Die Gartenlaube (1887)/Heft 16
[257]
No. 16. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Götzendienst.
Auf der Treppe zu seiner Wohnung begegnete Eff der feisten, untersetzten Gestalt seines Burschen, der sich eben in einem stark beschädigten Bunzlauer Topf seinen Abendkaffee holen wollte. Der Mann wollte umkehren, als er seinen Herrn kommen sah.
„Allez, Baptiste, allez prendre votre café – je vais attendre,“ redete Eff ihn an.
Baptist war ein Lothringer, ein Stockfranzose, und gerade einen solchen hatte sich der lernbegierige Officier vom Regiment als Burschen erbeten, damit er im Französischen doch etwas in Uebung bliebe.
„Su Beefäl, ’err Leut’!“
„Baptist, Du sollst ja Französisch sprechen. Parler français, rien que français! Avez-vous compris?“
Und Baptist abermals, über das ganze gutmüthige Gesicht grinsend, aber in strammster Haltung, den Bunzlauer Topf wie zu einer Freiübung gegen die Brust gedrückt: „Su Beefäl, ’err Leut’!“ wie es ihm der Unterofficier in der Instruktion beigebracht; es waren über diese paar deutschen Worte sogar Thränen der Verzweiflung geflossen.
Er war unverbesserlich; seitdem er des Abends in einer halbgeöffneten Hausthür der Nachbarschaft bei einer drallen Berliner Köchin Unterricht im Deutschen nahm, war er wie besessen auf diese Sprache. –
„Der reine Wartesaal!“ pflegte Mühüller auszurufen, wenn er Eff’s Zimmer betrat. Letzterer war in der Eisenbahnabtheilung des Generalstabs beschäftigt, dort, wo der überaus schwierige Mechanismus der Truppentransporte für jede Eventualität einer Mobilmachung konstruirt und gangbar erhalten wird: eine anstrengende Handwerksarbeit, die jedoch die zuverlässigsten Arbeiter verlangt. Gelbe, weiße und rothe Eisenbahnfahrpläne waren an die Wände, ja sogar an die beiden Thüren geheftet, den Bilderschmuck halb verdeckend; mit dem markigen Ausdruck der kecken Haudegengesichter überragten einige Menzel’sche Feldherrnköpfe diese dürre papierene Prosa der modernen Kriegsführung. Mühüller konnte sich auch eines Schauders nicht erwehren, der sich in einem herzhaften „Brrr!“ Luft machte, wenn er der Tabellen und zahlenwimmelnden Bogen ansichtig wurde, die den Schreibtisch bedeckten. Aus dieser Wüste von Zahlen schien ihm nur eine Oase hervorzuragen, die Rangliste, die Eff mit peinlicher Genauigkeit nach der jedesmaligen Ausgabe des Militärwochenblattes auf dem Laufenden erhielt.
[258] Daneben lag eine russische Grammatik nebst einem Uebungsheft aufgeschlagen. Aber auch Strategie und Gefechtswisssenschaft kamen zu ihrem Recht. Ueber einen Nebentisch lag eine große Karte gebreitet, auf der die einzelnen Truppenpositionen durch niedliche Stecknadelfähnchen bezeichnet waren, die neueste vom Feldmarschall selbst gestellte Uebungsaufgabe, über die sich alle Streber in der Armee augenblicklich die Köpfe zerbrachen.
Einige Briefe hatten sich nebst der Zeitung eingefunden. Der eine, von altmodischer länglicher Form, zeigte die wenig ausgeschriebenen Schriftzüge seiner guten Mutter. Zuerst, ohne den Paletot abzulegen, erschloß er das große feierliche Quartkouvert des anderen. Der vergoldete preußische Adler schimmerte ihm von der starken Kartonkarte entgegen, die „Das königliche Hofmarschallamt“ unterzeichnet war. Sie enthielt eine Einladung für den achtundzwanzigsten Januar zu Kour und Ball im königlichen Schlosse.
Ein Schimmer der Befriedigung glitt über sein Gesicht wie ein Abglanz aus dem lichterstrahlenden Ballsaal dort bei Hofe. Ah, aber er mit seinem Eff – mit seinem Buchstaben? Was soll er dort, wo nur die glänzenden Namen ihre Triumphe feiern? Gleich verflog der Schimmer von seinem Antlitz. Mühüller’s Ausruf: „Ein verteufelt guter Name!“ klang ihm im Ohr. Auf der Schule hatten sie ihn mit seinem Buchstaben geneckt, später, als jungen Lieutenant, stach ihn zuweilen, bei Vorstellungen, eine thörichte Scham. Nun, darüber ist er längst hinaus – zum Glück ist das „suum cuique!“ keine hohle Devise in Preußen. Er weiß, er wird auch mit seinem Einsilber und trotz desselben nicht in der Masse stecken bleiben, er hat Vertrauen zu seiner Tüchtigkeit. „Vorwärts!“ lautet seine Parole – aber nicht vorwärts mit Katzenbuckeln!
Doch wie kam er zu solchen Betrachtungen? Hatte Mühüller Recht und lugte durch den „Scherz“ von Frau Belzig wirklich eine tiefere Absicht?“ War es möglich, daß dessen Andeutung, Perkisch und den Grafen betreffend, eine Spur von Wahrheit enthielt? Ihnen Allen, den Kameraden, die dort verkehrten, war der Parvenühauch, der das Haus Belzig durchwehte, nicht ganz geheuer – aber vor dem Zauberglanz der beiden Sterne verblaßte jede Kritik.
„Ich liebe das herrliche Wesen – ich muß sie erringen! Sie muß mein sein! – Der Name, was hat der Name mit dieser Liebe zu thun? Und wenn diese Liebe das Opfer meines Namens forderte, wie Mühüller anzudeuten scheint? – Nein, nicht das! Nicht um diesen Preis! Auch Melitta nicht!“
Mit einer Bewegung, als begänne die Karte ihm in der Hand zu glühen, ließ er sie auf den Tisch fallen. Dann entledigte er sich mit nachdenklicher Langsamkeit seines Paletots und Degens, zündete eine Cigarre an und schmiegte sich in einen Polsterstuhl, um den Brief der guten Mama mit Behaglichkeit zu genießen.
Der aromatische Geruch des Lavendels, der die gewaltig massiven Schränke der verwittweten Steuerräthin Eff zu erfüllen pflegte, wehte ihm daraus entgegen. Und dieser Geruch zauberte die Erinnerung an die elterliche Wohnung zu Erfurt vor seine Augen. Die niederen, nicht streng quadratischen, durch Treppchen und Rampen verbundenen Zimmer, die kleinen klirrenden Fenster mit den steifen Zugjalousien; nach der Stille des Hofes, den das grüne Dunkel einer mächtigen Linde beschattete, das Arbeitszimmer seines Vaters, wo vor dem geräumigen tannenen Schreibtisch noch der glänzend glattgesessene Lehnsessel stand: alles altfränkisch, echt Erfurtisch, aber lieb und von naiver Traulichkeit.
Er sah sein Mütterlein, die kleine Dame mit dem ängstlichen Gesichtchen, stets in abgetragene Seide gekleidet, mit Staubtuch und Federwedel lautlos huschend durch die Räume walten. Er sah sie an den Nachmittagen am Fenster sitzen, dem grauen Spiegelglase des „Spions“ gegenüber. An dem anderen Fenster, der Mutter gegenüber, pflegte sein Schwesterchen Adelheid zu sitzen, der Riesenteppich, an dem sie schon seit Jahren mit Unterbrechungen stickte, war immer noch nicht fertig, seine Farben drohten zu verblassen, und die Blüthe des zarten Antlitzes reifte immer mehr einer resignirten Duldermiene entgegen.
Eff hatte die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbracht. Der Brief zehrte noch von der Erinnerung an diesen Besuch. Walther hatte zu Hause von seinen Arbeiten, seiner Stellung, vom Generalstab, von Moltke, von seiner Zukunft ausführlich erzählen müssen, und nun brach der Mutterstolz immer wieder durch die Zeilen.
„Gott segne Dich, mein Sohn!“ schrieb die brave Dame. „Tante meint und wir freuen uns Alle so, daß Du dem guten Namen unserer Familie solche Ehre machst.“
„Tante meint …“ dies kennzeichnete die Autorität, welche die Schwester des verstorbenen Steuerrathes in der Familie genoß. Immer wieder: „Tante meint – Tante hat gesagt – Tante will es so“ – nichts Wichtiges, das beschlossen wurde, ohne daß man den Rath der kleinen rundlichen, quecksilbernen Wittwe in Anspruch nahm, die auch ohne ihr bedeutendes Vermögen sich ihre Hauptrolle in der Familie bewahrt hätte, denn unter ihrer polternden Tyrannei verbarg sich ein Goldherz, das nicht müde wurde zu geben und, wo es nöthig war, zu vergeben.
Die eben ausgesprochene Zuversicht erhielt dadurch noch mehr Nachdruck, daß unmittelbar ein Stoßseufzer folgte, der Adolf, dem älteren der beiden Brüder, galt. Adolf hatte die technische Hochschule besucht und war dann abseits der großen Heerstraße einer regelrechten Anstellung auf den Irrpfad der Erfindungen gerathen. Er betrieb eine „Idee“ nach der andern, von der eine jede Ruhm und Reichthum bringen sollte, stand mit allen Patentämtern der Welt in Verbindung und wurde von den gelegentlichen Kompagnons seiner Pläne weidlich ausgebeutet. Zudem hatte er voreilig geheirathet und saß nun, nachdem die unseligen Erfindungen das kleine Vermögen seiner Frau aufgezehrt hatten, im Elend.
„Adolf ist im Begriff, wie er uns mittheilt, in Berlin eine Fabrik für seine neueste Erfindung einzurichten,“ schrieb die Steuerräthin; „er hat uns den Plan in seinem Briefe ausführlich aus einander gesetzt, ich habe es wie gewöhnlich nicht verstanden. Du guter Gott, was soll dies wieder bedeuten?“
Und gleich darauf, als müßte die Schreiberin sich wieder an etwas Erfreuliches klammern: „Mein lieber Walther, Tante behauptet fest, daß Du Aussicht hättest, eine gute Partie zu machen. Hast Du ihr eine Andeutung gemacht? (Die gute Frau stand so gern hinter der allmächtigen Tante zurück) Wie sehr wir uns Alle freuen würden, kannst Du Dir denken. Ich bin überzeugt, daß Du Deine Wahl nicht zu bereuen haben wirst.“
Er fuhr empor – wer hatte das gesagt? Wie kam Tante dazu, das zarte Geheimniß seines Herzens in solch greifbarer Gestalt ans Licht zu zerren?
Ah, nun erinnerte er sich. Die „Autorität“ hatte ihn mit ihren nadelspitzen Fragen, die überall umherstachen, auch nach seinen gesellschaftlichen Beziehungen gefragt. Und er hatte ihr Haus für Haus, wo er verkehrte, schildern müssen. Da mochte er wohl die Familie Belzig am Lützow-Ufer mit etwas wärmeren Farben herausgestrichen haben: das liebenswürdige gastliche Haus, die exquisiten Diners, die interessante Gesellschaft, die man zuweilen dort träfe – und ganz zuletzt, ganz nebenher die beiden bildschönen Töchter.
„I sieh einmal!“ Und die grauen Augen der Tante glitzerten noch lebhafter als sonst. „Du bist verliebt in eine von ihnen!“ Lachend wehrte er ab. „Ich sage Dir, Du bist verliebt in eine von ihnen! Du wirst Dich mit einer von ihnen verloben!“
In einem köstlichen tyrannischen Befehlton kam es heraus. Er zwirbelte mit etwas listigem Schmunzeln das Musterstück seines prächtigen Schnurrbartes. Das mochte sie als eine Bestätigung aufgefaßt haben. –
Nachdem er den Schluß des Briefes nur flüchtig durchflogen, sprang er auf. Ja, wie gern gab er der Tante Recht: „Ich liebe Dich! Ich liebe Dich, Melitta, Du Herrliche, Einzige!“ hätte er fast laut ausgerufen. Und in einem Sturm der Begeisterung, der ihn in dem Gedanken an sie erfaßte, rannte er die Stube auf und ab.
„'err Leut', il y a un monsieur qui désire parler 'err Leut'!“ meldete Baptist.
Eff hatte nicht einmal gemerkt, wie der Bursche eingetreten war. In einem leichten Unmuth über die Störung fuhr er ihn an.
Baptist blieb unbeweglich, nicht die Spur einer Regung in dem frischrothen, von Gesundheit strotzenden Musketiergesicht.
Da pochte es auch schon an die Thür, zwei heftige Schläge; daran hätte Eff schon seinen Bruder erkannt. Ohne das „Herein“ abzuwarten, trat Adolf in die Stube, eine große Papierrolle unter dem Arm; selten sah man ihn ohne diese Rolle.
Adolf war eine kleinere, weniger hübsche und elegante Ausgabe des jüngeren Bruders. Auch kontrastirte sein nervöses hin- und herfahrendes Wesen gegen die vornehme und sichere Ruhe des Officiers. Er sah älter aus als die etlichen dreißig Jahre, die er zählen mochte; Haar und Bart waren leicht ergraut, und die Züge schienen mit ihren zahlreichen Falten gleichsam Buch zu führen über die „Ideen“, die in seinem Hirn umherwühlten.
[259] „Guten Tag, alter Junge!“ rief er, Walther's Hand ergreifend. „Ich bemerkte Licht bei Dir und wollte nur sehen, wie es Dir geht – nur auf eine Minute.“ Er warf die Rolle dabei auf den Tisch.
„Darf ich Dir eine Cigarre anbieten, Adolf? Ist Dir ein Glas Bier gefällig?“
„Ich danke Dir – wenn Dein Parlez-vous mir ein Glas Bier holen wollte, so wäre es mir sehr willkommen.“
Nach einer kurzen Pause fügte er mit einem eigenartig listigen Ausdruck der kleinen unruhig funkelnden Augen und mit einem übertrieben vergnügten Händereiben hinzu:
„Glaubst Du, daß ich seit acht Tagen keinen Schluck Bier über die Lippen gebracht?“
„Du bist doch nicht krank, Adolf?“
„Frisch und gesund und beim besten Humor. Aber ich kann mir den unerhörten Luxus eines Glases Bier nicht gestatten. Ebbe, völligste Ebbe!“
„Wieder einmal? Nicht möglich! Du scherzest wohl, Adolf!“ rief Walther, mit fast erschreckten Augen den Bruder anstarrend.
Das so vergnügt hingeworfene Geständniß beleuchtete die ganze trostlose Lage. Adolf bewohnte seit Monaten mit Weib und Kind das nach einem engen, feucht-dumpfen Hof gehende Hinterzimmer eines kleinen Chambre garnie der Jägerstraße. Der Wirth hatte auf die „Idee“ hin lange genug Kredit gegeben; nun verweigerte er die Verabfolgung von Speisen und Getränken, die Familie immerhin als Faustpfand in dem dunklen Verließ seines allerschlechtesten Zimmers zurückbehaltend.
„Baptist, ein Glas Bier – un boc, Baptiste!“ rief Walther in das Dunkel des Flurs hinein. Und zurückkommend, die Thür noch in der Hand: „Soll er Dir auch etwas zu essen mitbringen?“
„Wenn ich bitten darf, ein Butterbrot, irgend etwas, eine Kleinigkeit,“ antwortete Adolf die Papierrolle betrachtend, die er halbgeöffnet hielt.
„Aber, Mensch, das ist ja geradezu entsetzlich!“ zeterte Walther, aus dem Flur zurückkehrend, wo er Baptist den Auftrag gegeben hatte, irgend eine warme Portion herbeizuschaffen. „Ich bitte mir aus, daß Du es nicht so weit kommen läßt und Dich rechtzeitig bei mir einstellst!“ Er war ganz empört.
Adolf zuckte die Achseln, immer noch die Rolle vor dem Gesicht. „Du hast selbst nichts, und ich habe Dich schon oft genug belästigt,“ warf er dumpf hin. „Alles muß einmal ein Ende haben. Der Kredit und die Bettelei – aber auch dies Elend, ich versichere Dich!“ Seine Augen leuchteten auf, es klang fast wie eine Herausforderung.
„Ich will nicht, daß Du mit den Deinigen hungern sollst, Adolf!“
„Nun, so schlimm ist’s nicht, mein guter Junge. Meine Frau und der Bub’ sind Stammgäste in einem Milchkeller der Friedrichstraße. Na, und ich nähre mich von der Hoffnung. Hast Du einen Bleistift? Einen Moment, ich sehe, ich habe mich da verthan.“ Er trat mit der Rolle an den Schreibtisch und begann, mit einigen markigen Strichen an einer Stelle der Zeichnung zu verbessern. „Solltest übrigens den Bub’ sehen, wie er dabei gedeiht! Prächtig, sag ich Dir!“
„Deine Frau ist ein Engel!“ rief Walther mit anzüglicher Betonung.
„Ich habe Alles versucht, um mir vor der Hand ein Unterkommen zu schaffen. Vergebens! Ich bin kein Handlanger. Ich werfe mich nicht weg. Ich weiß, was ich kann und leiste. Ihr werdet sehen, daß ich durchdringe. Ich habe neue Aussicht für meinen Aspirator: Jemand, der den Vertrieb für Australien übernehmen will. Es handelt sich um die Herstellung des verbesserten Modells. Ich habe, seitdem ich Dir ihn das letzte Mal erklärt, bedeutende Verbesserungen hinzugefügt. Wenn Du einmal sehen wolltest …“
„Ach, laß mich mit Deinen Hirngespinsten in Ruhe!“
„Ich bitte Dich, nur einen Blick hierher zu werfen. Willst Du mir den Gefallen nicht thun? Ich will auch Alles über mich ergehen lassen.“
Widerwillig trat Walther an den Tisch heran.
„Siehst Du, Walther, während ich früher die kalte Luft in der Richtung dieses punktirten Pfeiles ausströmen ließ …“
Und die Schleuse war geöffnet. Adolf redete sich in immer heißere Begeisterung hinein, um die Vorzüge seiner verbesserten Idee in ein glänzendes Licht zu setzen. „Es ist Alles so einfach, so handgreiflich, ein Kind muß es begreifen!“
„Weißt Du was, Adolf, beruhige Dich, laß es gut sein für heute,“ unterbrach ihn der gutmüthige Walther lachend. „Wenn ich nur endlich das erste kalte Lüftchen durch Deinen Aspirator strömen hörte!“
„Kommt schon, wird schon kommen!“ rief Adolf fast triumphirend aus der Zeichnung heraus.
„Da ist übrigeus Dein Essen. Mach Dir’s bequem und iß Dich vorerst satt. Das ist das Wichtigste. Und dann wirst Du mir nicht übel nehmen, wenn ich mich an meine Arbeit setze. Ich habe sehr viel zu thun.“
„Wie das Beefsteak duftet!“ sagte Adolf begeistert.
Es war gut, daß Walther sich am Tische mit seinen Papieren zu schaffen machte und nicht Zeuge des Heißhungers war, mit dem sein Bruder über die Speise herfiel. Aber gleich nach dem ersten Bissen forderte auch die „Idee“ schon wieder ihr Recht.
„Ich habe übrigens Aussicht, die Fabrikation des Aspirators selbst in die Hand zu bekommen. Ich hab’ heut Abend noch ein Rendez-vous (er hatte stets ein Rendez-vous in Aussicht), das die Fabrikangelegenheit betrifft. Eine Eismaschinenfabrik in der neuen Lindenstraße ist bankerott geworden, vielleicht gelingt es uns, den Plunder billig zu kriegen.“
„Vielleicht – vielleicht – und das ist die ganze Aussicht?“ unterbrach ihn Walther ärgerlich, ohne sich umzuwenden. „Nach dem, was Du Mama schreibst, sieht man den Schornstein Deiner famosen Fabrik schon dampfen. Ich denke, Du hast nicht einmal genug, um Dir den Luxus von einem Glas Bier zu verschaffen?!“
„Kommt schon, wird schon kommen!“ Kein Einwurf vermochte die Zuversicht des Erfinders zu erschüttern.
„Das Geld wird schon zur rechten Zeit da sein! Ist augenblicklich nur gerade ein unglücklicher Moment. Ich habe vor acht Tagen die Patentgebühr für Rußland erlegen müssen und das will viel sagen, sie halten dort Alle die Hand auf. Uebermorgen ist das für Italien fällig. Natürlich drängen sie im Hôtel, aber die Patente gehen vor, es ist mein größter Schade, wenn sie verfallen. Ich muß einen neuen Wechsel aufnehmen, und der alte muß prolongirt werden. Mein Aspirator ist das Vorzüglichste, was je in dieser Art erfunden wurde. Er wird, er muß in allen Spitälern, in allen Schulen, Fabriken und dergleichen eingeführt werden. Ich bekomme äberall Geld darauf, soviel ich will. Es wird schon Alles werden! Prosit, alter Junge!“
„Aber es ist wirklich und wahrhaftig nicht zum Anhören!“ brauste Walther auf. „Mensch, Du hast doch Weib und Kind. Du mußt doch auch an uns Alle denken und hast Rücksicht auf unsere Familie zu nehmen.“
Mit erregten Schritten maß er die Stube.
Adolf kaute in aller Ruhe an einem schwierigen Stück seines Beefsteaks, die beiden Brüder schienen ihr Temperament vertauscht zu haben. Endlich, den Bissen hinunterschluckend, die Hand abermals am Bierglas, sagte er mit dem gemessensten Ton: „Ich weiß ganz genau, was ich mir und meiner Familie und Euch Allen schuldig bin. Ich bin zwar kein angehender Moltke, aber ich werde dem Namen Eff dennoch keine Schande machen. Im Gegentheil, ich hoffe, daß ich ihn zu Ehren bringen, ihn bekannt, ja berühmt machen werde! Mein Aspirator allein, wenn er erst allgemein eingeführt sein wird …“ Da hielt er vor einer ungeduldigen Geste des Bruders inne. Und nach einer Pause: „Uebrigens, darf man wohl ein Wort mit Dir reden?“
„Bitte!“ klang es scharf und kurz.
„Du willst Dich verloben, Walther? Mama schreibt, Du wolltest Dich verloben. Ich habe es auch sonst gehört.“
„Von wem?“
„Von einem Herrn Perkisch. Ein Allerweltskerl. Man hat mich an ihn empfohlen. Er will meinen Aspirator in der Presse herausstreichen. Freilich, der horrible Preis, den er verlangt …“
„Und nun? Was ist?“ Walther schien die Mittheilung überhört zu haben. „Gewiß, ich liebe die Dame, und es ist möglich, daß ich das Glück habe, sie heimzuführen. Was soll's?“
„Ein Goldfisch, Walther, eine von den reichen Belzig’s. Ich gratulire Dir!“
„Ich dagegen muß mir jede Gratulation in dieser Beziehung ernstlich verbitten! Das Geld der Eltern übt keinen Einfluß auf meine Absichten.“
„Und warum hältst Du denn nicht gleich um das Mädchen an?“
[260] „Das hätte ich wohl schon gekonnt, aber ich wollte warten, bis ich zum Hauptmann avancirt und definitiv in den Generalstab versetzt bin.“
„Sie geben viel auf dergleichen, Deine zukünftigen Schwiegereltern. Es heißt, sie, die Frau Belzig, reservire ihre beiden Töchter für die Söhne Bismarck’s.“
„Laß die Scherze, Adolf! Sprechen wir von was Anderem!“
„Noch eine Frage. Ich muß wissen, wie ich daran bin. Wann wird Deine Versetzung in den Generalstab perfekt sein?“
„Warum? Sie kann jeden Tag heraus sein. Vielleicht kann es auch noch Monate dauern.“
„Und wenn das Andere, das, wovon Du nicht gerne sprichst – Du bist eben ein gelungener Kerl – auch heraus ist, darf ich dann auf Dich rechnen?“
„Wieso?“
„Nun, der betreffende Vater Deiner Erkorenen wäre doch im Stande, einem armen Kerl von Streber herauszuhelfen. Ich kann zwar anderweitig Geld bekommen, so viel ich will, mein Aspirator schlägt jede Konkurrenz; aber es wäre doch das Einfachste, es wäre das Natürlichste.“
„Ah, also das ist’s! Daher Dein Interesse an meiner Verlobung!“ lachte Walther.
„Nun, ich freue mich wirklich von Herzen auf meine schöne und liebenswürdige Schwägerin. Aber was wird sie mit einem Schwager anfangen, der sich von Milch und Hoffnung ernährt?“
„Sehr gut! Also darauf reducirt sich die ganze Aussicht, Deine Fabrik zu gründen! Wenn ich nun einen Abfall erlebe?“
„Nicht möglich!“ rief Adolf.
„Ich danke für Deine Zuversicht,“ lächelte Walther. Seine Liebe zu Melitta und Melitta's Liebe zu ihm war so felsenstark, daß sie alle Hindernisse, wenn es solche gäbe, siegreich überwinden mußte! Und in dem freudigen Bewußtsein dieser Stärke klopfte er auf Adolfs Schulter. „Nun, sei nur ruhig. Vielleicht bringen wir dann Deinen Aspirator auch noch durch.“
„Du bist ein guter Bursch, Walther, und Du befreist mich von einer großen Sorge. Diese Wechsel sind entsetzlich. Würdest Du mir bis dahin Bürgschaft leisten?“
„Gewiß, recht gern,“ antwortete Walther zögernd, „aber ohne die Klausel ‚bis dahin‘. Es wird sich Alles finden. A propos, Du bist in augenblicklicher Verlegenheit?“
„Ich muß Papier zum Zeichnen und Petroleum für die Lampe haben. Wir brauchen viel von letzterem; selbst am Mittag kann man in unserem Verließ Nichts sehen ohne Licht. Und der Hallunke von Wirth will auch das Petroleum nicht einmal mehr liefern.“
„Schon gut, schon gut.“
Ein paar Minuten darauf empfahl sich Adolf, mit Geld für Papier und Petroleum, und auch wohl mit bedeutend mehr versehen.
„Du bist ein guter Junge, Du bist ein famoser Junge, Walther!“ Und er schlug jenem zum Abschied liebkosend auf die Schulter. „Na warte, wenn erst mein Aspirator …“
Die zuschnappende Thür schnitt das Wort ab.
Walther schüttelte mit einem bedauerlichen Lächeln den Kopf. Bald darauf saß er tief in seinen Zahlen. Bis in die zweite Morgenstunde hinein instradirte er Bataillone, Schwadronen und Batterien, ließ er Züge nach der Grenze abgehen und zurückkommen und die leeren wieder von Neuem beladen, richtete er Frühstücksstationen ein und sorgte für Trinkgelegenheiten. Hier und da huschte der Gedanke an Melitta heran und gaukelte über dem unabsehbaren Gewirr der Zahlen wie ein Schmetterling über einem sonnigen Blumenfeld. Aber nur wenige Minuten lang duldete er das süße Gegaukel. Hing doch von dem kleinen Versehen einer ungenauen Abfahrtszeit die Brauchbarkeit des ganzen Planes ab, vielleicht konnte dies Versehen die Rechtzeitigkeit des strategischen Aufmarsches in Frage stellen – vielleicht konnte damit die erste Offensive verzögert werden. Nicht am wenigsten verdankt Preußen einen Theil seiner Erfolge der erstaunlichen Korrektheit seiner Mobilmachungsfahrpläne.
Nichts Einladenderes, nichts Freundlicheres als der gedeckte Tisch des Hauses Belzig. Er schien gleichsam das Glück des Hauses darzustellen; so strahlte, so schimmerte, so glitzerte er. Im Kamin knisterte ein Feuer, und der Schein der Flammen huschte in lustigen Reflexen über das Geschirr und das Silber der Gedecke, ließ die schweren vergoldeten Rahmen der gemalten Stillleben mit ihren unmöglichen Riesenfrüchten aus dem traulichen Dämmer, das den Raum auch jetzt zur Stunde des Frühstücks einhüllte, hervorglänzen und rief in den stets etwas bebenden Krystallen des Kronleuchters ein lebhaftes Gaukelspiel von Lichtern hervor. Nur die kostbaren Rosen auf der Mitte des Tisches verschmähten solchen Flammengruß, und es war, als ginge besonders von dem stolzen hochgelben Marschall Niel eine besondere Gluth aus. Von der anderen Seite, durch das Pflanzenwerk, das sich an der Spiegelscheibe des einzigen Fensters mit den graziösen Kontouren japanischer Arabesken scharf abzeichnete, brach die Januarsonne in einzelnen Lichtstreifen herein. Es war eine so vornehme, so diskrete, durch den Frühdunst, der heute nicht weichen wollte, zum zartesten Rosa gedämpfte Sonne.
Doch die Tischgäste wollten sich noch immer nicht einstellen. Der überaus stattliche Friedrich, ein ehemaliger Gardist, der wegen des Effektes seines Eisernen Kreuzes und der Kriegsdenkmünzen die seine Livree schmückten, besonders gut bezahlt wurde und auch jüngst erst von Frau Belzig in seinem Lohn gesteigert worden war, erschien immer wieder hinter der Portière und umkreiste mit der ganzen majestätischen Gemessenheit seines lautlosen Schrittes den Tisch. Er hatte vier Gedecke aufgelegt, davon dienten zwei nur als Dekoration, denn die beiden jungen Damen waren nach der flüchtigen Näscherei eines Imbisses früh schon nach der Eisbahn geeilt, um den herrlichen Frosttag auszunutzen. Jetzt hielt Friedrich vor dem Kamin, und die Flammengluth vergoldete das wundervolle Kunstwerk seiner weißen Kravatte und die rasirte bronzenartige Glätte seines Diplomatengesichtes. Friedrich lauschte nie, sonst hätte er dem Geknatter des Feuers zum Trotz die sonore Stimme von Frau Belzig hören können, die, wenngleich durch eine Thür gedämpft, aus einem der hinteren Zimmer herüberschallte, aber er lauschte nie, er war zu vornehm dazu. Jene Stimme sprach in hoher Erregung, durch kurze Pausen unterbrochen – vermuthlich kam „der Alte“, um die Nomenklatur der Dienstboten anzuwenden, während dieser Pausen zu Wort; aber von seinem trockenen, klanglosen, vorsichtigen Organ drang kein Laut durch die Thür.
Es war nicht Alles wie sonst! Es war etwas im Anzuge, das die Physiognomie des Hauses gewaltig verändern mußte. Ungefähr vor anderthalb Stunden, als die beiden jungen Damen eben das Haus verlassen, war Graf Nachewski erschienen, weniger nonchalant, weniger müde als sonst, fast feierlich. Natürlich hatte Friedrich dies besonders zu bemerken nicht der Mühe werth gefunden, er hätte ja, wenn er gewollt, einen Vergleich zwischen dem auffallend schäbigen Pelz des Grafen und dem herrlichen Bären anstellen können, der die begehrte Kostbarkeit seiner eigenen Gestalt so imposant auf dem Kutschbock zu drapiren pflegte. Die Unterredung mit der Herrschaft hatte eine Viertelstunde gedauert, und nun sah es fast aus, als empfände der Besitzer des Pelzes eine gewisse Verachtung für das heruntergekommene Ding und als sagte ein verhaltener Triumph in seiner Miene, daß es nun überhaupt vorbei sei mit aller Schäbigkeit und daß man nun getrost diesen Pelz den Motten überantworten könne.
Kurz nachher war Lieutenant Eff erschienen – o Pardon, Hauptmann Eff! Friedrich war natürlich durch die neue funkelnde Generalstabsuniform des Ankömmlings nicht überrascht worden, und er hatte sofort die Doppelsterne auf den Epauletten bemerkt. Man hätte sich erlauben können, zu diesem Avancement zu gratuliren; denn das leutselige und zugleich vornehme Wesen dieses Officiers war dem früheren Soldaten besonders sympathisch. Aber er begnügte sich nur, das „Herr Hauptmann!“ mit Nachdruck zu betonen.
„Wollen Sie mich Herrn Belzig melden!“ Auch hier ein so feierlicher Ton der eine innere Aufregung zu bemänteln hatte.
Gewiß, es lag etwas in der Luft; es mußte Derartiges eintreffen! Der Graf mußte um Fräulein Lolo, und Hauptmann Eff mußte um Fräulein Melitta anhalten. Aber Beide auf einmal? Etwas viel auf einen Tag! Sie haben sich doch nicht etwa verabredet? Was für Chancen diese Leute haben! Ein Graf und Einer vom Generalstab! Doch keine Glossen, Friedrich!
Plötzlich ward der Diener durch das hastige Oeffnen einer Thür aus der Betrachtung des Kaminfeuers gerissen. Laut, im gereizten, fast kreischenden Ton platzte die Stimme von Frau Belzig herein: „Für den Grafen ja! für Eff nein!“
[261]
[262] Ein gewaltiges Rauschen und Rascheln von Kleidern folgte diesem Kriegsruf. Ja, er klang wie ein solcher.
Friedrich war sofort wie hinweggehext. Als er gleich darauf mit den Bouillontassen erschien, zeigte sein linkes Auge eine leichte Verkleinerung. Diese Verkleinerung pflegte sich bei ihm einzustellen, wenn stürmische Krisen die herrschaftliche Atmosphäre aus dem Gleichgewicht brachten.
Während des Entrées herrschte völliges Schweigen. Das Gewitter zuckte in stummen wetterleuchtenden Blitzen auf. Frau Belzig hatte offenbar ihr „letztes Wort“ gesprochen, doch pflegte diesem letzten noch eine tagelange Fluth allerletzter Worte zu folgen. Und der „Herr des Hauses“ war jedenfalls mehr denn je von der Angst besessen, daß ihm die Aufregung gerade jetzt, in der Höhe seiner Brunnenkur, einen verhängnißvollen Schaden zufügen könnte.
Endlich unterdrückte er diese Angst und, die Gabel voll junger Erbschen, die kurgemäß besonders für ihn zubereitet waren, in der halberhobenen Linken, den Blick auf den winzigen Wiederschein des Fensters an der Weinkaraffe gerichtet, sagte er:
„Was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig, und ich. dächte, wenn man die Beiden abwöge …“
„Weiß ich, weiß ich ganz genau, brauchst Du mir erst nicht gar aus einander zu setzen,“ fuhr Frau Belzig in seine Worte. Sie athmete auf – Gottlob, daß dies stumme Wetterleuchten ein Ende hatte!
„Ich weiß so gut wie Du, Otto (sie nannte ihn nur selten bei seinem Vornamen), daß ‚er‘ mit Schulden gespickt ist und daß wir tüchtig werden bluten müssen.“
Sie meinte natürlich den Grafen; sie war so voll von diesem „er“, daß alles Andere hinter der kleinen Silbe verschwand.
„Das gehört übrigens der Vergangenheit, und es geht uns eigentlich Nichts an. Das Bischen Schulden wird uns nicht umbringen. Wir werden ihm nichts nachtragen. Junge Leute sind leicht, und solche Namen sind allerlei Gefahren ausgesetzt! Wir sind eben in der Lage, uns solch’ einen kostbaren Schwiegersohn anzuschaffen. Wir können es und werden es. Er hat übrigens bewiesen, daß er im Stande ist, Vergangenes wieder gut zu machen, sonst hätte er nicht seit drei Jahren wie ein Einsiedler auf seinem Vorwerk gesessen und Gänse gemästet. Er ist ein Charakter so gut wie ein Anderer.“
„Es blieb ihm einfach nichts übrig, wenn er es nicht vorzog, bei anderen Leuten Holz zu hauen,“ unterbrach sie Belzig trocken, aber immer, ohne seine Frau anzusehen.
„Es ist nicht zu glauben, wie Du redest,“ brauste diese auf. „Du hast keinen Respekt, Du hast keinen Verstand, Du hast keinen Ehrgeiz! Das kommt von Deinen Demokratenblättern, die Du liesest. Aber gerade diese Schreier sind die ersten, die, wenn es darauf ankommt, sich vor einem Namen oder Titel bücken. Der Name ist das Einzige, was bleibt. Dein Geld kann Dir jeden Augenblick mit einem Krach auffliegen. Aber ein Name ist sicher vor Dieben und Motten.“
Für sich schaltete sie ein: „Die Schulze und Lehmann mögen Biederleute sein, und ich verkehre ganz gern mit ihnen, aber für meine Töchter – Hand davon! sag’ ich.“ Und wieder laut: „Ich bleib’ dabei, für den Grafen ja! für den Eff nein!“
„Du hast übrigens ganz vergessen, zum Generalstab zu gratuliren, Bella,“ sagte der Unzerreißbare mit einer Ruhe und Langsamkeit, die bestimmt schienen, jene zu reizen. Gleich hinterher aber, auffahrend gegen den Diener gewandt:
„Friedrich, sagen Sie doch in der Küche, ob es denn wirklich nicht möglich ist, die Koteletts magerer zu bereiten. Wie oft soll man es denn befehlen!“
„Paperla –“
Frau Belzig mißhandelte eben mit dem Messer eines von den gesundheitsmörderischen Koteletts.
Generalstab hin, Generalstab her! Wer hat in solchen Momenten Lust, an Lappalien zu denken! Gewiß. ich habe Nichts gegen diesen – Eff.“ Der Name schien ihr jedesmal Schwierigkeiten in der Kehle zu machen. „Er ist mir lieb als Gesellschafter, ich achte ihn hoch als Charakter. Ich weiß, Melitta könnte nicht besser aufgehoben sein. Aber – Eff! Ich bitte Dich – Eff! Und nun erst Frau Eff! Ich sage es gerade heraus, ich habe eine unüberwindliche Antipathie gegen den Namen. Aber selbst als General Eff, als Excellenz Eff – man wird ihn natürlich als Excellenz nicht so blank herumlaufen lassen – aber selbst eine Excellenz von Eff – ich kann nicht anders: der Name ist mir einfach entsetzlich, er ist mir ein Gräuel; er macht mich nervös, und wenn Du nicht willst, daß ich krank werde, so laß mich damit in Ruhe!“
Sie prustete vor Erregung, und das Messer in ihrer fleischigen, mit tiefen Grübchen gezeichneten Hand klirrte laut auf dem Messerbänkchen.
Herr Belzig war wider Erwarten zähe: „Ich dächte doch,“ sagte er, die einzelnen Theile seiner Sätze durch eine gesteigerte Thätigkeit im Kauen und Schlucken unterbrechend, als wollte er sich dadurch Muth machen – „ich dächte doch, wir wären schließlich so situirt – daß wir unsere Töchter – nach ihrem Herzen wählen lassen könnten. Und wenn Melitta das – Unglück gehabt, sich in den Besitzer – solch häßlichen Namens zu – verlieben –“
Friedrich nahte eben mit dem nächsten Gang, und Belzig hielt vorsichtig inne. Seine Frau aber vermochte nicht abzuwarten, bis der Gang servirt war. Vor einem ihrer Blitzesblicke verwehte Friedrich.
„Glück – Unglück! Glück und Unglück sind Begriffe!“ rief Frau Belzig. „Wir wissen, was für eine Art Glück für unsere Kinder paßt. Man will weder Lo noch Litta einen Mann aufzwingen, den sie nicht leiden können. Auch soll dieser – Eff! nicht ein- für allemal abgewiesen werden. Man wird ihn schon acceptiren – nur nicht so wie er ist. Ich bitte Dich – Eff! Es geht wirklich nicht, es ist unmöglich! Mag er doch sehen, wie er den Namen embellirt.“
Belzig blickte mit einem Ruck auf.
„Nun so, warum soll man nicht davon reden? Mag er sich doch umtaufen lassen! Was ist an einem Namen gelegen?“
Die Spur eines feinen Lächelns, die das graue Guttapercha von Belzig’s Hypochondergesicht belebte, deutete doch nicht etwa auf den Widerspruch hin: vorhin war der Name Alles und jetzt ist er Nichts?
Sofort schlug sie den Versuch eines solchen Hinweises mit dem entrüsteten Ausruf nieder:
„Eff ist überhaupt kein Name! Ich vergebe meine Tochter nicht an einen Buchstaben!“
Er nickte mit einem ironischen Schmunzeln in den Teller hinein.
„Du scheinst nicht zu verstehen, Belzig! Man muß Dir mit dem Scheunenthor winken. Als wenn nicht die schönste Gelegenheit vorhanden wäre! Da ist doch unser Oberstlieutnant. Er wird sich glücklich schätzen, seinen Namen abzugeben und jeder Andere als dieser Hartkopf von einem Eff, der so thut, als verstände er nicht, würde glücklich sein, einen solch hübschen Namen einzustreichen.“
„Du willst doch nicht, daß wir uns lächerlich machen sollen, Bella!“
„Das zu verhüten kannst Du getrost mir überlassen!“ Sie sprühte und funkelte.
„Eff ist ein Ehrenmann, er ist ein Kavalier durch und durch. Er wird sich auf solche Scherze nicht einlassen.“
„So liebt er Melitta nicht!“ dekretirte sie. „So soll er sie nicht haben! Was, er sollte nicht einmal das Bischen Opfer bringen können? Uebrigens, was steht da wider den Ehrenmann und Kavalier? Natürlich, Deine Demokratenblätter wissen das am besten! Uebrigens,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, die der Wirkung ihrer Worte gewidmet war, „kann die Sache auf die denkbar einfachste Weise angefaßt werden. Lolo ist die Aelteste; es ist selbstverständlich, daß ihr der Vorrang gebührt. Man giebt nicht beide Töchter, unsere einzigen Kinder, auf einmal weg. Melitta ist erst achtzehn Jahre alt. Man kann warten und sich gefälligst gedulden. Monsieur Eff wird sich dann besinnen müssen. Einstweilen muß es dabei bleiben: für den Grafen ja! für Eff nein! – Friedrich, noch eine Flasche Apollinaris!“
„Wenn nun aber Lo für den Grafen – nein! sagt?“ Es schien ihm eine Herzensfreude zu machen, mit dieser Bemerkung das ganze Netz ihrer Pläne zu zerschneiden.
„Ah!“ – Es war ein Unsinn, das anzunehmen. Es war nicht denkbar. Sie hielt es nicht der Mühe werth, dagegen etwas einzuwenden.
Da klingelte es zweimal rasch hinter einander im Flur. Es waren die Beiden; der elektrische Apparat schien noch einmal so fröhlich unter dem Druck solcher Finger zu arbeiten.
„Sie sind es, Belzig. Du wirst Lolo in Kenntniß setzen, ich werde Melitta auf mich nehmen – das arme, gute Kind!“ [263] setzte Frau Belzig mit einem Seufzer hinzu, der aus einer reservirten Ecke ihres Mutterherzens zu kommen schien. „Friedrich, meinen Kaffee in das rothe Boudoir!“
Die Verkleinerung des linken Auges hatte bei Friedrich nunmehr ihren höchsten Grad erreicht.
Gleich darauf erscholl im Nebenzimmer das laut krächzende Gelächter des Papageis. „N’tag, Hans! N’tag, Hansi!“ riefen die lachenden Mädchenstimmen. Der Vogel stellte sich ganz ungeberdig, und der ganze Käfig wankte und schwankte unter der Freudenwuth seiner Sprünge. Ein Fältchen der Ungeduld zog sich zwischen Frau Belzig’s energischen schwarzen Brauen zusammen; das Gelächter und die Fröhlichkeit fiel ihr wie ein Vorwurf aufs Herz, und Solches paßte durchaus nicht in die Situation.
Dann, in dem breiten Rahmen der Schiebethür, die Friedrich lautlos aus einander gleiten ließ, erschienen Lo und Melitta. Es war wie die Wirkung eines Sonnenscheins, der jubelnd aus dem Regengrau der Wolken bricht: alle die Tümpel und Pfützen der schlammigen Landstraße wie Goldplatten erglänzend und die häßliche Oede der versumpften Landstrecken zu farbiger Heiterkeit verklärt.
Ein paar Augenblicke hielten die beiden Gestalten in der Thür, als gälte es, den Eltern dort am Tische mit dem Bilde ihrer Erscheinung eine Freude zu bereiten. Das mit kostbarem Pelz verbrämte Eiskostüm kleidete sie „zum Entzücken“ – oft genug, während sie über die mit feinem weißen Krystallstaub bedeckte Fläche dahinsausten, war ihnen das Wort mit anderen Rufen der Bewunderung an den Köpfen vorbeigehuscht. Sie waren noch in der hellen Begeisterung des herrlichen Sportes, ihre Gesichter mit blühender Röthe bedeckt und die dunkelrothen Lippen halb geöffnet von der Erregung des Athmens; ihr ganzes Wesen in Leben und Bewegung. Ein so würziger Hauch stählender Winterkälte wehte von ihnen aus.
„Was? noch bei Tische?“ rief Melitta.
„Wie könnt Ihr nur in der häßlichen Stube sitzen!“ rief Lo zu gleicher Zeit. „Ein Verbrechen, nicht draußen zu sein! Alle Welt ist draußen!“
„Ihr habt keine Ahnung, wie herrlich es ist!“
„Ganz wundervoll! – Wir kommen wohl viel zu früh? Wie schade!“
Es war zum Nachmittag ein gemeinsamer Besuch angesetzt worden; eine wichtige Nothwendigkeit. Was sollen die Leute denken, wenn man sich nicht bald blicken läßt! Diese Leute waren aber auch nichts Gewöhnlicheres als eine aktive Generalsfamilie.
„Es wird heute leider nichts aus dem Besuch, Ihr dürft ruhig ablegen,“ sagte Frau Belzig, mit der unbefangensten Miene in der Fruchtschale suchend.
„O, da hätten wir wohl noch bleiben können?“
„Nein, es ist gut, daß Ihr da seid – Papa und ich haben mit Euch zu sprechen.“
Es klang so schwer, so feierlich, fast streng. Plötzlich, mit einer nachdrücklichen Gebärde, preßte Frau Belzig die Serviette auf den Tisch, stand auf und legte ihre Arme, die so rundlich von der enganschließenden Seide umspannt waren, um die Taillen der beiden Mädchen. „Nun, seid Ihr auch nicht zu echauffirt? Seid Ihr auch nicht zu wild gewesen?“ Es war gar kein Uebergang von jener Feierlichkeit zu diesem besorgt zärtlichen Ton. Ihre weiche, warme Hand strich ihnen nach einander uber das Oval der Wangen. „Ich stehe immer eine Todesangst aus, und ich bin wie erlöst, wenn Ihr zurück seid.“
„Du kleine närrische Mama!“ lachte Lolo. Und sie umschlang den Nacken der Mutter und bedeckte deren Wangen mit ein paar herzigen Küssen.
„Du erstickst mich noch, Du Wilde!“ rief Frau Belzig, etwas erzwungen lachend und sich wohlig unter der Liebkosung hin- und herwindend. Dann mit neckischer Gewaltsamkeit löste sie sich aus den Fesseln von Lolo’s Armen, und nun fiel sie mit einem seltsam stürmischen Ausdruck uber Melitta her, deren Hand in den beiden streichelnden Händen des Vaters geruht hatte. – Was war den Eltern beiden? Melitta schrak fast zurück vor dieser Heftigkeit.
„Komm her, Du bist mein gutes, braves Kind, nicht wahr?“
Melitta’s ahnungslose Braunaugen forschten verwundert in dem Antlitz der Mutter. Warum wich ihr diese mit den Blicken aus, während ihre Worte so auf sie einstürmten? Warum die Gezwungenheit ihres Lächelns? Was war geschehen? Ein plötzlicher unerklärlicher Schreck krampfte ihr Herz zusammen.
Welch eine Thorheit! Was sollte, was konnte Böses von dieser Seite drohen? Doch in einer Vorahnung, daß sie vielleicht zum letzten Mal Schutz zu suchen hätte an dem Herzen ihrer Mutter fügte sie sich hingebend in deren Liebkosung. „Liebe Mama …“
Die ganze Scene sah ja fast wie ein Abschied zu einer längeren Reise aus.
„Ihr werdet kalt sein. Ihr werdet nach Eurem Thee verlangen. Friedrich, den Samowar in die rothe Stube!“ befahl Frau Belzig.
Sie hatte ihre Fassung wiedererlangt. Durfte ihr Gewissen nicht in ungetrübter Reinheit strahlen? Und sie reckte sich auch körperlich aus der Enge ihres Mieders heraus. Wie ihr die süßen Wesen ins Herz gewachsen sind! Wie sie ja keinen andern Gedanken hat, als das Glück und das Wohl ihrer Lieblinge!
„Kommt!“ Und die Arme abermals um die Taillen ihrer Beiden geschlungen, rauschte sie mit ihnen davon, nach der rothen Stube hin. –
Die rothe Stube … es klingt fast ominös. So pflegt in einem mit Geheimnissen und Furchterlichkeiteu gefüllten Kolportageroman irgend ein Kapitel überschrieben zu werden, in dem das Blut eines unschuldigen Opfers fließen wird.
Bah, nur eine kleine Operation, die an Melitta’s Herzen vorgenommen werden muß. Mit ein paar Thränen ist Alles erledigt.
Die Münchener Künstlergesellschaft „Allotria“ und ihr Heim.
Dort, wo in München der Karls- und Maximiliansplatz und eine Reihe Straßen auf einander treffen, fesselt ein reiches und mannigfaltiges Städtebild das Auge des Beschauers: überall große, unregelmäßig gestaltete Plätze mit reichen Baumanlagen, über welchen sich hochgegiebelte Häuser in allen erdenklichen Stilarten erheben; nirgends einförmige Straßenfronten, sondern malerisch durch einander geschobene Linien, von Bäumen durchschnitten. Der Lärm des nahegelegenen Bahnhofviertels, schlägt noch ans Ohr. Dort schimmert der farbenreiche Giebel des Hôtel Bellevue mit seiner mittelalterlichen Erscheinung; näher ladet das klassische Portal des botanischen Gartens in seinen grünen Frieden; gegenüber erhebt sich in düsterem Ernste der Neubau der Synagoge. Mehr landschaftlich als architektonisch gegliedert liegt das Ganze vor uns.
Und mitten in diesem reichen und offenen Bilde zeigt sich ein Stückchen Stadt, das wie aus einem längstverwichenen Jahrhundert da liegen geblieben ist. In den modernen Platz ist ein kleines Thälchen eingeschnitten, das aus dem Innersten der Stadt zu kommen scheint. Zwischen räthselhaften verworrenen Häusermassen fließt ein Bach durch dieses Thälchen, welches an beiden Seiten mit altersgrauen Ruinen eingesäumt ist. Ueber ihnen aber erhebt sich dunkel und dräuend ein letzter Rest der längst niedergelegten alten Stadtmauer, an welchen sich Gerümpel der verwegensten Art schutzbedürftig anlehnt.
In den geheimnißvollen Tiefen dieser Stadtmauer ist es, wo die Münchener Künstlergesellschaft „Allotria“ ihr Heim aufgeschlagen hat. Keinen malerischeren Winkel hätten die Maler in der ganzen Stadt finden können, als diesen. Durch eine hölzerne Wand tritt man da zunächst in einen kleinen Garten, von dessen Rand aus man in jenes Thälchen mit seinem Bache, seinen Wiesen, seinen Hollunderbäumen und seinem Gerümpel hinunterschaut. Aus diesem Garten geht’s durch einen schmalen Gang in die Gesellschaftsräume, welche in die labyrinthischen Tiefen der Stadtmauer eingelassen sind. Der Geist des frühesten Mittelalters umweht Einen hier gleichzeitig mit dem der Gothik, der Renaissance, des Zopfes und der Gegenwart. Durch ein kleines Vorzimmer gelangt man
[264]in den hochgewölbten Saal, über eine breite Treppe hinansteigend. Die Portale sind mit Skulpturen geschmückt, welche aus den Tagen der Karolinger zu stammen scheinen; das Licht fällt geisterhaft aus der Höhe durch winzige, von romanischen Säulchen getragene Fenster. Gleich rechts von dem massiven Pfeiler, welcher das Eingangsportal und den über demselben befindlichen Balkon trägt, befindet sich die „Palmenecke“, eine aus riesenhaften getrockneten Palmzweigen und anderen exotischen Pflanzenleichen gebildete Laube, aus welcher man den ganzen Raum überschaut. In der Tiefe dieses Raumes zieht sich dickes Gebälk, auf welchem barocke, holzgeschnitzte Genien mit verblaßten Farben prunken, quer durch den Saal, den Feuerraum abschließend. Vor dem Ofen hängt an schier armdicken Ketten ein riesiger schwarzer Kessel, der scheinbar die Bestimmung hat, eine Abendsuppe für eine Gesellschaft von Riesen zu kochen. Unheimlich funkelt der Wiederschein des Feuers auf den Eisenwänden dieses Gefäßes. Aber die Bildergalerie an der Wand, die von den Portalen schwer herabhangenden orientalischen Vorhänge, die behaglichen Tische und Stühle und ein hochmoderner Salonflügel zeugen doch von der Gesittung und dem Kunstsinne Derjenigen, die in diesem Raume schalten. Man kann sich kaum einen packenderen Gegensatz denken, als den zwischen diesem zartbesaiteten Instrumente und dem von berußten Fischnetzen umhängten ungeheuerlichen Kaminmantel mit seinem Kessel darunter. Während der Kessel Hexenzauber zu summen scheint, meint man aus dem Flügel noch die leisen Nachklänge jener zauberhaften Melodien zu vernehmen, die vielleicht am verwichenen Abend erst durch Meisterhände ihm entlockt wurden.
Ueber dem Saale, wie der Chor einer Kirche durch Vorhänge abgeschlossen, befindet sich noch ein dritter Raum, ein kleines Sitzungszimmer mit einer höchst sehenswerthen Galerie, aus Bildern bestehend, die der Gesellschaft zum Geschenke gemacht wurden.
Der für seine Münchener Heimath viel zu früh aus dem Leben geschiedene Bildhauer Gedon war es, dessen Zauberhände diese in ihrer Art einzigen Räume geschaffen haben. Fast aus einem Nichts entstanden sie unter der alten Stadtmauer, und des Schöpfers ganze Phantastik und Laune spiegelt sich in ihnen.
Die „Allotria“ selbst, welche diese Räume ihr Heim nennt, ist unter den Münchener Künstlergesellschaften wohl diejenige, in welcher am meisten Lebensenergie pulsirt. Vor langen Jahren erstand sie als eine Gesellschaft der Opposition und erhielt auch ihren Namen davon, daß man ihren damals jugendlichen Feuerköpfen von Seite älterer Künstler vorgeworfen hatte, sie trieben allerlei Allotria. Jene Feuerköpfe aber verstanden es, dieses Tadelwort in ehrendes Lob umzuwandeln. Denn seit mehr als einem Jahrzehnt standen, wo immer in München auf dem Gebiete der Kunst Großes und Eigenartiges geschaffen wurde, stets die Bürger der „Allotria“ in erster Linie. Aus dem Hexenkessel, der vor dem Ofen ihres Trinksaals hängt, stiegen in unerschöpflicher Folge Gedanken von höchstem künstlerischem Reichthum auf und wurden zu Kunstwerken und zu farbenreichen Festen. Was die Bürger der Allotria, jeder für sich, in ihren Ateliers geschaffen haben, das beweist die Münchener Kunst heute noch und hoffentlich noch lang dem Kunstsinn der gesitteten Welt. Wie sie aber neben dem Ernste ihrer Arbeit auch die übermüthigste Lebensfreude in sich tragen: davon zeugen ihre Künstlerfeste, ihre Kostümbälle und ihre Kneipzeitung. Letztere, in zwanglosen Heften erscheinend, enthält unschätzbare Meisterwerke der Karikatur, von launigen Versen begleitet. Die Allotria hat ihren eigenen Dichter und ihre eigenen Musiker, so daß alle Künste in ihr eine Heimstätte haben. Nur das Ballett fehlt – vielleicht … vielleicht; denn der Allotria ist nichts zu schwer.
Das größte der heutigen Bilder der „Gartenlaube“ (S. 261) zeigt den Trinksaal der Allotria mit besetzten Tischen. Die bärtigen Männer mit den Charakterköpfcn sind Portraits; ihre Namen zu nennen, verbietet uns die Rücksicht auf die Gesellschaft; doch daß es Künstler von Gottes Gnaden sind, dürfen wir verrathen; und daß Franz von Lenbach unter ihnen ist, der Mann im dunklen Rocke mit den großen runden Augengläsern, verrathen wir ebenfalls noch.
Ein Verhängniß lastet schwer und düster auf diesem phantastischen Tempel der Künstlerlaune. Der unerbittliche Geist der Neuzeit hobelt das Altehrwürdige vom Boden unserer Städte weg; und auch das Thälchen mit dem Bache und den Hollunderbäumen, auch der kleine Garten und die alte Stadtmauer mitsammt dem Heim der Allotria müssen diesem Hobel zum Opfer fallen. Ihr Dasein ist nur noch eine Gnadenfrist; das Thälchen wird in diesem Frühling zum letzten Male grünen; dann wird es ausgefüllt und der Bach überwölbt werden; die Stadtmauer niedergeworfen und an der Stelle dieser in den Erdboden und in die Vergessenheit versinkenden Landschaft wird sich ein neuer Prachtbau erheben.
Die Allotria wird wohl in dem neu zu erbauenden Künstlerhause eine Heimstätte erhalten, reicher und prächtiger als die unter der alten Stadtmauer, und der künstlerische Genius ihrer Mitglieder wird schaffen nach wie vor. Aber gewiß wird Mancher aus diesem Kreise nicht ohne Wehmuth zurückdenken an dieses poesiereiche Heim; an die flackernden Lichter, die in den Mitternächten um den Zauberkessel flogen, und an das Vogelgezwitscher, das an lauen Frühlingsabenden die Gäste in dem Gärtchen am Stadtgraben begrüßte. M. K.
Berlin am 22. März 1887.
Zweitausend Fackeln der Studirenden hatten geflammt durch die Nacht am 21. März, dem Vorfeiertage zu des greisen Kaiser Wilhelm’s neunzigstem Geburtstage. Und endlos war auch am folgenden Morgen die Zahl der Reiter und blumengeschmückten Wagen mit ihren Insassen im „Wichs“, und hoch hielten die Chargirten in ihren Händen die rothen, gelben und blauen Korps- und Burschenschaftsfahnen, die in die Luft hinausflatterten zur Ehre des in der Geschichte denkwürdigen Tages. – Es war gegen elf Uhr, als ich, den Equipagen und Stephan’s berittenen Postillonen folgend, meinen fast seit einer Stunde eingenommenen Standpunkt am Kupfergraben verließ. Ich schlug einen kürzeren Weg nach den Linden ein, um gleich den Uebrigen [265] mich nun hier aufzustellen und nach diesem lebhaften, farbenreichen, wahrhaft imposanten Bilde meinem Auge ein anderes, neues: das Massenbild der großartig stummen Huldigung vor dem Kaiserpalais, zu verschaffen.
Und in der That! Ein außerordentlicher Anblick bot sich mir, aber ich mußte auch längere Augenblicke eine mehr als beklemmende Unbequemlichkeit in den Kauf nehmen.
Als ich die Richtung nach der Universität nahm, eröffnete sich an der Frontseite noch ein verhältnißmäßig bequemer Durchgang. Als nun aber die letzten Wagen des Zuges vorüber waren, schob sich plötzlich der Menschenstrom zusammen, und es entstand ein furchtbares, für Schwache und Kinder lebensgefährliches Drängen.
Ich war froh, als ich den freien Platz wieder gewann, über den ich mich, den Linden hier ausweichend, nach der Ecke der Linden- und Friedrichstraße zu begeben beschloß. Hier fand ich zu meiner Befriedigung einen Omnibus und auf diesem einen noch unbesetzten Platz hoch oben. Da derselbe wegen der eingetretenen Stockung fast zehn Minuten Unter den Linden halten mußte, hatte ich Gelegenheit, gleichsam einen Blick aus der Vogelperspektive zu werfen über das ganze wogende Getriebe.
Vom Brandenburger Thor bis an das Schloß ein dichtes Meer von Menschen! Nicht eine Person schien mehr Platz zu finden, ganz Berlin sich hier zusammen gefunden zu haben. Und unter den Hunderttausenden die wundervollen Farben der Kostüme, das glitzernde Silber und Gold der Uniformen, Helme und Waffen und Blumengewinde, rothe Rosen, blaue Kornblumen, an den Häuserfaçaden reiche bunte Teppiche, Dekorationen, Fahnen in jeglichem Kolorit – und darüber das Licht, das goldene der Sonne, die Alles durchglänzte und verschönte und gleichsam mitwirken zu wollen schien bei dieser grandiosen Feier.
Und jetzt drangen, da eben die ersten Auffahrten für die Gratulation begannen, die brausenden Hochrufe zu mir herüber; wie ein aus Tönen bestehender gewaltiger Strom ging’s durch die Luft, verhallte oder hob, immer stärker und stärker anschwellend, von Neuem an.
Das Auge konnte nicht lassen von den wechselnden Bildern. Unter den Tausenden von Köpfen tauchten die Galawagen auf, die roth, blau und weiß schimmernden Livréen, die silbergeschirrten Pferde, die Kutscher mit den Dreieckhüten und den gepuderten Perücken.
Und jetzt Bewegung, Zuströmen, Weichen, Hälserecken, emporgehobene Hände! Immer neue Bilder dort und zu meinen Füßen: der Strom der Menschen, das Drängen, Schieben und Stoßen. Wagen, Equipagen, Tausende von Männern, Kinder, Frauen auf den breiten, dreifachgegliederten Linden, und in den Häusern aus den Fenstern, auf den Dächern und Vorsprüngen unzählige Menschen. Hüteschwenken und Taschentücherwehen, Hurrahs und Begeisterung! Und gleichsam als Grundton des Ganzen ein einziges murmelndes Geschwirre und Gesumme der sprechenden, fragenden, gestikulirenden und sich bewegenden Massen.
Nur einmal habe ich in Berlin etwas Aehnliches erlebt und gesehen, an dem Ehrentage des großen Kanzlers beim Fackelzug der Zehntausend, und doch bot auch an diesem Tage der Abend und die Nacht ein Bild von Berlin, das die Chronisten kommender Zeiten so gut verzeichnen werden, wie die große Huldigung selbst.
Berlin schwamm in einem Feuer- und Lichtmeer. Von den Spitzen der Häuser, Paläste, Kirchen und öffentlichen Gebäude fiel das Licht herab und ward aufgefangen von dem Licht. Von droben auf den Thürmen bot sich ein Anblick, als ob ganz Berlin brenne und der Wiederschein die Gestirne verdunkeln solle. Flammengarben züngelten, elektrische Sonnen sprühten ihre Ströme aus.
Das Portal der Reichsbank lag in einem Meer von blauen Sternen, und leichter Wind blies hindurch und rauschte eine seltsame Musik. Der Rathhausthurm wogte und leuchtete in dunkelrother Gluth. Das Brandenburger Thor stieg hell auf wie ein vom Mondschein umflutheter Tempel. An den beiden [266] Kirchthürmen auf dem Gendarmenmarkte hingen silberhelle elektrische Glocken, und die Häuser und monumentalen Bauten, das Kaiserpalais, die Akademie der Künste, das Denkmal Friedrich des Großen unter den Linden, die Gebäude der Friedrichstraße, der Leipzigerstraße, der großen nahegelegenen Plätze, der Voßstraße versanken in brennendem Licht und lichtvollen Farben.
Und in den Straßen, trotz des Regens, der gegen Nachmittag seine ersten Spuren zeigte, wälzte sich eine halbe Million Menschen. Die Stadtbahnhöfe glichen Jahrmarktsplätzen; das kam und ging und rief und stieß, und hoch oben brausten die Eisenbahnzüge vorüber, wie Schlangen mit hundert glühenden Augen, und drunten hielten stockend – wie am Alexanderplatz und an der Siegesallee – Tausende von Droschken, angefüllt mit Neugierigen.
Aber auch die großen und kleinen Straßen der Metropole hatten dieses strahlende Lichtgewand angelegt. Selbst aus dem kleinsten Keller drang ein Flämmchen hervor.
Und die unzähligen öffentlichen Lokale, die Restaurants, die Cafés, waren vollgepfropft mit Menschen; Korporationen, Gilden, Gesellschaften, Vereine feierten besondere Feste in den Hôtels, den Klubs und Gesellschaftshäusern. Die reichste Fülle des Frohsinns war über Berlin gekommen am 22. März 1887, und bis in die späte Nacht pilgerte die Bevölkerung zu des gefeierten Kaisers Palais, aus dessen Fenstern das Licht, das Gold und Roth der Tapeten, die glitzernden Flammen der Kandelaber in vornehmer Schönheit herausdrangen.
Und oft am Tage erschien der große, greise Held, umgeben oder soeben beglückwünscht von Fürsten und Herren des Hofstaats, – aufrecht, gütig, milde – nie ermüdet – ein erhabener Riese an Kraft und Frische – und freundlich herabgrüßend zu seinem Volke, das ihn, welcher Parteistellung auch angehörend, verehrt und bewundert wegen seiner ruhmvollen Thaten und großen menschlichen Tugenden!
Gründet billige Volksbäder!
Wo sind die Zeiten hin, da in Deutschland nicht nur größere Städte öffentliche Badeanstalten besaßen, sondern in fast jedem Dorfe sich eine öffentliche „Badstube“ befand und der Bader durch Trompetenschall auf den Straßen zum erfrischenden Bade die Einwohner einlud? Sitten und Gewohnheiten wechseln im Laufe der Jahrhunderte, und nicht immer ist bei diesen Wandlungen ein Fortschritt zum Besseren zu verzeichnen. Im Leben der Völker treten Katastrophen ein, welche auch die guten Errungenschaften vernichten, und eine solche Katastrophe bildete für das deutsche Volk der Dreißigjährige Krieg. Durch ihn wurde reicher Wohlstand zerstört, die Blüthe des Kunstgewerbes gebrochen; in seinen Wirren und Gräueln ging auch die althergebrachte Sitte des Badens zu Grunde.
Es kamen Jahrhunderte, in welchen es um die Pflege der Haut, eines der wichtigsten Organe unseres Körpers, traurig bestellt war, und der Rückschritt, den die Kultur auf diesem Gebiet damals gemacht hat, ist noch heute nicht eingeholt worden. Wohl sind in den letzten Jahrzehnten, Dank den Bemühungen gemeinnütziger Vereine und praktischer Unternehmer, unsere Großstädte mit Badeanstalten, Schwimmhallen etc. versehen worden; wohl sind in Folge ärztlicher Anregung zahllose Kurbäder in grünen Bergkesseln und am Strande der See aus dem Boden gewachsen, aber trotzdem können wir viele Meilen des platten Landes durchreisen, an den Wohnungen von Hunderttausenden vorübergehen, ohne eine Badeanstalt zu finden. Die Statistik des Badewesens in Deutschland enthüllt uns beschämende Thatsachen. Es giebt viele Kreise von 50000 und 60000 Einwohnern, in welchen nicht eine einzige Badeanstalt vorhanden ist!
Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, daß viele sonst in ihrer Kleidung reinliche Leute die Sitte des Badens nur vom Hörensagen kennen, daß man den Grundsatz aufstellen konnte: der Bauer badet nicht! In den warmen Sommermonaten ist der Uebelstand geringer; die klaren Flußläufe, die Seen und Teiche laden wohl zu erfrischendem Bade ein; aber dieses natürliche Bad kann in unserem rauhen Klima ohne Schädigung der Gesundheit nur in etwa einem Viertel des Jahres genossen werden; in der übrigen langen Zeit fehlt breiten Volksschichten jede oder mindestens jede genügende Badegelegenheit.
Es ist gewiß eine gerechte gesundheitliche Forderung, welche Dr. O. Lassar vor Kurzem in die Worte zusammenfaßte: „Jedem Deutschen wöchentlich ein Bad!“ In den weniger civilisirten Ländern des Orients ist dieselbe so gut wie erreicht, bei uns aber stellen sich ihr unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Damit jeder Einwohner eines Bezirkes, beispielsweise von 1000 Einwohnern, wöchentlich einmal warm baden könnte, müßte in demselben die Gelegenheit gegeben sein, jährlich 52000 Bäder zu verabreichen, und eine sachverständige Berechnung ergiebt, daß zur Erreichung dieses Zweckes für je 1000 Einwohner eine irgend wie eingerichtete Badeanstalt vorhanden sein müßte. Von diesem Ideal sind wir jedoch himmelweit entfernt. Mit Hilfe der Aerzte hat Dr. Lassar eine Statistik der Warmbäder in Deutschland zusammenzustellen versucht; die von ihm neuerdings veröffentlichten Daten beziehen sich auf 311/4 Millionen Einwohner des Reiches, und das Ergebniß der Erhebungen zeigt uns, daß wir auf 30000 Einwohner durchschnittlich nur eine Warmwasser-Bade-Anstalt besitzen!
Prüfen wir aber die Vertheilung dieser Zahl über die einzelnen Städte und Landstriche, so gelangen wir zu noch traurigeren Schlüssen: in zwei Dritteln des preußischen Königreiches muß sich die gesammte Landbevölkerung durchweg ohne jedwede öffentliche Badeanstalt behelfen; von den zur Statistik herangezogenen 338 Kreisen Preußens ist in 96 Kreisen, also 30 Procent, thatsächlich keine Badeanstalt vorhanden! Außerhalb Preußens aber entbehren 80 Kreise, das Wohnungsgebiet von 2,4 Millionen Menschen, jeder öffentlichen Bade-Einrichtung.
Daraus ist zu schließen, daß mindestens ein Sechstel der Einwohnerschaft des Reiches gänzlich außer Stande ist, jemals ein warmes Reinigungsbad zu nehmen. Dieser Ausspruch erleidet durch einen Hinweis auf etwa vorhandene Hausbäder nur geringe Einschränkung, denn schon in den besser situirten Familien dürften Bade-Einrichtungen zum seltenen Luxus in der Wohnungsausstattung zählen, und in den unteren Klassen wird man sie schwerlich finden können.
Kein Wunder, daß unter diesen Umständen das Badebedürfniß in den Volkskreisen nicht genügend empfunden wird. Dort, wo für Fabrikarbeiter von humanen Leitern besondere Badeanstalten gegründet wurden, verging stets eine geraume Zeit, bis die Leute die ihnen gebotene Wohlthat würdigen lernten. Das Volk muß so zu sagen erst zum Baden durch Belehrung herangezogen werden.
Die Volksschulen, in welchen jetzt hier und dort Schulbäder eingeführt wurden, sowie die Kasernen bilden in dieser Hinsicht treffliche Hebel zur Förderung dieser Bewegung auf dem Gebiete der Gesundheitspflege. Vor allen Dingen müssen aber ausreichende und billige Badegelegenheiten geschaffen werden.
[267] In der bereits eingeschlagenen Richtung, durch Gründung überdeckter Schwimmhallen und Wannenbäder, wird jedoch ein durchgreifender Erfolg kaum zu erreichen sein. Die Gründung derartiger Anstalten erfordert ziemlich beträchtliche Kapitalanlagen, welche für diesen Zweck nicht überall flüssig zu machen sind, und außerdem muß der in Deutschland augenblicklich bestehende Durchschnittspreis von 50 Pfennig für ein Warmbad anstandslos als für einen Arbeiter unerschwinglich erklärt werden, auch die Abonnementsermäßigungen kommen für ihn in Rücksicht auf die Höhe des von ihm zu leistenden Vorschusses außer Betracht. Die Ausnahmen, in welchen, Dank dem gemeinnützigen Sinne einzelner Bürger oder Städteverwaltungen, die Badepreise sich billiger stellen, sind so selten, daß man mit ihnen durchaus nicht rechnen kann.
Aus diesem Grunde muß man die Badeform ändern: statt des theuereren Wannenbades das billigere Brausebad einzuführen suchen.
Zu einem Brausebad, wenn es geradezu verschwenderisch bemessen wird, genügen nach den von Dr. Lassar angestellten Versuchen bei richtiger Beschaffenheit der Douchenöffnung höchstens 10 Liter Wasser. Man kann jedoch schon mit fünf Litern ganz gut auskommen. Das Wasser für ein Brausebad kostet demnach höchsteus 0,0015 Mark.[1] Zu einem Wannenbad aber braucht man 200 Liter, was einer Auslage von 3 Pfennig für Wasser gleichkommt. Bei einem Wasserpreise von 15 Pfennig für den Kubikmeter erhält man also für eine Mark das Wasser zu 666 Brausebädern, aber nur für 33 Wannenbäder.
Der Wasserverbrauch in einem Landkreise von 30000 Einwohnern, wenn diese je wöchentlich ein Bad nähmen würde bei Brausebädern einen Aufwand von 2340 Mark, bei Wannenbädern aber von 46800 Mark erfordern. Dabei ist noch in Betracht zu ziehen, daß auch die Gründungskosten einer Brausebad-Anstalt viel niedriger sind als diesenigen für eine Anstalt, in welcher Wannenbäder verabreicht werden.
Ein musterhaftes Volksbrausebad wurde schon im Jahre 1883 von Dr. Lassar in der Hygiene-Ausstellung in Berlin errichtet und praktisch erprobt. Dasselbe wurde an vielen Tagen von Hunderten von Personen benutzt.
Dem „Bericht über die allgemeine deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygiene und des Rettungswesens“, einem für den Fachmann höchst interessanten Werke, welches bei S. Schottländer in Breslau erschienen ist, entnehmen wir die Abbildungen auf S. 266, die Totalansicht und den Grundriß eines Lassar’schen Volksbrausebades.
Die ganze Anstalt besteht aus einem Wellblechhäuschen von etwa 40 Quadratmeter Grundfläche, das, in der Mitte längsgetheilt, eine Frauen- und eine Männerabtheilung mit je besonderem Straßeneingang, zehn Douchezellen, zwei Wasserklosetts, Vorraum, Korridore, Waschküche, Trocken- und Heizraum umfaßt. Sie erfordert so geringe Anlage- und Betriebskosten, daß in geschlossener Einzelzelle ein warmes und kaltes Regenbad mit Seife und Handtuch für 10 bis 15 Pfennig verabreicht werden kann. Die Herstellung dieses Bades in der Hygiene-Ausstellung hat einschließlich des Wellblechhauses 6300 Mark gekostet. Und dies war ein erster Versuch. Fabrikmäßige Beschaffung oder Benutzung vorhandener Räumlichkeiten würden die Kosten erheblich vermindern.
Derartige Anstalten eignen sich vortrefflich für Schulen, Kasernen, Turnhallen, Asyle und Fabriken, sie können an Eisenbahnstationen, Marktplätzen, an den Knotenpunkten des Verkehrs errichtet werden. Durch sie kann in jedem Stadtviertel eine billige Badegelegenheit geboten werden, während jetzt schon der weite Weg zu einer Bade-Anstalt Viele vom Baden abhält.
Wasser belebt die Landschaft, das ist richtig; in unseren Städten errichtet man darum Monumentalbauten, welche viele Tausende kosten, und es ist herrlich anzuchauen, wie all die Delphine, Tritone und Hippokampen das klare Wasser hervorsprudeln lassen. Dieser Wasserkultus ist entschieden zu loben, er erfreut das Auge. Aber der städtische Kunstfreund sollte mit dem Volksarzt Hand in Hand gehen, und dieser meint, daß unsere Haut noch dringender des Wassers bedarf als unser Auge.
Gründet also Volksbrausebäder! Dieser Ruf ergeht nicht allein an die edeldenkenden Menschen, welche durch gemeinnützige Stiftungen das Wohl ihrer Mitbürger zu heben beabsichtigen, sondern auch an die Verwaltungen großer und kleiner Städte, an die deutschen Turner und an die Schulvorstände. In unserer Armee wird diese Neuerung bereits mit solchem Nachdruck durchgeführt, daß ein mahnendes Wort ihr gegenüber unnöthig wäre. Ihre Leitung mag in dieser Hinsicht anderen Vorständen als Muster dienen.
Denjenigen Lesern der „Gartenlaube“, welche die öffentlichen Bade-Anstalten nicht gern benutzen oder auf die Erfüllung all der schönen Zukunftsgedanken nicht allzu lange warten möchten, kann ich dagegen einen praktischen Fingerzeig geben, wie sie für wenige Mark des dauernden Segens eines Brausebades in ihrem eigenen Heim theilhaftig werden können.
In dem schon früher erwähnten Ausstellungsbericht ist auch eine einfache Douche des Herrn Pfarrer Lechler in Roßwälden (Württemberg) beschrieben, welche im vollsten Sinne des Wortes den Namen einer Volksdouche verdient. Die nebenstehenden Abbildungen erleichtern die Erklärung derselben.
D (Fig. 1) stellt ein Blechgefäß mit Brause dar, welches über die Rolle r auf- und abgelassen und bei t zum Wassereinfüllen, bei h zur Benutzung eingehängt werden kann. Wenn die Rolle nicht einfach in einen Deckenbalken oder in einen besonderen, an der senkrechten Wand befestigten Träger eingeschraubt werden kann, so ist ein Gestell ab, a’b’, a’’b’’ nöthig, welches durch die Querleisten c c’ c’’ und d d’ d’’ zusammengehalten wird. An dieser Lattenpyramide kann ein etwa gewünschter Vorhang bei d angebracht werden. Die Rolle r wird in das hartholzene Deckbrett a a’ a’’ eingeschraubt, etwas seitlich, damit das Seil im Mittelpunkt des Gestells herabhängt.
Fig. 2 zeigt den Durchschnitt des Blechgefäßes; p ist ein konisches Stöpselventil, welches in einer Oeffnung des etwas gewölbten Gefäßbodens sitzt. In eben diese Oeffnung ist eine kurze Blechhülse m eingelöthet; die Brause (von einer Gießkanne) n schließt sich über m ein und wird durch Bajonettverschluß festgehalten. Das Zugstängchen og geht durch die Mitte der Brause, in die Höhe gehalten läßt es dem Wasser den Lauf, losgelassen schließt es, satt einsitzend, bei p. Ein Unterstellgefäß ist nöthig, wo das Wasser nicht freien Ablauf hat. Das Douchegefäß sammt Seil und Rolle wird von Herrn Th. Kurfeß in Aalen, Württemberg, für 6 und 7 Mark gefertigt.
Mögen nun die billigen Brausebäder die weiteste Verbreitung finden und dazu beitragen, die Wasserscheu im Volke zu überwinden! Sie ist der Gesundheit nicht zuträglich und zeitigt manchmal recht sonderbare Blüthen. Ein Fall diene hier als Beispiel.
Es war in den siebziger Jahren, eine Kompagnie Soldaten sollte baden, am Flußufer steht ein kräftiger Bursche, der trotz aller energischen Aufforderung nicht ins Wasser will und zum Gelächter seiner Kameraden in die jammernden Worte ausbricht: „0 Mutter, Mutter, wenn Du wüßtest, was man mir anthut!“ Das Muttersöhnchen wurde dank der strammen Disciplin mit der Zeit ein tüchtiger Schwimmer. Es giebt aber noch immer viele derartige Muttersöhnchen, die zur Sitte des Badens erzogen werden müssen.
Und darum ist trotz der trefflichen Bade-Anstalten einiger Großstädte die Frage der Volksbäder immer noch eine brennende und der Ruf „Gründet Volksbäder!“ ein berechtigter.
Herzenskrisen.
Tante Dettchen war in das Wohnzimmer der Schwägerin
getreten, in dem zu Ehren der festlichen Vorbereitung drei
Lampen brannten und eine geradezu erstickende Wärme herrschte,
durchduftet von Mandelseife, frisch geplätteten Unterröcken, Pomade
und Parfüms zweifelhafter Güte, Maiglöckchen und white rose.
Fräulein Selma machte ein verdrossenes Gesicht, sie war von
ihrer Mutter gescholten worden. Als nämlich die Friseurin kam,
die es natürlich heute furchtbar eilig hatte, war sie nicht zu finden
gewesen und erschien just in dem Augenblicke, als die des Wartens
nicht gewohnte Dame gehen wollte mit dem Bemerken, ob sie
später wiederkommen könne, wisse sie nicht.
Sie habe doch nur ein wenig Talkum aus der Apotheke geholt, entschuldigte sich das junge Mädchen, damit sich die Handschuhe leichter anzögen.
„Schon wieder in der Apotheke!“ tadelte die Frau Steuerräthin, „was Du für Geld dahin trägst, ist nicht zu sagen, Selma! Vorgestern hast Du erst Brausepulver geholt und vorvorgestern Hoffmannstropfen. Ich begreife nicht, daß Du das erlaubst,“ wandte sie sich an die Mutter Selma’s, „nebenbei ist das Mediciniren auf eigene Faust so unpassend, noch obendrein, wo der Arzt so zu sagen zur Familie gehört.“
„Tante,“ sagte Fräulein Selma unter dem Kamme der Friseurin, „Du trinkst doch selber Königstrank, ich hab’s gesehen, und im Keller stehen vier leere Flaschen.“
Frau Steuerräthin ward dunkelroth, aber sie erwiederte nichts. „Wart’ nur,“ dachte sie, „Du sollst wohl ducken, wenn Alfred erst Dein Mann –.“
In diesem Augenblick brachte das kleine Dienstmädchen ein großes Bouquett herein aus rothen Kamelien und weißen Primeln, mit rother Atlasmanschette. Fräulein Selma ward so roth wie die Farbe des Straußes.
„Wer schickt das?“ fragte Frau Steuerräthin und rauschte in ihrem Grauseidenen an die Thür.
„Ein Mann hat’s gebracht; er sagte nicht, von wem.“
Frau Adler hielt den Strauß nachdenklich in der Hand. „Ich begreife Alfred nicht,“ flüsterte sie Dettchen zu, „er hat doch gewußt, daß Selma ein grünes Kleid anzieht! Nun sieh diese Zusammenstellung, als wenn die Bauern Hochzeit hielten. Aber nehmen muß sie es.“
Dettchen schüttelte ungläubig den Kopf. „Von Alfred?“ fragte sie zweifelnd, „er ist doch gar nicht so – so –“
„Er wird Dich wohl vorher fragen, Dettchen! So was thun die Männer heimlich.“
Und indem die Frau Steuerräthin die Blumen aus einer Wasserkanne besprengte, sagte sie laut zu Selma’s Mutter, die eben vor dem Spiegel ein paar große, mit Brillanten besetzte Ohrringe einhäkelte. „Sieh mal, liebe Mähnerten, schön ist eigentlich anders, aber wenn’s Herz nur gut ist.“
„Das Bouquett ist sehr schön!“ fiel Fräulein Selma gereizt ein mit ihrer eigenthümlich tiefen, etwas rauhen Stimme. Und sie richtete sich in ihrer ganzen Höhe empor; denn die Friseurin hatte eben die letzte Nadel in die vielen blonden Haarpuffen gesteckt.
Die Mutter sagte gar nichts. Sie war eine kleine starke Person mit kurzem Athem und wäre viel lieber zu Bette gegangen als auf den Ball, wie sie heute Abend schon hundertmal versichert hatte.
Dettchen quälte sich weidlich bei der Toilette der jungen Dame; bald stieg sie auf eine Fußbank, bald hockte sie an der Erde. Und endlich stand die „Wasserjungfer“ fertig da, wie das kleine Dienstmädchen bewundernd ausrief, der bei Wasserrosen, Schilfblättern und Wachsperlen nichts Besseres und Schlechteres einfiel. Es galt nur noch, mit den weißen Atlasschuhen in die dicken wollenen Strümpfe des seligen Herrn Steuerraths zu schlüpfen, und um diesen in ein paar respektable Holzpantoffeln, den poetischen Kopfputz mit einem Tuche und die grüne Gazewolke mit dem Mantel zu verhüllen. Und nun wanderten die drei Damen, begleitet von Tante Dettchen, deren Weg an der „Goldenen Krone“ vorüberführte, und gefolgt von dem kleinen Dienstmädchen, die das Bouquett, Tücher und Pelzkragen trug, dem Balllokale zu.
Dettchen verabschiedete sich, „viel Vergnügen“ wünschend und der Frau Steuerräthin versprechend, den etwa säumigen Doktor zur rechten Zeit nach der „Krone“ zu expediren, und ging nun durch die schlüpfrigen Straßen, von denen allenthalben der Schnee verschwunden war und sich in Schmutz verwandelt hatte, ihrer Wohnung zu. Wahrhaftig, Alfred hatte noch Licht in seinem Arbeitszimmer! Eilig schritt die kleine Tante durch den Garten in das Haus und klopfte an seine Stubenthür.
„Aber, Alfred!“ rief sie dem eifrig Schreibenden zu, „in der ‚Krone‘ tanzen sie schon die Polonaise, und Du sitzest noch hier im Hausrock und vergißt Alles! Und ich habe Dir doch Wäsche und Kravatte und Frack so schön zurecht gelegt in Deiner Stube!“
Er sah sie in der That ganz verdutzt an.
„Ist es schon so spät, Tante? Na, dann muß ich wohl Ernst machen. Es ist aber wirklich ein Entschluß! Ich kann Dir sagen, Tante Dette: ich führe heute Abend lieber noch drei Meilen über Land –.“
„Na, mach’ nur, mach’ nur, Alfred!“
„Warst Du bei Mademoiselle, Tante?“
„Ja!“
„War’s nett?“ Er räumte bei dieser Frage seine Bücher zusammen und schloß den Schrank.
„Ach ja, Alfred, zuerst, und als wir da im Dunklen uns etwas erzählten – aber dann –“
„Nun?“
Sie war näher zu ihm getreten und hatte die Hände in einander gelegt.
„Ach Gott, Alfred, was ist aus dem Mädchen geworden! So blaß, so mager und so groß die Augen – arme kleine Lucie!“
Er steckte die Schlüssel hastig in die Tasche.
„Wozu erzählst Du mir das, Tante?“ fragte er ruhig, „laß es doch, das ist vorbei. Uebrigens, ich habe dieselbe Bemerkung heute früh gemacht und wünsche von Herzen, daß ich es nicht wieder sehen muß. Wir können ihr ja doch nicht helfen; ihr Wille ist ja geschehen.“
„Es dauert mich nur so,“ sagte Dettchen sich abwendend und zupfte an der Decke auf dem Tische und bückte sich nach einem Stückchen Kohle, das vor dem Ofen lag, und dann klinkte sie leise die Thür auf und ging hinaus, indem sie sich verstohlen die Augen wischte.
Er brauchte heute eine Ewigkeit für seine Toilette. Einmal ertappte er sich, die Kravatte in der Hand, vor dem Spiegel und mußte sich mühsam besinnen, was er eigentlich vorchatte.
Als er in die Saalthür der „Goldenen Krone“ trat, wirbelten die Paare schon in einem flotten Walzer an ihm vorüber. Blendendes Licht, luftige bunte Gewänder, lachende Augen und rosige Wangen unter Blumenkränzen, und dazu die leichte Melodie aus der „Fledermaus“: das war es, was er zunächst sah und hörte. Dann erblickte er die Mutter, quer durch den Saal auf sich zusteuernd, mit lächelnder festlicher Miene und fliegenden rosa Haubenbändern.
„Alfred, willst Du nicht die Mähnerten begrüßen? – Alfred, Du hast doch Selma zu Tische engagirt? Da Du nicht tanzest, ist es das Einzige, was –“
Er nickte zerstreut und folgte ihr, den tanzenden Paaren mit Mühe ausweichend, zu den Sofas an der Hinterwand des Saales, wo die Ballmütter in langen Reihen saßen.
„Was ist das für ein kleiner zudringlicher Herr, der mit meiner Tochter schon zum zweiten Male tanzt?“ fragte ihn Frau Mähnert schläfrig.
„Es ist der erste Provisor aus der ‚Elefanten-Apotheke‘, ein netter Mensch –“
„Hm! Kaum drei Käse hoch – wie das aussieht!“ murmelte ärgerlich die Mutter.
Frau Steuerräthin hatte die Lorgnette vor den Augen und folgte der großen grünen Gestalt, die ihr kleiner Tänzer leicht
[269][270] und sicher durch das Gewühl führte. Der rothe Strauß tauchte wie eine feurige Rakete bald hier, bald dort auf.
„Wo hast Du das Bouquett bestellt, Alfred?“
Aber der Sohn antwortete nicht. Er sprach mit ein paar Herren, das Wort „Skat“ schlug an die Ohren der Mutter, und da verschwanden sie auch schon im Nebenzimmer. Er saß bald darauf am Spieltisch mit dem Amtsrichter Böhm, dem Bürgermeister und dem Kreisphysikus. Noch ehe sie die Karten aufnahmen, waren sie in einen Disput über das Krankenhaus gerathen.
„Die Herren Doktoren würden es vermuthlich am liebsten gesehen haben, wir hätten ihnen den besten Bauplatz in der neuen Villenstraße angewiesen,“ meinte das Oberhaupt der Stadt und ordnete die Blätter in der Hand.
„Den Platz, den Ihr uns geben wollt, nehmen wir einfach nicht,“ sagte der Kreisphysikus; „darauf könnt Ihr Torf stechen lassen und ihn dann im Rathhause verheizen. Adler, Sie wissen, wie wir gestern da waren, stand das klare Wasser über dem Grase, das dort so üppig wächst wie nirgend sonst.“
„Natürlich,“ sagte Doktor Adler zerstreut, und sein Blick kam wie aus weiter Ferne zurück. Er dachte eben an ein paar braune Mädchenaugen, die er heute früh gesehen, als er das gleiche Thema behandelte, traurig und zornig zugleich. Er war wirklich unartig gewesen – aber bah! was konnte auch das Gegentheil noch nützen? Natürlich!“ wiederholte er, „die Regierung wird auch wohl noch ein Wörtchen mitreden.“
Der Bürgermeister warf ihm einen ärgerlichen Blick zu; dann wurde gespielt und dabei das Krankenhaus vergessen. Ein allgemeiner Aufbruch störte die Partie nach einer Stunde; aus dem Ballsaal drängten die Tänzer herein; Kellner schleppten dafür riesenhafte Tafeln in den Saal, man rüstete zum Souper.
Adler wurde von einer niedlichen jungen Frau in weißer Seide angeredet, offenbar ihr Brautkleid und funkelnagelneu.
„Haben Sie meinen Mann nicht gesehen, Herr Doktor? Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie ihn mir herschicken könnten. Ich fürchte,“ raunte sie ihm zu hinter ihrem silberblitzenden Fächer hervor, „er sitzt unten im Gastzimmer beim Bier.“
Seine ernsten Züge wurden freundlich beim Anblicke dieses frischen Gesichtchens mit den besorgten Augen.
„Ich werde ihn suchen und ihn todt oder lebendig hierher schleppen,“ sagte er und wand sich durch die dicht gedrängte Menge.
Dann fühlte er sich am Arm gehalten. „Alfred,“ wisperte die Mutter, „hast Du Selma engagirt?“
Er besann sich auf seine Ritterpflicht dem Besuch seiner Mutter gegenüber und schob sich in einen Kreis duftiger Toiletten, aus dem Fräulein Selma um Kopfeslänge hervorragte.
„Darf ich die Ehre haben zu Tisch?“
Fräulein Selma ward roth, führte den großen Strauß an die Lippen und flüsterte. „Ach, verzeihen Sie, aber ich wußte nicht – ich dachte nicht – ich habe Herrn Lippert bereits zugesagt.“
Er verbeugte sich stumm, drängte sich völlig durch die Menge und erreichte den Korridor, tief aufathmend in der kühlen Luft. Die Gastzimmer lagen zu ebener Erde; Lachen und Sprechen scholl ihm entgegen, als er die Thür öffnete; eine große Zahl fahnenflüchtiger Herren saß hier unten und stärkte sich mit echtem Kulmbacher. Adler trat zum Amtsrichter Böhm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „die Gattin fordert Sie,“ sagte er scherzend.
Der junge Mann sprang auf. „Das weiß der Himmel,“ rief er, „sie hat’s doch gleich gemerkt. Was in aller Welt mag sie denn wollen? Sie saß doch eben noch im eifrigen Gespräche mit ihrer Mutter und Tante!“ Er trank hastig sein Seidel leer und ging hinaus.
Adler wollte ihm folgen, da fiel sein Blick auf einen Mann, der, weitab von dem großen dicht besetzten Mitteltisch, in einem dämmerigen Eckchen saß; er hatte eine Zeitung in der Hand; das halb geleerte Glas stand vor ihm, und dazu rauchte er eine kurze Pfeise.
„Remmert?“ fragte er, als er dicht vor ihm stand, „wahrhaftig, Sie sind’s! Wie in aller Welt –?“
Der Oberförster war aufgesprungen, und die beiden Herren schüttelten sich die Hände. Der Doktor zog einen Stuhl heran, und nun saßen sie sich gegenüber. „Das nenne ich eine Ueberraschung!“ sagte er.
„Ich wäre morgen früh zu Ihnen gekommen, Adler – wegen der Kleinen, der Annemarie.“
„Sie haben das Kind mit?“
„Ja!“
„Hier?“
„Nein, es ist bei Lucie. Es miesert so weiter; ich weiß nicht, was es mit dem Würmchen sein mag –“
„Ich wäre ja gern zu Ihnen gekommen, Remmert. Sind die Andern wohl?“
„Ja, ich danke. Ich wäre doch hergereist, wissen Sie – ich habe mit meiner Schwägerin zu reden.“
„So, so!“
Das Gastzimmer war jetzt fast leer; nur ein paar reisende Kaufleute saßen in dem entgegengesetzten Winkel des großen gewölbten Gemaches im leisen eifrigen Gespräch; am Büffett lehnte verschlafen ein halbwüchsiger Kellnerjunge, eines von den unglücklichen kleinen Geschöpfen, denen um neun Uhr vor Müdigkeit die Augen zufallen, weil sie eben noch Kinder sind.
„Wollen Sie nicht auch hinaufgehen?“ fragte der Oberförster; „ich meiue, es wird jetzt gespeist. Ich hatte keine Ahnung, daß diese Nacht hier solch ein Tumult sein würde; ich wäre sonst in den ‚Anker‘ gegangen.“
„Wenn Sie erlauben, bleibe ich bei Ihnen, Remmert; man sieht sich so selten, und ich habe da oben keine Verpflichtung zu erfüllen. Meine Dame gab mir einen Korb. Erzählen Sie, wie geht es draußen in Wald und Heide?“
„Die Frau fehlt, Doktor, die Frau fehlt!“ Der große Mann mit dem gramvollen Zug in dem Gesichte nahm den Krug und trank hastig. „Es hapert an allen Ecken und Enden, und erst die Kinder! Sie sind so hilflos wie ein Nest voll junger Vögel, denen die Alten weggeflogen sind, es geht nicht länger so!“ Er hatte das Taschentuch schon wieder in der Hand, und in den Augen blinkte es feucht. „Die Leute werden wohl darüber schreien,“ fuhr er fort, „wenn sie hören, daß ich heirathen will; die Frau ist noch kein Jahr todt. Aber wenn Sie wüßten, Adler, wie das bei mir im Hause ist – zum Davonlaufen kalt und unheimlich! Wie da Alles nur gethan wird, weil es geschehen muß, und immer nur das Nothwendigste; wie bei Tische kein freundliches Wort fällt und man sein Bischen Suppe mit heimlichen Thränen hinunter würgt, sieht man die gedrückten Mienen der Kinder. Mit einem Worte, es ist kein Leben mehr, Adler –“
„Sie haben wohl Recht, Remmert,“ sagte Doktor Adler mitleidig. „Von Herzen wünsche ich eine gute Wahl, schon der Kinder wegen.“
„Ich dachte auch nicht an eine Fremde,“ erwiederte der Oberförster, „ich habe nicht Zeit herumzuscharwenzeln.“ Dann flog es wie eine leise Verlegenheit über sein Gesicht, und den Bart mit dem Taschentuch streichend, setzte er hinzu. „Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Doktor? Ich dachte an – “
„Lucie?“ sagte Doktor Adler. Es klang wie athemlos. „Sie wollte bleiben –“ mnrmelte er.
Der Oberförster nickte.
„Ja – das arme Ding! Ich war ungerecht gegen sie. Aber, wie schon gesagt, im Schmerz wägt man seine Worte nicht. Ich war so verbittert und unglücklich, und dann – die Welt ist zu schlecht, Adler; Gott weiß, welchem Gerede ich sie ausgesetzt hätte, und deßhalb –“
Er bekam keine Antwort. Doktor Adler sah mit fest zusammen gepreßten Lippen auf den Deckel seines Stammseidels, das der kleine Kellner vor ihm auf den Tisch gestellt hatte. Oben wurde eben ein Hoch ausgebracht; Menschenstimmen und Musik fanden ihren Weg bis hinunter. „Und sie?“ fragte er endlich kaum hörbar.
„Es ist nicht leicht, Stiefmutter zu werden, Doktor.“
„Und sie?“ fragte er noch einmal mit anderer Betonung.
„Es sind doch die Kinder ihrer Schwester, Adler.“
„Sie ist noch so jung!“ sagte er dumpf.
„Aber sie hat ein Herz für die Kinder, Doktor, und das ist die Hauptsache.“
„Und sie weiß es?“
„Ich bin ja deßhalb bei ihr gewesen.“
Sie sprachen nicht weiter. Die beiden Herren, die dort gesessen, waren gegangen, der kleine Kellner schlief jetzt wirklich am Büffett, das leise Ticken des Regulators scholl deutlich durch die Stille. Dann schlug es zwölf Uhr.
[271] „Ich störe Sie aber doch wohl?“ fragte der Oberförster endlich.
„Ich will auch zu Bett; ich denke, ich schlafe trotz der Musik. Wann darf ich denn morgen mit der Annemarie zu Ihnen kommen, Doktor?“
Adler erhob sich. „Von neun bis zehn oder von ein bis zwei Uhr,“ sagte er; aber er sah den Andern dabei nicht an.
„Gute Nacht denn, Adler!“
„Schlafen Sie wohl, Remmert.“ – Er setzte sich wieder, ohne recht zu wissen, was er that; er rührte sich erst, als der Wirth hereintrat und ihn verwundert anblickte. Da stand er auf und ging nach oben.
Man saß noch bei Tische, und zwar in animirter Stimmung; Alles sprach, Einer lauter als der Andere. Die Musik spielte dazu ein Potpourri; sie ging eben aus einem weichen Liebeslied in eine lustige Melodie aus dem „Bettelstudenten“ über.
„Hierher!“ rief der Amtsrichter Böhm von einem Ende der großen hufeisenförmigen Tafel, sein Champagnerglas aufhebend; „Adler, hierher! Wir rücken zusammen!“
Die kleine Frau im weißen Brautkleidc winkte lebhaft mit der Serviette: „Herr Doktor, kommen Sie, wo bleiben Sie so lange?“
Der Kellner schob ihm einen Stuhl hin, und bald saß er an der fidelsten Ecke, wie man ihm versicherte, zwischen zwei reizenden Frauen, die ihn seines Ausbleibens wegen neckten, und trank Champagner, und sprach und antwortete.
„Trotz alledem ein lustig Lied,
Nun, Schicksal, schlag’ nur zu –“
trällerte Böhm mit der Musik. „Doktor, schlichten Sie einen Streit zwischen meiner Gattin und mir. Sie sind ja ein halber Heiliger; man soll jetzt nur Ihre jammervolle Miene sehen – als ob Sie bei einem Leichenschmaus säßen.“
„Ja wohl, der Doktor soll den Ausschlag geben!“ riefen die Damen.
„Schön! Also, Doktorchen, die Damen behaupten, eine Frau brauche ihren Mann nie um Verzeihung zu bitten, auch wenn sie wirklich Unrecht hat. Wo bleibt die Logik?“
„Wo bleibt die Galanterie?“ rief die kleine Frau Elsa Böhm lachend. „Und wenn Du bis an den jüngsten Tag wartest, ich sage niemals: ‚Pater peccavi‘!“
„Aber, ich bitte Sie,“ begann der Doktor, „Derjenige, welcher Schuld hat, muß doch –“
„Gewiß! Aber nicht Diejenige. Wir haben überhaupt nie Schuld!“ erklärte sie seelenvergnügt.
Adler mußte lächeln; dann ward er ernst.
„Jetzt hat das nichts mehr auf sich,“ bemerkte gelassen der Ehemann; „aber als der Pastor sein Amen noch nicht über uns gesprochen, da bestand sie einmal, eigensinnig wie sie Alle sind, darauf, ich solle einen Fußfall thun wegen einer Lappalie, oder ich wäre in Gnaden entlassen worden. Es war Ernst, wahrhaftig! Und was sollte ich machen? Mit Schmollen und Trotzen kommt man ja bei ihnen nicht durch, aus dem einfachen Grunde, weil sie das besser verstehen als wir. Elsa, sieh einmal, was der Doktor für ein Gesicht macht; bei dem möchtest Du Dich verrechnet haben. Danke Gott auf Deinen Knieen, daß Du so ein Lamm wie mich gekriegt hast.“
„Ja, allerdings,“ sagte Adler, „ich hatte – ich wäre –“ er brach zerstreut ab.
„Sie ließen wahrscheinlich Ihre Zukünftige in der Ecke stehen oder auf Erbsen knien? Ich werde alle Mädchen warnen,“ schmollte Frau Elsa.
Er hörte es nicht; er dachte an sie, an den Mann, der die Hand nach ihr ausgestreckt, um für seine Kinder eine Mutter zu haben, nur weil sie zufällig die Schwester der Verstorbenen. Warum hatte er ihr nicht vergeben können, die er ja doch nicht vergessen konnte? Es war gut so – gut? Ja freilich! Er nahm sein Glas und trank; die Andern waren schon wieder mitten im Lachen und Plaudern.
Am entgegengesetzten Ende der Tafel saß Fräulein Selma, nicht weit davon seine Mutter. Sie blickte böse zu ihm herüber. Fräulein Selma war purpurroth erglüht hinter ihrem riesigen Bouquett; ihr kleiner Tischnachbar redete eifrig in sie hinein.
Dann tupfte etwas leise Adler’s Schulter und ein Kellner flüsterte ihm einige Worte zu. Er nahm langsam seine Serviette und legte sie auf den Tisch.
„Entschuldigen Sie mich,“ sagte er.
„Schon wieder fortgeholt? Nehmen Sie es mir nicht übel, es ist ja ein schreckliches Metier, das Ihre,“ rief einer der Herren.
„Kommen Sie bald wieder, Doktor!“
Er war schon aus der Thür und die Treppe hinunter. Der alte Peter stand da, eine Laterne in der Hand, mit verschlafenen Augen.
„Mademoiselle bittet sehr um Entschuldigung,“ begann er, während Adler sich den Ueberzieher umgeben ließ. Er setzte den Hut auf und winkte zum Gehen.
Blätter und Blüthen.
Die Königin von Italien. In seinen soeben in französischer Sprache veröffentlichten Plaudereien über die „römische Gesellschaft“ entwirft Graf Paul Vasili ein glänzendes Bild der Königin Margherita. Graf Vasili ist bekannt als ein ziemlich rücksichtsloser Berichterstatter, welcher die europäischen Höfe mit besonderer Vorliebe für den gesellschaftlichen Klatsch schildert, der auch die höchsten Regionen unsicher macht. Es giebt kaum eine der hochgestellten Persönlichkeiten, der er nicht wenigstens einen leichten Makel anzuheften sucht, von der er nicht irgend ein Geschichtchen zu erzählen wüßte. Ueberhaupt sind seine Portraits fast niemals geschmeichelt. Um so mehr muß das in den hellsten, freudigsten Farben gemalte Bild überraschen, das uns die Königin Italiens vor Augen führt. In Italien angebetet, erfreut sie sich auch auswärts der Sympathien, die man überall für eine schöne und ausgezeichnete Frau empfindet. Ihr Name (Margherita bedeutet in italienischer Sprache auch „Maasliebchen“) giebt zu einem Kultus Anlaß, wie ihn das deutsche Volk durch den Kornblumenschmuck seinem Kaiser weiht: kein italienischer Dichter, der ihm nicht gehuldigt hätte. Sie selbst hat reizende Verse gemacht; auch ist sie eine wohlgeschulte Sängerin, obgleich sie keine große Stimme hat; sie zieht die deutsche Musik der italienischen, diese aber der französischen vor. Sie hat viel gelernt und viel behalten; sie denkt und urtheilt selbst und ihre Kenntnisse auf dem Gebiete der Künste sind denen überlegen, welche viele namhafte Kritiker in ihren Artikeln vertreten. In Venedig, der Stadt, in welcher sie am liebsten verweilt und zwar bei ihrer Hofdame, der Gräfin Marcello, besucht sie die Kirchen und Museen; ihre Lieblingsmaler sind Carpaccio und Cima de Conegliano; nächst ihnen schwärmt sie für den Mantuaner Mantegna. Die Möbel, die sich auf den Bildern dieser Künstler finden, läßt sie sich anfertigen und stellt sie in ihren Privatgemächern auf. Sie liebt die Lektüre und hält sich auf dem Laufenden mit allen Revüen, allen französischen, englischen und deutschen Erscheinungen. Wenn ihr eine ihrer Hofdamen die Neuigkeit bringt, daß ein bemerkenswerthes Buch erschienen ist, so begrüßt sie das mit wahrer Freude.
Wie die hübscheste, so ist sie auch die gebildetste Frau ihres Königreichs: aber sie hat darüber nichts von ihrer Anmuth eingebüßt. Außer den unvergleichlichen Augen der Kaiserin von Rußland giebt es keine schöneren als die der Königin Margherita; ihr Lächeln ist von seltenem Reiz, ihre Bewegungen sind von einschmeichelnder Harmonie. Stets hat sie den Werth der Männer nach ihrer Intelligenz gemessen, nicht nach ihrem Rang, ihrem Vermögen oder ihrer Bedeutung für die politischen Parteien. Sie versteht es, Jeden über das sprechen zu lassen, was er versteht. Alle Italiener, die irgendwie geistige Ueberlegenheit bewährt haben, sucht sie kennen zu lernen. Verrathen dieselben sonst eine schlechte Erziehung, so leidet sie mehr darunter als manche andere Dame, weil sie zartfühlender ist; aber sie beherrscht sich und erträgt die widerwärtigsten Manieren mit einem Muth, der des alten Roms würdig ist. Sie plaudert gern und oft im muntersten Ton in vertrauten Kreisen. Affektirtes Wesen ist ihr in hohem Maße verhaßt: bei den officiellen Feierlichkeiten aber hat sie durchaus die Haltung einer großen Dame. Was die Toilette betrifft, so neigt sie allerdings zu Glanz und Pracht. Wenige Fürstinnen haben schönere Edelsteine als sie. Die Kronjuwelen waren schon glänzend: König Viktor Emanuel hat ihr prächtige Geschenke gemacht und König Humbert hat wunderbare Diademe und unvergleichliche Perlen hinzu gefügt. „Eine gute Fee,“ ruft der sonst so tadelsüchtige Graf Vasili mit Begeisterung aus, „hat dieser Prinzessin schon an der Wiege alle Gaben gespendet, Schönheit, Grazie, Heiterkeit und jede Gunst des Schicksals; es schien, als würde sie nur goldene Tage erleben. Und doch hat sie viel gelitten am Anfang ihrer Ehe und durch das Attentat von Passavante, welches ihre Gesundheit schwer erschütterte, so daß sie sich lange nicht erholen konnte. Wenn eine Frau es verdient, glücklich zu sein durch ihren Adel, die Festigkeit ihres Charakters, die Güte ihres Herzens, durch Verdienste jeder Art, durch ihre Schönheit, so ist das die Königin von Italien.“
Das ist das Bild der liebenswürdigen und interessanten Frau, welche die Krone des Landes der Kunst und Schönheit trägt: ein Bild, das sich auf die Staffelei eines Malers verirrt hat, welcher als der Höllenbreughel der europäischen Höfe betrachtet werden kann. †
Bayerischer Holzknecht. (Mit Illustration S. 257.) Der Mann mit den wetterbraunen Zügen, den unser Bild uns zeigt, ist einer der Holzfäller, in den Bergen kurzweg Holzer genannt, welche mit Axt und Säge den Kampf gegen die alten Waldriesen führen. Und es ist ein mit
[272] Mühsal und Gefahren verbundener Kampf. Im Frühjahr, wenn der Schnee zu schmelzen beginnt und die mächtigen Tannen die eisige Last abgeschüttelt haben, bezieht der Holzer mit Säge, Axt und Seil sein Revier auf Wochen und Monate und haust in einer nach seiner Ansicht schon ganz komfortabeln Holzstube oder erbaut sich aus Brettern und Rinden eine Art Hütte, die etwa mit dem Wigwam eines Wilden verglichen werden kann, oder er schläft auf nackter Erde mit und ohne Lagerfeuer. Die Arbeit beginnt mit dem Tagesgrauen und endet mit dem Sinken der Sonne. Das Fällen und Zurichten der Bäume ist nicht so leicht wie im Flachlande; da giebt es genug Terrainschwierigkeiten und meistens gilt der Hieb alten riesigen Bäumen, deren Größe und Umfang die Arbeit gefährlich macht.
Das Umständliche aber bleibt immer das „Holzbringen“, das heißt dasselbe zu Thal zu fördern. Da giebt es die verschiedensten Arten, und oft greift man zu künstlichen Anlagen und läßt das Wasser mitarbeiten. Da tragen die stürzenden Wogen der auf dem Hochplateau angelegten Weiher, Klausen genannt, wenn ihr Verschluß geöffnet worden, die Last durch Rinnsale, Klammen und Schluchten in irgend einen Gebirgssee, von wo aus sie weiter geflößt wird. Dieser „Holzgang“ bietet ein prächtiges Schauspiel und Berg und Thal hallen wieder von dem donnernden Geräusch, welches die an die Felswände anprallenden Stämme verursachen. Um ein Stocken des Holzgangs zu vermeiden, müssen die Holzer oft die gewagtesten Hantierungen vornehmen. Doch diese anstrengenden Arbeiten führen sie mit großer Ausdauer und Unermüdlichkeit aus. Ihr Körper ist überaus abgehärtet; Wind und Wetter haben ihre scharfen Züge ausgemeißelt. Mit Kleiderluxus beschweren sie sich nicht. Ihr Humor ist unverwüstlich und entfaltet sich am kräftigsten, wenn sie beim Gläschen in der Holzstube oder Wirthsstube sitzen und sich die Zeit mit „Citherschlag’n und G’stanzlesingen“ vertreiben.
Ein Festtag in Afrika. Wie bunt das Leben auf den Kolonialgebieten Afrikas sich bisweilen gestaltet, davon giebt Hermann Soyaux ein Beispiel in seinen Erlebnissen und Beobachtungen: „Aus Westafrika“. Der Reisende befand sich in dem portugiesischen Angola, in der Stadt Dondo, die längere Zeit durch eine gewaltige Ueberschwemmung des Kuansaflusses bedrängt worden war. Doch die Wassernoth war wieder gewichen, als die Stadt das große Fest der katholischen Christenheit, den Frohnleichnamstag, beging. Da entwickelte sich nun ein buntes, ergötzliches Treiben: Jeder hat seinen besten Staat angelegt; man sieht, die europäischen Trödelmärkte beglücken mit dort nicht mehr verkäuflichen alten Kleidern die putzsüchtige Negerbevölkerung Afrikas. In den lächerlichsten Zusammenstellungen erblickt man defekte Uniformstücke aus aller Herren Ländern, betreßte Livréeröcke, fadenscheinige schwarze Fracks, Damenhüte von riesigen Dimensionen, Dreimaster, Kalabreser und zerknitterte hohe Cylinder. Dazwischen bewegt sich das zum Fest hereingekommene Landvolk in fast adamitischem Urkostüm. Eine Gruppe fetttriefender Libòlòs, in eifrigem Handel begriffen, überzählt die Preise in angolanischen Kupfermünzen. Dort scharen sich die Männer und Mädchen zum Betuk, dem Kankan der Neger, und unter Begleitung von Gesang und Händeklatschen beginnt der Tanz; aber er wird durch die Klänge der Militärmusik unterbrochen. Die in Dondo zurückgebliebene Mannschaft der Caçaderes V. marschirt von der Kirche zur Residencia hinauf; an der Spitze mit gesenktem Degen der Teniente in der Uniform der portugiesischen Jäger, hinter ihm das Musikkorps, die Melodie: „Einst spielt’ ich mit Scepter und Kronen“ im Marschtempo blasend, dann die Reihen der Soldaten, ihre „Sergantos“ und „Cabos“ zur Seite. Die Parade-Uniform sieht etwas weniger unsauber aus als die gewöhnliche Ausrüstung der portugiesisch-angolanesischen Armee. Nur die Fußbekleidung befindet sich in demselben fragmentarischen Zustande, wenn sie nicht gar dem Lichtenberg’schen Messer ohne Klinge[WS 1] gleicht, und eben so ist die Kopfbedeckung von bedenklicher Fragwürdigkeit.
Die kirchliche Feier selbst, die gegen Abend stattfand, bot einen eben so merkwürdigen Anblick. Vor der Thür der Kirche balgten sich zwei schwarze Chorknaben, der Würde ihrer Tracht und ihres Amtes vergessend; durch den Palmenhain am Ufer blitzten eine Menge bengalischer Lichter auf, die Frohnleichnamsprocession nahte. Unter einem von vier Schwarzen getragenen Baldachin, dem ein Chorknabe das Krucifix vorantrug, schritt der Priester im reichen Ornat, ihm nach die Schar der Gläubigen: Schwarze, Weiße, Mulatten, Männer, Weiber und Kinder, einzeln oder paarweise, mit Lampions, Fackeln und Laternen. Von Andacht war bei der schwarzen Christengemeinde nichts zu spüren; Alles scherzte und lachte in ausgelassener Fröhlichkeit.
Diesen Toiletten-, man könnte sagen Operettentrödel hat unser Reisender mehrfach in Afrika gefunden, so in Akkra an der Goldküste, wo er in einen aufgeregten Volkshaufen gerieth, der ein Siegesfest feierte. Eine dichte Menge älterer und jüngerer Schönheiten zog in Procession durch die Straßen mit ohrenzerreißendem Geplärr und Geschrei. „Wirr schollen Stimmen, Lieder und Gebete zum Christen- und zum Negergotte durch einander; Fahnen unbekannter und bekannter Nationalitäten, unter den letzteren auch die deutschen Farben in verkehrter Reihenfolge, flatterten über dem Volksgewühl und die weiten Frauengewänder wehten phantastisch im Winde. Und was für Gewänder! Es war mir schwer, nicht in helllautes Lachen auszubrechen, als ich die Sterne eines Vereinigten Staaten-Banners und bei einer andern Frau das Portrait Moltke’s auf einem, wie mir schien, gelben Taschentuche eine gewisse Körperstelle decken sah.“ †
Weiß: | Schwarz: |
1. K h 1 – h 2! | c 6 – c 5! (oder c 4 – c 3) |
2. D b 3 – b 7! | beliebig. |
3. D b 7 – h 1 resp. b 1 matt. |
Auf 1. … c 4 – d 3 : folgt 2. c 2 – d 3 : nebst 3. D b 3 – c 2 matt. Ein scharfsinniges, schwieriges Problem! Wir empfehlen unsern Lesern die unlängst erschienene Aufgabensammlung des Komponisten: „101 ausgewählte Schachaufgaben“ von Fritz Hofmann, Verlag der M. Rieger’schen Universitäts-Buchhandlung in München.
Schach-Litterarisches. „Das allgemeine Schachspiel“. Ein Vorschlag zu einer Erweiterung des Schachspiels von C. A. Otto Voigt. Verlag von Karl Höckner in Dresden, brochirt, Preis 1 Mark. – Wir vermögen zwar dem Vorschlage des Verfassers nicht beizutreten, welcher eine neuartige, dem eigentlichen Wesen des Schachspiels gänzlich fremde Spielbehandlung, insbesondere der Eröffnung bezweckt, allein das Werkchen ist sehr anziehend geschrieben, und wir wollen es daher allen Schachfreunden als genußreiche Lektüre bestens empfehlen.
Durch Versetzung der Buchstaben erhält man die Wörter:
Die Anfangsbuchstaben ergeben den Namen: „Bismarck.“
H. F. in D. Geburtstag oder Geburtsfest ist die Bezeichnung für den wiederkehrenden Jahrestag der Geburt und dessen Feier. Bei der Zählung dieses Festes darf der Tag der Geburt selbst nicht mitgerechnet werden, da der Begriff des Festes eben auf der Wiederkehr des Tages beruht. Ist also Jemand am 28. März 1867 geboren, so feiert er 1868 seinen ersten, 1887 seinen 20. Geburtstag.
Ein Neugieriger in Hamburg. Sie wollen wissen, wie viel Silber ungefähr im Meere enthalten ist. Es entzieht sich jeder Berechnung, wie viel dieses edlen Metalles im Laufe der Weltgeschichte mit den Handelsschiffen aller Nationen auf den Grund des Meeres gelangte. Wir wollen aber Ihre Neugierde nach einer anderen Richtung hin befriedigen und Ihnen mittheilen, wie viel Silber ungefähr im Meere schwimmt. Das Meerwasser enthält neben den bekannten Salzen in sehr verdünnter Lösung fast alle Elemente, aus welchen unsere Erde besteht; auch Silber befindet sich darin, und man hat ausgerechnet, daß in einem Kubikkilometer Meerwasser etwa 1 Kilogramm Silber enthalten ist. Nehmen wir an, daß die durchschnittliche Tiefe der Oceane 5 Kilometer beträgt, so werden wir den Wasserinhalt des Meeres auf 1 Milliarde 876 Millionen Kubikkilometer schätzen können; es müßten eben so viel Kilogramm Silber im Meere enthalten sein; und aus ihnen könnte man 375 Milliarden Mark prägen. Auf einige Milliarden mehr oder weniger kommt es bei diesem Silber nicht an; denn niemals wird es den Menschen Nutzen bringen; nimmer wird man auf den Gedanken kommen, 1 Kubikkilometer Wasser zu destilliren, um für 200 Mark Silber zu gewinnen.
P. in Hildesheim. Auf den sämmtlichen Eisenbahnen der Welt werden nach der neuesten Statistik jährlich rund 1 Milliarde 864 Millionen Passagiere befördert. Das Land, in welchem die erste Eisenbahn gebaut wurde, steht noch heute in der Benutzung derselben für den Personentransport obenan: es werden in England jährlich 683 Millionen Passagierbillette ausgegeben; auf England folgen die Vereinigten Staaten von Nordamerika mit 312 Millionen Passagieren, während in Deutschland jährlich 246 Millionen Passagiere auf den Eisenbahnen befördert werden. Mit anderen Worten: im Durchschnitt reist jeder Engländer achtzehnmal, jeder Nordamerikaner sechsmal und jeder Deutsche fünfmal im Jahre mit der Eisenbahn.
A. K. in Leipzig. Näheres über den am 8. März dieses Jahres verstorbenen berühmten amerikanischen Kanzelredner H. W. Beecher finden Sie in dem Artikel „Amerikanische Kirchen und Kanzelredner“ Jahrgang 1884, S. 588 der „Gartenlaube“.
W. R. in Sigmaringen. Eine reiche Fülle von Sentenzen, übersichtlich geordnet, finden Sie in Hertz’ „Worte der Weisen“, einer trefflichen Sammlung, auf welche wir schon auf S. 883, Jahrgang 1886 der „Gartenlaube“ hinwiesen.
K. P. in Tilsit. Daß den Deutschen in Rußland noch nicht der Humor ausgegangen ist, beweist der von Berthold Guttmann in St. Petersburg herausgegebene „Pipifax“, dessen erste Probelieferung recht amüsante Scherze und Humoresken in Wort und Bild enthält, natürlich von einer Harmlosigkeit, welche die Censur nicht beeinträchtigen kann.
G. A. Sp. in Milwaukee. Der sogenannte „Altenstein“ im Taunus hat keinerlei beachtenswerthe Vorgeschichte. Aehnliche Namen (Altenstein, Altenburg etc.) finden sich mehrfach vor.
Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts (Fortsetzung). S. 257. – Die Münchener Künstlergesellschaft „Allotria“ und ihr Heim. S. 263. Mit Illustrationen S. 261, 263 und 264. – Berlin am 22. März. Stimmungsbild von Hermann Heiberg. S. 264. Mit Illustration S. 265 und 269. – Gründet billige Volksbäder! Von C. Falkenhorst. S. 256. Mit Abbildungen S. 266 und 267. – Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 268. – Blätter und Blüthen: Die Königin von Italien. S. 271. – Bayerischer Holzknecht. S. 271. Mit Illustration S. 257. – Ein Festtag in Afrika. S. 272. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 272. – Auflösung der Schach-Aufgabe auf S. 216. S. 272. – Schach-Litterarisches. S. 272. – Auflösung des Bilder-Räthsels auf S. 256. S. 272. – Auflösung des Metamorphosen-Räthsels auf S. 256. S. 272. – Kleiner Briefkasten. S. 272.
- ↑ Als Grundlage für diese Berechnung ist der Breslauer Ueberlassungspreis von 1000 Litern Wasser für 15 Pfennig angenommen worden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ „Ein Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt.“ (Verzeichniß einer Sammlung von Geräthschaften …, in: Göttinger Taschen Calender, 1798, S. 157 UB Bielefeld)