen alter Brut“ sein Wesen trieb. Von der Meierei wie von dem höheren Schafberg aus hat man einen genußreichen Blick über das Thal, den See, die Ortschaft und die Berge, von denen die berühmten aussichtsreichen Piz Languard und Piz Ot breit sich in den Vordergrund drängen. Ruhig und schön ist hier das Genießen für Genesende bei Wanderungen im Thale, etwa nach dem nahen Dorfe Campfèr am Ufer des gleichnamigen Sees, hinter welchen der Silvaplanasee hervortritt. Die breite Masse, die den Hintergrund dieser Bühne bildet, ist der Piz della Margna. Links auf unserm Bilde (S. 477) ist auf der Spitze eines waldigen Hügels der durch seine schöne Aussicht beliebte Ausflugsort Crest’alta sichtbar. In dieser ganzen Gegend ist gut Hütten bauen: das thaten einst die armen Hirten. Reiche Leute bauen sich Villen, und wer diese Absicht hätte, der nehme als Modell die schöne Villa Planta. Die Familie Planta (= Bärentatze) ist zugleich der Urtypus des von der einstigen wilden Bärentatzigleit zu europäischem Schliff, Wohlstand und Reichthum emporgestiegenen Normal-Engadiners.




Magdalena.
Von Arnold Kasten.
(Fortsetzung.)
4.

Mir bleibt immer noch ein Ausweg,“ sagte eine Stunde später Graf Hochberg, als er, von einem Gang ins Freie zurückkehrend, sein Haus wieder betrat. Er trug den Kopf hoch und sein Schritt klang fest und sicher. Der kurze Aufenthalt draußen hatte ihm wohlgethan. Bekannte waren ihm begegnet, auch Prinz Ottokar, der seinen Arm in den des Grafen schob und plaudernd ein paar Straßen weit mit ihm ging. Der Anblick des tausendgestaltigen fremden Lebens hatte ihn von seinen innern Konflikten abgezogen; sie erschienen ihm jetzt nicht mehr so schlimm, wie vorher in seinen einsamen vier Wänden. „Was da! – Ein Schnitt ins Fleisch, wird freilich im Anfange schmerzen, aber man gewöhnt sich allmählich daran. Heute Abend noch muß ich damit ins Reine kommen, ich könnte mit diesem Druck auf der Brust nicht schlafen. Friedrich,“ wandte er sich an den entgegenkommenden Diener, „sehen Sie nach, ob die Gräfin zu Hause ist.“

Und ohne die Meldung des Mannes abzuwarten, ging er ihm auf dem Fuße nach, durch den Korridor, hinüber nach dem Zimmer seiner Frau.

Es herrschte schon fast Dämmerung in dem hohen Raum voll reicher Möbel und Luxusgeräthe, den die Veilchen und Hyacinthen der Blumentische und Jardinièren durchdufteten. Zwischen den schweren Fenstervorhängen herein fiel der letzte Abendschein auf die Chaise longue und die darauf ausgestreckte schöne Frau, deren Angesicht unbeweglich dem Himmel draußen zugekehrt war. Sie schien so tief in Gedanken verloren, daß sie den leise Eintretenden nicht bemerkte.

„Claire!“ sagte er halblaut.

„Ach, Du bist es, Erich!“ erwiederte sie überrascht, sich aufrichtend, „wie kommst Du denn zu dieser Stunde hierher?“

„Das klingt ja gerade, als käme ich Dir ungelegen,“ erwiederte er scherzend, indem er, sich über sie beugend, einen flüchtigen Kuß auf ihren Scheitel drückte und dann einen Stuhl an ihre Seite zog.

„Wie kannst Du das denken! Du kommst nur ein wenig überraschend – und das nicht ohne Deine eigene Schuld,“ sagte die Gräfin in leichtem Ton, indem sie ihn lächelnd ansah. Aber in demselben Augenblick erschrak sie über die angegriffenen und sorgenvollen Züge ihres sonst so schönen und stattlichen Gemahls. „Es ist Dir etwas Besonderes begegnet, Erich!“ rief sie angstvoll. „Was hast Du? Du erschreckst mich!“

Er legte sich in den Schatten zurück. „Nein, nein! Beruhige Dich! Ich habe allerdings widerwärtige Geschäfte gehabt. Eins gab dem Andern die Thür in die Hand. Das hat mich auch verhindert, Dir gestern schon die unangenehme Geschichte mit Eckartshausen näher zu erklären. Es war mir bitter leid – ich wußte, daß Dir der Verkauf nahe gehen würde, verschob deßhalb die Mittheilung auf eine günstige Stunde, und nun muß die Indiskretion jenes albernen Weibes –“

„Nein nein,“ fiel die Gräfin ein, „Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen, es ist ja Dein Recht, jede derartige Veränderung zu treffen. Ueberrascht freilich hat es mich, das kann ich nicht leugnen, aber nur, weil ich nie an eine Möglichkeit dachte, Eckartshausen zu verlieren. Mein Herz hing gar zu sehr an dem alten guten Schloß.“ Sie sagte die letzten Worte mit zitternder Stimme.

„Ich weiß, ich weiß,“ sagte ihr Gemahl etwas unbehaglich. „Aber der Aufenthalt hatte doch auch seine bedeutenden Schattenseiten.“

„Ich fühlte sie nicht,“ erwiederte sie einfach. „Mir war Eckartshausen der liebste Ort auf der Welt, wegen der Erinnerungen, die er für mich birgt an unsere ersten Ehejahre, wo wir uns noch so nahe standen – und so glücklich waren!“

Der Graf biß sich den schönen lockigen Bart; diese Wendung des Gespräches kam ihm unbequem.

„Aber ich bitte Dich, liebes Kind –“

„Nein sei unbesorgt, ich werde das Thema nicht fortsetzen; ich weiß, daß die Zeiten sich ändern. Ich mache Dir auch keinen Vorwurf über den Verkauf, aber seit gestern quält mich eine unbestimmte Furcht über die Veranlassung dazu. Sollten es am Ende … pekuniäre Verlegenheiten sein, die Dich zu dem Entschlusse brachten?“ Sie richtete sich auf und sah ihm angstvoll forschend in die Augen.

Er athmete auf, erleichtert, daß ihm die Einleitung erspart blieb.

„In der That,“ erwiederte er rasch, „unsere Verhältnisse haben sich etwas brouillirt. Ich bin in der letzten Zeit – ich weiß kaum wie – in allerhand Geschäfte und Spekulationen hineingerathen, von welchen ich eigentlich nichts verstehe und die mich nun drücken.“

[480]

Blick auf St. Moritz.  S[t. Morit]z-Bad.  St Moritz: Ansicht von der Meierei.
St. Moritz: Der Innfall. Aus der Umgebung von St. Moritz: Ansicht vom Schafberg.

Ansichten von St. Moritz und Umgebung.
Originalzeichnung von R. Schietzold.

[481] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [482] „Ich bemerkte es wohl,“ sagte die Gräfin in sanftem Tone, „und machte mir längst meine Gedanken darüber; aber da ich gewohnt bin, mich in Deine Angelegenheiten nicht zu mischen, sprach ich nicht davon. Die Kreise, in denen wir neuester Zeit verkehren mußten, waren mir allerdings sehr unsympathisch.“

„Mir nicht minder,“ stimmte der Graf lebhaft bei. „Ah, ich wollte, ich wäre nie in Berührung mit diesen Leuten gekommen! Aber es war ja unmöglich, sich abzuschließen; das Spekulationsfieber lag in der Luft, und sie drängten sich Einem förmlich auf, sich selbst und ihre enormen Spekulationsgewinne. Das ist nun freilich rasch genug anders geworden!“

Der Graf hielt inne und blickte verlegen zu Boden. Es war doch schwerer noch als er glaubte, seiner Frau die ganze schlimme Situation mitzutheilen.

Aber auch die Gräfin schien mit einem Entschlusse zu kämpfen, dessen Ausführung ihr schwer wurde. „Du bist in Verlegenheit, Erich?“ begann sie nach einer Pause. „Ich dacht’ es mir wohl und spürte es auch an dem Benehmen einzelner Lieferanten, die fast unhöflich wurden. Laß gut sein, Erich, und verdirb Dir nicht die Laune dadurch! Das wird sich ja Alles geben! Mir thut es nur leid, daß auch ich Dir Unannehmlichkeiten bereiten muß!“

„Du, Claire, Du?“ – der Graf lächelte ungläubig – „Du bist wie immer die beste und liebenswürdigste aller Frauen, und ich betrachte es als ein wahres Glück, daß wir endlich auf diese Dinge zu sprechen kamen, meine liebe süße Claire!“

„Ei, ei! Das klingt ja fast wie eine Liebeserktärung,“ scherzte die Gräfin. „Nimm Dich in Acht, Erich, daß ich die Sache nicht ernst nehme!“

Graf Erich umarmte seine Gemahlin und küßte sie zärtlich. „Das sollst Du auch, mein süßes Weib,“ sagte er dann, „es ist mir vollständig ernst. Ich möchte Dir einen Vorschlag machen, liebe Claire. Das Leben in der Residenz mit seinen großen Anforderungen und Zerstreuungen ist mir nachgerade gründlich zuwider geworden, und wenn Du denkst wie ich, so brechen wir hier unsere Zelte ab, ziehen uns auf Schloß Hochberg zurück und kommen Winters nur auf kurze Zeit hierher, um uns bei Hofe zu zeigen. Was die Kinder betrifft, so haben wir ja für Hans jetzt einen vortrefflichen Erzieher; für Gabriele nehmen wir Mademoiselle Renard mit. und im Uebrigen hat sie ja in Dir, meine liebe Claire, die allerbeste Erzieherin, die man sich nur denken kann.“

„Du bist parteiisch, lieber Erich,“ sagte die Gräfin geschmeichelt, „aber ich freue mich herzlich Deines Entschlusses. Glaube mir, ich ziehe das Leben in Hochberg mit Dir und den Kindern bei Weitem all’ den hiesigen Vergnügungen vor, die ja auf die Dauer doch nicht befriedigen. Wie hübsch soll das werden, wenn mir Abends dort gemüthlich um den großen Kamin im Speisezimmer sitzen!“

„Ja,“ stimmte der Graf heiter ein, „und ich freue mich schon auf die schönen Jagden. Der Wildstand war immer gut und muß jetzt brillant sein. Und die Leute dort – sind so anhänglich an uns! Erst vor einer Stunde waren Pfarrer und Schultheiß hier, um mir ihre Aufwartung zu machen.“

„Ich habe es gehört. – Gewiß, wir werden uns dort sehr wohl fühlen.“

„Und dann, liebe Claire,“ fuhr Graf Erich fort, „das Haus hier, denke ich, verkaufen wir. Wenn wir immer nur auf kurze Zeit hierher kommen, wohnen wir bequemer im Hôtel. Wir müßten ja einen Verwalter hier lassen, und überhaupt: es wäre eine Last. Bist Du einverstanden?“

„O gewiß, und um so mehr, als ich mit dem Verkauf einen besondern Zweck verbinde.“

Der Graf stutzte bei diesen Worten seiner Frau.

„Einen besondern Zweck?“ sagte er kleinlaut.

„Ja,“ erwiederte die Gräfin in etwas verlegenem Tone; „ich wollte Dich um Deine Genehmigung bitten, eine größere Summe auf das Haus aufnehmen zu dürfen. Justizrath Hennings, mit dem ich darüber sprach, sagte mir, das ginge wohl an.“

„Aber wie kommst Du dazu?“ fragte aufs Höchste erstaunt der Graf.

„Das eben ist die unangenehme Mittheilung, die ich Dir machen muß, vor der ich mich so sehr scheute; aber jetzt, lieber Erich, nachdem Du mir Deine Pläne mitgetheilt, wird es mir viel leichter. Ich habe Nachrichten von Eugen erhalten.“

„Eugen hat geschrieben? Ich sah doch keinen Brief von ihm –“

„Er hat mir den Brief durch Breda überbringen lassen.“

„Durch Breda? Warum schreibt der Junge nicht direkt an Dich, oder an mich, seinen Vater?“

„Das ist es ja eben; er fürchtete, seine Nachrichten könnten Dich in Aufregung versetzen. Er war wieder leichtsinnig –“

„Dacht’ ich mir’s doch!“ rief der Graf, sich erhebend, zornig aus. Er stieß den Sessel zurück und begann heftig im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Aber Du weißt ja, Erich, im Grunde ist er doch ein guter Mensch. Es sind Jugendthorheiten. er wird sich nun gewiß ändern!“

Die Gräfin sah bittend zu ihrem Gemahle empor.

„Nun ja, ich kenne Deine Schwäche für ihn. Er war ja immer Dein Liebling,“ sagte in unwirschem Tone der Graf.

Die Gräfin schwieg. Sie wollte und konnte nicht widersprechen

„Er hat natürlich wieder Schulden gemachte“ begann der Graf wieder.

Die Gräfin nickte bejahend.

„Wie viel?“

„Es ist ziemlich viel,“ erwiederte sehr kleinlaut und zaghaft die Gräfin – „vierzigtausend Thaler.“

„Vierzigtausend Thaler!“ schrie der Graf auf. „Das ist ja unerhört!“

„Du hast Recht. Erich, es ist unverantwortlich, und die Nachricht hat auch mich aufs Aeußerste betrübt. Ich habe ihm schon ernstlich geschrieben, daß das nicht so fortgehen könne, daß er sich ändern müsse; aber zunächst können wir ihn doch nicht stecken lassen, und da ich fürchtete, daß die Summe Dich geniren würde, so sprach ich eben mit unserem Notar, ob dieselbe nicht auf das Haus, das Du ja meiner Verfügung überlassen, aufzunehmen wäre. Der Justizrath meinte, das ginge sehr leicht, und nun, wenn wir uns nach Hochberg zurückziehen und das Haus verkaufen wollen, wird es ja noch leichter gehen.“

„Ja, ja, es wird leichter gehen.“

Der Graf hatte den Kopf gesenkt und sprach diese Worte in einem so erloschenen Tone, daß es der Gräfin auffiel.

„Was ist Dir, Erich?“ sagte sie besorgt.

„Nichts, nichts!“ beschwichtigte Graf Erich. „Die Nachrichten von Eugen haben mich etwas aufgeregt; aber ich sehe wohl ein, daß geholfen werden muß.“

Ein Lächeln der Befriedigung ging über das Gesicht der Gräfin. „Du bist also einverstanden, daß ich, da die Sache eilt, die Summe auf das Haus aufnehmen lasse? Eugen muß das Geld umgehend haben.“

„Gewiß, gewiß, es ist das Vernünftigste.“

„Nun denn,“ sagte sie hocherfreut, wie von einer Last befreit, „so will ich den Justizrath rufen lassen. Und es bleibt dabei: wir gehen nach Hochberg?“

„Gewiß, meine Claire.“

Graf Erich küßte seine Gemahlin auf die Stirn und wandte sich dann, um das Zimmer zu verlassen. Es war gut für sie, daß sie sein Gesicht in diesem Augenblick nicht sehen konnte.

*               *
*

Völlig geistesabwesend, von dem neuen Schlag wie betäubt, schritt der Graf durch den langen Korridor nach seinem Zimmer hinüber. Ein Diener sprach ihn an; er sah ihm ins Gesicht, ohne die Worte zu verstehen, und ging weiter. Plötzlich fuhr er beim Eintritt in das Vorzimmer zurück, als habe er ein Gespenst gesehen.

Unterthänig lächelnd stand dort wieder der Agent Treiber und sah sich den Grafen an, der im Tone des Schreckens herausstieß:

„Sie? Schon wieder hier?“

Der Agent schwieg noch eine Weile. Dann trat er nach dem Grafen, der vorausgehend die Thür offen gelassen hatte, in sein Arbeitszimmer und sagte mit leiser Stimme, bedächtig, schmeichlerisch:

„Haben der Herr Graf sich die Sache überlegt?“

Der Graf versuchte zu sprechen. Er fand keine Worte. Ein schwerer, verzweifelter Kampf tobte in seinem Innern. Seine Brust hob und senkte sich krampfhaft.

„Es geht nicht!“ keuchte er endlich.

„Erlauben der Herr Graf einen Vorschlag,“ begann Treiber wieder mit ruhigem, freundlichem Ausdruck, als gälte es, ein [483] ängstliches Kind oder einen Fieberkranken zu beschwichtigen. „Die Sache ist ja so einfach: damit kein Mensch den Wechsel mit dem Stempelchen zu Gesicht bekomme, siegeln der Herr Graf ihn hier vor meinen Augen mit Ihrem eigenen Siegel in ein Kouvert ein und ich unterschreibe dem Herrn Grafen, daß ich ihm die doppelte Summe des Wechsels zu bezahlen habe, wenn die Siegel am Verfalltage nicht unverletzt sind. Was riskiren denn der Herr Graf dabei? Nichts!“

Wieder entstand ein langes Schweigen. Der Graf saß von dem Agenten abgewandt vor seinem Schreibtisch, den Kopf auf beide Arme gestützt, eine Beute rathloser Verzweiflung. Es sauste und dröhnte in seinem Gehirn; er fühlte, daß er ganz außer Stande sei, Etwas zu denken und zu beschließen; aber der Tag neigte sich, die Schuld drängte, Hilfe mußte geschafft werden um jeden Preis.

„Wiederholen Sie mir, was Sie soeben sagten, ich habe den Sinn nicht deutlich verstanden,“ sagte er endlich, und auf die zungenfertige Auseinandersetzung des Agenten versetzte er: „Haben Sie die Summe parat?“

Mit wunderbarer Schnelligkeit griff dieser nach seiner Rocktasche:

„Gewiß, Excellenz, sechzigtausend Thaler in guten Scheinen.“

„Kommen Sie!“ rief der Graf, sich gewaltsam zusammenraffend, indem er nach der Thür des Nebenzimmers deutete.

In diesem Augenblicke öffnete sich die gegenüberliegende Thür und Komtesse Gabriele in lichten Gewändern erschien auf der Schwelle. Sie wollte den Papa zum Koncert abholen und war sehr erstaunt, ihn nicht bereit, ja, seiner kurzen Abweisung nach, offenbar schlechter Laune zu finden. Das kam sicher von seinem Gespräch mit dem gemein aussehenden Menschen dort; gewiß hatte dieser den Papa geärgert. Sie drehte also ihm vor allen Dingen den Rücken zu und fuhr, als sei Niemand weiter im Zimmer anwesend, mit der Beharrlichkeit des verzogenen Kindes fort:

„Aber nicht wahr, Papa, morgen früh um neun Uhr reitest Du mit uns nach Taxenbach? Du hast es uns versprochen, und der Tag wird wunderschön!“

Dem gequälten Manne riß fast die Geduld. Er hätte laut aufschreien mögen und mußte ruhig reden, aber seine Stimme zitterte doch, als er hastig unter allen möglichen Vorwänden die Zumuthung ablehnte. Alles, was Gabriele wolle, nur nicht morgen – er könne nicht, und damit gut.

„Ach, lieber Doktor,“ rief er mitten in seiner Rede dem jungen Hauslehrer zu, der soebem hinter dem meldenden Diener in der halboffenen Thür erschien: „Sie könnten mir einen großen Gefallen thun. Begleiten Sie morgen früh zu Pferde dieses hartnäckige Fräulein und ihren Bruder nach Taxenbach zu dem Jagdschlößchen. Sie nehmen meinen Ali, bis Mittag seid Ihr zurück. Wollen Sie mir die Liebe thun? Ich habe dringende Geschäfte hier und kann nicht mit. Sie sind ja ein famoser Reiter, wie ich höre!“

Der junge Mann zögerte einen Augenblick. „Wie Sie befehlen, Herr Graf,“ sagte er endlich in so trockenem Tone, daß Gabriele heimlich die kleine Faust ballte. „Aber ich möchte vorher noch in einer wichtigen Angelegenheit um einige Minuten Gehör bitten,“ fügte er dringend hinzu, indem er argwöhnisch den im Hintergrunde stehenden Agenten betrachtete, dessen lauernder Gesichtsausdruck ihm äußerst widerlich war.

Aber der Graf, nur von Einem Gedanken erfüllt, sah nicht die ernste Miene des jungen Gelehrten und sagte hastig, mit kaum verhehlter Ungeduld.

„Morgen lieber Doktor, morgen. Sie sehen, ich bin heute sehr beschäftigt. Adieu, Gabi, Du erzählst mir dann von Eurem Ausritt!“

Doktor Reiter zögerte noch einen Augenblick, aber die verabschiedende Bewegung des Grafen wiederholte sich, und so mußte er wohl gehen. Auf der Schwelle hob er seine Augen nach der vorausgeschrittenen Gabriele und begegnete einem Blick voll so strahlender Glückseligkeit, daß große Selbstbeherrschung nöthig war, um die ruhige Außenseite zu wahren. „Morgen, morgen!“ klang es unaufhörlich auch in seinem Herzen trotz aller Anstrengung, den Jubel zu unterdrücken.

Mittlerweile unterzeichnete in seinem Arbeitszimmer Graf Hochberg den Wechsel, drückte den ihm als Präsidenten der Bau- und Bodengesellschaft anvertrauten Gesellschaftsstempel darauf, siegelte das Papier ein und übergab es dem Agenten, welcher dafür sechzigtausend Thaler in Kassenscheinen auf den Tisch zählte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Sklavenexekutionen in Afrika. Welche große Aufgaben für die Fortschritte der Civilisation noch dem Kongostaat gestellt sind, das beweisen die zum Theil abschreckenden und grausamen Gebräuche der Negerstämme, gegen welche einzuschreiten die Europäer noch immer machtlos sind. So berichtet Henry Stanley in seinem Werke „Der Kongo“, das gegenwärtig in zweiter Auflage vorliegt (Leipzig, F. A. Brockhaus), daß es dem Lieutenant Vangelé, dem Chef der Aequatorialstation, am Kongo wohl gelang, seine Sklaven vor den Aufkäufern zu schützen, welche sie zum Zweck der Leichenfeier eines bedeutenden Häuptlings als Schlachtopfer erwerben wollten, daß er aber nicht in der Lage war, die gräßliche Ceremonie selbst zu hindern. Bekanntlich ist’s der Gebrauch vieler innerafrikanischen Stämme, besonders der Bakuti, Sklaven umzubringen, welche die todten Häuptlinge in das Land der Geister begleiten sollen. Vangelé wohnte selbst dem Opferfest bei, das sich von ähnlichen Festlichkeiten nur durch das grausame Raffinement unterschied, mit welchem die Hinrichtung ausgeführt wurde. Er fand eine große Schar von Männern auf dem Schauplatze der Feier versammelt. Die zum Tode Verurtheilten knieeten mit gefesselten Armen in der Nähe eines hohen jungen Baumes, an dessen Spitze ein Strick befestigt war. Eine Anzahl Leute hielten den letzteren und zogen ihn so straff an, daß der obere Theil des Baumes wie ein Bogen gekrümmt war, dann ward ein Gefangener ausgewählt und ihm das lose Ende des Stricks um den Hals gelegt, worauf man den Baum soweit wieder in die Höhe ließ, daß der unglückliche emporgezogen, der Hals ausgerenkt und der Körper fast vom Erdboden gehoben wurde. Inzwischen war der Henker herangetreten und hatte mit seinem kurzen Schwert mit breiter Klinge die Entfernung bis zum Genick des Sklaven gemessen, um den Hals sicher zu treffen. Er wiederholte das zweimal: dann schlug er zu, trennte das Haupt glatt vom Rumpfe, und dieses wurde durch die Schwungkraft des losgelassenen Baumes emporgeschnellt und mehrere Meter weit fortgeschleudert.

Wir hoffen, daß der Kongostaat allmählich Kraft genug gewinnen wird, um den Sieg der Humanität in allen seinen Marken zu sichern. †     

Der Kampf zwischen den Wollenen und Baumwollenen. Die Anhänger Jäger’s und seiner Lehre von der alleinseligmachende Wolle haben jetzt eine neue eifrige Gegnerschaft gefunden in den Vorkämpfern der Baumwolle, und es ist in Berlin vor einiger Zeit zu einem Redeturnier zwischen beiden Parteien gekommen, bei welchem die jedesmalige Opposition sich nach parlamentarischem Brauch durch heftiges Zischen bemerkbar machte. Dr. Lahmann aus Chemnitz vertrat in dieser Versammlung, die im Hôtel de Rome stattfand, die Vorzüge der Baumwolle, erkaunte die Verdienste Jäger’s insoweit an, als dieser die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage der Bekleidung gelenkt und für durchlässige Kleider eingetreten sei, doch die Baumwolle erfülle diese Bedingung, wenn sie nur trikotartig und nicht appretirt und gestärkt sei, eben so gut wie die Wolle, ja sogar noch mehr als die letztere, die eine Ueberreizung hervorrufe und die Haut erhitze, wodurch diese empfindlicher werde für die Schwankungen der Temperatur. Auch verbreiteten Pflanzengewebe an sich nicht schlechte Düfte: reine lockere Baumwolle nehme nicht mehr riechende Stoffe auf als Wolle, nur die Appretur und Stärke sowie das Schlichtmaterial binde die schlechten Düfte. Auch sei die Baumwolle billiger als die Wolle. Zum Beweis, daß die Reformbaumwollstoffe so weich, warm und schmiegsam wie die zarteste Wolle seien, waren zu beiden Seiten der Rednertribüne baumwollene Garne, Trikotstoffe, fertige Hemdenn u. dergl. m. ausgestellt. „Hie Wolle, hie Baumwolle“ ist jetzt die Losung; bei der Baumwolle handelt es sich indeß bloß um die Unterkleider. Die Anhänger der Leinwand haben bei diesem Kampfe das Zusehen: jedenfalls werden sie von beiden Reformparteien in die Rumpelkammer der Diätetik und Hygiene verwiesen. †     

Ein litterarischer Schutzmann. Das Verdienst, das sich unsere Schutzmänner um die öffentliche Sicherheit erwerben, wird man gewiß mit Freuden anerkennen; wer empfindet nicht ein Gefühl von Beruhigung, wenn er zur Nachtzeit die wackeren Träger der Pickelhauben über die Straßen patrouilliren sieht? Anstrengend genug ist ihr Dienst – und man muß um so mehr erstaunen, wenn man erfährt, daß es einen Berliner Schutzmann giebt, der noch Muße für litterarische Beschäftigung gefunden hat. Adolf Schulze hat das Werk des Obersten Tscheng Ti Tong über China und die Chinesen ins Deutsche übertragen, eben so das Werk Arthur Pougin’s über „Verdi“, außerdem den in der „Schles. Ztg.“ veröffentlichten Roman „Schneeblume“ von der Fürstin Kantacuzène. Auch verfaßt er Novellen und Romane und hat, mit der Bewilligung seiner Vorgesetzten, eine Schrift. „Aus dem Notizbuche eines Berliner Schutzmanns“ herausgegeben, welche gewiß manches interessante Ereigniß aus dem Berliner Straßenleben darstellen wird. Dieser sprachenkundige und schriftstellerisch thätige Schutzmann zeigt, daß man bei Talent und Neigung in allen Lebensstellungen noch Muße finden kann zu literarischem Wirken und Schaffen. †     
[484] Reklame über Reklame. Es muß Jemand vieler Menschen Wohnstätten gesehen und Sitten beobachtet haben, um ein Buch schreiben zu können, wie uns eines vorliegt: ein „Buch der Reklame“. Solch ein Vielgereister ist der unseren Lesern seit Jahren rühmlich bekannte Reisemaler der „Gartenlaube“, Rudolf Cronau, der es unternommen hat, uns „Geschichte, Wesen und Praxis der Reklame“ zu schildern und das in fünf Abtheilungen oder Heften erschienene Buch mit einer großen Anzahl von Abbildungen von deutschen, englischen, amerikanischen, französischen, russischen, japanischen und indianischen Künstlern auszuschmücken. Der Anblick dieser Illustrationen reicht allein schon hin, uns einen erschütternden Begriff von den Ungeheuerlichkeiten zu geben, die auf der Welt menschenmöglich sind. Nachdem der Verfasser in der ersten Abtheilung sich über Bedeutung und Werth der Reklame ausgesprochen, führt er als die vorzüglichsten Mittel derselben an: Herolde und Ausrufer, Aushängeschilder, Plakattafeln und Anschlagssäulen, den Sandwichman, die Flugblätter, Handbills und Reklamelaternen, Umzüge und Schaustellungen auf den Straßen, die Schaufenster, industrielle Gewänder und die Inserate.

Das vornehmste und verbreitetste Reklamemittel ist das Inserat. Der Verfasser geht historisch zuwege. Die Reklame finden wir schon in alten Zeiten; das Inserat mußte auf seine Erfindung warten, bis das Zeitungswesen sich kräftiger zu entwickeln begann; denn trotzdem man schon im 15. Jahrhundert „Neuigkeitsblätter“ druckte, kam doch erst im Jahr 1633 der Franzose Theophrastus Renaudot auf den Gedanken, ein Stellenvermittelungsblatt („Feuille du bureau d’adresses“) zu veröffentlichen. Dasselbe fand schon 1652 in London, aber erst 1727 in Berlin, 1763 in Leipzig Nachahmung. Eben so langsam war der Fortschritt vom Stellenvermittelungsblatt zu dem Universaldienst des Inserats in der Gegenwart. Die Verbreitung und Ausbeutung desselben hing vom politischen Zustand der Staaten und Völker ab; daher wurde in dieser Beziehung Frankreich bald von England und dieses von Nordamerika überflügelt, während Deutschland hinterher lahmte und erst, seitdem die deutsche Reichsmacht den Unternehmermuth gestärkt, Lord Macaulay’s Ausspruch anerkennt: „Die Annoncen sind dem Geschäft, was der Dampf für die Maschine ist: die große bewegende Kraft.“ Wenn auch bei uns noch nicht wie von Nordamerika erzählt werden kann, daß in einem Staat, dem von New-York, allein in einem Jahr (1878) etwa 20 Millionen Mark für Inserate verausgabt wurden, so überzeugt uns heute jedes Zeitungsblatt mit Inseraten, wie man diesen die rechte Form zu geben und sie so auffällig zu machen versteht, daß man bei den meisten eine illustrirte Zeitung vor sich zu haben glaubt. Welche typographische Kunststücke dabei geleistet werden können, davon theilt das Buch, das der Verfasser einer Leipziger humoristischen Gesellschaft (der „Insulaner-Riege“) gewidmet hat, selbst einige zum Theil grotesk humoristische Beispiele mit.

Die übrigen vier Abtheilungen des Werkes führen uns in das specielle Reklameverfahren der einzelnen Stände und Klassen ein und lassen Sitten und Unsitten der verschiedensten Völker und Zeiten, in Wort und Bild dargestellt, an uns vorüber gehen. Begegnen wir dabei manchem Lieblichen und Anmuthigen, so fehlt es auch nicht an Gegenständen so gräßlicher Natur, namentlich in der Reklame des Heldenmuths der Wilden, daß das Auge gern rasch daran vorüber geht. Desto mehr fesseln den Leser die Schilderungen und Beschreibungen mit den reichen Geschichts- und Anekdotenschätzen dieses Buchs. Friedrich Hofmann.

Der Reisewagen Napoleon’s I. Was ist aus jenem Reisewagen des französischen Kaisers geworden, den die Preußen nach der Schlacht bei Waterloo erbeuteten? Derselbe befindet sich auf der Herrschaft Krieblowitz in Schlesien, wo Feldmarschall Blücher in der letzten Zeit seines Lebens gern verweilte und wo er auch auf einer waldigen Anhöhe in der Nähe des Schlosses seine letzte Ruhestatt gefunden. Dieser Reisewagen, in welchem, als er in Genappe von Blücher’s Soldaten mit Beschlag belegt wurde, sich noch Hut und Degen des Kaisers befanden, der ihn soeben verlassen, wurde dem tapferen Marschall Vorwärts zum Geschenk gemacht, und er pflegte sich oft des sehr bequemen Fuhrwerks zu bedienen. Auch die sechs Grauschimmel, welche die Stadt Paris mit dem Wagen dem Kaiser nach seiner Rückkehr von Elba geschenkt hatte, waren in den Besitz des Fürsten Blücher übergegangen. Der Wagen, mit seinem Goldbeschlag äußerlich gut erhalten, wenn auch innerlich etwas in Verfall, steht noch in der Wagenremise zu Krieblowitz.

Gegen diese Mittheilung schlesischer Blätter wird von London aus Protest erhoben. Dort wird der bei Genappe erbeutete Wagen Napoleon’s I. in der Wachsfigurenausstellung der Madame Tussand, wie auch die beliebtesten Reisehandbücher mittheilen, gezeigt; er soll für 2500 Pfund gekauft worden sein: doch das soll nicht der Reisewagen des Kaisers, sondern sein Staatswagen sein. Daß der erstere, von Blücher’s Soldaten erobert, dem Fürsten zugefallen, ist eben so glaubwürdig wie historisch beglaubigt.

Deutsche Kriegergräber in Metz. In den denkwürdigen Augusttagen der Schlachtentrilogie um Metz sowie in den verschiedenen Ausfallgefechten bis zur Kapitulation hatten die Franzosen eine Anzahl schwerverwundeter Deutschen mit nach der Festung hineingenommen, wohl mehr, um dadurch eine größere Anzahl Kriegsgefangener den Bewohnern zu zeigen, als diese Unglücklichen wieder herzustellen; denn das wäre doch außerhalb der belagerten Festung eher gelungen, als in derselben, wo schon genug Kranke und Verwundete lagen und außerdem die Nahrungsmittel täglich knapper wurden.

Von diesen deutschen Verwundeten ist denn auch eine große Anzahl in Metz gestorben und begraben. Auf dem großen Militärfriedhofe befindet sich ein Grab, in welchem etwa 280 deutsche Krieger dem großen Appell entgegenschlafen; außerdem sind in den französischen Massengräbern (7203 französische Soldaten ruhen darin) auch noch vereinzelte Deutsche gebettet.

Außer einem kleinen, halb zerschlagenen Sandsteine, der kaum sichtbar und nur etwa 25 Centimeter über dem Boden emporsteht und die Aufschrift trägt: „Section Fosse Prussien“, bezeichnet kein Denkmal die Ruhestätte dieser Tapferen, während ein imposantes Denkmal für die französischen Soldaten und ein ebensolches für die gefallenen französischen Officiere errichtet ist, deren Unterhaltung die Stadt Metz übernommen hat. Auf einem der französischen Massengräber nur befinden sich drei Gedenksteine für darin ebenfalls ruhende tapfere deutsche Soldaten, gesetzt von überlebenden Angehörigen und Freunden; diese Steine tragen Aufschriften.

Der Metzer Turnverein sowie der Kriegerverein – beides Vereine, die sich zur Aufgabe gestellt haben, alljährlich im August die zahlreich sich um Metz befindenden Kriegergräber zu schmücken – haben nun die Initiative ergriffen, um auch den auf dem Friedhofe zu Metz ruhenden deutschen Soldaten, welche bei den Kämpfen um diese Stadt ihr Leben verloren, ein würdiges, wenn auch bescheidenes Denkmal zu setzen, und zwar unmittelbar bei ihren Gräbern, neben den französischen Denkmälern. Jeder der beiden Vereine hat zur Herstellung desselben bereits die nöthige Summe bewilligt, und soll dasselbe die Form eines Obelisken erhalten, der mit einem Adler gekrönt ist. Das Fundament ist bereits gelegt.

Fundbureaus. Unsere auf Seite 724 des vorjährigen Jahrgangs ausgesprochene Hoffnung, die im Bereiche der preußischen Staatsbahnen getroffene Einrichtung der Fundbureaus bald auf die gesammten deutschen Bahnen ausgedehnt zu sehen, hat sich bereits verwirklicht, indem der Deutsche Eisenbahn-Verkehrsverband gemeinsame Vorschriften für die Behandlung der im Bereiche der deutschen Eisenbahnen zurückgelassenen bezw. aufgefundenen Gegenstände vereinbart hat. Es sind nunmehr Fundbureaus in Karlsruhe, München, Nürnberg, Straßburg, Darmstadt, Berlin, Gießen, Altona, Breslau, Bromberg, Erfurt, Frankfurt a. M.-Sachsenhausen, Hannover, Köln, Magdeburg, Dresden, Stuttgart, Aachen, Stettin, Crefeld, Mainz, Glückstadt, Kiel, Lübeck, Marienburg, Schwerin, Nordhausen, Königsberg, Ludwigshafen a. Rh., Jena, Weimar, Meiningen und Neumünster eingerichtet.

Bekanntmachungen in den Wartesälen und Eisenbahnwagen werden den Reisenden weiteren Aufschluß geben.

Skat-Aufgabe Nr. 10.
Von K. Buhle.

Die Vorhand gewinnt mit folgender Karte:

(p. Z.) (p. K.) (p. 9.) (p. 8.) (p. 7.) (tr. As.) (tr. 9.) (tr. 8.) (tr. 7.) (c. As.)

obwohl kein Trumpf im Skat liegt, ein Grün(p.)-Solo mit Schneider, denn die Gegner bekommen höchstens 30 Augen.[1] Sie würde aber ihr Solo mit Schneider verlieren, sobald die Gegner nur ein Blatt von gleichem Werthe in Nebenfarben mit einander tauschen dürfen. – Wie sitzen die Karten und wie ist in beiden Fällen der Gang des Spiels?

Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 9 auf S. 452.
Die Kartenvertheilung ist folgende: Skat eD, eK.
I. Gegner zur rechten Hand: gU, eZ, eU, e9, e7, rZ, rO, r9, sK, sZ.
II. Gegner zur linken Hand: eO, gD, gK, gO, g9, rD, rK, sD, sU, s8.
I. Wenn der erste Gegner (z. r. H.) die Vorhand hat:

a. 1. sZ! s9, sD. 2. gD, gU, gZ. 3. gK, sK! g8. 4. s8, bel. s7. 5. sU, bel. sO ×

b. 1. r9! r8, rD. 2. rK, rO, rU. 3. s8, sZ, s9. 4. rZ! r7, eO! 5. e7, e8 ×

II. Wenn der zweite Gegner (z. l. H.) die Vorhand hat:

a. 1. g9!! gU, gZ. 2. sZ, s9, sD. 3. gD! sK! g8. 4. s8, bel. s7. 5. sU, bel. sO ×

b. 1. rD! rO, rU. 2. rK, rZ, r8. 3. s8! sZ, s9. 4. r9! r7, eO! 5. e7, e8. ×


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

R. S. in Berlin. Nicht bloß in einem südafrikanischen Freistaat ist, wie wir berichteten, der neunzigste Geburtstag Kaiser Wilhelm’s gefeiert. worden, sondern auch in einem südamerikanischen. Aus Sucre in Bolivia berichten die Zeitungen von einem glänzenden Fest, welches die deutsche Kolonie an diesem Tage beging und welchem der Präsident der Republik Dr. Gregorio Pacheco mit seinen Ministern und anderen hohen Würdenträgern beiwohnte. Der große Festsaal war mit den Farben von Deutschland und Bolivia geschmückt und neben der Nationalhymne von Bolivia ertönte die Wacht am Rhein. An begeisterten Toasten fehlte es nicht – und der Präsident nahm Anlaß, das Lob der deutschen Kolonie zu verkünden, welche immer auf die Zuneigung und Achtung der Bolivianer und auf die besondere Rücksichtnahme der Regierung rechnen dürfe: er sprach seine Sympathien für die ganze deutsche Nation und herzliche Glückwünsche für den erhabenen Kaiser aus.

Frau M. in Rostock. Sie sind eine Gegnerin des Balletts und brechen über die Ballett-Tänzerinnen den Stab vom Standpunkte der bürgerlichen Moral. Dem gegenüber wollen wir Sie darauf aufmerksam machen, daß in Nanterre, wo alljährlich ein Rosenmädchen gekrönt wird, diesmal eine junge Ballett-Tänzerin den Tugendpreis erhalten hat, und zwar nicht etwa wie die Boulotte aus Offenbach’s „Blaubart“ durch ein aus der Tugendlotterie ihr zugefallenes Los, sondern nach reiflichen Erwägungen der Preisrichter. Alice Ebrant ernährt seit zehn Jahren ihre Eltern und hat drei Brüder erziehen lassen – alles von den Einnahmen der Ihnen so verwerflich scheinenden Kunst.


Inhalt: Der lange Holländer. Novelle von Rudolph Lindau (Fortsetzung). S. 469. – E. Marlitt. S. 472. Mit Illustrationen S. 469, 473, 475 und 476. – St. Moritz-Bad. Ein Oberengadiner Sommerbild von Woldemar Kaden. S. 477. Mit Illustrationen S. 477, 478, 480 und 481. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Fortsetzung). S. 479. – Blätter und Blüthen: Sklavenexekutionen in Afrika. S. 483. – Der Kampf zwischen den Wollenen und Baumwollenen. S. 483. – Ein litterarischer Schutzmann. S. 483. – Reklame über Reklame. Von Friedrich Hofmann. S. 484. – Der Reisewagen Napoleon’s I. S. 484. – Deutsche Kriegergräber in Metz. S. 484. – Fundbureaus. S. 484. – Skat-Aufgabe Nr. 10. Von K. Buhle. S. 484. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 9 auf S. 452. S. 484. – Kleiner Briefkasten. S. 484.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Vergl. Allg. Deutsche Skatordnung, § 12. Anmerkung.