Die Gartenlaube (1886)/Heft 46
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No. 46. | 1886. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Insel der Seligen.
Was sie mit ihrem Gör wohl beginnt in dieser Wintereinsamkeit,
die Weika? Das Gethu’ und Geschleck mit dem Mann hat
fürs Erste ein End’. So bald läßt der Frost nichts los. Und wie
der Mann wohl girrt und seufzt nach dem Weibchen! Hahaha,
merkt er, wie’s thut? Darben? Entbehren? Stille doch! Wie die
verdammte Hand zittert! Hm, die Flasche ist leer, aber ein guter
Rest vom Besten muß noch irgendwo in der Ecke stehen. Der
wird den Fingern Sicherheit geben. So, da ist er! –
Wie der Nordsturm heult! Man kann vor dem Gebrüll zu keinem festen Gedanken kommen. Wahrhaftig, schlimmer war’s nicht, als wir mit dem „Augustus“ eingefroren zwei Monate im weißen Meere festsaßen. Wollte, der Karle mit dem russischen Schoner säße auch fest – aber für ewig. Ewig! Ewig! Dummer Schnack! Sie wäre frei. Frei? Etwa für mich? Warum nicht? – – Wenn ich sie entführte? Mit Gewalt fortschaffte, weit, weit fort von hier, wo Niemand uns wieder auffände? Lustig müßt’s doch sein, den Karle zu sehen, was der für Augen machte, fände er sein Feinsliebchen ausgeflogen. Hahaha, der Spaß ist unbezahlbar!
Pfui, Oluf, ein Kerl wie du hat solche Gedanken? Der verfluchte Rum ist schuld, ja, ja.
Für heut’ muß es mit der Arbeit genug sein. Die albernen Buchstaben wackeln ja wie Verrückte auf den weißen Bogen umher, und in der Stube ist’s unerträglich heiß. Na, gehn wir noch einen Mundvoll frischen Athem holen.
Oluf wankte in die Winternacht hinaus. Ueber ihm glitzerten die Sterne, und der eisige Wind sauste um sein Haupt, ohne ihm Erfrischung zu bringen. Am südlichen Horizont stand eine Nebelbank, die dem Kundigen nahe bevorstehenden Wetterumschlag hätte prophezeien können. Oluf sah und fühlte nichts von Kälte oder Wetteranzeichen; er fühlte nur das Klopfen seiner wildjagenden Pulse und hörte nur die begehrlichen Stimmen in seinem Innern.
Wie hübsch der Lichtschein aus dem Fenster auf die glänzende Schneekruste fällt! Will doch schauen, wie es Karle’s „theurem Eigenthum“ ergeht.
Der Unglückliche schob seinen Körper den Schneewall hinauf und legte sein brennendes Gesicht an die Scheiben von Weika’s Stübchen. Gleich darauf erlosch drinnen das Licht. Von Angst und Schrecken gefoltert, wankte die junge Frau ins Schlafgemach, wo sie mit Singen und Schluchzen den kleinen Ede zu Bett brachte. Der Knabe streichelte der Mutter Wangen; ahnungsvoll fühlte sein Kinderherz, daß nicht Alles in Ordnung, und er tröstete wieder: „Laß nur sein, Mutter, bald kommt der Vater.“
Die Erwähnung des Vaters, des Vaters ihres Kindes, trieb Weika unaufhaltsam die Thränen in die Augen. Sie hätte sich mögen recht herzhaft ausweinen. Doch als das Kind in der Mutter Augen Thränen sah, mußte es mit weinen. Nun schluckte das geängstigte Weib die Thränen mühsam hinunter, damit nur das Kind
[806] wieder lächele. Das gelang bald. Sie küßte den Knaben, deckte ihn weich und sanft zu, wischte auch einen verspäteten Tropfen von der rosigen Wange. „Was will denn der dumme Tropfen?“ Ede lächelte und schlief rasch ein.
Gewiß, es konnte nur der Wind sein, der dieses Brausen und Tosen verursachte. Sie lauschte. Ja, ja, der Wind, der heulende Sturm. Freilich, wunderbar, daß der Sturm ohne Unterbrechung in derselben Stärke summte und brummte. Er verschlang sogar den Athem ihres Kindes. Ganz dicht auf die Kinderbrust mußte sie das Ohr legen, welches sonst jede leiseste Lebensäußerung des Lieblings selbst im Schlafe wahrnahm.
Das Kind schlief fest. Sie schauderte und legte die Hand an die brennende Stirn. Nun war sie ganz allein, kein denkendes, fühlendes Wesen außer ihr auf der Insel. Wie weit war’s denn wohl über das verglaste Meer und das Weiße todte Blachfeld bis zu den Wohnsitzen freundlicher hilfsbereiter Menschen? Und jenes schreckliche Gesicht im Nachtdunkel jenseit des Fensters, war es Wirklichkeit? war es Traum? Kein Traum, kein Traum! Dort stand es wieder. Nicht am Fenster, sondern in der weitgeöffneten Kammerthür! In der Gluth des Wahnsinns lachten zwei Augen sie an, zwei Mannesarme, von einer in Haß und toller Leidenschaft wogenden Brust getrieben, strebten ihr entgegen.
Und was that sie? Flüchtete sie wie das verfolgte Reh, sich in Sicherheit zu bringen?
Nein! Sie zeigte auf das Kind. „Bst, still, vorsichtig, Ede schläft. Du wirst mir doch das Kind nicht wecken wollen?“
Mit festem, sicherem Griffe faßte sie den Mann am Arme, drehte den großen Körper auf der Thürschwelle herum und führte ihn ganz gelassen durch die dunkle Stube über den Flur zur Hausthür. Willig, aber stöhnend wie ein verendendes Thier des Waldes, folgte ihr der Mann. Bei der Hausschwelle stieß sein tappender Fuß an, und er stürzte hinaus, der Länge nach in den Schnee. Drinnen aber schloß das junge Weib hastig die Thür; zum ersten Mal verriegelte und verrammelte sie den Zugang und stürzte selbst in fiebernder Erregung auf ihr Lager.
Mühsam, mit tappenden unsicheren Bewegungen hatte der Trunkene sich aufgerafft. Vor seinen Augen drehte sich die Nacht im Kreise, ein lächelndes, lockendes Mädchengesicht schwebte in der kreisenden Finsterniß. Seine Hände griffen nach dem Gespenst, um es zu erwürgen; sie griffen ins Leere und der Mann stürzte nieder, um sich aufs Neue zu erheben, den aussichtslosen Kampf zu erneuern. Immer wieder tauchte das süße Antlitz auf; in immer größerer Wuth jagte der Unglückliche einem Phantom nach, welches nur in seinem eigenen Hirn und Herzen hauste. „Ich werde dich doch los werden!“ schrie er, griff in den fest gefrorenen Schnee, und mit einem derben Eisklumpen zielte und schleuderte er nach dem Wahnbilde.
„Das sitzt!“ schrie er auf, und lautes, weithin gellendes Gelächter kündete den Triumph. Doch nur für wenige Augenblicke, denn an Stelle des verschwundenen Phantoms flammte es auf in jäher Lohe.
Der Wurf war durchs Fenster des eigenen Zimmers gedrungen, hatte die brennende Lampe getroffen und diese umgestürzt.
Oluf griff nach seinem schmerzenden Haupte, als sollte es ihm Klarheit geben über das, was dort vorging. Doch in dies Haupt konnte nimmer ein Verständniß des Augenblicks dringen. Nun war es plötzlich still geworden in Kopf und Brust. Er bohrte seine Augen in die Gluth, und wie diese weiter und weiter lief, nach der Decke, nach den Dachsparren griff, nun die Thür durchbrach und mit Zischen über hereinstürzende Schneemassen sprang, kam kindische Freude über den Mann. Er setzte sich gemächlich nieder und verfolgte die Sprünge des Feuers. Ein Giebel stürzte zusammen, der Sturm fand Zugang ins Innere und blies mit vollen gewaltigen Lungen hinein. Hochauf sprühten Millionen von Funken, und hinterdrein flammten tausend feurige Zungen zum Nachthimmel auf. Es brauste und sauste in dem Feuerherde, und über dem reinen Weiß der Natur lag blutrother Schein.
Nun grauste es den Mann doch. Alles physische Leben in ihm schien erstorben; Entsetzen drohte ihn zu ersticken. Nur seine Blicke lebten und verfolgten mit schauderndem Behagen die Fortschritte der Zerstörung.
Plötzlich kam Leben in den Unglücklichen. Ein schwacher Ruf, wie aus Weltenferne, drang trotz Gebrause und Getose an sein Ohr.
„Onkel Oluf! Onkel Oluf,“ rief die ferne Stimme. Er lauschte, und – „Weika, ich komme! Karle, Bruder! O, ich Elender! Herr mein Gott, laß mich nicht ganz zu Schanden werden!“ Seine Seele hatte sich wiedergefunden.
Verzweiflungsvoll rannte Oluf nach der Nordseite des brennenden Hauses, wo zwei Menschenleben dem Tode in brennendem Grabe verfallen waren. – –
Am andern Morgen lagen dichte feuchte Nebelschleier über dem Eiland. Bald nachdem Oluf die Rettungsthat vollbracht und während er sich mühte, die nöthigsten Dinge der Gluth abzuringen, um das Werk der Rettung zu vollenden, kam auf Geisterschwingen der Südwind geflogen, schob eine Nebelbank vor sich her, die alsbald zu Tropfen verdichtet das Werk der Erlösung an der erstarrten Natur begann, und fächelte das an geschützter Stelle in den Schnee gebettete kranke Weib mit mildem Hauche an. Auch die Natur kann Erbarmen haben.
Heute nur sollte, mußte das Eis noch halten! Ueber den glänzenden Spiegel der gefrorenen See wanderte ein Mann, mit einer lebenden Last auf den Armen, dem festen Boden menschlicher Hilfe und Theilnahme zu. Ein Kind trippelte nebenher, von Zeit zu Zeit an dem versengten Jackenzipfel des Mannes Stütze suchend, wenn die Füßchen gar zu oft ausglitten.
Heute noch mußte das Eis halten; heute nur, denn es galt, die todkranke Weika und das Kind in Sicherheit, unter Dach und Fach zu bringen.
Oluf, dessen Haupthaar verbrannt, dessen Gesicht rauchgeschwärzt und mit Brandblasen bedeckt war, fühlte nichts von eigenen Schmerzen. Sein Fühlen und Denken lebte einzig in seinem Schuldbewußtsein. Nicht in dem der letzten Nacht allein! Acht Jahre bittersten Vorwurfes voll drückten auf den starken Mann. Wenn die Kranke nur still gelegen hätte! Fest und behutsam trugen seine Arme, aber Weika suchte sich zu befreien, wirre ängstliche Reden dabei ausstoßend.
„Küsse mich nicht! nein, thu’s nicht, hast Du nicht an dem einen Kuß genug? Komm nur, komm nur! Nimm mich in Deinen Arm, da ist’s warm; horch, draußen geht der Tod um, und Karle kommt nimmer!“
Es schluchzte in Oluf’s Brust wie das versteckte Weinen eines Kindes, aber es trat kein Laut über die Lippen. Er sandte einen Blick zum Himmel, der hing in feuchtwarmen Wolken.
„Halten muß es!“ schrie es in des gequälten Mannes Seele, und er eilte schneller und schneller vorwärts, denn er fühlte es unter den Füßen wanken. Athemlos lief das Kind nebenher.
Sorgsam vermied der Lotse die langen dürren Stangen, die hier und da der glatten Eisfläche entragten. Bei offenem Wasser dienen sie den Fischern der Küste als Wegweiser zu den ausgelegten Netzen. Jetzt konnten sie das Verderben bringen, weil in ihrer Nähe das Eis dünner wird und dicht um die Stangen eine ganz kleine, offene Stelle bleibt. Vorwärts! Vorwärts! Nicht eine Sekunde darf die keuchende Brust sich Erholung gönnen! Nicht einen Augenblick darf Oluf ruhen, sein Gewicht würde den trügerischen Boden durchbrechen. Kling, kling, sangen die herabrieselnden Tropfen; kling, kling sang und klang es im Eise. Und nun sträubte die Kranke sich wieder gegen die schützenden, rettenden Arme. „Laß mich, was hab’ ich Böses gethan, daß Du mich würgst?“
Er fühlte sein Blut gewaltsam ins Hirn schießen; ihn schwindelte. Er mußte eine Ruhepause machen, wenn er nicht fürchten wollte, unter der Wucht der Anstrengung niederzustürzen. In großen Tropfen rann ihm der Schweiß über das Gesicht. Er stand und holte tief Athem; er lüftete das Tuch über Weika’s Haupt und küßte sie auf das Haar. Da ward die Kranke still. Jetzt aber krachte die wankende Glasdecke; unter seinen Füßen fühlte er das Wogen der tückischen Fluth. Vorwärts! Vorwärts! Will denn nimmer der Strand sich zeigen? Es wächst und wächst die Entfernung mit der Qual des Unglücklichen ins Ungeheure.
„Karle! Karle!“ stöhnt der Lotse. Da zupft es an seiner Jacke, und ein liebes Kinderstimmchen sagt ganz zuversichtlich: „Ja, lieber Oluf-Onkel, das ist wohl schwer, aber wart’ nur ein Weilchen, der Vater kommt bald!“ O seliges Kinderherz! „Der Vater kommt bald!“ ist dein sicherster Trost.
Der Vater kommt bald. Wie das kräftigte! Merkwürdig! Und die See, die vertrauteste, liebste Freundin des Lotsen, wird ihm doch nicht untreu werden zur Zeit der Noth? Vorwärts! Vorwärts!
[807] Sie ward nicht untreu. Da! Da! Es zeichneten sich die verglasten Gerölle des Festlandufers scharf ab von dem glatt vereisten Meeresspiegel. Noch einige hundert Schritt in scharfem Trabe und – gerettet, gerettet! – Oluf sank mit seiner Last zu Boden.
Er küßte die fieberheißen Hände Weika’s, aber es kam ihm nicht in den Sinn, ihren Mund zu berühren. Nun wieder auf und weiter! Noch eine kurze Wanderung, diesmal mit hoffnungssicheren Empfindungen, und das Fischerdörfchen war erreicht. Nicht lange währte es, so lag die Kranke gebettet in sicherer Hut. Es ward nach dem Arzte geschickt, und Ede, der tapfere kleine Ede, der rasch mit einer Schale warmer Milch erquickt wurde, vergaß in süßem Schlaf die Schrecken der Nacht. Dann wandte sich die Fürsorge der braven Fischersleute dem Lotsen zu, der, mit Brandwunden bedeckt, den Kopf in beide Hände gestützt, den Arzt erwartete. Er wehrte jede Hilfeleistung für seine Person ab, gab auch nicht Rede und Antwort, weder den guten Wirthen noch den vielen Leuten, die aus Theilnahme oder Neugier sich eingefunden.
Zuweilen nur hob er den Kopf und fragte: „Kommt er noch nicht?“ worauf er wieder in dumpfes Brüten versank.
Endlich kam der Arzt. Der Lotse litt nicht, daß der Helfer sich zuerst um ihn kümmerte, so schrecklich sein Aussehen war; mit gebietender Handbewegung schickte er ihn an Weika’s Bett. Erst als hier die nöthigen Verordnungen getroffen, sagte er kurz: „Verbindet den Kram, aber rasch, ich muß schnellstens zurück auf die Station.“
„Aber, Mann, seid Ihr von Sinnen?“ zürnte der Arzt, „ich weiß nicht, wie Ihr mit diesen Wunden, unter diesen Schmerzen das Geschehene habt vollbringen können.“
„Geht Sie auch nichts an,“ brummte der Lotse in den Bart.
„Aber zurück auf den Posten, wo Ihr nicht ’mal Haus und Dach vorfindet, könnt Ihr in diesem Zustande nicht.“
„Ist meine Sach’, nicht Ihre!“ knurrte der Lotse.
„Jenes Leben, welches dort im Nervenfieber ringt, liegt in einer höheren Hand; das Eure steht in unserer Macht. Jetzt heißt es zu Bett –“
„Macht nicht so langen Quatsch!“ erwiderte Oluf ungeduldig und stampfte mit dem Fuße. „Ich weiß, wohin ich gehöre.“
Bitten und Vorstellungen fruchteten nichts, vergebens warnten Mitleidige und Sachverständige: „Lotse, bleibt hier! Das Eis ist zu jung, um zu tragen; ’s ist ein Wunder, daß es herwärts gut gegangen.“
Er ließ sie reden und ging doch. Was konnten die Leute wissen, wie es im Innern des Mannes aussah? Nun er Weika und Ede geborgen wußte, wäre es für ihn ja eine Wohlthat gewesen, wenn – das Eis nicht hielt. Aber nicht das war’s, was ihn zurücktrieb. Nicht durch feige Flucht aus diesem Leben, nur durch die That konnten acht Jahre der frevelhaften Leidenschaft und des Hasses gesühnt werden. Der erste und schwerste Schritt zur Sühne war der Gang zu dem Richter, um ein freies Bekenntniß der Schuld abzulegen. Für Oluf gab es nur einen Richter, der hieß Karle Nieboom. Um ihn abzuwarten, mußte Oluf auf die Station zurück.
In dünnen, raschverflatternden Fäden stiegen hier und da noch Rauchwölkchen aus den schwarzen Ruinen, hier und dort glimmte es noch unter dem Schutt. Auf dem Granitblocke, der, von einer hohen Sturmfluth herangerollt, unweit der ehemaligen Wohnung der Menschen wie ein Fremdling im Sande lag, saß ein Mann und wartete. Er wartete geduldig Nacht und Tag. Er fühlte weder Brandmale noch Fiebergluth; er dachte nicht an Noth und Gefahr. Er ersehnte nur Eins: Sühne, Sühne durch die That! Er schaute nach Norden, von dort mußte der Bruder kommen.
Und der Bruder kam. Nicht vom Norden über das krachende Eis, sondern über den Sund im Süden. Karle hatte bereits sein Weib gesehen, seinen Knaben geküßt, von Oluf’s Heldenthat gehört, und er eilte, den Bruder mit dem stürmischen Dank einer arglosen Seele zu überschütten, ihn zu erlösen aus der grausamen Einsamkeit. Auf den entsetzlichen Anblick Oluf’s vorbereitet, streckte er schon von Weitem seine Arme aus. Doch Oluf kam ihm nicht entgegen. Als Karle in sein mehr durch Seelenkämpfe, als durch äußere Wunden entstelltes Antlitz blickte, schrie er laut auf:
„Oluf, was ist geschehen?“
Oluf stützte das Haupt: „Bruder, ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir. Richte!“
Die Beichte dauerte nicht lange; es war eine Mannesbeichte. Und obwohl zu Beginn derselben in Karle’s Brust das Blut zu sieden begann und die Hand zuckte – als Oluf schloß, ohne auch nur der schwierigen Rettung Weika’s mit einem Worte zu gedenken, da fühlte der Beichtende zwei Arme um seine Schultern, und er hörte eine Stimme rufen mit dem Vollklang vergebender Liebe: „Oluf, mein Bruder!“
Dann verließ ihn die Besinnung.
Mit Donnern und Poltern brach das Eis. Hochauf thürmten sich die Schollen, und das lebendige Meer brach hervor, der Fesseln spottend. Der Frühling kam, und Licht ward überall.
Schau’ nur auf deinen Reisen nach der kleinen Insel im Nordmeere aus. Ein einziges, stattliches, neues Gebäude liegt auf dem Eilande. Noch immer hüllen die Nebel es ein und versengt der Sonne Gluth den spärlichen Pflanzenwuchs, und keine andere Stimme als der urewige Gesang des Meeres dringt zu dem kahlen Gestade.
Zwei Männer, ein Weib und ein Kind sind die Bewohner der Insel. Alle ernst, doch zufrieden und blühend. Kehre bei ihnen ein, laß dich bewirthen mit dem trefflichen Seemannsgrog, den einer der Männer zu bereiten versteht. Der andere Mann, der mit dem kahlen Kopfe und den Brandnarben im Gesicht, kann dir nicht Bescheid thun; er bringt keinen Tropfen geistigen Getränks über seine Lippen seit – doch das brauchst du wirklich nicht zu wissen, lieber Reisender.
„Ja, ja,“ sagt die hübsche junge Hausfrau mit einem Anfluge von Schelmerei, „unser Sandhaufen ist die Insel der Seligen,“ und sie nickt dem Manne zu, welcher keinen Haarschmuck besitzt und keinen Grog trinkt.
Der Mann nickt wieder und sagt: „Der Baugrund mußte in Mühseligkeit geschaffen werden, aber der Bau ist fest.“
Den Wald durchzieht ein Sterben,
Bang rauscht der Wipfel Kranz,
Die letzten Strahlen färben
Ihn matt mit fahlem Glanz.
Des tiefen Schlummers schwerer Hauch
Umfächelt müde Halm und Strauch.
Den Wald durchzieht ein Sterben,
Bang rauscht der Wipfel Kranz.
Schon blüht am Föhrenhange
Das Heidekraut so roth
Und mahnt, daß nun im Gange
Verwelken sind und Tod.
Vereinsamt schallt aus Lüften frei
Der Wandervögel banger Schrei.
Schon blüht am Föhrenhange
Das Heidekraut so roth.
Still drängt aus grünen Zweigen
Sich manches falbe Blatt,
Und alle Fluren schweigen,
Schwermüthig, todesmatt.
So schleicht, eh’s noch Dein Herz gewahr,
In Locken sich ein weißes Haar,
Wie still aus grünen Zweigen
Sich drängt ein falbes Blatt.
Wer froh am Maientage
In Liebe sich vereint,
Steht bald am Sarkophage
Verlor’nen Glücks und weint.
Ein letzter Gruß, ein letzter Kuß!
Die Herbstluft weht, und scheiden muß,
Wer froh am Maientage
In Liebe sich vereint.
O glücklich, wer umfangen
Sich fühlt von Jugendgluth,
Ob auch auf Stirn und Wangen
Des Alters Falte ruht;
Da stört den Geist so frisch und klar
Kein welkes Blatt, kein weißes Haar.
O glücklich, wer umfangen
Sich fühlt von Jugendgluth! Karl Schäfer.
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[809] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[810]Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige.
Während der Glanztage Thebens und seiner Könige aus der 18. und 19. Dynastie waren die Memnonien voll von Priestern und Schülern, waren die Händler und Fabrikanten der Nekropole in voller Thätigkeit und Menschen genug vorhanden, welche für die Sicherheit ihrer Wohnsitze sorgten. Kam es einmal zu Unruhen oder Räubereien, so war die Kriegsmacht der Fürsten mächtig genug, um ihnen ein schnelles Ende zu machen. Die Behörden der Wohn- und Todtenstadt handelten in gutem Einvernehmen, und die Mazain (Gendarmen) hatten nicht viel mehr zu thun, als mit offenen Augen in allen Theilen der Nekropole, wo es Gräber gab, zu patrooilliren.
Aber diese Lage der Dinge hatte sich früh geändert. Ramses III. war es noch gelungen, die verbündeten Völker, welche Aegypten überfallen hatten, kräftig zurückzuweisen und sich theils durch die Beute, welche den Feinden abgejagt wurde, theils durch Lösegelder und die gut verkäufliche Waare kriegsgefangener Sklaven, theils auch durch Wiedereröffnung alter und in den unruhigen Tagen vor ihm aufgegebener Handelsverbindungen zu einem der reichsten Fürsten zu machen, von denen die ägyptische Geschichte erzählt. Aber dieser üppige Fürst verzettelte in übermäßigem Wohlgefallen an unerhörter Pracht einen Theil des schwer erworbenen Gutes, und mit dem anderen bedachte er die Priesterschaft und die Tempel des Landes. Der Himmel hatte ihn mit mehreren Söhnen gesegnet, und diese in Ueppigkeit und tiefer Devotion aufgewachsenen Prinzen sollten schlechten Gewinn von der sorglosen Freigebigkeit des Vaters ernten; denn die Priester des Amon von Theben, denen sie blindlings zu gehorchen gelernt hatten und in deren Hand der Löwentheil des Erbes, welches ihnen von Rechts wegen zukam, schon bei Lebzeiten Ramses’ III. gefallen war, wußten sie nach Gutdünken zu leiten. Sie halfen ihrem Vater, sich ein Grab im Thale der Königspforten und ein Memnonium im Süden der Nekropole (das heutige Medinet Habu) herzustellen, wie er es sich nicht großartiger wünschen konnte, und ließen sich auch für ihre eigenen Mumien ansehnliche und reich ausgeschmückte Grüfte anlegen. Der Sorge für das Leben nach dem Tode sollte das Dasein dieser Ramsessöhne gewidmet sein. Kein Wort, keine That auch nur von geringfügiger Größe sehen wir sie aussprechen oder verrichten. Endlich geht die gesammte Lenkung des Staates auf ihre priesterlichen Vormünder über, und der Oberpriester Herihor macht aus dem Gaukelspiele Ernst, reißt den Ramessiden das Scepter aus der schlaffen Hand und regiert Aegypten zugleich als geistlicher und weltlicher Herrscher. Alle Attribute der Pharaonenwürde nimmt er für sich in Anspruch, und das echte Herrscherhaus wird theils verbannt, theils in dunkler Verborgenheit am Leben erhalten, um den Usurpatoren durch Ehen mit ihren Töchtern den Schein der Legitimität zu verschaffen.
Die Macht Aegyptens und die Größe Thebens ging in dieser Zeit der geistlichen Herrschaft mit jäher Schnelligkeit zurück. Was ihm in Asien und Aethiopien unterthänig oder tributpflichtig gewesen war, fiel von ihm ab, und während sich die Städte im Delta durch den zunehmenden Verkehr mit den aufblühenden Staaten des Nordens und Ostens hoben, sank Theben zu einer Priesterwohnung herab.
Die geistlichen Leiter der Tempel und Schulen in der Nekropole hatten früher mächtigen Einfluß auf den für die Seligkeit nach dem Tode besorgten Pharao geübt; jetzt mußten sie sich blindlings den Verordnungen des priesterlichen Herrschers und königlichen Oberpriesters fügen, der jenseit des Nils residirte.
Die Mazaiu, denen die Bewachung der Nekropole nicht aus der Hand genommen werden konnte, gehörten jener libyschen Söldnertruppe an, welche sich in der Armee der großen, kriegführenden Pharaonen ausgezeichnet hatte, und die nun ein Mamlukenkorps bildete, dessen Macht den priesterlichen Königen von Jahr zu Jahr gefährlicher wurde und endlich auch ihren Sturz veranlaßte. Ihr Befehlshaber in der Nekropole stand in offenem Gegensatz zu dem Haupte der Wohnstadt und Residenz Theben, und das aufmerksame Studium des sogenannten Papyrus Abbot, welcher das Protokoll über die Wirksamkeit einer Enquetekommission in der Nekropole enthält, macht uns mit den Verhältnissen daselbst recht wohl vertraut. Unter einem der letzten Ramessiden waren Königsgräber beraubt worden, und nun mußte eine Fürstengruft nach der andern untersucht werden, damit man feststellen könne, in welche die Diebe gedrungen seien, in welche nicht. Die Enquete ergab, daß von zehn untersuchten Gräbern nur eins beraubt worden war, und die folgenden Ereignisse, von denen unser Papyrus berichtet, lehren mit voller Sicherheit, daß die hohen Beamten, denen die Leitung des Wohnortes Theben anvertraut war, den anderen, welche über die Nekropole geboten, höchst feindselig gegenüber standen. Wir mögen den längst verstorbenen Mazain und ihrem Chef, die sich nicht mehr vertheidigen können, nicht an die Ehre rühren, aber das oben erwähnte Dokument muß doch den Verdacht erwecken, als hätten sie mit den Kontrolleuren gemeinsame Sache gemacht und den Plünderern der kostbar ausgestatteten Fürstengrüfte durch die Finger gesehen. Jedenfalls muß kurze Zeit später die Mumie des Pharao Amenophis I., dessen Gruft die Untersuchungskommission für unangetastet erklärt hatte, bereits ihres kostbaren Schmuckes beraubt gewesen sein, und das Geständniß der Diebe, welche in die einzige von der Kommission für ausgeraubt erklärte Gruft gedrungen waren, liefert den Beweis, daß es in einer Fürstengruft in der That recht ansehnliche Beute zu machen gab.
Je schwächer die Regierung ward, desto leichter konnten sich Diebesbanden bilden, welche einen wohlorganisirten und so gewinnreichen Gräber- und Leichenraub trieben, daß es den libyschen Mazain, welche sich wenig um die ägyptische Unsterblichkeitslehre gekümmert haben werden, recht wohl reizvoll erscheinen konnte, den Verbrechern gegen einen erheblichen Gewinnantheil freies Spiel zu lassen. Dabei waren die Mazain und ihre Stammes- und Standesgenossen in allen Gauen des Landes zu mächtig, als daß es die priesterlichen Pharaonen hätten wagen können, sie abzusetzen; übrigens war es auch keine leichte Arbeit, die stundenweit aus einander liegenden Theile der Nekropole genügend zu überwachen. Jedenfalls geschah in dieser Zeit das Unerhörte, daß – die 1881 entdeckten Mumien und die schon früher geöffneten Fürstengrüfte beweisen es – die Leichen und Gräber der größesten aller Pharaonen jeder Kostbarkeit, mit der man sie und ihre Särge geschmückt und ihre Ruhestätten ausgestattet hatte, beraubt worden sind. Kein Goldbeschlag, kein werthvolles Amulett, kein verkäufliches Geräth, das die Pietät der Nachkommen ihnen mit ins Grab gegeben hatte, blieb erhalten, und doch sind sie vor vier Jahren in genau demselben Zustand wiedergefunden worden, wie man sie, um sie vor völliger Vernichtung zu retten, unter einem der Könige der 22. Dynastie, welche sich zu Bubastis im Delta erhoben und mit ziemlicher Gewißheit zu den libyschen Mamlukenhäuptern gehört haben, in der Sammelgruft der Pharaonen des Tanitischen Hauses der 21. Dynastie zusammengebracht hatte.
Das priesterliche Regiment des Herihor sollte keine lange Dauer haben. Schon sein Sohn und Enkel werden nur noch Oberpriester genannt, und ihre Macht scheint nicht über die Grenzen Thebens hinausgereicht zu haben. So mußte denn das Land widerstandslos den libyschen Söldnern gehorchen, und einer von ihnen, Seamon, machte sich, wenn unsere von E. Meyer und Anderen schon früher erörterte Kombination das Rechte trifft, zu Tanis zum Beherrscher des ganzen Landes. Er ist auch nach Theben gekommen, und als er dort in der Nekropole die Grüfte der größten Pharaonen ausgeraubt und sogar ihre Mumien von Dieben aufgerissen fand, befahl er, sie vor völligem Untergange zu retten und sie so gut wie möglich wieder herzustellen. Zuerst war die Leiche Ramses’ II., des großen Sohnes Seti’s I., in die herrliche Gruft des letzteren gebracht worden, um sie dort in einen würdigern Zustand zurückzuversetzen. Später wurden dann die Mumien des Vaters und Sohnes im Grabe Amenophis’ I. aufbewahrt, wohin man schon andere balsamirte Körper bedeutender Fürsten aus der Zeit der 17. und 18. Dynastie gebracht hatte. Dies war jedenfalls geschehen, weil das Thal der Königspforten, wo sich Seti’s I. Felsenmausoleum befand, hinter dem Sargberge und ziemlich weit von dem bewohnten Theile der Nekropole lag, [811] während die Ruhestätte Amenophis’ I. sich unweit des Terrassenbaues der Hatschepsu öffnete und mit Hilfe eines wenig zahlreichen Wächterkorps bequem zugleich mit derjenigen Gruft, welche die Könige der 21. (tanitischen) Dynastie für die Mitglieder ihrer eigenen Familie angelegt hatten, behütet werden konnte.
Dieses Grab wich sowohl in seiner Gestalt, wie in seiner Lage und Verwendung durchaus von denjenigen früherer Pharaonen ab; denn es ward in einer Höhe von 64 Metern, an einer schwer zugänglichen Stelle der Gebirgsbucht angebracht, welche sich nach Abd el-Qurna hin an das Felsenamphitheater von Der el-bahri schließt, und sein Eingang war von keinem Theile der Ebene unter ihm sichtbar. Außerdem bestand es nicht, wie die Grüfte im Thal der Königspforten, aus einer Reihe von Gemächern, die einander folgen, sondern zuerst aus einem Schacht, der, nur 2 Meter breit, 11,50 Meter tief in den Felsen führte und von dessen Ende aus in der Westwand ein Stollen sich abzweigte, der, nicht höher als 0,80 und nicht breiter als 1,40 Meter, den Besucher zwang, dem Laufe des Ganges in gebückter Haltung zu folgen. 7,40 Meter geht er so fort und schwenkt dann plötzlich nach Norden hin ab. Diese Richtung hält er in einer Länge von 60 Metern inne, wird dabei bald bis zu 1,30 schmal, bald bis zu 2 Meter breit und ändert auch sein Niveau so beträchtlich, daß man von vornherein zur Bequemlichkeit der Besucher des Gruftsaales ein halbes Dutzend Stufen roh in den Stein gehauen hat. Eine durch Meißelhiebe erzeugte Vertiefung an der rechten Wandung des Ganges beweist, daß einmal die Absicht vorlag, ihn eine neue Schwenkung machen zu lassen; dieselbe ist aber nicht zur Ausführung gekommen, und so mündet dieser lange Schacht gegenwärtig in einen großen schmalen Saal, der roh und ungleichmäßig in den Felsen gehauen ist und die beträchtliche Länge von 80 Metern besitzt.
Mit dieser Sammelgruft in einer Felsenhalle hatten die Pharaonen der 21. Dynastie, denen es gefiel, wie die spanischen Könige in der Fürstengruft des Eskurial, an ein und derselben Stelle eng vereinigt die lange Dauer des Todes zu verbringen, das alte Princip aufgegeben, welches jedem einzelnen Könige vorschrieb, eine Gruft für sich allein herzustellen, und allerdings besaß dieses Grab in unsicherer Zeit und an einer schwer zu erkletternden Stätte den Vorzug einer beinahe absoluten Unzugänglichkeit. Von der Ausschmückung desselben mit Inschriften und bildlichen Darstellungen war abgesehen worden; dafür aber hatte man den dahingegangenen Mitgliedern dieses wenig begünstigten Emporkömmlingsgeschlechtes als Wegweiser durch die Unterwelt je einen Papyrus, wie man ihn sonst für reiche Privatleute herstellte, mit in den Sarg gelegt.
Nachdem die 22. Herrscherreihe, sehr wahrscheinlich die Familie des Chefs des zu Bubastis stationirten libyschen Mamlukenkorps, die Taniten vom Throne gestoßen, fand einer der ersten unter ihnen die Sammelgruft des Regentenhauses, welches dem seinen vorangegangen war, für geeignet, die Mumien der größten Pharaonen zu beherbergen, die er bei einem Besuche Thebens in der Gruft Amenophis’ I. vorgefunden und dann pietätsvoll noch einmal einer Ausbesserung unterworfen hatte. Seine Wahl war gut; denn dies Grab konnte, wie gesagt, für das unzugänglichste in der ganzen Nekropole gelten, und es war von Der el-bahri aus sehr leicht vor Dieben zu schützen.
Als man vor Kurzem in diesem Versteck so viele Mumien solcher Pharaonen fand, deren Grüfte an anderen Theilen der Todtenstadt längst aufgefunden worden waren, hatte man anfänglich geglaubt, daß man sie vielleicht während des Einfalles der Assyrer unter Assarhaddon und Assurbanipal in Oberägypten, oder um sie vor der Wuth des Persers Kambyses zu schützen, der ja nach Herodot in der That Pharaonenleichen freventlich zerstört haben sollte, in ein unfindbares Versteck zusammengebracht habe; aber es sind an mehreren Särgen Notizen von der eigenen Hand der Ausbesserer gefunden worden, welche über die genannten Restaurationen und Verschleppungen Näheres mittheilen und uns berechtigen, den Hergang der Dinge so, wie es hier geschehen ist, darzustellen.
Auch ein anderer oben erwähnter Umstand findet nun seine Erklärung.
Alle Räume des großen Terrassentempels von Der el-bahri und selbst die Höhlungen in seinen Substruktionen sind in den der Zeit, von der wir reden, folgenden Tagen mit Mumien aus allen Ständen angefüllt worden, und dies ist gewiß nur geschehen, weil im Tempel von Der el-bahri oder in seiner unmittelbaren Nähe die Mannschaften stationirt waren, welche das Versteck der Königsleichen zu bewachen hatten. Man konnte also nirgends besser als hier die irdischen Reste seiner Hinterbliebenen vor dem Raubgesindel der Nekropole, welches in der Ptolemäer- und Römerzeit sein Wesen frecher als je getrieben haben wird, sicherstellen.
Das große Felsenversteck enthielt bei seiner Entdeckung nichts Erhebliches mehr von solchen Dingen, welche die Habsucht der Leichenräuber reizen konnte, und so liegt die Vermuthung nahe, daß, nachdem diese mehrfach erfahren hatten, es sei in dem schwer zu erklimmenden Versteck nichts Belangreiches mehr zu holen, ihre Anziehungskraft auf die Diebe verschwand und sie endlich völlig in Vergessenheit gerieth.
Als wir uns im Winter 1872 bis 1873 während einer Reihe von Monden in einer Gruft zu Abd el-Qurna häuslich niedergelassen hatten und nach uneröffneten Grüften und neuen Inschriften suchten, stellte sich häufig ein schneidiger, gewandter und findiger Araber Namens Abd el-Rassul in unseren Dienst. Er war ein guter Jäger, kannte die Wechsel der Schakale und begleitete uns des Abends, wenn wir nach gethaner Arbeit diesen schlauen und schnellen Söhnen der Nekropole auflauerten, welche oft zu Vieren und Fünfen in langer Reihe an dem gelben Kalkgefels hin lautlos zum Fruchtlande niedersteigen, um dort Beute zu suchen.
Leider ist es mir damals nicht eingefallen, diesem Manne, der die Denkmäler wie kein anderer kannte, einen ungewöhnlich hohen Lohn für einen wichtigen neuen Fund zu bieten! Ja leider; denn es lag schon damals in seiner Hand, mich die größte Entdeckung machen zu lassen, von der unsere an herrlichen archäologischen Funden so reiche Zeit zu erzählen weiß. Jedenfalls ist er ein Jahr nach unserem Aufbruche in der Lage gewesen, an den englischen Obersten Campbell, welcher sich der britischen Expedition zur Beobachtung des Venusdurchganges in Theben angeschlossen hatte, einen aus unserem Versteck stammenden Papyrus für 400 Pfund Sterling zu verkaufen.
Bald darauf zeigte der französische Orientalist Mr. de Saulcy seinem Landsmanne Maspero, dem trefflichen Direktor des Museums von Bulaq und aller Ausgrabungen in Aegypten (Mariette’s Nachfolger), Photographien des Todtenbuches der Mutter des ersten Priesterkönigs, und bald ergab es sich, daß diese lange Rolle von ihren Entdeckern in zwei Stücke geschnitten worden war, von denen eins schließlich nach Paris in den Louvre gelangte und das andere in England vor Anker ging.
Von 1878 an kamen sodann in Aegypten (sogar in Sues) immer mehr Papyrus und andere Antiquitäten in den Handel, welche sicher nur Mitgliedern der 21. Dynastie angehört haben konnten, deren Gräber bis dahin ganz unbekannt geblieben waren, und in Dr. Maspero wurde der Verdacht rege, daß Grüfte aus der Zeit der erwähnten Herrscherreihe eröffnet worden seien und ihr Inhalt hinter dem Rücken der Regierung von den Fellachen unter der Hand und, wie es sich bald herausstellte, mit Hilfe eines der reichsten und angesehensten Bürger von Luqsor, Mustapha Aga, an den Mann gebracht werde. Diesem alten Herrn war schwer beizukommen; denn er bekleidete die Würde eines englischen und belgischen Vicekonsuls, und sobald die Regierung ihn ernst anzufassen und ihn zu zwingen versuchte, über die Herkunft der von ihm verkauften Stücke aus unbekannten Königsgräbern Rechenschaft zu geben, pochte er in der That auf seine Stellung als Vertreter des mächtigen England.
Mein alter Jagdgenosse Abd el-Rassul benutzte den Diplomaten und Hehler in einer Person als Schirm und gab sich für seinen Diener aus; aber gerade durch ihn waren verdächtige Stücke in den Handel gekommen, und so machte denn Dr. Maspero eines Tages kurzen Proceß und ließ ihn, obgleich er sich auf Großbritannien berief, das Mitglied eines englischen Hauses zu sein betheuerte und Mustapha Aga ihm beizustehen versuchte, nach Qene bringen und dort ins Gefängniß setzen. Indessen mußte er nach zweimonatlicher Haft wegen mangelnder Beweise freigelassen werden.
Abd el-Rassul kehrte nach Theben zurück, aber dem Jäger hatte das Stillsitzen zwischen vier Wänden nicht gefallen, und es war ihm klar geworden, daß Maspero der Mann sei, Ernst zu
[812] machen. Es konnte ihm sehr übel ergehen, und nachdem er dann auch noch in Zwist mit seinen Brüdern gerathen, machte er sich heimlich nach Qene auf und legte dort vor der höchsten Behörde das Geständniß ab, daß er eine große Gruft entdeckt habe, in der sich viele Mumien befänden, die er nach gewissen äußeren Anzeichen für Königsleichen halten möchte. Diese frohe Botschaft ward sogleich nach Kairo telegraphirt; da Maspero sich aber kurze Zeit vorher nach Europa begeben hatte, wurde Emil Brugsch B[ey], der rührige und für das Museum, welches unter seinen Augen und mit seiner Beihilfe groß geworden war, begeisterte Bruder des großen Aegyptologen H. Brugsch, mit dem Auftrage betraut, das Sammelgrab, dessen Existenz Abd el-Rassul verrathen, zu untersuchen und die Schätze, welche es barg, nach Kairo zu befördern. (Schluß folgt.)
Fortuny und seine „Spanische Hochzeit“.
Der Tag, an dem Fortuny’s „Spanische Hochzeit“ in Paris ausgestellt wurde, steht so lebhaft vor mir, als ob er soeben erst vergangen wäre. Und doch sind eine gute Anzahl Jahre seitdem verflossen. Es war ein Frühlingstag mit veränderlichem Wetter. Etwa um die Mittagszeit ging ich vom Quai des Grands Augustins, wo ich damals wohnte, über den Pont des Sts. Pères nach den Tuilerien zu. Ein paar Regentropfen fallen, als ich die Brücke betrete, und ich will umkehren; da kommen zwei mir bekannte Maler, von denen der eine Spanier ist, mir entgegen.
„Haben Sie den Fortuny bei Goupil schon gesehen, der seit heut Morgen aufgestellt ist?“ fragt der Erste.
„Nein.“
„So müssen Sie sogleich hingehen; geben Sie Acht, neben diesem Fortuny wird nicht viel bestehen können!“ ruft der Spanier mit Stolz, denn er ist zufällig aus derselben Provinz gebürtig wie Fortuny.
„Kommen Sie – wir kehren mit Ihnen noch einmal um,“ drängt der Erste.
Jetzt regnete es wirklich. Aber vergeblich wende ich ein, daß ich keinen Schirm habe. Der Spanier, der keinen Augenblick verlieren will, um mit seinem Landsmann vor mir zu prahlen, ruft die nächste Droschke an. In fünf Minuten sind wir bei Goupil. Wer das Lokal kennt, weiß, daß man eine Anzahl größerer Räume durchschreitet, ehe man zu einem kleineren Gemach mit Oberlicht kommt, in welchem werthvollere Bilder ausgestellt werden. In den Vorzimmern hing allerlei Buntes durch einander; kein Bild von besonderer Qualität und das wohl mit Absicht. Man sagte, Goupil wolle Fortuny mit der „Spanischen Hochzeit“ lanciren, und das Auge sollte darum durch Mittelmäßigkeiten darauf vorbereitet werden. Wir sahen aber weder rechts noch links, sondern drängten vorwärts. Der Spanier schlug die dunkle Portière vor dem letzten Gemach zurück, wo der Fortuny allein ausgestellt war, und da hatte ich das wunderbare Bild vor mir, wie ich es jetzt noch in meine Erinnerung zurückrufen kann. Kein modernes Bild hat mir einen lebhafteren Eindruck hinterlassen.
Von der Komposition, der guten Vertheilung der Gruppen und der scharfen Charakteristik wird die beigefügte Abbildung unseren Lesern eine Vorstellung geben. Von der Leuchtkraft des Ganzen, vom Zauber des Kolorits kann bei einer Uebersetzung in Schwarz natürlich nicht die Rede sein.
Den nächsten Tag war es Théophile Gautier – die große Glocke der Kritik – der in einem Feuilleton des „Journal des Dèbats“ darauf hinwies, daß der Spanier Fortuny ein Malergenie ersten Ranges sei und daß sein Gemälde eine „Offenbarung“ in der Kunst bedeute. Es versteht sich, daß die kleineren und kleinsten Glocken der Kritik in das Geläute mit einstimmten. Das Publikum aber war herzlich froh, endlich einmal etwas Neues, das ihm sehr gefiel, schon weil es ganz apart und originell war, von Anfang an bewundern zu dürfen, ohne befürchten zu müssen, sich durch seine Anerkennung zu blamiren. Gautier hatte gesprochen – der Beifall war patentirt.
Mit einem Schlage wurde nun der bis dahin fast Unbekannte – er hieß mit seinem vollen Namen Mariano José Maria Fortuny, und war 1839 in Rëus, der Hauptstadt der spanischen Provinz Tarragona, geboren – zum berühmten Manne. Eine ganze Woche lang war er der Gegenstand aller Künstlergespräche. Wer sein Bild noch nicht gesehen, hatte überhaupt noch nichts gesehen; wer an seinem Werthe zweifelte, hatte kein Urtheil.
Ein Triumph wie dieser gehört selbst in Paris zu den Seltenheiten; trotzdem blieb er auf den Charakter des Künstlers ohne Einfluß, denn Fortuny – eine seltene Ausnahme – liebte die Kunst mehr als den Erfolg. Ich glaube nicht, daß mit seinem Willen je eines seiner Gemälde auf eine öffentliche Ausstellung geschickt wurde. Geräuschvolle Anerkennung – er war damals in Paris anwesend und sprach sich darüber aus – war ihm in der Seele zuwider. Fortuny hatte nur Sinn für seine Arbeit und malte oder skizzirte überall – bei Tag, am Abend; im Atelier, im Feld, auf dem Krankenlager. Es lief damals ein Gerücht, daß er keinen anständigen Hut besitze, um des Zwanges überhoben zu sein, in Gesellschaften mitgenommen zu werden.
Wie die meisten Maler, die Hervorragendes geleistet haben, war er von bescheidener Herkunft. Mit zehn Jahren Waise, hatte er seinen Großvater, der ein kleines Wachsfigurenkabinett besaß, auf den Wanderungen begleitet, bis ein Bildhauer, Talarn, zufällig sein Zeichentalent entdeckte. Der ebnete ihm die ersten Schritte; Fortuny’s Fleiß und Energie thaten das Uebrige. Der Weg war steinig und Armuth seine Begleiterin, aber Fortuny kam ans Ziel.
Vom Bekanntwerden seiner „Spanischen Hochzeit“ an flossen ihm Geld und Ehren von allen Seiten zu. Kein moderner Maler – Meissonier eingerechnet – hat solche Preise erzielt, besonders während der Zeit, wo in Paris das Fortuny-Fieber grassirte. Es brach nach des Malers Tode aus, der leider schon ein paar Jahre nach seinen Pariser Triumphen, am 21. Oktober 1874 in Rom erfolgte. Die „billigste“ seiner Atelierskizzen – ein paar Federstriche, die ihm Minuten gekostet – wurde im Hôtel Drouot bei der Versteigerung seines Nachlasses mit 900 Franken bezahlt. Danach ein definitives Urtheil über den Werth seiner Arbeiten auszusprechen wäre vermessen. Hohe Preise sind nur der Beweis, daß ein Künstler das Glück hatte, in die Mode zu kommen – weiter nichts. Freilich kann man zum Lobe der Fortuny’schen Bilder anführen, daß die feingebildetsten Kunstkenner bei ihrem Anblick einen ebenso hohen Genuß zu empfinden schienen, wie ihnen nur je ein altes Bild, dessen Werth durch hundertjährige Pergamente verbrieft ist, gewähren konnte. Aber Dichter wie Turgenieff oder Bret Harte, Maler wie Fortuny oder Makart hängen mit ihrer Zeit so unmittelbar zusammen, sie tragen ihre Vorzüge und Schwächen so scharf ausgeprägt, daß man befürchten muß, der Zauber, den sie auf uns ausüben, liege zum Theil in der Atmosphäre begründet, aus der sie hervorgingen. Kenner und Laien aber werden durch den Einfluß ihrer Zeit getäuscht, wie die Erfahrung lehrt. Eins jedoch ist nicht zu bestreiten – neben dem echten Künstlertemperament verrathen Fortuny’s Bilder in der korrekten Durchführung auch den gewissenhaften Menschen, der im Künstler steckte.
Doch zurück zu unserer „Hochzeit“! Fortuny hat das Bild nie so genannt; er taufte es „La Vicaria“, nach dem Raum, in welchem die Handlung stattfindet. Vicaria ist etwa mit Sakristei zu übersetzen, obgleich die beiden Worte sich nicht ganz decken. Die Kostüme weisen auf die Zeit des Direktorats. Wir haben hier die französischen „Merveilleux“ in der spanischen Uebersetzung vor uns. Die Trauung hat soeben stattgefunden, und man ist vom Altar durch das noch geöffnete Thor in die Sakristei getreten, um der kirchlichen Weihe die weltliche Beglaubignng durch Eintragung der Namen ins Kirchenbuch zu geben. Die Gesellschaft ist vornehm, und ihrer würdig ist der Raum, der sie umgiebt. Das eiserne Gitter im Geschmack der Spätrenaissance ist echt vergoldet. Echt ist sonder Zweifel auch das Bild Zurbaran’s: „Die Vision des heiligen Felix“, die rechts vom Beschauer an der Wand hängt, und ebenso echt ist der Barockrahmen des Spiegels, der sich genau in der vorschriftsmäßigen Höhe vom Boden befindet.
Der Bräutigam unterzeichnet seinen Namen. Er bückt sich dabei so tief herab, daß sein zierlicher Zopf wie ein Fragezeichen auf dem Rücken tanzt. Die Hast, mit der er seinen Eintritt ins eheliche Joch betreibt, erweckt bei dem gemessenen Vikar Bedenken. Er hat sich vom Stuhl erhoben und folgt prüfend der Hand mit der Feder, ob sie das Dokument auch nicht um einen Buchstaben betrüge. Drastisch ist die Figur des Küsters, der mit ausdrucksvoller Handbewegung auf einem andern Blatte dem Ungeduldigen die Stelle anzudeuten scheint, welche der Unterschrift vorbehalten ist. Sie ist nicht ungeduldig; das Glück an seiner Seite kommt ihr wohl früh genug. Vielleicht ist’s für sie gar kein Glück, was er so heiß ersehnt … Doch darf man darauf nicht aus dem Schluchzen der alten Wärterin neben ihr schließen, die sie voraussichtlich vor beinah achtzehn Jahren auf ihren Armen zur Taufe trug. Das sind Thränen, die bei jeder Hochzeit fließen. Die schöne junge Braut liest einen Brief; aber es ist keine tiefe Empfindung, die er erregt. Ein flüchtiges Lächeln der Eitelkeit ruft er nur hervor, denn es ist der erste – das Kouvert liegt am Boden – der ihrem Namen den ihres Gatten zufügt. In Spanien verliert eine Frau ihren väterlichen Namen in der Vikaria nicht, sondern erhält als Zeichen ihrer neuen Würde nur einen zweiten noch dazu. Enthielte der Brief Wichtiges, so würde sie ihrer Freundin, Alegria, kaum gestatten, ihn gleichzeitig zu lesen. Die allerliebste Alegria vergißt übrigens beim Lesen nicht, daß ein langes Kleid seine Nachtheile hat, wenn man einen der kleinsten Füße in Spanien besitzt; sie vergißt eben so wenig, daß der Arm eine ganz entzückende Linie beschreibt, wenn er durch Aufraffen der Falten dem Füßchen zu Hilfe kommt – am wenigsten aber vergißt sie, daß es nun hohe Zeit sei, nachzudenken, wo sich für sie ein solcher Ungeduldiger fände, wie ihn die Freundin bereits errungen. Unter den Hochzeitsgästen scheint er nicht zu sein. Das Herrenpersonal weist augenscheinlich zwar auch ein paar Ungeduldige auf, aber nicht von der Art des Bräutigams. Vielleicht kennt einer oder der andere das Menu des hochzeitlichen Frühstücks, oder ist willig den engen Staatsrock abzulegen. Ein paar Schritte hinter der Braut steht die noch jugendliche Mutter. Wie alle Mütter bei ähnlichen Gelegenheiten zieht sie die Augenbrauen in die Höh’ und läßt die Mundwinkel sinken. Es versteht sich ganz von selbst, daß sie meist mit gefalteten Händen dasteht. Eine Anverwandte des Hauses mit sehr vollem Halse, sehr schwarzen Haaren und sehr rothen Rosen ist das Bild der Grandezza. Weit lieber war mir aber jene Señora – auf dem Original wenigstens – welche, den Nacken uns ganz zuwendend, nur an der Wendung des Kopfes errathen läßt, daß sie über den Fächer hinaus ein feines, spöttisches Lächeln dem Supplikanten zuwirft, welcher sich in einem Aufzuge vor ihr verneigt, der [813] Nichtspaniern etwas allzu spanisch vorkommen dürfte. Er gehört zu einer religiösen Ordensgesellschaft und hat auf Grund eines alten Brauches die nur die Augen freilassende Kaputze über den Kopf geworfen, um mit halb entblößtem Oberkörper den bei Hochzeiten üblichen Zoll für die Kirche einzufordern.
In feinerer Weise wird der alte Herr vom Kapitel, welcher sich mit dem begüterten Vater der Braut, links vom Beschauer eifrig unterhält, für das Wohl der Kirche zu sorgen wissen. Hat er sich doch einen der großen Folianten dabei zu Hilfe gerufen, welche Bräuche und Mißbräuche mit gleicher Geduld durch die Jahrhunderte tragen. Die Gruppe der Dienerschaft, rechts im Vordergrund, ist fast mit Vorliebe behandelt. Uebrigens muß man spanische Domestiken im Lande selbst kennen gelernt haben, um ihre sprichwörtliche Nonchalance im Dienst zu begreifen. Das gilt besonders von den Kammerkätzchen, wie die reizende Zofe in der schwarzen Mantille mit den wunderbar gemalten Händen beweist. Sie erinnern noch häufig an die Soubrette Molière’s, die zwischen der Vertrauten und Dienerin schwankt.
Das eben besprochene Bild ist heutigen Tages Eigenthum von Madame de Cassin in Paris, deren Galerie moderner Gemälde, dem Publikum wenig zugänglich, auf 5 Millionen Franken geschätzt wird. Notorisch ist, daß sie unlängst eine Million Franken ausgeschlagen hat, welche ihr für die „Spanische Hochzeit“ und Henry Regnault’s nicht minder berühmte: „Salome“ (la femme jaune) angeboten wurde.
Wer Gelegenheit hatte, in Paris oder London – Deutschland hat davon wenig aufzuweisen – Bilder von Fortuny zu sehen, der wird in ihm einen der liebenswürdigsten und genialsten der modernen Meister kennen gelernt haben. Ich füge nur noch hinzu – und jeder, der ihn kannte, wird das gern bestätigen – daß der Mensch, der den Künstler nur allzusehr verbarg, diesem vollkommen ebenbürtig war. C. B.
Sankt Michael.
(Fortsetzung.)
Es dauerte eine ganze Weile, ehe der vor Erschöpfung und Todesangst halb Besinnungslose im Stande war, die Frage des Försters ausführlich zu beantworten. Es war ein alter Diener des gräflichen Hauses, treu und zuverlässig im gewöhnlichen Leben, weßhalb ihn die Gräfin auch eigens zum Begleiter ihrer Tochter bestimmt hatte; in der Gefahr aber war er augenscheinlich ganz rath- und hilflos gewesen und hatte die Lage seiner Herrin nur verschlimmert.
Sie hatten in der That, wie Michael vorausgesetzt, den falschen Weg genommen und bemerkten erst an der Bergkapelle ihren Irrthum. Jetzt wandten sie allerdings die Pferde, aber der Mond, der bis dahin hell geleuchtet, begann sich zu verschleiern und ihre Unkenntniß der Gegend wurde ihnen verhängnißvoll. Vergebens wandten sie sich hierhin und dorthin; sie konnten die Fahrstraße nicht wiederfinden, verloren endlich ganz die Richtung und geriethen vollständig in die Irre. Die Pferde, abgehetzt und unruhig geworden durch das planlose Umherirren, waren schließlich nicht mehr von der Stelle zu bringen; es blieb nichts übrig, als abzusteigen.
Jetzt brach der Sturm los, und von allen Seiten zog das Gewölk heran. Die Gräfin hatte befohlen, die Pferde zurückzuholen, die sie nicht allzuweit an einem Abhange zurückgelassen hatten. Es war ihr letzter Rettungsversuch, sich dem Instinkt der Thiere anzuvertrauen, und der Diener hatte das auch ausführen wollen, aber plötzlich sah er sich von dichtem, eisigem Nebel umgeben, der selbst das Nächste verhüllte. Er fand weder die Pferde, noch fand er sich zu seiner Herrin zurück. Sein angstvolles Rufen verhallte im Toben des Sturmes, und wahrscheinlich entfernte er sich immer weiter von ihr, während er sie suchte. Wie er schließlich hierher gerathen war, wußte er nicht zu sagen.
„Das ist nun noch das Tollste von Allem!“ brach der Förster aus. „Jetzt ist die Gräfin gar allein und möglicherweise ist sie wirklich nach der Adlerwand zu, wie Hauptmann Rodenberg es sich in den Kopf gesetzt hat. Wenn ich nur wüßte, was sie ihn eigentlich angeht, daß er wie toll und blind sein Leben für sie einsetzt! Aber nun vorwärts! Zurück zur Bergkapelle! Auf dem Wege rufen wir noch ununterbrochen, vielleicht hilft es doch!“
Das Unwetter tobt noch immer mit unverminderter Gewalt. Jagendes Sturmgewölk am Himmel, jagendes Sturmgewölk an den Bergen, ein wildes Heer von Nebel- und Schattengestalten! Dazu ein Brausen, Tosen, Heulen, das durch die Lüfte zieht und aus den Klüften emporzusteigen scheint, wie tausend Stimmen der Nacht und des Verderbens.
Am Fuße einer mächtigen Wettertanne, deren Wipfel kahl und abgestorben in die Luft hinausragt, ist eine Frauengestalt zusammengesunken, zu Tode erschöpft von dem stundenlangen Umherirren, erstarrt von dem eisigen Nebel, an jeder Rettung verzweifelnd. Das zarte, verwöhnte Grafenkind, das nur von Glanz und Pracht umgeben, sorgfältig vor jeder Anstrengung, jeder Unbequemlichkeit behütet wurde, hat sich doch tapfer und unerschrocken gezeigt der wirklichen Gefahr gegenüber, hat dem zagenden Begleiter Muth zugesprochen und ihn und sich aufrecht erhalten, so lange sie beisammen waren. Der alte zitternde Diener konnte seine junge Herrin nicht schützen und berathen, aber es war doch wenigstens ein Mensch an ihrer Seite; jetzt ist auch der verschwunden; kein Rufen, kein Suchen bringt ihn zurück, und jetzt ist sie allein, umgeben von allen Schrecken dieser wilden Sturmnacht, ganz allein!
Seitdem ist mehr als eine Stunde verflossen, und Hertha hat nur eine traumartige Erinnerung von dieser Zeit: finstere, brausende Wälder, dunkle Felshäupter, die gespenstig aufragen, Wildwasser, deren schäumender Gischt matt aufblinkt in der Mondesdämmeruug – das Alles ist wie Schatten an ihr vorübergezogen, und sie ist weiter geirrt, immer weiter, immer in der Hoffnung, noch einen Ausweg zu finden. Wie eine Nachtwandlerin ist sie an Klüften und Abgründen vorübergegangen, ohne die Furchtbarkeit ihres Weges zu ahnen, den sie nun und nimmermehr im hellen Tageslicht gemacht hätte. Aber jetzt endet der Pfad, der sie immer weiter aufwärts geführt hat, und sie kann auch nicht mehr, sie bricht zusammen.
Der Sturm scheint auf eine Minute den Athem anzuhalten; der Himmel ist heller geworden, und jetzt tritt der Mond hervor und beleuchtet klar und scharf die Umgebung. Hertha sieht, daß sie auf einen schmalen, felsigen Abhang gerathen ist und daß ihr unmittelbar zur Seite die Tiefe gähnt – rings umher ein wild zerklüftetes Meer von Felsen und Klippen, tiefer unten die nachtschwarzen Wälder und oben, in schwindelnder Höhe aufragend, die Adlerwand, an deren Felsenschroffen die Wolken dahinjagen und deren Gipfel geisterhaft leuchten in ihrem blendenden Schneegewände. Dumpf, aber deutlich vernehmbar dringt das Rauschen der stürzenden Gletscherbäche herüber, doch das Alles dauert nur Minuten. Dann beginnt von Neuem das Toben, das jeden anderen Laut verschlingt; der Mond verschwindet, und wieder verschwimmt Alles in dem fahlen unheimlichen Dämmerschein.
Die alte Tanne schwankt und ächzt und senkt sich immer tiefer; es ist, als wolle der Sturm sie losreißen von ihrem Felsengrunde. Hertha hält mit beiden Armen den Stamm umklammert; sie weint nicht, jammert nicht, aber ihr ganzer Körper bebt in Todesangst, und ein schwerer, eisiger Druck legt sich auf ihre Schläfe. Ihre Augen hängen noch immer an jenen weißleuchtenden Gipfeln, die allein noch deutlich niederschimmern, und die alte Michaelssage steigt wieder in ihrer Erinnerung auf. Von dort fährt ja Sankt Michael nieder, beim Anbruch des nächsten Tages! Kann der mächtige Schutzpatron ihres Geschlechtes, der siegreiche Heerführer des Himmels, zu dem morgen Tausende flehen: kann er nicht auch ein armes Menschenkind erretten, dessen junges warmes Leben zurückschaudert vor der eisigen Umarmung des Todes? Aber sein Reich beginnt ja erst mit dem aufsteigenden Lichte; erst mit dem Morgenstrahle zuckt sein Flammenschwert segnend und heilbringend über die Erde hin, und jetzt herrscht noch die Nacht und das Verderben!
Ein heißes, flehendes Gebet ringt sich empor aus der Brust der Verirrten. Vor ihren Blicken steht ja noch so deutlich das Bild des Erzengels mit den Adlerflügeln und den Flammenaugen, wie er über dem Hochaltare thront, von der Gluth der Abendsonne wie von einem Glorienschein umwoben, und neben ihr an jener Stätte hat ein Anderer gestanden, der die Züge jenes Bildes trägt und der ihr einst zurief: „Stände mir mein Glück auch so hoch und unerreichbar wie die Adlerwand, ich würde hinaufdringen, und brächte mir jeder Schritt Verderben!“
[814] Hertha weiß, daß es keine Phrase ist; Michael würde ihr folgen in jede Gefahr; er würde sie suchen und finden, wenn er ihr Schicksal ahnte, aber er glaubt sie ja längst geborgen in dem heimatlichen Schlosse. Und doch ist es ihr, als müsse das angstvolle, leidenschaftliche Sehnen, in das sich ihr ganzes Denken und Fühlen zusammendrängt, ihn herbeiziehen, als könne und müsse er den Aufschrei hören, der jetzt laut und verzweiflungsvoll von ihren Lippen bricht, halb ein Gebet zu Sankt Michael und halb ein Ruf nach dem Geliebten: „Michael – zu Hilfe!“
Da klingt ein anderer Ruf zu ihr empor, noch fern, halb verweht, aber es ist seine Stimme und die hört sie durch all das Sturmesbrausen, wie er die ihrige gehört hat. „Hertha!“ Und jetzt zum zweiten Male, wie mit einem stürmischen Aufjauchzen: „Hertha!“ Sie rafft sich empor und antwortet; immer näher kommt der rettende Klang, und jetzt muß der Retter sie entdeckt haben, denn dicht unter ihr tönt es:
„Da oben? – Muth! – Ich komme!“
Es vergehen noch einige endlose, qualvolle Minuten. Michael scheint langsam, mühsam emporzusteigen, aber jetzt taucht er auf, setzt den Bergstock ein und schwingt sich auf die Felsplatte; jetzt steht er neben Hertha und legt beide Arme um die Wankende, und sie schmiegt sich an seine Brust, als wollten sie sich nimmer wieder lassen.
Aber der Moment seligen Selbstvergessens ist nur ein kurzer; noch umringt sie die Gefahr, es darf keine Minute versäumt werden.
„Wir müssen hinunter!“ drängt Michael. „Die Tanne wankt und ist schon halb entwurzelt; sie kann jeden Augenblick stürzen; hier in den Klüften ist überhaupt keine Sicherheit. Komm, Hertha!“
Er hat sie nicht losgelassen, und sie lehnt sich an seine Schulter, mit vollem, hingebendem Vertrauen. Michael geht voran und sie führend, oft halb tragend, geleitet er sie niederwärts. Der Mond ist wieder hervorgetreten und leuchtet ihnen auf ihrem Wege; aber er zeigt ihnen auch die ganze Furchtbarkeit dieses Weges, den Hertha halb unbewußt gemacht hat und dessen Gefahren sich bei der Rückkehr verdoppeln. Aber Michael hat nicht umsonst zehn Jahre lang in diesen Bergen gelebt, und der Mann hat nicht vergessen, was der Knabe einst gelernt, dem kein Felsgipfel zu hoch und keine Kluft zu tief war – das zeigt er jetzt. So klimmen sie abwärts, ihnen zur Seite der Abgrund, rings um sie her die wilde, brausende Sturmnacht und in ihren Herzen ein grenzenloses, triumphirendes Glück, das keine Stürme und Abgründe mehr schrecken. So erreichen sie endlich den sicheren Boden. Michael hat Wort gehalten – er holte sich sein Glück von der Adlerwand! – –
Der Sturm hatte gegen Morgen nachgelassen; er tobte nicht mehr mit der alten Wuth, und auch der Himmel begann sich allmählich aufzuhellen: langsam sanken die Wolken in die Thäler nieder und um die Berge wob sich das erste matte Grau der Morgendämmerung.
Michael hatte am Ausgange der Felsenklüfte Halt gemacht. Die Bergkapelle lag noch fast eine Stunde entfernt, und er mußte seiner aufs Aeußerste erschöpften Begleiterin Ruhe gönnen. Die Gefahr war ja auch jetzt überwunden, der Rückweg bot keine Schwierigkeiten mehr, wenn man das Tageslicht abwartete. Er hatte Hertha im Schutze eines Felsens geborgen, wo der Sturm sie nicht erreichte, und ihr auf einem Stein einen Sitz bereitet, während er neben ihr stand. Der Anzug der jungen Gräfin trug noch die Spuren der nächtlichen Wanderung; ihr dunkler Regenmantel war zerfetzt und zerrissen, der Hut verloren, die schweren Flechten hatten sich gelöst und fielen über die Schultern, während das Haupt noch bleich und matt an der Felswand lehnte. Und doch glaubte Michael, sie nie so schön gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, seine so schwer erkämpfte, seine im Sturme errungene Braut.
Sie hatten kaum gesprochen auf dem Wege hierher; jeder Schritt ging ja um das Leben; auch jetzt schwiegen sie noch und blickten empor zu der Adlerwand, wo das Dämmerungsgrau einem leichten röthlichen Schein zu weichen begann, der mit jeder Minute heller wurde. Endlich beugte sich Michael nieder und sagte leise, aber mit vollster Innigkeit:
„Hertha!“
Sie sah zu ihm empor und streckte ihm plötzlich beide Hände entgegen.
„Michael, wie konntest Du mich finden in jenen Klüften? Du hattest ja nicht einmal eine Spur meines Weges!“
Er lächelte und zog die Hände an seine Lippen.
„Nein, aber ich hatte eine Ahnung, wo meine Hertha war, wo sie sein mußte, und die leitete mich zu ihr! Du ahntest ja auch meine Nähe, Du riefst nach mir, noch ehe Du meine Stimme hörtest. Und jetzt lasse ich mich nicht mehr schrecken mit dem herben ‚Niemals!‘, das Du mir gestern zuriefest, mit dem Worte, das Du einem ungeliebten Manne gegeben hast. Ich habe Dich der Adlerwand abgekämpft; da werde ich auch wohl Sieger bleiben über Raoul Steinrück.“
„Ich kann auch sein Weib nicht werden!“ brach Hertha aus. „Jetzt weiß ich, daß ich es nun und nimmermehr werden kann! Aber laß den Streit nicht wieder beginnen, Michael, ich flehe Dich an. Wenn es möglich ist –“
„Es ist aber nicht möglich!“ unterbrach sie Michael ernst. „Täusche Dich nicht, Hertha; es gilt einen Kampf, wahrscheinlich einen Bruch mit Deiner ganzen Familie, die es Dir nie verzeiht, wenn Du ein Band zerreißest, das sie so sorgsam geknüpft hat, wenn Du einen Grafen Steinrück opferst, um einem bürgerlichen Officier anzugehören, der nichts besitzt als seinen Degen und seine Zukunft. Und es giebt noch etwas Anderes, mit dem man Dich und mich quälen wird; ich habe es Dir ja gestern in der Kirche enthüllt – den dunklen Punkt meines Lebens.“
„Das Andenken Deines Vaters!“ sagte sie leise.
„Ja. Man wird es Dir immer und immer wieder in das Gedächtniß rufen, daß Du dem Sohne eines Abenteurers folgst, dessen Name nicht rein ist. Ich dachte Dich gestern damit zu schrecken, und Du dachtest nur an mein Leiden dabei; aber wirst Du auch Stand halten, wenn der Schatten in Dein eigenes Leben hineingreift, wenn jener Name der Deinige ist?“
Sein Auge suchte das ihrige, mit einem letzten Aufflammen des alten Argwohns, welcher der einstigen Gräfin Steinrück galt mit ihrem hochmüthigen, übermüthigen Selbstbewußtsein. Aber jetzt war der trügerische Schimmer geschwunden aus den „schönen schlimmen Augen“, die es einst schon dem Knaben angethan hatten; sie leuchteten in der sonnigen Klarheit der Liebe und des Glückes.
„Muß ich es Dir denn wiederholen, was ich Dir schon gestern sagte, als Du von Deiner Mutter sprachest? Auch ich folge dem Manne meiner Liebe, der ganzen Welt zum Trotze, und wäre es selbst in Elend und Schmach, wäre es selbst in das Verderben!“
Er zog sie stürmisch in seine Arme, und sie schmiegte sich an ihn, wie vorhin auf jenem Felsen der Adlerwand, hinter der es jetzt dunkelroth aufglühte. Wie ein leuchtender Flammenbote stieg das Morgenroth empor. Schon begannen sich die Schneegipfel rosig zu färben, und jetzt erglühte auch das Sturmgewölk, das noch immer den Himmel umlagerte, in seltsamer feuriger Pracht.
„Der Tag bricht an!“ sagte Michael, während er wieder und immer wieder seine Lippen auf die Stirn der Geliebten preßte, auf das „rothe Märchengold“, das jetzt an seiner Brust ruhte. „Sobald Du Dich erholt hast, treten wir den Rückweg an; ich bringe Dich noch heute zu Deiner Mutter.“
„Meine Mutter!“ wiederholte Hertha schmerzlich. „O mein Gott, ich habe kaum an sie gedacht in diesen letzten Stunden; ich war ja vielleicht dem Tode näher als sie. Die Mutter würde meinen Bitten nachgeben, das weiß ich; aber sie kennt keinen anderen Willen als den meines Onkels Michael, dem sie sich blind unterwirft, und der Kampf mit ihm wird unendlich schwer werden.“
„Den überlaß mir!“ fiel Michael ein. „Ich werde dem General sofort nach meiner Rückkehr mittheilen, daß Du Dein Wort von Raoul zurückforderst, daß –“
„Nein, nein!“ wehrte sie angstvoll. „Den ersten Sturm muß ich aushalten. Du kennst meinen Vormund nicht.“
„Ich kenne ihn, besser als Du glaubst, und es ist nicht das erste Mal, daß wir Beide mit einander kämpfen. Wenn Einer diesem Kampfe gewachsen ist, so bin ich es – bin ich doch von seinem Blute!“
Hertha sah ihn verwundert, aber verständnißlos an.
[815] „Was sagtest Du? Ich verstand Dich nicht.“
Er ließ sie aus seinen Armen und richtete sich empor.
„Ich habe Dir noch etwas verschwiegen Hertha, absichtlich verschwiegen. Ich wollte erproben, ob Du mir angehören würdest, auch wenn ich Dir nichts Anderes war, als der Sohn eines fremden heimatlosen Abenteurers. Ich bin Dir und den Deinen nicht fremd, und auch mein Vater war es nicht. Hast Du nie von einem zweiten Kinde des Generals, von einer Tochter gehört?“
„Gewiß! Louise Steinrück! Sie war sogar, wie ich glaube, ursprünglich meinem Vater zur Gemahlin bestimmt; aber sie starb ja so jung, kaum achtzehn Jahr alt.“
„Also Du hast von ihr nur als von einer Todten gehört? Ich dachte es mir! Ja, sie starb, für ihren Vater, ihre Familie, die sie verstießen, als sie dem Manne ihrer Wahl folgte – es war meine Mutter!“
Die junge Gräfin fuhr auf in grenzenloser Ueberraschung.
„Ist es möglich? Du ein Steinrück?“
„Ein Rodenberg, Hertha! Vergiß das nicht, ich habe keinen Theil an dem Namen meiner Mutter und an ihrer Familie, will keinen haben.“
„Und Dein Großvater? Weiß er –?“
„Ja, aber er sieht in mir nur den Sohn der verstoßenen, verleugneten Tochter, deren Name noch heute nicht vor ihm genannt werden darf, und wenn ich Dich vollends seinem Erben, seinem Raoul entreiße, wird er das Aeußerste gegen uns aufbieten. Gleichviel, Du hast Dich mir zu eigen gegeben, jetzt werde ich mein Glück zu wahren wissen!“
Er stand in der That da, als sei er bereit, der ganzen Welt Trotz zu bieten. Dann bot er der Geliebten die Hand, um sie zurückzuführen in diese Welt, die so fern lag, da unten in der Tiefe, noch umsponnen von Nebelduft und Dämmerung. Hier oben aber waren die Schneegipfel schon in Purpurgluth getaucht, der ganze östliche Himmel leuchtete und flammte; jetzt blitzte es dort auf, fast wie das Zucken eines Schwertes, und dann stieg langsam, gluthroth die Sonne empor. Im Sturme geboren, grüßte das Licht des neuen Tages die Erde – im flammenden Morgenstrahle stieg Sankt Michael nieder von der Adlerwand!
Die Gräfin Steinrück war allerdings sehr bedenklich erkrankt, so bedenklich, daß man ihr auf den Rath des Arztes vollständig die Gefahr verschwieg, in der ihre Tochter geschwebt hatte. Hertha, die im Laufe des nächsten Tages eingetroffen war, mußte der Mutter erzählen, daß der Ausbruch des Sturmes sie so lange in Sankt Michael zurückgehalten hatte, und so erfuhr die Kranke nicht einmal das Zusammentreffen mit dem Hauptmann Rodenberg.
Es war ungefähr eine Woche später. In einem der Fremdenzimmer von Schloß Steinrück saß der Pfarrer von Sankt Michael bei seinem Bruder, der hier eingetroffen war und ihm seine Ankunft gemeldet hatte. Das Gespräch der Beiden mußte ernster Natur gewesen sein; das sah man an ihren Mienen, und soeben sagte Professor Wehlau:
„Ich kann Dir leider keine Hoffnung geben. Die Wendung, die das langjährige Leiden der Gräfin genommen hat, ist eine tödliche. Ihr Zustand ist ja glücklicherweise schmerzlos, und sie hat keine Ahnung von der Gefahr desselben, aber er ist auch hoffnungslos. Ich gebe ihr nur noch vier bis sechs Wochen; sie wird die Vermählung ihrer Tochter nicht mehr erleben.“
„Ich habe es gefürchtet, als ich die Gräfin wiedersah,“ entgegnete Valentin. „Jedenfalls ist es mir eine Beruhigung, daß Du gekommen bist. Ich weiß, Du hast ein Opfer gebracht mit dieser Reise, Du hast Dich mitten aus Deinen Vorlesungen gerissen und behandelst ja sonst überhaupt keine Krauken mehr.“
Wehlau zuckte die Achseln.
„Was sollte ich denn machen! Erstlich ist mir die Gräfin keine Fremde; meine Beziehungen zu der Steinrück’schen Familie sind ja fast so alt wie die Deinigen, und dann hat mir auch Michael, der die Nachricht von der Erkrankung mitbrachte, keine Ruhe gelassen. Er drängte so lange, bis ich mich zur Reise entschloß. Ich fand das sonderbar; er kennt die Gräfin doch nur in gesellschaftlicher Hinsicht; aber er ließ nicht nach, bis er mein Versprechen hatte.“
Der Pfarrer war aufmerksam geworden bei den letzten Worten, doch er äußerte nichts darauf, sondern fragte nur:
„Du hast Hans mitgebracht? Ich werde ihn doch sehen?“
„Gewiß, er kommt in den nächsten Tagen zu Dir. Selbstverständlich ist er drüben in Tannberg, bei unseren Verwandten, während ich der Gräfin wegen im Schlosse bleibe. Der Junge ist ganz unberechenbar in seinen Launen! Schon im April sprach er davon, daß er wieder in die Berge müsse, um Studien zu machen, bis ich ihm zu Gemüth führte, daß das eine Verrücktheit sei, da die Berge noch im Schnee lagen. Jetzt, als er von meiner Abreise hört, fällt es ihm auf einmal ein, daß er sich in Tannberg ,erholen’ müsse. Wahrscheinlich von der Bewunderung und all dem sonstigen Unsinn, womit man ihm in der letzten Zeit den Kopf verdreht hat, und das wird meine Schwägerin natürlich mit frischen Kräften fortsetzen.“
„Du hast ihn aber trotzdem mitgenommen?“
„Mitgenommen?“ spottete Wehlau. „Als ob ich dabei noch etwas zu sagen hätte! Der Herr Künstler ist ja selbständig geworden, und ich darf bei Leibe dem Genie keine Fesseln mehr anlegen, auch wenn es die allerverrücktesten Einfälle hat. Genug, er ging mit und kommt täglich mit der größten Regelmäßigkeit von Tannberg herüber, um mich zu besuchen und zu sehen, wie es hier steht. Ich werde nicht klug aus dem Jungen, so wenig wie aus dem Michael! Sie kümmern sich um die kranke Gräfin mit einem Eifer, als ob es ihre Mutter wäre. Uebrigens ist sie in guten Händen bei dem hiesigen Arzte und bei ihrer jungen Pflegerin – wie heißt sie doch?“
„Gerlinde von Eberstein.“
„Ganz recht! Ein seltsames kleines Ding, das kaum den Mund öffnet und ganz unglaubliche Knixe macht. Aber als Pflegerin ist sie vorzüglich, mit ihrem sanften, stillen Wesen. Gräfin Hertha ist viel zu erregt und angstvoll am Krankenbett.“
Sie wurden unterbrochen. Der Arzt war gekommen und wünschte seinen berühmten Kollegen zu sprechen. Dieser erhob sich und ging hinaus, aber der Diener brachte noch eine zweite Meldung. Auch der Förster Wolfram war da und bat, mit Hochwürden reden zu dürfen. Valentin ließ ihn eintreten und wandte sich freundlich zu ihm.
„Ihr seid noch hier, Wolfram? Ich glaubte, Ihr wäret schon nach Eurer Försterei zurückgekehrt.“
„Ich geh’ morgen nach Haus,“ versetzte der Förster. „Mein Geschäft in Tannberg ist jetzt erst zu End’ gebracht; da wollt’ ich doch vorher noch einmal anfragen, wie es mit der gnädigen Gräfin steht. Die Diener sagen, es ginge gar nicht gut, aber ich hörte von ihnen, daß Sie im Schloß wären, Hochwürden, und da dacht’ ich –“ er stockte, ganz wider seine Gewohnheit, und schien nach Worten zu suchen.
„Ihr wolltet mir Lebewohl sagen,“ fiel Valentin ein.
„Ja, das auch, aber eigentlich ist’s etwas Anderes. Hochwürden, ich hab’ die Sache nun acht Tage lang mit mir herumgetragen und zu keiner Menschenseel’ davon gesprochen, aber jetzt halt’ ich es nimmer aus – Ihnen muß ich es sagen!“
„Nun, so sprecht, was ist es denn?“ Wolfram warf einen Blick nach der Thür, ob sie auch geschlossen sei; dann trat er näher und dämpfte die Stimme.
„Der Michel – den Hauptmann Rodenberg mein’ ich – ich glaube, der holt sich nächstens die Sonne vom Himmel herunter, wenn es ihm grad’ einfällt. Was er jetzt angestiftet hat, ist nicht viel anders. Das wird einen Lärm geben in der hochgräflichen Familie! Seine Excellenz der General wird mit einem Donnerwetter dreinfahren, daß die Berge zittern, und dann wird der Hauptmann wieder auf ihn losgehen, wie damals; dem traue ich jetzt Alles zu.“
„Ihr sprecht von Michael?“ fragte Valentin befremdet. „Er ist ja aber längst wieder in der Stadt; mein Bruder hat mir soeben einen Gruß von ihm gebracht.“
„Kann schon sein. Ich sprech’ auch nur von der Sturmnacht, in der wir die junge Gräfin suchten. Ich war mit dem Diener, den ich unterwegs aufgegriffen hatte, bei der Bergkapelle angelangt, wo wir uns treffen wollten. Da ließ ich den Mann zurück, damit doch Einer da sei, um Auskunft zu geben, und ich ging noch ein Stück nach der Adlerwand zu, gerade beim Morgengrauen. Ich dacht’ irgend eine Spur zu finden; denn ich glaubte eigentlich nicht, daß der Hauptmann oder die Gräfin lebendig zurückkommen würde. Aber nach einer Weile fand ich sie alle Beide, an einem Felsen, und sie waren sehr lebendig – sie küßten sich!“
[816] „Wie?“ rief der Pfarrer zurückweichend.
„Ja, darüber entsetzen Sie sich, Hochwürden! Ich hab’ es auch gethan, aber ich hab’ es gesehen mit meinen beiden leiblichen Augen. Er, der Michel, hatte die junge Gräfin im Arm und küßte sie – da muß doch die Welt untergehen!“
Valentin hätte wahrscheinlich eine ähnliche Empfindung gehabt, wenn man ihm vor vierundzwanzig Stunden eine derartige Eröffnung gemacht hätte; seit gestern Abend war er einigermaßen darauf vorbereitet und sah mehr bekümmert als überrascht aus, während er leise vor sich hin sagte: „Also ist es doch zu einer Erklärung gekommen; ich habe es gefürchtet! – Und die Gräfin?“
„Nun, der Gräfin schien die Sache ganz pläsirlich zu sein, denn sie sträubte sich nicht im Mindesten. Die Beiden sahen und hörten mich nicht, aber ich hörte es ganz deutlich, wie er sagte: ‚Meine Hertha!’ Als ob sie ihm von Rechts wegen gehörte, und sie ist doch die Braut des jungen Grafen! Jetzt frag’ ich Sie, Hochwürden, was soll aus der Geschicht’ werden?“
„Das weiß der Himmel!“ sagte Valentin mit einem tiefen Seufzer. „Es wird einen schweren Kampf in der Familie geben.“
„Natürlich,“ stimmte der Förster bei. „Ich sag’ es ja, der Bub’ hat immer nur Unheil angerichtet! Jetzt macht er es grad’ so. Der ist nicht mit einem Kuß zufrieden, der ist im Stande und will die Reichsgräfin aus dem erlauchten Geschlecht mit all ihren Ahnen und Millionen heirathen! Und wenn man sie ihm nicht geben will, dann schießt er den jungen Grafen über den Haufen, schlägt sich mit dem General und der ganzen hochgräflichen Familie herum, schlägt Alles kurz und klein, holt sich ,seine Hertha’ aus dem Schlosse, wie er sie sich schon von der Adlerwand geholt hat, und heirathet sie! – Geben Sie Acht, so kommt es!“
Wolfram war augenscheinlich in das andere Extrem gerathen und zu einer schrankenlosen Bewunderung des einst so verhöhnten Pflegesohnes übergegangen, die er allerdings noch hinter einem grollenden Tone verbarg. Er war überzeugt, Michael könne jetzt schlechterdings Alles erreichen, es sogar mit dem General aufnehmen, und das war in seinen Augen die ungeheuerste aller Leistungen.
Den Pfarrer dagegen hatte diese Eröffnung in schwere Sorge gestürzt; was er seit gestern Abend gefürchtet, war nur zu schnell eingetroffen, und doch konnte er für den Augenblick nichts thun als schweigen und auch den Förster dazu veranlassen. Das Letztere bot keine Schwierigkeit. Wolfram schien die Sache als eine Art Beichte zu betrachten und gab bereitwillig das geforderte Versprechen. Aber als er gegangen war, faltete der Greis die Hände und sagte schmerzlich: „Das giebt einen Kampf auf Leben und Tod mit dem General! Und wenn diese beiden gleich eisernen und unbeugsamen Naturen sich erst feindlich gegenüberstehen – mein Gott, was soll daraus werden?“
Es war am Nachmittage desselben Tages. Valentin war bereits wieder auf dem Rückwege nach Sankt Michael, und der Professor befand sich in seinem Zimmer und erledigte einige Briefe, die man ihm nachgesandt hatte, als ihm der Freiherr von Eberstein gemeldet wurde.
Der alte Herr war gekommen, um seine Tochter zu sehen und sich Nachrichten über das Befinden der Gräfin zu holen, und da er von der Ankunft des berühmten Professors aus der Hauptstadt gehört hatte, wollte er die Gelegenheit benutzen und diesen auch über sein eigenes Leiden zu Rathe ziehen. Wehlau ahnte so etwas, als er die hüstelnde gebrechliche Gestalt eintreten sah, und nahm sofort eine ablehnende Haltung an; denn er war keineswegs geneigt, die Ausnahme, die er mit der Gräfin machte, auf Fremde auszudehnen.
„Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg!“ sagte der alte Herr, mit steifer, feierlicher Würde den Kopf neigend.
„Ist mir bereits gemeldet,“ versetzte Wehlau trocken, indem er dem Gaste einen Stuhl hinschob. „Womit kann ich dienen?“
Der Freiherr ließ sich nieder, etwas verdutzt über diesen Empfang; sein Name und Titel schienen hier gar keine Wirkung zu üben.
„Ich habe gehört, daß Sie herberufen sind, um die Frau Gräfin Steinrück zu behandeln,“ hob er wieder an, „und wünschte ausführlich mit Ihnen darüber zu sprechen.“
Der Professor ließ einen brummenden Laut hören. Er liebte es überhaupt nicht, mit Laien über Krankheitsfälle zu sprechen, und dachte nicht daran, die Auseinandersetzung, die er allerdings seinem Bruder gegeben hatte, hier zu wiederholen. Eberstein aber, der jenen Laut für Zustimmung nahm, fuhr fort: „Zugleich möchte ich auch Ihren Rath wegen meines eigenen Leidens in Anspruch uehmen, das mich schon jahrelang –“
„Bedaure sehr,“ fiel ihm Wehlau schroff in die Rede. „Ich übe keine ärztliche Praxis mehr aus und bin überhaupt nicht ,herberufen’. Wenn ich an das Krankenbett der Frau Gräfin eilte, so ist das eine Freundschaftssache; die Behandlung Fremder übernehme ich nicht.“
Der Freiherr sah höchst erstaunt und entrüstet den bürgerlichen Professor an, der die ärztliche Behandlung einer Gräfin Steinrück Freundschaftssache nannte und die Behandlung eines Eberstein überhaupt ablehnte. Er hatte in seiner weltfernen Einsamkeit keine Ahnung von der äußeren Lebensstellung des berühmten Forschers; aber er hatte früher einmal gehört, daß die Gelehrten eine ganz eigene Klasse von Menschen seien, lauter Sonderlinge, gänzlich unbekannt mit den Formen der guten Gesellschaft und in Folge dessen sämmtlich grob und rücksichtslos. Er verzieh dem Professor daher großmüthig diese Standeseigenthümlichkeit, und da er seinen Rath und Beistaud doch nun einmal brauchte, beschloß er, ihm vor allen Dingen klar zu machen, wer eigentlich vor ihm sitze.
„Ich bin der gräflichen Familie eng befreundet,“ begann er wieder. „Wir sind wohl die beiden ältesten Geschlechter im Lande; das meinige ist allerdings zweihundert Jahre älter, es stammt aus dem zehnten Jahrhundert.“
„Das ist sehr merkwürdig,“ sagte Wehlau, der durchaus nicht begriff, was das zehnte Jahrhundert hier zu thun hatte.
„Es ist eine Thatsache!“ erklärte Eberstein, „eine historisch beglaubigte Thatsache. Graf Michael, der Ahnherr der Steinrück, taucht erst in den Kreuzzügen aus dem Dunkel der Sage auf, während Udo von Eberstein –“ und damit tauchte er selbst in die Tiefen seiner Hauschronik und begann einen ähnlichen Sermon, wie jener, mit dem Gerlinde auf der Ebersburg den jungen Gast so erschreckt hatte. Es wimmelte darin von Ritternamen und Fehden und von all dem glorreichen Mord und Todtschlag des Mittelalters, so weit das Eberstein’sche Geschlecht daran betheiligt war.
Der Professor schien anfangs zu überlegen, wie er den unbequemen Besuch am schnellsten zur Thür hinausbefördern könne; allmählich aber wurde er aufmerksam; er rückte sogar seinen Stuhl näher und sah dem alten Herrn minutenlang starr und unverwandt in die Augen; plötzlich aber unterbrach er ihn mitten in der Rede und ergriff seine Hand.
„Erlauben Sie – Ihr Zustand interessirt mich – merkwürdig, der Puls geht ganz normal!“
Der Freiherr triumphirte: ja freilich, jetzt wußte dieser unhöfliche Professor, daß er den Sprossen eines alten höchst erlauchten Geschlechtes vor sich hatte, und ließ sich schleunigst zu der erst verweigerten Behandlung herbei!
„Sie finden meinen Puls normal?“ fragte er. „Das freut mich, aber Sie werden mir trotzdem doch einige Verordnungen –“
„Eisumschläge auf den Kopf, mindestens vierundzwanzig Stunden lang,“ sagte Wehlau lakonisch.
„Um des Himmelswillen – bei meiner Gicht!“ rief der alte Herr entsetzt. „Ich kann nur Wärme vertragen, und wenn Sie meinen Zustand eingehend untersuchen, so –“
„Ist gar nicht nöthig! Was Ihnen fehlt, weiß ich schon!“ erklärte der Professor.
Die Achtung des Freiherrn stieg. Das mußte allerdings ein bedeutender Arzt sein, der durch bloßes Anschauen den Zustand des Patienten erkannte, ohne auch nur eine Frage an ihn zu richten.
„Die Gräfin hat mir allerdings Ihren Scharfblick gerühmt,“ entgegnete er, „aber ich möchte noch eine Frage an Sie richten, Herr Professor Wehlau. Ihr Name fällt mir auf. Stehen Sie vielleicht in irgend einer Beziehung zu den Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein?“
[817] „Forschungstein?“ Der Professor griff schleunigst wieder nach dem Puls des Freiherrn, was dieser sich auch ruhig gefallen ließ, während er wohlwollend fortfuhr:
„Es wäre ja nicht das erste Mal, daß das Mitglied eines alten Hauses auf die Führung des Adelstitels verzichtet, wenn es durch die Verhältnisse gezwungen wird, eine bürgerliche Profession zu ergreifen.“
„Bürgerliche Profession!“ fuhr Wehlau auf. „Herr, glauben Sie etwa, daß die Naturwissenschaften ein Schusterhandwerk sind?“
„Jedenfalls sind sie kein passender Beruf für den Adel,“ sagte Eberstein hochmüthig. „Was aber den Forschungstein betrifft, so ist es der Stammsitz eines jungen Edelmannes, der im vorigen Herbste nach der Ebersburg kam und während einer Gewitternacht meine Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Ein liebenswürdiger junger Mann, dieser Hans Wehlau Wehlenberg –“
„Auf Forschungstein!“ fiel der Professor laut auflachend ein. „Jetzt wird mir die Geschichte klar! Das ist wieder einer der tollen Streiche meines Jungen. Hat er mir doch selbst erzählt, daß er während eines Gewitters in einer alten Burg Unterkunft gesucht und gefunden hat. Es thut mir leid, Herr Baron, aber da hat Ihnen mein gottloser Bube eine fürchterliche Nase gedreht. Der Einfall mit dem Forschungstein ist gar nicht so übel, aber das ist auch der einzige Adel, den er und ich aufzuweisen haben. Im Uebrigen ist er gut bürgerlich Hans Wehlau, grade so wie ich, und wegen seiner Standeserhöhung werde ich ihm noch gründlich den Text lesen.“
Er fing von Neuem an zu lachen. Aber der alte Herr schien die Sache durchaus nicht von der komischen Seite zu nehmen. Er saß anfangs ganz sprachlos da vor Zorn und Entrüstung, und endlich brach er aus:
„Ihr Sohn? Nur Hans Wehlau? Und ich habe ihn als einen Standesgenossen aufgenommen! Ich habe ihn völlig als meines Gleichen behandelt! Einen jungen Menschen, ohne Namen, ohne Familie –“
„Bitte sehr!“ unterbrach ihn der Professor gereizt. „Ich will den tollen Streich nicht entschuldigen. Was aber den Namen und die Familie betrifft, so ist Hans erstens mein Sohn, und ich glaube doch Einiges in der Wissenschaft geleistet zu haben, und zweitens hat er selbst schon Tüchtiges geleistet, auf einem [818] anderen Felde. Der Name Wehlau kann sich getrost neben den der Eberstein stellen, der seine ganze Bedeutung nur einer alten verrotteten Institution verdankt, die heut zu Tage gar keine Berechtigung mehr hat.“
Das traf den Freiherrn an seiner empfindlichsten Seite; er erhob sich in voller Empörung.
„Verrottete Institution? Keine Berechtignng mehr? Herr Wehlau, ich kan von Ihnen kein Verständniß für Dinge verlangen, die einem Bürgerlichen offenbar zu hoch sind, aber ich fordere Ehrfurcht vor –“
„Fällt mir gar nicht ein!“ schrie der Professor, der jetzt auch in Zorn gerieth. „Ich bin ein Mann der Wissenschaft, der Aufklärung und habe nicht die mindeste Ehrfurcht vor dem Staub und Moder des zehnten Jahrhunderts und vor den Udo’s und Kuno’s und Kunrad’s und wie die Kerle alle heißen, die nichts weiter verstanden, als sich zu betrinken und unter einander todtzuschlagen. Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, und wenn das alte Eulennest, die Ebersburg, erst ganz in Trümmer gefallen ist, weiß kein Mensch mehr etwas davon!“
„Mein Herr –“ schrie Eberstein, zitternd und kirschroth im ganzen Gesichte; weiter kam er nicht, denn die Aufregung zog ihm einen fürchterlichen Hustenanfall zu. Er rang nach Athem und bot einen so jammervollen Anblick, daß sich in Wehlau denn doch der Arzt zu regen begann. Er sprang hinzu, drückte seinen Gegner auf den Stuhl nieder, stützte ihm den Kopf und bemühte sich, ihm Luft zu schaffen, alles in voller Wuth, aber der alte Herr wehrte sich dagegen.
„Lassen Sie mich!“ keuchte er. „Ich will keine Hilfe von einem Umstürzler – einem Gottesleugner – einem –“
Er stand mit einem Aufflammen seiner einstigen Kraft plötzlich wieder auf den Füßen, griff nach seinem Stock und hinkte energisch zur Thür hinaus.
„Eisumschläge auf den Kopf – vierundzwanzig Stunden lang – vergessen Sie das nicht!“ rief ihm der Professor nach und warf sich in einen Stuhl, um seinen Aerger verrauchen zu lassen. Der Freiherr aber wollte im Gegentheil den seinigen erst austoben und hinkte schleunigst nach dem Empfangzimmer, um seiner Tochter die unerhörte Geschichte mitzutheilen. Sie kannte ja auch diesen „jungen Menschen ohne Namen und Familie“, der sich als ritterbürtig auf der Ebersburg eingeschlichen hatte; sie theilte zweifellos die Empörung darüber.
Es liegt etwas Gährendes, Treibendes in unserer Zeit, das Alle drängt, ihre Kräfte aufs Aeußerste anzuspannen und Zielen nachzustreben, die zwar nicht immer hoch, aber doch immer weit gesteckt sind. Vielleicht ist dieser Geist auch in die Einsamkeit der Wälder gedrungen und hat dort die fortgeschrittensten Köpfe aus den bisher nur bei der Jugend besonderes Ansehen genießenden Geschlechtern der Heidel- und Brombeere rebellisch gemacht, so daß sie sich kühn aufrichteten und drohend hinüber sahen nach den stolzen Höhen, auf denen sich die Rebe sonnt; vielleicht sind es auch weniger poetische Vorgänge, die sich im Hintergrund der Ereignisse abgespielt haben; aber die Revolution ist da und die schwarze Heidelbeere stellt sich bereits trotzig neben die goldene Traube und sagt: „Auch ich bin – Wein!“
Ja, so kühn ist sie schon geworden, daß sie sich auf der kürzlich in Frankfurt am Main in Scene gesetzten „Ersten deutschen Wein-Ausstellung“ mitten uuter die Wein-Aristokraten gemengt hat und ihr herausforderndes: „Auch ich bin Wein!“ hören ließ. Manchmal geht sie sogar noch weiter und sagt: „Auch ich bin – Champagner!“, und sie hat die Genugthuung, zu sehen, wie das ironische Lächeln der Leute, die den schäumenden Kelch an die Lippen setzen, gar bald einem andern Ausdruck weicht – dem eines wohlgefälligen Erstaunens. In der That ist es den rastlosen Bemühungen eines unternehmungslustigen Frankfurters gelungen, der bisher nur wenig beachteten Frucht Wein, wirklichen Wein abzugewinnen. „Beerenweine“ erzeugt man ja schon seit längerer Zeit; aber alle diese Johannisbeer- und Stachelbeerweine hielten sich nicht lange und konnten sich ihrer ganzen Art nach nicht als Genußmittel einbürgern.
Die erste Anregung zu einer wirklichen Weinfabrikation aus den Waldbeeren gab der bayerische Landtagsabgeordnete Pfarrer Dr. Frank, den die im Spessart herrschende Noth veranlaßte, unter Anderem auch der dort sehr stark verbreiteten Heidelbeere seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dieser Anregung folgte J. Fromm in Frankfurt a. M., dem es in einem Zeitraume von nicht ganz fünf Jahren gelang, einen haltbaren, in seinen Eigenschaften dem Traubenwein sich stark nähernden „Heidelbeerwein“ zu erzeugen und demselben so bedeutende Absatzgebiete zu verschaffen, daß es jetzt auch möglich ist, die Fabrikation im Großen durchzuführen. Der Witz der Sache war, den Heidelbeersaft einem vollständigen Gährungsprocesse zu unterwerfen, ihn in ähnlicher, nur dem andern Stoffe angepaßter Weise zu behandeln, wie man den Traubenmost behandelt. Die Beeren werden ausgelesen, gekeltert, und dann bleibt der Saft mindestens drei Jahre im Keller, aus dem er erst als vollständig fertiger, klarer Wein wieder hervorkommt. Im vergangenen Jahre wurden bereits 70000 Liter Wein gekeltert – eine Zahl, die deutlich genug für den Anklang spricht, den das neue Getränk gefunden hat. Bei dem Vorurtheil, das man natürlich allen solchen neu auftauchenden Produkten entgegen bringt, wäre ein solch rascher Sieg übrigens nicht möglich gewesen, hätte die Heidelbeere nicht medicinische Eigenschaften, die ja längst bekannt sind und die dem Heidelbeerwein sofort das Interesse der Aerzte zuwendeten. In denselben Fällen, in denen sich die Verabreichung von Bordeaux empfahl, also besonders bei Darm- und Magenkatarrh, Dyssenterie, Brechdurchfällen u. dergl. verordnete man nun den neuen Heidelbeerwein, der in der Wirkung dem Bordeaux vollkommen gleichkommt und gegenüber diesem noch wesentliche Vorzüge hat wie die garantirte Reinheit und den milden Geschmack.
Was den Heidelbeerwein dem rothen Traubenwein so nahe bringt, das ist der Gehalt an Gerbsäure. Der Alkoholgehalt ist etwas geringer als der der Tranbenweine, der Zucker-, Extrakt- und Säuregehalt größer. Geheimrath Dr. von Pettenkofer sagt über das neue Getränk: es sei ein glücklicher Gedanke gewesen, aus den Heidelbeeren diesen Wein zu bereiten, denn man habe damit der leidenden Menschheit in der That einen großen Dienst erwiesen. Der Heidelbeerwein wird in der Regel sehr gut, meist besser und länger ertragen als andere Rothweine.
Nicht weniger günstig über den Heilwerth dieses Getränkes sprachen sich andere Autoritäten aus, und gegenwärtig ist der Wein bereits in zahlreichen Spitälern, namentlich auch in den Garnisonslazarethen eingeführt. Aber auch als Genußmittel bürgert er sich immer mehr und mehr ein. Unseren deutschen Traubenweinen kann er freilich um so weniger Konkurrenz machen, als wir ja zumeist Weißweine produciren. Aber überall dort, wo man bisher den gepanschten französischen Bordeaux trank, wird man bald zu dem neuen Beerenwein greifen, der ja auch bisher schon sehr stark – zur Fälschung der Rothweine benutzt wurde.
Zur Zeit trinkt man das Produkt der Heidelbeere bereits in zahlreichen Privatkreisen als Tischwein, ferner in den Kurhäusern mehrerer unserer ersten Badeorte, und endlich ist er neuerdings auf den Schiffen der Kaiserlichen Marine eingeführt worden. Außerdem wird der neue Wein bereits nach England, Rußland und der Türkei exportirt. Die letztere dürfte sich als besonders günstiges Absatzgebiet erweisen, denn Mohammed hat – seine Prophetenschaft in allen Ehren – doch nicht die Karriere dieses Nordlandgewächses vorausgesehen, und so dürfen die Muselmänner zwar keinen Traubenwein trinken, aber am „Fürst Bismarck-Sekt“, wie der Heidelbeer-Champagner genannt wird, können sie sich ohne Versündigung erlaben. Die neue Industrie verdient um so mehr unsere Aufmerksamkeit, als die nationalökonomische Seite der Sache nicht die unbedeutendste ist.
Man denke nur an die kolossalen Mengen von Heidelbeeren, die in unseren Wäldern ohne jede Pflege heranreifen und die zum weitaus größten Theile nicht benutzt werden. Und dann denke man ferner, wie vielen Bewohnern armer Waldgegenden durch das Einsammeln der Beeren Unterstützung geboten werden kann, wie viel Noth und Elend wieder gelindert wird, wenn man den „deutschen Bordeaux“ allgemein so ernst nimmt, wie er es verdient und wie ihn Kenner bereits nehmen. Hoffentlich findet Fromm’s Beispiel Nachahmer auch in anderen Gegenden Deutschlands, wo die Heidelbeere im Schutz der Wälder gedeiht und die Beerenwein-Fabrikation zu einer neuen Quelle des Erwerbes werden kann. Emil Peschkau.
Adolf Menzel’s Illustrationen zu den Werken Friedrich’s des Großen. Adolf Menzel ist unter allen Künstlern der Gegenwart ohne Zweifel der beste Kenner und der treueste Darsteller der denkwürdigen Zeit Friedrich’s des Großen. Diesem unübertrefflichen Meister wurde schon zu Anfang der vierziger Jahre der ehrenvolle Auftrag zu Theil, etwa 200 Vignetten als Illustrationen zu den Werken Friedrich’s des Großen zu zeichnen; denn König Friedrich Wilhelm IV. wünschte damals seinem großen Ahnen durch eine Prachtausgabe der gesammten Schriften desselben ein litterarisches Denkmal zu setzen. Menzel übernahm die schwierige Arbeit, welche im September 1843 begonnen und um Weihnachten 1849 beendet wurde. Leider waren bis jetzt diese Meisterwerke der Zeichnung und Holzschneidekunst nur einem geringen Kreise bekannt geworden; denn König Friedrich Wilhelm IV. behielt es sich vor, daß die Prachtausgabe in den Buchhandel uicht kommen durfte, und beschloß, die abgezogenen Exemplare als Geschenke an fürstliche Persönlichkeiten, hoch verdiente Staatsbeamte etc. zu vergeben.
Erst vor einigen Jahren gestattete auf wiederholtes Bitten Kaiser Wilhelm, daß die 200 Menzel’schen Illustrationen vom Texte losgelöst als besonderes Prachtwerk herausgegeben würden. Dieses Prachtwerk erschien zuerst im Jahre 1882, aber nur in 300 Exemplaren. Da diese [819] kleine Auflage trotz des hohen Preises in kürzester Zeit vergriffen wurde, beschloß die Verlagshandlung von R. Wagner in Berlin zum hundertsten Gedenktag an den Tod Friedrich’s des Großen eine billigere „Jubiläums-Ausgabe“ jener Illustrationen zu veranlassen. Auch diesmal wurde vom Kaiser die Erlaubniß hierzu nicht verweigert.
Ludwig Pietsch hat zu den 200 Holzschnitten einen erläuternden Text geschrieben, an den wir uns bei der folgenden Erklärung derjenigen Illustrationen halten, welche unsere heutige Nummer schmücken und dem genannten Prachtwerke entlehnt sind.
Das erste dieser Bilder (S. 805) stellt die Grenadiere der Armee Friedrich’s II. dar, ruhig feuernd, ladend, die Munition gefallener Kameraden aus deren Patronentaschen nehmend. Es bildet die Vignette zu Kapitel III von Friedrich’s „Geschichte meiner Zeit“. Im Text ist die vom Könige bei der Schlacht von Mollwitz gewählte Art der Verwendung der Infanterie geschildert und der ruhige Heldenmuth verherrlicht, mit welchem die Infanterie „wie ein Felsen“ den wiederholten Attacken der Kavallerie Neipperg’s Stand hielt.
Die zweite Illustration ist humoristischen Inhalts. In den Werken Friedrich’s des Großen bildet sie die Vignette zu dem Gedichte: „An die Baronin von Schwerin zu ihrer Hochzeit mit dem Schultheiß Lentulus“. Am 17. Januar 1748, als ein Adjutant Friedrich’s, Major Lentulus, ein Schweizer von Geburt, seine Hochzeit abhielt, überreichten demselben 13 Schweizer als Vertreter der 13 Kantone das oben erwähnte Gedicht und als Geschenk des Königs einen kolossalen Schweizerkäse. Diese Schweizer stellt Menzel in den Gestalten reizender Amoretten mit bekränzten, breitkrempigen Strohhüten, die Beinchen mit Kniehosen und Wadenstrümpfen bekleidet, dar. Mit Mühe bewegen sie die enorme Last eines Käses auf unterlegten Rollen dahin, während einer von ihnen, mit der Sackpfeife auf dem Rücken, den auf langem Papierstreifen geschriebenen Text des Gedichtes memorirt.
Das letzte unserer Bilder giebt eine treffliche Probe der symbolischen Darstellungskunst Menzel’s. Es bezieht sich auf den kühnen und glücklichen Aufbruch der preußischen Armee aus dem Lager bei Liegnitz. „Dies Manöver,“
schreibt der König im Kapitel XII der „Geschichte des siebenjährigen Krieges“, „konnte wegen der Nähe des österreichischen Lagers nicht am Tage ausgeführt werden … Sobald die Dunkelheit anbrach, setzte sich die Armee in Bewegung.“ Die geflügelte Schutzgöttin streut dem schlafenden Oesterreicher Mohn auf die Augen und geleitet den Grenadier, welcher die entweichende Armee symbolisirt, glücklich durch die feindlichen Wachtposten. Einer derselben erwacht zu spät und droht in vergeblicher Wuth dem glücklich der Gefahr Entronnenen. *
Alexander von Humboldt und die bildende Kunst. So viel über Humboldt’s wissenschaftliche Leistungen geschrieben und gesprochen worden, so sehr seine Ansichten über bildende Kunst, namentlich über Landschaftsmalerei, wie er sie im „Kosmos“ ausgesprochen, und seine berühmten Naturschilderungen Beifall gefunden haben: nirgends ist bisher erwähnt worden, was er selbst auf dem Gebiete der zeichnenden Kunst versucht hat, mit welchem Verständniß und Urtheil er die Bestrebungen seiner Zeit in dieser Kunst betrachtet hat.
Der Katalog der Berliner Ausstellung 1786, in welcher man auch Arbeiten von Kunstliebhabern und einzelnen Zöglingen der Akademie ausstellte, erwähnt unter Nr. 291 eine Zeichnung des jüngeren Herrn von Humboldt: „Die Freundschaft weint über der Asche eines Verstorbenen“, mit schwarzer Kreide gezeichnet, nach Angelika Kaufmann schon im Jahre 1785, als Alexander von Humboldt erst 16 Jahre alt war, schrieb die Frau des Romantikers de la Motte Fouqué, des Dichters der „Undine“, an ihre Schwester: „Alexander Humboldt ist außerordentlich talentvoll, zeichnete schon, ehe er Unterricht nahm, Köpfe und Landschaften. In der Schlafstube der Mutter hängen alle diese Produkte an den Wänden.“ Zu seinen Lehrern gehörte der berühmte Zeichner und Kupferstecher Chodowiecki. Von seinen damaligen Handzeichnungen hat sich leider nichts auffinden lassen; doch besitzt einer der wärmsten Verehrer Humboldt’s, Julius Löwenberg, Radirungen von ihm aus dem Jahre 1788, zwei Köpfe von etwa 10 Zoll Höhe und 7 Zoll Breite. Es ist der Kopf eines Schülers aus der Schule von Athen, der zweite ein einfaches Brustbild nach Rembrandt. Mit Nachradirungen beschäftigte er sich damals sehr fleißig. Im Portraitiren hat er sich nicht ohne Glück versucht: das Portrait des Staatsraths Kunth, seines Lehrers, das er in Blei gezeichnet, soll ausnehmend ähnlich sein; vor allem aber gehört sein großes, in schwarzer Kreide gezeichnetes Selbstportrait: „Alexander von Humboldt, vor einem Spiegel“ (Paris, 1814) zu den besten Brustbildern, die wir von ihm besitzen. Damals beschäftigte er sich bei François Girard mit Studien nach dem Modell und nach dem Leben. Dem Meister eng befreundet, blieb er mit ihm in brieflichem Verkehr. In dieser Korrespondenz befinden sich interessante Urtheile Alexander’s von Humboldt über neue Richtungen der Malerei: ungünstig äußert er sich über die neuen Nazarener, die sich an jene alte Zeit anlehnen, denen zwar nicht Technik und Wissen fehle, aber der Ausdruck des Lebens, die Freiheit in der Benutzung des Talentes. Sehr strenge Urtheile fällt er über Portraits von Begas und Wack; günstig dagegen spricht sich Humboldt im Jahre 1832 über die vor Kurzem begründete Düsseldorfer Schule und über den Einfluß aus, welchen Schadow auf die jüngeren Talente ausübe.
Natürlich hat Alexander von Humboldt von Hause aus seine Zeichenkunst in den Dienst seiner wissenschaftlichen Arbeiten gestellt, so besonders in der ersten Zeit seiner bergmännischen Studien, wo er einen 20 Bogen langen Bericht über die Salinen von Frauenstein und Reichenhall machte und 25 große Blatt Royal-Papier Zeichnungen dazu anfertigte.
Vor Allem aber hat Humboldt in seinen glänzenden Landschaftsschilderungen aus der Tropenwelt bewiesen, daß er mit dem Auge des Künstlers zu sehen versteht.
Das deutsche „Theater Paradies“ in Moskau, dessen Bild wir unseren Lesern auf Seite 820 vorführen, ist am 10. Oktober von den Spitzen der Behörden und den hervorragendsten Vertretern der deutschen Gesellschaftskreise mit einem allegorischen Festspiel von A. Linde: „Der Einzug der deutschen Muse in Moskau“ und einer Aufführung von Schiller’s „Wilhelm Tell“ eröffnet worden. Das Theater ist eine neue Heimstätte, welche sich die deutsche dramatische Kunst im Herzen Rußlands, in Moskau, begründet hat, nachdem sie bereits seit 1882 alljährlich dort Triumphe gefeiert. Nicht zum kleinsten Theile wurden ihr diese von der russischen Gesellschaft bereitet; mit seltener Einmüthigkeit haben die berufensten Kritiker (wir nennen z. B. Professor Juriew von der Moskauer Universität) der heimischen Bühne die deutsche als leuchtendes Vorbild bezeichnet, da sie mit Recht stets das Ideale hochhalte, während jene dem Realismus zu große Zugeständnisse mache.
Das unbestreitbare Verdienst, der deutschen Muse in Moskau Geltung verschafft zu haben, gebührt dem Direktor Georg Paradies. [820] Obschon sein erstes Theater trotz aller Vorkehrungen gegen Feuersgefahr bei dem Brande der großen Passage ebenfalls von dem verheerenden Elemente ergriffen und zerstört wurde und ihn nach einem Jahre das gleiche Unglück zum zweiten Male traf, fand er doch den Muth, ein eigenes Haus zu bauen, bei dem ihm die Unterstützung eines hohen Gönners, des Fürsten Schachowskoi-Glebow-Strechnew, zu Theil wurde. Der Energie und Tüchtigkeit seines Direktors dankte das Moskauer deutsche Theater bisher stets ein vorzügliches Ensemble.
Selbstverständlich erfreut sich Direktor Paradies großer Beliebtheit und Sympathie bei der deutschen Kolonie, besonders da von ihr kaum irgend ein patriotisches Fest ohne seine und seiner Mitglieder uneigennützige Mitwirkung gefeiert wurde, und derselbe in sechzehn Wohlthätigkeitsvorstellungen – mochten sie nun von Deutschen oder Russen ausgehen – gegen 18 000 Rubel zu ihren Zwecken bestimmte. So war auch Paradies seiner Zeit der erste Theaterdirektor, der den Ueberschwemmten am Rhein 1000 Rubel mit einer Vorstellung von Freytag’s „Journalisten“ zuführte.
Das neue deutsche Schauspielhaus, für welches auch deutsche Opernaufführungen in Aussicht genommen sind, ist ein durchaus massiver Bau mit Eisenverspreizungen, die Facade im alterthümlichen russischen Stil (des 16. Jahrhunderts), das Innere hellgrün mit Vergoldung im Stil der Renaissance. Es hat vier Logenreihen und faßt 1600 Besucher.
Die Schwestern. (Mit Illustration S. 817.) Wir sind in der angenehmen Lage, eine der anmuthigsten, dem Familienleben entnommenen Schöpfungen von dem Künstler, über welchen wir unsern Lesern in der letzten Nummer berichtet, von Fr. A. Kaulbach, zu bringen. Es sind ein paar reizende Gesichter, welche träumerisch vor sich hin blicken, von üppigem vollen Haar umwallt: die ältere Schwester hält in der Hand eine Fülle von Blumen, und wer wünschte nicht, daß ein freundliches Schicksal sie diesen holdseligen Mädchen auf ihre Lebenspfade streuen möge?
Vermißten-Liste. Zunächst erstatten wir Bericht über die in Folge unserer Aufrufe Aufgefundenen.
Eine große, aber freudige Ueberraschung hatten wir dem Klempner Textor aus Memel, jetzt in Moskau, zu bereiten, der seinen Vater seit Jahren im ganzen russischen Reiche suchte, während derselbe in der Colonia Esperanza de Santa Fé der südamerikanischen Republik Argentinien als „major domo“ im Hause von Enrique Lehmann lebt, wie uns aus Linares von Otto Naumann mitgetheilt wird.
J. W. Müller aus Arad meldet, daß er seinen längst als todt betrachteten Sohn durch uns endlich in Odessa wiedergefunden habe.
Friedrich Eikermann aus Hannover hat den Seinen aus Schlesien beruhigende Nachricht gegeben.
Ebenso ist die Nachfrage nach Wittwe Olliof erledigt.
Der von seinem Stiefbruder Max Cordes gesuchte Buchbinder Julius Dubois, den eine Wiener Zuschrift nach Triest versetzt, hat selbst seine Berliner Adresse eingesandt.
Eine halbe Freude konnten wir einer hochbetagten Mutter in Schleswig-Holstein bereiten: von den zwei Söhnen, Seeleuten, John und Heinrich Wulf, die wir für sie suchten, hat der eine, Kapitän John Wulf, unsere Aufforderung in der „Gartenlaube“ in Portland (Oregon) gelesen und von da seiner Mutter sofort geschrieben.
Auch der Sohn der Wittwe Golze in Brandenburg ist gefunden; ebenso der Gerber A. Müller aus Leipzig.
Eduard Hainke hat, nachdem er unsere Aufforderung zu Erfurt im nordamerikanischen Staate Wisconsin zu Gesicht bekommen, sofort seine Adresse eingesandt.
Von den Geschwistern Thiele aus Wittenberg, Bruder und Schwester, wurde ersterer, Heinrich Thiele, uns durch Herrn Bernhard Friede in Leipzig als Hausbesitzer zu Bristol in Rhode Island (Vereinigte Staaten) angezeigt.
Schiffsofficier J. H. Scherrl schreibt uns nach seiner Heimkehr, wie sehr er uns dafür danke, daß wir ihn gesucht, und spricht seine Verwunderung darüber aus, daß wir ihn, trotzdem er seinen Aufenthalt unter gewissen Umständen verschwiegen hielt, dennoch gefunden hätten. Er schreibt dies der großen Aufmerksamkeit zu, mit welcher die auf den Südsee-Inseln bei den dort zerstreuten Deutschen verbreitete „Gartenlaube“ gelesen werde.
Herr Bürgermeister Geiger in Illereichen (Bayern) benachrichtigt uns, daß von Karl Vogt endlich, nach vier Jahren, wieder ein Brief bei den Seinen eingetroffen sei, und spricht den herzlichsten Dank derselben aus.
Max Theodor Degen ist infolge unseres Aufrufes zu seiner bekümmerten Mutter zurückgekehrt und Christian Anton Wilhelm Föllger hat seiner Schwester von Cincinnati aus Nachricht gegeben, während G. F. Vor aus New-York endlich seinen Kindern in Schmiedeberg geschrieben hat.
Wir veröffentlichen diese erfreulichen Ergebnisse unserer Aufrufe in der Hoffnung, daß auch die folgende Liste der Vermißten manchen Verschollenen seinen um sein Schicksal bekümmerten Anverwandten zuführen werde:
72) Am 18. August 1870 wurde in der Schlacht bei St. Privat der Hornist Wilhelm Karl Friedrich Ulbricht, geboren am 25. Juli 1852 in Breslau, durch einen Schuß in den Rücken verwundet und an das Feldlazareth abgegeben. Ueber sein weiteres Schicksal ist nichts zu erfahren gewesen; er ist spurlos verschwunden. Seine tiefbetrübten Angehörigen hoffen, daß sich unter den Lesern der „Gartenlaube“ vielleicht einer befindet, der ihnen Auskunft über den Verbleib des Vermißten zu geben vermag.
73) Franz Simmet, geb. den 13. November 1844 zu Wien, zuletzt Maschinenführer bei der Franz Josefs-Bahn, stationirt in Krems, Nieder-Oesterreich, verließ seine Familie am 27. Februar 1872, ohne daß es bisher gelungen wäre, über sein Verbleiben einen sichern Anhaltspunkt zu gewinnen. Wahrscheinlich hat er sich nach Amerika gewendet, da er Geld und seine Papiere mitgenommen.
74) Eine arme, bekümmerte Frau mit zwei Kindern sucht ihren seit 1883 verschwundenen Mann. Derselbe, am 10. Juni 1840 in Ober-Boihingen in Württemberg geboren, heißt Christian Koch, ist Eisenbahnarbeiter und verließ 1878 seine Frau. um in Konstantinopel Arbeit bei den Bahnbauten zu suchen. Sein letzter Brief ist vom Juni 1883 aus Belgrad datirt. Seitdem fehlt der trauernden Frau jede Nachricht von ihrem Mann. Alle Nachforschungen auf den Bahnen Serbiens blieben ohne Erfolg.
75) Der Fabrikschlosser Xaver Brandl, am 2. Februar 1865 in Hirschling bei Mallersdorf geboren, wird von seiner Mutter, die seit März 1884 keine Nachricht von ihrem Sohne erhalten hat, dringend um ein Lebenszeichen gebeten.
76) Johann Daniel Gustav Albold, geb. 8. Juli 1843 in Erfurt, gab als Steuermann des englischen Schiffes „Oribe“, Kapitän Irving, aus Port Elisabeth am 3. December 1871 seinen Eltern die letzte Nachricht, laut weicher er auf einem andern Schiffe, dessen Namen und Kapitän er jedoch noch nicht bezeichnen konnte, nach Philadelphia gehen wollte. Der alte Vater des Verschollenen ist inzwischen gestorben; die Mutter möchte wenigstens Gewißheit über das Schicksal ihres Sohnes haben.
77) Der Matrose Johann Friedrich Wilhelm Schiller, geboren 2. Februar 1858 in Mittel-Lobendau bei Liegnitz, schrieb am 2. September 1881 von Hamburg an seine Eltern, daß er Ende desselben Monats nach England zu gehen gedenke. Seitdem sind seine tiefbetrübten Eltern ohne jede Nachricht von ihrem Sohne.
78) Christian Theodor Nikolaus Holst, Sattler, geb. 1. December 1838 zu Groß-Königsförde in Schleswig-Holstein, wanderte vor vielen Jahren nach Paris aus und hat seit 1869 nichts mehr von sich hören lassen.
79) Der Tapezierer Moritz Giselbreth, geboren am 14. December 1858 in Linz, verließ 1879 seine Vaterstadt und hielt sich dann kurze Zeit in Gerona und Barcelona auf. Seit jenem Jahr ist er spurlos verschwunden.
80) Ludwig Ebner, magyarisirt im Jahre 1862 in Liuz Endrényi, geb. 20. April 1826 zu Pécska im ungar. Komitat Arad, war im Jahre 1860 Kaufmann in Arad, fuhr am 4. Januar 1864 von Genua mit der Gennefer Barke „Katharina prima“ nach Rio de Janeiro, ging von dort in die Kolonie Blumenau Prov. St. Katharina und wurde am 1. April 1864 in Itahay, 3¼ Stunden von Blumenau entfernt, kolonisirt. Im September 1865 nahm er Officierdienst in der brasilianischen Armee und ward 1866 Kommandant des deutschen Kontingents I. Bataillon aus der Provinz St. Katharina. Am 25. Juni 1870 ging er von Rio de Janeiro mit dem Schiff „City of Limerick“ nach Antwerpen mit 17 Stück wilden Thieren. Am 18. September 1870 reiste er von London nach Liverpool und von dort am 20. September nach Rio de Janeiro mit 400 Stück Kanarienvögeln, 1 Hyäne und 2 Himalaja-Bären. Von Liverpool datirt seine letzte Nachricht; seitdem ist er verschollen.
81) Am 5. December 1883 Abends 6 Uhr entfernte sich Franz Kunkel aus dem elterlichen Hause in Klein-Krotzenburg (Hessen) und ist seitdem spurlos verschwunden. Er ist am 17. December 1857 in jenem Orte geboren, diente mehrere Jahre im Großherzogl. hessischen Artilleriekorps und war Landwirth von Beruf.
Inhalt:Die Insel der Seligen. Von Helene Pichler (Schluß). S. 805. – Den Wald durchzieht ein Sterben! Gedicht von Karl Schäfer. S. 807. – Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige. Von Georg Ebers (Fortsetzung). S. 810. – Fortuny und seine „Spanische Hochzeit“. S. 812. Mit Illustration S. 808 und 809. – Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 813. – Beerenwein. Von Emil Peschkau. S. 818. – Blätter und Blüthen: Adolf Menzel’s Illustrationen zu den Werken Friedrich’s des Großen. S. 818. Mit Illustrationen S. 805 und 819. – Alexander von Humboldt und die bildende Kunst. S. 819. – Das deutsche „Theater Paradies“ in Moskau. S. 819. Mit Abbildung S. 820. – Die Schwestern. S. 820. Mit Illustration S. 817. – Vermißten-Liste. S. 820.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Zum Anschluss müsste diese „2. Beilage zu Nr. 16.“ die lfd. Nummern 67 bis 71 umfassen. Sie liegt aber nicht vor.