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Die Gartenlaube (1886)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 15.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Die zweite in später Nachmittagsstunde stattfindende Table d’hôte im Kurhause von Jungbrunnen näherte sich ihrem Ende. Schon lagen die aus Marzipan und Zucker errichteten Tempel, welche als Dessert gedient hatten, in Trümmern, und ihre elegischen Reste wurden, wenn auch nicht von Eulen, so doch von einzelnen Mücken und Wespen umschwirrt, die durch die geöffneten Fenster den Weg gefunden hatten. Stühle wurden gerückt. Die Gäste verließen gruppenweise den Saal.

Nur ein Herr verweilte noch auf seinem Platz. Er hielt ein Taschenbuch und einen goldenen Stift in den Händen, hatte die präsentirenden Kellner mit kurzem Wink abgewehrt oder die Speisen unberührt stehen lassen und sich zerstreut von den beiden Damen verabschiedet, mit denen er gekommen war. Er blieb sitzen, indem er mit traumverlorenen Augen in die Luft schaute und dann von Zeit zu Zeit eifrig in sein Taschenbuch notirte. Die Tischgesellschaft zollte seinem ungewöhnlichen Benehmen achtungsvolle Rücksicht.

„Baron Heino Blachrieth dichtet,“ flüsterte es um ihn her. Er war die Berühmtheit der Saison.

Erst kurz vor Beginn des Diners war er von einem Ausflug zurück gekommen. Die Erzählungen seiner Mutter und Cousine hatten ihn veranlaßt, seinen Morgenspaziergang nach dem Lora-Grund zu machen. Er wollte sich die Schönheit des Thales anschauen, vor Allem aber der Nixensage näher zu treten suchen von der seine Damen gesprochen und von der er auch eine Andeutung im „Führer durch Jungbrunnen“ gefunden hatte. Vielleicht konnte ihm ein Freund, den er auf einer Reise in Italien kennen gelernt hatte, Georg Aufdermauer, genaue Auskunft geben. War dieser doch hier, im Mittelpunkt des Sagengebietes, angesessen.

Diese letztere Hoffnung wurde zwar zu nichte. Der Hauptmann war auf die Jagd gegangen, und er hatte sich auf die Abgabe einer Karte beschränken müssen. Um so reicher gingen seine andern Wünsche in Erfüllung. Stundenlang saß er vor dem grauen Holzhause bei dem weißhaarigen Waldhüter, der das Amt eines Fährmanns bekleidete, schwelgte in der Schönheit des Grundes und ließ sich unter dem Murmeln des Wassers, dem Säuseln der Edelkastanien die traurige Geschichte der Lora-Nixe erzählen, deren feurige blaue Augen der Ferge selbst hatte aus dem Wasser blitzen sehen, deren goldene Locken oft weit ausgebreitet gleich glitzerndem Schaum auf den Wellen schwammen, wie männiglich im Lora-Thal bekannt war.

In Gedanken noch immer mit seiner poetischen Ausbeute beschäftigt, erhob sich Heino von der Tafel, als

Kleine Freunde.0 Nach dem Oelgemälde von J. Moroder.

[258] plötzlich eine laute Stimme vom Vorplatz an sein Ohr schlug und ihn eilig dem Ausgang zuschreiten ließ.

„Mein gewöhnliches Zimmer Nummer 20,“ hatte die kurze Forderung gelautet.

„Nummer 20 ist bereits vergeben,“ entgegnete der Portier; „Fräulein Paloty –“

„Dann geben Sie mir ein anderes Zimmer des Lora-Flügels,“ befahl der neue Gast.

„Bedaure unendlich,“ entschuldigte der Portier; „aber die ganze Beletage des Lora-Flügels ist von Fräulein Paloty und ihrer Mutter bestellt, welche heute –“

„Nun, so gebeu Sie mir irgend ein Zimmer,“ unterbrach ihn der Fremde ungeduldig, „und lassen Sie mich mit Ihrem Fräulein Paloty in Ruhe. Arnold, so bringe doch die Pferde in den Stall,“ kommandirte er auf den Hof hinaus, wo sein Diener mit offenem Munde einen Zug von Pferden, geführt von englischen Reitknechten, einpassiren sah.

„Herr Hauptmann, die Prachtthiere gehören alle einem Fräulein Paloty,“ erwiderte Arnold ganz verblüfft.

„Marsch,“ befahl sein Herr, und Arnold kam schleunigst dem Befehl nach.

Der Hauptmann drehte sich auf dem Absatz herum.

„Blachrieth!“ rief er mit einer Stimme, die hallend Vestibüle und Korridore erfüllte, und schüttelte dem Freunde, der mit leisem, überlegenen Lächeln auf sein ungebundenes Gebahren schaute, herzhaft die Hand. „Mußte mich der Teufel reiten, daß ich gerade heute nach dem entfernten Forstort ging! Ich bin spornstreichs Deiner Fährte gefolgt, als ich Deine Karte vorfand. Aber nun laß mich das versäumte Mittagsessen nachholen.“

Die Freunde kehrten in den Speisesaal zurück, und nachdem der Hauptmann Hut und Reitpeitsche abgelegt hatte, rief er mit kurzen Kommandoworten nach Speise- und Weinkarte, während Heino die Zeit benutzte, noch einige poetische Gedanken in sein Taschenbuch einzutragen.

Bevor sich Georg in die Suppe vertiefte, erklärte er kurz und bündig seine Anwesenheit auf seinem Gut.

„Bald nach der Rückkehr von unserer gemeinschaftlichen Reise in Italien starben rasch hinter einander meine Eltern, wie ich Dir seiner Zeit gemeldet habe. Das Gut Aufdermauer ist nie von einem Pächter bewirthschaftet worden, das Leben eines Officiers in Friedenszeiten kannte ich zur Genüge, so nahm ich meinen Abschied und gedenke meinen eigenen Kohl zu bauen. Eine Aussicht, im Ernst losschlagen zu dürfen, ist doch nicht vorhanden. Vielleicht haben meine Jungen einmal mehr Glück als ich.“

„Hast Du Söhne?“ fragte Heino verwundert.

„Nein, noch nicht,“ erwiderte Georg. „Aber so viel steht fest: der Aelteste übernimmt einmal das Gut, die Andern werden alle Soldaten, die Großen Grenadiere, die Kleinen Husaren. Wir werden sie schon brauchen können.“

„So bist Du oerheirathet?“ erkundigte sich Heino ganz perplex. „Mit wem?“

„Mit Niemand,“ antwortete abermals Georg. „Aber ich gehe stark damit um, mir eine Frau zu nehmen. Nun! Und in welcher Würde habe ich Dich zu begrüßen? Denn Deine Staatsexamina sind ja wohl längst absolvirt.“

Heino schüttelte das goldbraun umlockte Haupt.

„Längst habe ich eingesehen und auch Mama überzeugt, daß es ein beklagenswerther Irrthum war, als ich das trockene Studium der Rechte zu meinem Lebensberuf erwählte. Ich wandte deshalb dem Jus für immer den Rücken und zog mich auf mein Gut zurück.“

„Du wirst auch Landwirth? Das freut mich,“ rief Georg. „Darauf wollen wir anstoßen.“ Und er füllte zwei grüne Römer mit Johannisberger.

Aber Heino schüttelte abermals den Kopf.

„Ich habe dort nur meiner Muse gelebt, indem ich die Eindrücke meiner italienischen Reise poetisch verwerthete. Als dann meine Gedichte druckreif waren, brachte ich mit Mama einige Wintermonate in der Residenz zu. Ich habe dort viel Freundlichkeit erfahren, und es wurde mir die Gnade zu Theil, in einem auserlesenen Cirkel bei Hofe eine Auswahl meiner Gedichte vortragen zu dürfen. Ich konnte nach so viel Aufmerksamkeit nichts Anderes thun, als mein Werk der Frau Erbprinzessin widmen, und erhielt dafür den Hausorden.“

Eine nachlässige Bewegung seiner marmorweißen Hand nach dem blauen Bändchen im Knopfloch begleitete die leicht hingeworfenen Worte.

„Ich gratulire,“ schaltete Georg ein. „Kellner, wo bleibt mein Fleisch mit Gurken? Nun, wie ging die Geschichte weiter?“ Und er sah Heino auffordernd an.

Dieser war ein wenig nervös zusammengefahren bei der prosaischen Unterbrechung. Aber er sprach gern von dem, was seine Muse ihm zuflüsterte, und so überwand er seine aufsteigende Empfindlichkeit und fuhr fort:

„Als der Frühling ins Land kam, zog ich wieder von dannen, um neue poetische Anregung zu suchen. Denn wie sollte ich in unserem Dörfchen Stoff zu einer Dichtung finden?“

„Na,“ meinte Georg nachdenklich, „ich verstehe freilich nicht viel davon; aber Auerbach hat seine berühmten Geschichten von einer Dorfgasse aufgelesen.“

„Er hat eben das Glück gehabt, in einer poetischen Umgebung zu leben, unter einem Volke, dessen Eigenthümlichkeiten das Publikum interessiren,“ bedeutete ihn Heino und sah fast beleidigt aus über das blinde Glück des Dorfgeschichtenerzählers. „Ich dagegen habe in Wochen die einzige stimmungsvolle Stunde in der Walpurgisnacht auf dem Brocken verlebt.“

„Wie?“ rief Georg. „Die Fahrt hättest Du den alten Weibern überlassen sollen. um die Zeit hast Du ja keine Christenseele zur Gesellschaft gehabt.“

„Mein Gesellschafter laßt sich allerdings schwerlich mit diesem Namen bezeichnen,“ entgegnete Heino. „Bei Schierke und Elend erwartete mich sein Geist; er zeigte mir die Felsennasen, die man die Schnarcher nennt, und ließ mich am Ilsenstein der Eule ins Nest schauen. Er hieß Goethe,“ schloß er mit tiefer Neigung des Hauptes.

Georg rückte unruhig hin und her.

„Na ja, den ‚Faust‘ von Goethe kenne ich. Aber was hast Du zu Stande gebracht?“

Heino nickte gewichtig.

„Mein Ohr öffnete sich für das Murmeln der Quellen unter den Granitblöcken, für das Rauschen der hinabstürzenden Bäche. Die Sage von der Liebe der Ilse zu Heinrich dem Finkler hatte mich fast festgehalten; aber wenn ich Begeisterung an ihren sprühenden Wasserfällen schöpfen wollte, brachte sie mich durch ihre Unbändigkeit, mit der sie den Brocken hinunter poltert, stets auf den Gedanken, daß sie mehr ein wilder Junge als das schöne Liebchen des alten Sachsenherzogs sei. Meine Mama entriß mich meinen Träumereien, indem sie mich nach Hause berief und mir einen Bade-Aufenthalt in Jungbrunnen verordnete, das sie mit meiner Kousine, Fräulein von Grundleben, zu besuchen gedachte.“ Ein leises Lächeln spielte einen Augenblick um seine feinen Lippen. „Sie strebt das Eine an, ich erreiche das Andere. Auf Deinem Grund und Boden tauchte die verführerische Nixe auf, die ich suchte. Du überläßt mir doch das schöne Lora-Weib?“

„Ich liebe Fischschwänze nur blau gesotten auf meinem Teller,“ erwiderte Georg, sich eine Forelle zulangend. „Aber der Fisch ist kalt. Kellner, was ist das für eine Wirthschaft?“

„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung,“ bat der Gescholtene. „Es herrscht einige Verwirrung bei uns. Erst heute früh kam Befehl, die Zimmerreihe in Bereitschaft zu setzen, welche Fräulein Paloty –“

„Ich glaube, Sie sind Alle verrückt geworden,“ schnitt Georg ihm die Rede ab und maß ihn mit einem zornfunkelnden Blick. „Gehen Sie mit Ihrer Forelle und Fräulein Paloty zum Teufel und schaffen Sie mir eine ordentliche Cotelette und Bohnen. Nein,“ fuhr er zu Heino gewendet fort, „ich habe kein Recht an die Wasserfrau. Auf der Mauer ist’s stets mit richtigen Dingen zugegangen. Wir haben die Ehre des Nixenverkehrs den Falkenecks überlassen, welche auch jedenfalls mit ihren Rittersporen und dem goldenen Falken im blauen Feld der Lora besser gefallen haben als meine derben Vorväter mit ihrer Mistgabel. Da Du schon die Bekanntschaft der geschwänzten Schönheit gemacht hast, wirst Du auch wissen, daß sie die Stammmutter der Freiherren von Falkeneck sein soll.“

„Die Sage hat mich förmlich gepackt,“ entgegnete Heino mit schwärmerischem Aufschlag seiner braunen Augen. „Sie ist hoch poetisch vom Einzug der schönen Lora an mit ihrem Schatz [259] von Gold und Sapphiren bis zu ihrer Verstoßung durch den Ritter, als er entdeckte, daß sie eine Nixe war, und seiner Bußfahrt nach dem gelobten Lande.“

„Es wird etwas Wahres an der Geschichte sein,“ antwortete Georg, indem er ein Rebhuhn zerlegte. „Wahrscheinlich ist die Stammmutter der Falkenecks die Erbtochter eines heidnischen Häuptlings der Gegend gewesen. Ihre Schätze erklären sich daraus, daß die Lora in früheren Zeiten Goldkörner geführt hat und Sapphire in den Basaltbergen ihrer Ufer gefunden wurden. Die reiche Erbin wird von dem mit Karl dem Großen eindringenden christlichen Ritter zum Christenthum bekehrt und gefreit worden sein. Wahrscheinlich hat sie aber von den alten heidnischen Gebräuchen nicht lassen konnen – vielleicht zu viel gescheuert und gewaschen – und ist von ihrem Gatten dabei überrascht und fortgejagt worden, wie ihr für ihren Ungehorsam gebührte. Wenn Dir die Geschichte Spaß macht, freut es mich. Dann ist der Unsinn doch zu etwas gut.“

Heino sah ihn mit großen Augen an.

„Spaß? Ich trage schwer an der Aufgabe.“

„So laß die Hexe in ihrem Wasser sitzen,“ rieth Georg. „Gott solle mich bewahren, daß ich mir unnöthiger Weise ein solches Kreuz auf den Hals lüde.“

„Nein,“ rief Heino schwärmerisch, „sie hat es mir angethan, obgleich sie am wenigsten deutlich aus der Sage heraustritt. Es ist, als sähe man ihre Gestalt nur fern durch das Wasser herauf schimmern. Die Sapphiraugen, das goldne Haar sind erkennbar; sie selbst aber bleibt verhüllt. Und was übt wunderbareren Zauber aus als das Geheimnißvolle?“

Georg zuckte die Achseln.

„Ich lobe mir klare Verhältnisse, besonders, wenn es sich um Frauen handelt. Aber bei einer Dichtung mag das anders sein.“

„Ja wohl ist es da anders,“ seufzte Heino. „Ich fühle, daß das glatte, klare Alltagsleben, in das ich geschmiedet bin, Bleigewichte auf die Flügel meines Geistes legt. Aber der Bann muß gesprengt werden, der meinen Genius gefangen hält, sei es selbst durch ein schweres Schicksal – ich will den Göttern dafür danken.“

„Mensch, versündige Dich nicht,“ rief Georg unwillig. „Wir wollen gehen und Kaffee trinken. Ich glaube, die Luft hier benebelt den Verstand.“

Der Freund gefiel ihm gar nicht mehr. War Blachrieth verwandelt, oder hatte er selbst in seiner früheren Jugendeselei sich ein falsches Bild von ihm gemacht?

Sie tranken ihre Gläser aus und begaben sich in die von Schlingpflanzen umrankte, mit Topfgewächsen geschmückte Veranda, welche sich vor dem Saale hinzog.

Mehrere elegant gekleidete Herren saßen bereits dort in bequemen Schaukelstühlen, plaudernd, rauchend und ihren Kaffee nehmend. Heino war mit ihnen bekannt und stellte seinen Freund vor. Man wechselte einige flüchtige Worte, und die beiden neu Angekommenen schlossen sich den Andern an. Ungenirt kehrten diese zu dem Gesprächsthema zurück, welches sie vorher beschäftigt hatte.

„Sie muß herein sein,“ bemerkte der Eine, welcher einen Anzug von auffallendem karrirten Stoff trug. „Die Beletage des Lora-Flügels ist offenbar alarmirt.“

„Vor einer Stunde war sie noch nicht da,“ beharrte ein Anderer. „Ich selbst sprach mit dem Geschäftsführer des Kurhauses.“

„Ist das wieder diese verwünschte Paloty?“ fragte Georg, sich oerzweifelt in seine dunklen, unter kurzem militärischen Schnitt gehaltenen Haare fahrend.

„Ganz richtig; Frau Paloty mit ihrer Tochter Leonore,“ erwiderte Ravensburgk. „Oder besser gesagt: Fräulein Leonore Paloty mit ihrer Mutter.“

„Wenn es überhaupt ihre Mutter ist,“ wendete der „Sohn seiner Mutter“ ein.

„Freilich ist es ihre Mutter,“ stritt der Großkarrirte, der Baron Pölz genannt wurde. „Sie führt den Familiennamen der Mutter.“

„Sind Sie so genau in die etwas dunklen Verhältnisse eingeweiht? Vielleicht als Apostel der Aufklärung ausgesendet?“ fragte Ravensburgk, indem er seinen von Gichtschmerzen geplagten Arm ächzend knetete.

„Für Geld ist Alles zu haben,“ lachte Pölz. „Es kommt nur darauf an, ob man den Preis zahlen kann. Als die Palotys in der vorigen Saison hier auftraten und uns Allen durch Erscheinung und Verhältnisse ein Räthsel aufgaben, ließ ich meine geheimen Federn spielen, und es dauerte nicht lange, so hatte ich die Auflösung.“

„Ah,“ machten die Herren, blaue Ringe in die Luft blasend.

„Frau Paloty,“ erzählte wohlgefällig Pölz, „ist die Tochter eines böhmischen Kapellmeisters oder Komponisten, kurz, eines Musikanten, die durch ihre Schönheit Herz und Hand eines Herrn von guter Familie gewonnen hat. Die Ehe ist, wie unter solchen Verhältnissen meistens, unglücklich ausgefallen, und der Mann, von seinem Vater enterbt, in die weite Welt gegangen. Die Tochter aber ist die alleinige Erbin des steinreichen Großvaters geworden.“

„Wozu aber die Annahme des mütterlichen Namens?“ warf man ein.

„Einer Grille des Erblassers zu genügen,“ lautete die Antwort.

„Vielleicht fürchtete er, daß der Name auch durch die weibliche Descendenz kompromittirt werde,“ sagte Ravensburgk. „Aber wie lautete dieser abgeworfene Name?“

Jetzt mußte Pölz seine Unwissenheit zugestehen und damit die Glaubwürdigkeit seiner Nachrichten selbst erschüttern.

Der Bergrath hatte gehört, die Palotys seien russische Emissärinnen und deßhalb ihnen gegenüber Vorsicht geboten.

„Kommt der schwarze Mann noch immer nicht zur Ruhe?“ lachte Georg.

„Der schwarze Mann stirbt nicht,“ belehrte Ravensburgk. „Immer wieder wird er bei kleinen und großen Kindern seine Auferstehung halten, so oft sie auch die Strohpuppe hinter der schwarzen Vermummung erkannt haben. Die Menschheit bedarf der Scheuchen auf allen Feldern ihrer Thätigkeit – sei es Politik oder Religion – wie das Spatzenvolk des Butzemanns in den Weizenfeldern. Uebrigens ist es ja gleichgültig, was die Palotys sind. Wenn wir uns an einer schönen Blume freuen, fragen wir auch nicht danach, ob sie in einem Treibhause oder auf dem Kehrichthaufen gewachsen ist.“

Georg fühlte sich von der Unterhaltung gelangweilt. Er erhob sich und ging; Heino und Ravensburgk schlossen sich ihm an.

In diesem Augenblick rasselte ein von vier lang gespannten Pferden gezogener eleganter Reisewagen an ihnen vorüber. Aus dem Fenster bog sich über ein riesiges Bouquet ein verschleierter weiblicher Kopf und erwiderte den kecken Gruß Ravensburgk’s.

„Sie!“ sagte dieser, indem er das Glas aus dem Auge fallen ließ. „Fräulein Leonore Paloty ist einpassirt.“

Heino blieb stehen und blickte dem Wagen nach, der, gefolgt von einem andern Wagen mit zierlichen Zofen und riesigen Koffern, am Portal des Kurhauses vorfuhr.

Die Glocke annoncirte die Ankommenden mit einem wahren Sturmgeläut; die zusammenlaufenden Kellner bildeten eine Gasse; die von ihren Sitzen herabspringende Dienerschaft gesellte sich dazu. Der Schlag wurde geöffnet.

Aber von den Insassen konnte Heino vor dem schwarz befrackten Garçonspalier nichts erkennen.

Nur ein grausilbern schimmerndes Schleppkleid huschte wie ein Schlangenschweif an der Erde hin, die Stufen hinauf und verschwand in der Pforte.

Georg aber hatte bei der abermaligen Nennung des Namens das Hasenpanier ergriffen.




Die Abendpromenade hatte begonnen. In rastlosen Verschlingungen wechselten die Gruppen auf dem Kurplatz, zogen sich von hier nach der Rotunde, welche die heißen Quellen überwölbte, und von da nach den Gartenwegen und Alleen hin.

Die festen Pole in der Erscheinungen Flucht bildeten die Badeärzte, welche gleich Beichtvätern einmal nach rechts, einmal nach links sich beugten, leise Klagen entgegennahmen, neue Verordnungen erließen.

Das Ohr des Geheimen Medicinalrathes hatte Frau von Blachrieth erobert. Den goldenen Knopf seines Stockes [260] nachdenklich an die Nase gelegt, vernahm derselbe ihre Beichte und verordnete ihr dann mit wichtiger Miene, einen Becher mehr zu trinken.

Dann lieh sie ihrerseits ihr Ohr dem Präsidenten, der über die Table d’hôte im „Englischen Hof“ klagte, und empfahl ihm die des Kurhauses.

Hedwig schritt mit Ravensburgk voraus. ihr Schirmchen war wie ihr Kleid in frisches chinesisches Rosa getaucht und warf einen lieblichen Schein auf ihr Gesicht.

Ravensburgk, die Hände mit dem Stöckchen lässig auf den Rücken gelegt, schlenderte plaudernd neben ihr her.

„Ah, da ist Frau von Tromsdorf mit ihrer Tochter Fifi. Welche Fertigkeit wird das gute Kind zunächst entwickeln? Wenn man die Nausikaa von Bendemann lobt, sagt die Mutter: ‚Sie sollten sehen, wie Fifi malt.‘ Ist man von Liszt begeistert: ‚Aber Sie haben Fifi noch nicht gehört.‘ Ich fürchte, da kürzlich ein neuer Mond entdeckt worden ist, so wird es nun heißen: ‚Das ist gerade Fifi’s specieller Fall, Monde zu entdecken.‘“ Er grüßte abermals in verbindlichster Weise. „Die drei Fräulein von Gokel! Welche Führung hat sie hierher geführt? Sie müssen nämlich wissen, daß sie nur durch Führungen leben. Selbst wenn sie den Schlüssel zum Brotschrank auf ihrem Hafergütchen verlegen, so ist das eine gnädige Führung, welche ihnen das Frühstück für ihre Leute spart. Aber Frau von Giera fehlt. Wahrscheinlich ist sie schon bei Frau Paloty, die sie begleitet wie der Ibis das Krokodil. Gewiß nimmt die getreue Freundin bereits den Thee und noch viele andere gute Dinge im Lora-Flügel ein.“

Hedwig schüttelte den Kopf.

„Warum verkehren Sie so angelegentlich mit der Gesellschaft, wenn Sie sie doch verachten?“

„Wer sagt Ihnen, daß ich die Gesellschaft verachte?“ spottete Ravensburgk. „Womit hätte dieselbe eine solche Empfindung verdient? Befolgt sie nicht alle Gebote? Sie betet nur einen Gott an – den Vortheil; sie ehrt Vater und Mutter – wenn sie Geld haben; sie übt Treue – gegen die Champagnersoupers. Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“ sang er mit der Stimme eines Nachtmahrs. „Aber es wird Zeit, meinen zweiten Becher zu trinken.“

Er zog den Hut und richtete seine Schritte nach der Brunnenhalle.

„Jetzt kommt Heino,“ sagte in tröstendem Tone Frau von Blachrieth zu Hedwig, indem sie sich von dem Rollstuhl einer gelähmten Freundin der Nichte zuwandte.

Hedwig schien diese Mittheilung so wenig zu interessiren, als vorhin die moquanten Reden Ravensburgk’s. Da ihre Tante stehen blieb, um den Sohn zu erwarten, lehnte sie sich an das eiserne Geländer, welches die Promenade nach dem Fluß abschloß, und blickte das Thal entlang, wo derselbe um den Fuß des Hainberges in den Lora-Grund hinabrauschte.

„Hier bringe ich meinen Freund, Herrn Hauptmann Aufdermauer,“ sprach Heino, diesen vorstellend.

Hedwig wendete sich gleichgültig; aber als sie die Augen aufschlug, wurde sie purpurroth.

Georg stand einen Augenblick sprachlos. Dann sprühte heller Muthwille aus seinen Augen, und in neckendem Tone sagte er:

„Ihr Kranz hängt wohlbehalten bei den Erntekränzen in der Vorhalle des ‚deutschen‘ Hauses Aufdermauer.“

„Mein Gott, wie ist denn das?“ fragte Frau von Blachrieth auf das Aeußerste überrascht.

„Ich habe Sie übergeholt, gnädige Frau, als Sie sich den Lora-Grund angeschaut hatten,“ antwortete Georg lachend. „Aber Fräulein von Grundleben ist die einzige, die mich wieder erkannte.“

Heino wurde von dem Vorgange in Kenntniß gesetzt.

„Ist’s möglich?“ rief er ganz erstaunt. „Solche Abenteuerlust hätte ich Dir gar nicht zugetraut.“

„Nein,“ verwahrte Georg sich eifrig, „ich habe wahrhaftig keine romantische Ader. Das Zusammeutreffen war ganz zufällig. Ich wollte auf die Pirsch in den Hainberg gehen, und als ich an den Kahn kam, bemerkte ich, daß ich meine Rehblate vergessen hatte, Christian meinte, in der Abendstunde abkommen zu können, und lief zurück, mir das Pfeifchen zu holen. Ich setzte mich einstweilen auf seine Steinbank. Da wurde geläutet. Christian’s Ruf als zuverlässiger Fährmann stand auf dem Spiel, ein Ruf, der in seiner Art so viel werth ist als jeder andere. Genug! ich holte über, und – es hat mich nicht gereut.“

Die scherzende Besprechung des kleinen Ereignisses hatte eine rasche Bekanntschaft vermittelt. Bald war Hedwig in ein landwirthschaftliches Gespräch mit Georg vertieft. Von einem neuen Butterfaß ausgehend, kamen sie zu einem Streit über holländische Kühe und einer Uebereinstimmung über eine amerikanische Dreschmaschine.

Frau von Blachrieth seufzte am Arme Heino’s:

„Wenn es nur Niemand hört! Man hält uns sonst für eine Krautjunkerfamilie.“

Sie gingen eben den Lora-Flügel entlang. Aus einem der hohen Bogenfenster tönten die lang hinhallenden Akkorde einer Harfe herab.

„Nach wem siehst Du Dich nur um, Heino?“ fragte sie nach einer Weile. „Du führst mich so eigenthumlich heute.“

„Verzeih, liebe Mama,“ entschuldigte er sich. „Ich bin ganz benommen von meinem neuen Stoff und suche Ravensburgk, um von ihm etwas über die Wappensage der Falkenecks zu erfahren. Er ist ein außergewöhnlich gut unterrichteter Heraldiker.“

„Ah, sehr verbunden,“ ertönte die dumpfe Stimme des Genannten. „Ich gehe merkwürdiger Weise schon geraume Zeit nebenher, ohne von irgend jemand beachtet zu werden. Sie meinen jedenfalls die Tradition, daß die Falkenecks bis zu ihrer Mesalliance mit der Nixe den Falken ohne Kappe im Schild geführt und erst zur Buße ihn geblendet und die Devise angenommen haben: ,ich harre auf Licht.‘ Die Geschichte klingt zu modern. Vielleicht ist es eine spätere Legende, wie sie sich immer um hervorragende Persönlichkeiten sammeln, gleich den Nebeln um Berggipfel. Verbürgen läßt sich natürlich nichts. Vor tausend Jahren wurde nicht so viel geschrieben wie heutzutage.“

„Tausendjähriges Harren auf Licht; welch schweres Schicksal!“ sagte Hedwig, die, den Harfenklängen lauschend, stehen geblieben war.

„Das Schicksal der Menschheit,“ entgegnete Ravensburgk, indem er seinen Plaid langsam um die Schultern warf. „Der Einzelne kann nichts voraus verlangen.“

„So alt sollte der Adel sein?“ fragte Frau von Blachrieth ungläubig.

„Daran ist nicht zu zweifeln,“ entgegnete Ravensburgk leichthin. „Er ist so alt wie der meinige. Die Falken und Raben haben zusammen gekämpft und geraubt. Es sollen auch ein paar von Rudolph von Habsburg zusammen dafür gehenkt worden sein.“

„O!“ wehrte Frau von Blachrieth.

„Nehmen Sie es nicht tragisch, gnädige Frau,“ tröstete Ravensburgk ironisch. „Das Werfen der Kaufleute war dazumal Sport, und dieser hat zu keiner Zeit Anspruch auf erhabene Gesinnung gemacht.“

„Sagen Sie,“ erkundigte sich Frau von Blachrieth interessirt, „gehören Sie der Linie Dohlennest an?“

„Nein, Ravensburgk von Ravenskopf; ich bin ein echter Rabe,“ war die Antwort.

„Ach ja, ihre Frau Mntter war eine Dohlennest,“ verbesserte sie ihren Fehler. „Aber die Elsterbergs –“

Hedwig ergriff die Flucht. Sie wußte: wenn ihre Tante einmal anfing, die Stammbäume auf und ab zu klettern, so war sie so bald nicht wieder herunter zu bringen.

„Woher bekommen Sie Ihre Lektüre?“ fragte sie Georg, der unentwegt an ihrer Seite ging.

„Von Jungbrunnen,“ berichtete er.

„Das sind gewiß nur oberflächliche Romane,“ rügte sie. „Die Buchhandlungen der Bäder sind hauptsächlich darauf angewiesen.“

„Nun ja, was man so zum Schmökern braucht,“ murmelte er verlegen.

„Wir haben unsere kleine Hausbibliothek,“ erzählte Hedwig. „Wenn das Tagewerk beschlossen ist, sitzen wir in der Wohnstube um den runden Tisch. Ich lese vor, Papa raucht, Mama strickt.

[261] 

Schöpfen des Osterwassers.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[262] Unsere neueste Erwerbung ist ein Buch von Gustav Freytag: ‚Bilder aus der deutschen Vergangenheit.‘ Es waren schöne Abende, als wir es lasen. Seitdem habe ich unser altes Haus mit seinem hundertjährigen Geräth noch einmal so lieb und bin noch einmal so stolz darauf, eine Deutsche zu sein.“

„Dafür möchte ich Ihnen nun auch von Herzen die Hand drücken,“ sagte Georg in warmem Tone.

„Mein Gott,“ klagte Frau von Blachrieth plötzlich, indem sie stehen blieb, „die Anlagen sind doch recht beschränkt. Wir mögen einen Weg einschlagen, welchen wir wollen, immer mündet derselbe unter dem Lora-Flügel des Kurhauses.“

„St!“ machte Heino und lauschte.

Jetzt schallte ein mit großer Virtuosität gespielter Perlenregen herab, aus dessen wirbelnden und rollenden Tongebilden eine einförmige Melodie von unendlicher Sehnsucht mit starker Hand „herausgerissen“ wurde. Heino konnte keinen andren Ausdruck für diese leidenschaftliche Art des Vortrags finden.

„Leonore Paloty spielt,“ sagte Ravensburgk. „Diese Fertigkeit spricht allerdings für die Annahme, daß sie von böhmischen Musikanten abstammt.“

„Wie kommt diese fragwürdige Dame zu dem Lora-Lied, welches das Volk in unserem Thale singt?“ fragte Georg, während er mit Hedwig weiter ging.

„Der Herr Aufdermauer marschirt im Sturmschritt,“ bemerkte Ravensburgk mißmuthig.

Verstimmt hüllte Frau von Blachrieth sich in ihre Mantille und klagte:

„Ich darf mich aus Rücksicht auf meine Brunnenkur der Abendluft nicht aussetzen.“

Pardon, Mama,“ sagte Heino, „wenn dies das Lora-Lied ist, muß ich es zu Ende hören; das ist zu meinem Stoff nothwendig.“

Ravensburgk bot Frau von Blachrieth galant den Arm, und während Heino zurückblieb, geleitete er sie nach Hause, unverwandt das Monocle auf das junge Paar gerichtet, das er so „contre coeur“ chaperonniren mußte, während er die alte Dame „faute de mieux“ führte.

„Herr von Ravensburgk,“ klagte sie, „nicht wahr, Sie erinnern Heino daran, daß er zu rechter Zeit nach Hause geht? Es ist nicht kurgemäß, sich spät zur Ruhe zu begeben.“

„Gnädigste Frau,“ entgegnete Ravensburgk in entschiedenem Tone, „ich glaube, daß ihr Herr Sohn etwas ganz Anderes bedarf als eine sorgfältige Brunnenkur. Es ist dies eine richtige Erkenntniß des Lebens, und ich meine, daß er seinen Aufenthalt hier benutzen sollte, um einmal Welt und Menschen kennen zu lernen, statt Phantasiebildern nachzujagen.“

Frau von Blachrieth hob beleidigt das Haupt.

„Seine poetische Begabung scheidet ihn von der Prosa des Lebens und bewahrt ihn davor, mit dem Niedrigen in Berührung zu kommen,“ schloß sie mit dem spitzen Tone, der an das Summen der Biene erinnert, die gern stechen möchte.

Ravensburgk nahm keine Notiz von der Anzüglichkeit.

„Auch der dichterische Lorbeer wird nicht erträumt, sondern im heißen Kampfe errungen,“ entgegnete er. „Oder glauben Sie wirklich, daß eine Seele, die nur sich selbst bespiegelt, die keine Leidenschaft kennt, die vom Schmerz und Elend des Lebens nie berührt wurde, daß eine solche Seele Töne zu finden vermöchte, welche die Menschheit auf ihrem Passionswege über diese schöne Erde ergreifen, rühren, erheben können?“

Sie waren an der Wohnung angekommen. Ehe sie noch eine Erwiderung fand, zog er den Hut tief ab. Ihren empfindlichen Abschiedsgruß nahm er mit stoischer Ruhe hin. Sie wandte sich Hedwig zu, die mit holdem Lächeln dem Hauptmann Aufdermauer „Guten Abend“ wünschte.

In tiefer Verstimmung uahm Frau von Blachrieth in ihrem Salon Platz. Während sie, wie allabendlich, eine Fächerpatience legte, krittelte sie:

„Was fällt diesem Herrn von Ravensburgk ein, mir über die Erziehung meines Sohnes Rathschläge zu ertheilen, da er doch selbst nur als abschreckendes Beispiel dienen kann?“

Hedwig stand am Fenster.

„Da wendet sich der Herr Aufdermauer noch einmal um und grüßt herauf,“ sagte sie.

Ihre Tante wurde noch ärgerlicher.

„Ich wundere mich doch, Hedwig, daß Du so schnell vertraut wurdest mit diesem Herrn Aufdermauer. Der Scherz, den er sich mit uns erlaubt hat, war nicht sehr gewählt.“

Jetzt drehte sich Hedwig um.

„Du irrst Dich ein wenig im Ausdruck, liebe Tante,“ erwiderte sie sanft, aber bestimmt. „Er hat uns einen Dienst geleistet.“

Frau von Blachrieth wiegte unmuthig das Haupt.

„Er hat nichts Vornehmes, nichts Apartes; seine Sprache ist nicht gewählt.“

„Ich habe nur den Eindruck,“ widersprach Hedwig, gleichmäßig ruhig, „daß er vor Allem wahr reden und nichts sein will als ein ganzer Mann.“

„Sämmtliche Könige liegen voran, kein Aß ist heraus zu bekommen. Aus der Patience wird nichts.“ Aergerlich schob Frau von Blachrieth die Karten zusammen.




Trotz der Nähe seines Gutes war Georg über Nacht in Jungbrunnen geblieben. Er wolle sich die Morgenpromenade einmal ansehen, hatte er Heino gesagt.

An frühes Aufstehen gewöhnt, saß er schon frühstückend hinter den Myrten- und Granatbäumen, welche seinen Balkon überschatteten, als von dem Badeleben kaum die ersten Spuren sich zeigten. Ueber den Kurplatz zu seinen Füßen schritten nur Milchverkäuferinnen, Bäckerjungen mit Körben voll Brötchen auf den Köpfen, eilten Badewärter hin und her.

Georg meinte, es sei ihm lange nicht so wohl geworden wie heute. Daheim mußte er um diese Stunde dem Verwalter, der Haushälterin, dem Gärtner und Kutscher Rede stehen, welche Bericht erstatteten und seine Befehle einholten; hier konnte er ungestört seinen Gedanken nachhängen, die unaufhörlich die Ereignisse der letzten Tage an seinen Augen vorüber führten. Die kleine Romanscene, die er erlebt hatte, dünkte ihn viel unterhaltender als die Journalnovellen, welche er zu Hause nach dem Mittagsessen zu lesen und über die er regelmäßig einzuschlafen pflegte. Er spann bereits ein Plänchen aus, das dem romanhaften Anfang entsprach, und unternehmend ließ er seinen schwarzen Schnauzbart durch die kräftigen wohlgeformten Hände gleiten.

Da weckte ihn ein Klirren aus seinen Gedanken.

Ihm gegenüber an der Rückseite des Lora-Flügels wurde ein Fenster geöffnet. Eine schlanke Mädchengestalt, in einen von Spitzen überrieselten Negligémantel wie in eine duftige Wolke gehüllt, von aufgelöstem goldblonden Haar wie von einem Schleier umwallt, erschien in dem Rahmen. Das mußte die Paloty sein, über welche die Leute den Verstand verloren hatten! Nachlässig auf das sammetne Fensterkissen gestützt, hielt sie Umschau.

Da – plötzlich – hob sie wie em lauschendes Reh den zierlichen Kopf höher; ihr Blick heftete sich so gespannt auf eine Stelle des Kurplatzes, daß Georg demselben unwillkürlich folgte.

Aus der Brunnenhalle kam ein schlanker, ganz in Grau gekleideter Herr. Er mochte kaum die Mitte der vierziger Jahre überschritten haben; doch deuteten sein langsamer Gang und sein bleiches abgezehrtes Gesicht auf eine gebrochene Lebenskraft. Kein Blick von ihm richtete sich nach dem Fenster empor, obwohl die Dame sich weit herausbog.

Da verschwaud sie einen Augenblick von demselben, um im nächsten mit einem Spiel Karten in der Hand wieder zu erscheinen. Gedankenschnell ließ sie die Blätter durch ihre Finger gleiten und wählte eines derselben aus. Sie warf einen raschen Blick über die gegenüberliegenden Feuster und den Platz; und da der letztere leer war und die zugezogenen Behänge der Fenster so unschuldig aussahen wie die Myrtenbäume, die den Balkon verhüllten, ließ sie die Karte, die Georg’s scharfes Auge als das Coeur-Aß erkannte, vor die Füße des frühen Brunnengastes fallen.

Es schien Georg, als zucke der graue Herr ein wenig zusammen. Dann nahm er die Karte auf. Eine der Ecken war eingeknickt, wie man bei verfehlten Visiten zu thun pflegt.

Ein Lächeln ging wie ein heller Schein über sein blasses Gesicht. Aber ohne aufzusehen, schritt er schnell von dannen, obgleich die junge Dame ihm mit dem Blick folgte und erst, als [263] er verschwunden war, sich ins Zimmer zurück wandte. Georg bemerkte, daß sie dort einen Augenblick stehen blieb, die Hand vor die Augen gedrückt.

„Das weiß Gott! in einem Bade ist der Teufel schon am frühen Morgen los,“ brummte Georg.

Dann tauchte vor seinen Augen wieder die Mädchengestalt auf, welche nun seit zwei Tagen ihn unaufhörlich umgaukelte, mit den klaren Augen, der sammetartigen bräunlichen Haut, dem sanften stillen Mund. Er stellte sich vor, wie sie in einem weißen Häubchen aussehen müßte; denn solche extravagante Frisuren, wie die Coeur-Dame da drüben trug, waren ihm ganz zuwider. Endlich zeigten die belebtere Promenade und die beginnende Morgenmusik an, daß die Zeit gekommen war, zu der er die Blachrieth’sche Familie der Verabredung gemäß im Kurgarten erwarten durfte.

(Fortsetzung folgt.)




Von klingender Münze und ihrem Werthe.

Offener Brief an eine Wißbegierige.
Von0 C. Falkenhorst.

 Verehrte Frau!

Wie war ich erstaunt, als ich vor Kurzem aus Ihrem Munde die höfliche Bitte vernahm, Sie über eine der brennendsten volkswirtschaftlichen Fragen zu belehren, Sie vertrauter zu machen mit einem Gebiete, auf welchem in der Regel nur der Geist kühl rechnender Männer Befriedigung findet und das wie die Hölle gemieden wird von allen schönen Seelen und solchen, die sich für schöngeistig halten! Anfangs zögerte ich, Ihrem Wunsche Folge zu leisten; denn ich fürchtete das Schlimmste zu begehen, was einem Schriftsteller begegnen kann, ich fürchtete langweilig zu werden und Ihren Wissensdurst mit Enttäuschung zu stillen. Ihren wiederholten Bitten mußte ich mich jedoch fügen; ich unternehme das kühne Wagniß und will versuchen, so gut ich es kann, mit Ihnen zu plaudern über einen Gegenstand, der Ihnen seit jeher als der Inbegriff alles Reichthums erschien und der heute wie vor Jahrhunderten und Jahrtausenden eine der brennendsten Fragen der gesammten Kulturwelt bildet.

„Zur Zeit, als noch Saturn und Janus auf Erden herrschten, wurden die ersten Münzen in Umlauf gebracht.“ So erzählten sich die alten Römer und deuteten dadurch an, daß der Ursprung des Geldwesens in Zeiten zu suchen sei, in welche die geschichtliche Ueberlieferung nicht mehr zurückreicht. Wie uralt uns somit das aus Edelmetallen geprägte Geld erscheinen muß, so finden wir doch bei einiger Betrachtung, daß dasselbe erst einer höheren Kulturstufe der Menschheit angehört, jenen Zeiten, in denen die Verhüttung der Erze und die Bearbeitung der Metalle dem Menschen geläufig waren. Gab es in den früheren Jahrtausenden, welche jener Epoche vorangingen, kein Geld? Ohne Bedenken kann man diese Frage bestimmt beantworten, denn noch heute giebt es Völker, denen die Bearbeitung der Metalle durchaus fremd ist und die über ihre eigenartigen Geldsorten verfügen. Noch heute bilden auf den Karolinen, die durch den Streit Deutschlands mit Spanien und den Richterspruch des Papstes so berühmt geworden sind, große runde Steine das landesübliche Geld, welches, was die Schwere anbelangt, getrost mit den eisernen Münzen Spartas wetteifern könnte. Die Südsee ist außerdem die Heimath einer anderen Geldsorte, welche früher über drei Erdtheile verbreitet war und noch heute an vielen Orten sich in Umlauf befindet. An den Küsten der Malediven, Philippinen etc. lebt eine niedliche Porcellanschnecke, die Kaurimuschel. In uralter Zeit wurde sie von dort nach China, Birma, Siam und Indien verschifft, wo sie als Geld verwendet wurde, und selbst in unseren Tagen dient sie denselben Zwecken nicht allein bei vielen Stämmen der Südsee-Insulaner, sondern auch bei den Negern Afrikas.

Sie möchten gewiß neugierig fragen, welchen Werth dieses Geld besitze? Sein Kurs ist schwankend, je nach der Menge, in der es nach einem Lande gebracht wird. Es gab Zeiten, da in Afrika um 10 Kauristücke eine Kuh gekauft werden konnte; jetzt beträgt der Werth einer Hand voll dieser Muscheln (8 bis 10 Stück) nicht mehr als einen Pfennig. Ich mache Sie ganz besonders auf diesen Umstand aufmerksam, denn er ist als ein leicht verständliches Beispiel sehr lehrreich für die Beurtheilung unserer verwinkelteren Geldverhältnisse.

Ich könnte die Reihe dieser Beispiele fast ins Unendliche ausdehnen, denn alles Mögliche haben die Menschen im Laufe der Zeit als Geld benutzt: Kakaobohnen und getrocknete Fische, Eier und Salz, Ziegelthee und Datteln, Käse und Tabak, Biberfelle und Kattunstreifen, bunte Glaskorallen und Vogelfedern, Flintenkugeln und Wurfspieße! In einigen Sprachen verräth noch heute das Wort „Geld“ die alten längst vergessenen Zahlungsmethoden: „Kung“ hieß es im Altrussischen und war gleichlautend mit Marder, „Raha“ im Esthnischen, was Pelzwerk bedeutu, und das römische Wort pecunia stammt von pecus, das Vieh.

Betrachten wir aufmerksam alle diese verschiedenen Geldsorten, so finden wir jedoch, daß bei ihrer Auswahl vor Allem das Bestreben maßgebend war, Dinge, die sich leicht aufbewahren und leicht transportiren ließen, als Geld zu verwenden. Darum hat auch die Kaurimuschel, welche diese Eigenschaften besitzt, sich unter allen den genannten Zahlungsmitteln das größte Verbreitungsgebiet erobert.

Aber selbst ihre Vorzüge mußten vor den Eigenschaften der Edelmetalle zurücktreten, die weder der Rost zerfraß noch das Feuer vernichtete, deren Gewinnung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden war, deren Fundorte nur in bevorzugten Landstrichen lagen. Das Geld aus Edelmetallen hatte aber anfangs keineswegs die Gestalt der Münzen angenommen; in frühesten Zeiten wurden Barren von Silber und Gold, deren Werth nach dem Gewicht bestimmt wurde, in Zahlung gegeben. Es sollen zwar in China schon 2000 Jahre v. Chr. metallische Münzen existirt haben, aber wir wissen nicht einmal, aus welchem Metall sie geprägt oder gegossen wurden. Verbürgte historische Nachrichten über das Geld in der Form, wie es heute cirkulirt, stammen aus verhältnißmäßig späten Perioden.

Gold und Silber werden jedoch nicht allein zur Prägung von Münzen verwandt; sie funkeln als Ringe an unsern Händen, schmücken als kostbare Geräthe unsere Tafeln und sind darum auch einfache Waaren, deren Wert nicht beständig bleibt, sondern Preisschwankungen ausgesetzt ist. Die aus diesen Waaren geprägten Münzen müssen die Schwankungen mitmachen, müssen naturgemäß im Preise steigen und fallen.

Die fürsorgenden Regierungen aller Zeiten und aller Länder hatten darum versucht, in diesen ewigen Wechsel eine Beständigkeit einzuführen, und schufen Münzwährungen, bestimmten genau, wie viel Münzen aus einem Pfund Gold oder Silber geprägt werden sollten. Mit Recht nahmen sie die Interessen des Handels wahr und erließen Gesetze, welche Münzen aus bestimmten Metallen als obligatorische Zahlungsmittel festsetzten.

Die Natürlichkeit dieser Maßregel brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Oder soll ich auf Sie das alte Beispiel anwenden und Sie fragen, ob es Ihnen gleichgültig wäre, mit welcher Metallmünze man Sie bezahlte? Für das Haus neben Ihrer Villa, das geschäftlichen Zwecken dient, beziehen Sie, wenn ich nicht irre, eine Jahresmiethe von 5000 Mark. Was für Augen würden Sie, verehrte Frau, machen, wenn Ihnen der Abmiether eines Tages diese Summe in lauter Nickelstücken oder gar kupfernen Pfennigen begleichen wollte! Fühlten Sie sich da nicht in Ihren Interessen auf das Empfindlichste geschädigt?

Sie sehen also, es ist eine weise und nützliche Verfügung, daß größere Zahlungen nur in werthvollen Metallen angenommen zu werden brauchen. Sie rief die verschiedenen Währungsarten ins Leben, unter denen für unser Thema drei von besonderer Wichtigkeit sind:

Die Silberwährung, bei welcher nur Silber als Kourantgeld fungirt, bei welcher also der Gläubiger gezwungen ist, die Begleichung seiner Forderung vom Schuldner nur in Silbermünzen anzunehmen;

[264] die Goldwährung, bei welcher nur dem Golde die oben erwähnten Rechte zukommen, während das Silber als Scheidemünze gilt, und

die Doppelwährung, bei welcher beide Metalle, Gold und Silber, als gesetzliche Zahlungsmittel gebraucht werden können.

Würde die Silberwährung bei uns in Kraft bestehen, so müßten Sie sich gefallen lassen, daß ihnen der Miethzins von 5000 Mark in lauter Silbermünzen gezahlt würde; jetzt, wo wir Goldwährung haben, dürfen Sie dieselbe Summe in Gold fordern; bei der doppelten Währung endlich könnte ihnen der Miether die Summe nach seinem Belieben bald nur in Gold, bald nur in Silber, oder auch zum Theil in Gold und zum Theil in Silber auszahlen lassen.

Für uns kommen nur die beiden letzteren Währungsarten in Betracht, denn wir sehen die Politiker und Volkswirthe heutiger Tage in zwei große Lager getheilt: die Monometallisten, welche für die Goldwährung, und die Bimetallisten, welche für die Doppelwährung eintreten. Sie haben mir, verehrte Frau, im Laufe unsrer Unterhaltung erklärt: Sie begriffen nicht, warum man darüber streite; es müßte doch jedem gleich sein, ob er mit Gold oder Silber bezahlt werde. Ich möchte Ihren Irrthum aufklären.

Ehe ich dies aber thue, will ich noch einige historische Bemerkungen vorausschicken.

Der berühmte Kopernikus schrieb im Jahre 1526 eine Denkschrift über die Münzen und theilte darin mit, daß damals bei allen Völkern 1 Pfund reinen Goldes so viel gegolten habe wie 12 Pfund reinen Silbers, während man früher für 1 Pfund Gold nur 11 Pfund Silber gegeben habe. Hundertundfünfzig Jahre darauf bemerkt der Italiener Montamari, das früher angenommene Werthverhältniß zwischen Silber und Gold habe sich überlebt und nunmehr könne man für 1 Pfund Gold 143/4 Pfund Silber erhalten. Diese Entwerthung des Silbers dauerte bis in die jüngste Zeit fort, so daß im letzten Jahrzehnt das Werthverhältniß zwischen den beiden Edelmetallen im Durchschnitt 1 : 19,12 beträgt also 1 Pfund Gold den Werth von 19,12 Pfund Silber repräsentirt.

Die Münzstätten der verschiedenen Staaten können selbstverständlich diesen Preisschwankungen nicht Rechnung tragen, sie müssen vielmehr für lange Zeiträume Geld in Gold und Silber nach einem bestimmten Verhältniß prägen, und dieses Verhältniß beträgt gegenwärtig in den meisten Ländern mit Doppelwährung 1 : 151/2, sodaß z. B. aus einem Pfund Gold ebenso viele Franks geprägt werden, wie aus 151/2 Pfund Silber. In Deutschland ist das Verhältniß ein niedrigeres, aus 1 Kilogramm feinen Goldes werden 279 Kronen, d. h. 2790 Mark, und aus einem Kilogramm Silber 200 Mark geprägt. Bei uns hat aber das Silbergeld nur die Bedeutung der Scheidemünze. Wer also jetzt Silbermünzen einschmelzen und als Waare verkaufen wollte, würde ein schlechtes Geschäft machen. In derselben Lage befinden sich aber auch Länder, die unter einander ihre Verpflichtungen mit Silber bezahlen wollen; denn eine Mark Silber gilt im Auslande weniger als eine Mark, ihr Werth fällt mit dem Preise des Silbers. Es ist allerdings für den Handel und Wandel äußerst nachtheilig, wenn das Geld, der Werthmesser aller Dinge, selbst derartigen Preisschwankungen unterliegt, und man betrachtete darum die Einführung der Goldwährung als einen wesentlichen Fortschritt.

Er konnte jedoch diejenigen nicht befriedigen, die sich im Besitze großer Mengen von Silber befinden, die Silberbarone, die in ihren amerikanischen Minen alljährlich über 2 Millionen Pfund Silber produciren, und diejenigen Staaten, in deren Kassen sich ungeheure nach Hunderten von Millionen Mark zählende Vorräthe des entwertheten Silbers angehäuft haben. Fur sie ist die Frage von Belang, der Doppelwährung zum Sieg zu verhelfen und dadurch den Preis des Silbers zu steigern, und sie finden eifrige Bundesgenossen in Volkswirthen, welche behaupten, daß das Flüssigmachen des in den Staatskassen nutzlos liegenden Silbers auch auf die Wohlfahrt des Volkes günstigen Einfluß äußern, die Arbeitslöhne erhöhen, die Preise für Nahrungsmittel herabmindern werde.

Die Richtigkeit dieser Behauptung wird stark angefochten, und vor allem würde es ein gefährliches Beginnen sein, wenn ein Staat allein zur Doppelwährung zurückkehren wollte. Ein Spekulant brauchte dann z. B. nur in London das entwerthete Silber aufzukaufen und es in Deutschland in Geld zu verwandeln; es gäbe für ihn kein sichereres und lohnenderes Geschäft, [bei] welchem der Staat und die übrigen Bürger den Verlust zu tragen hätten. Aus diesem Grunde ist selbst in den Staaten, in welchen die Doppelwährung besteht, gegenwärtig die Ausprägung der Silbermünzen eingeschränkt oder auch gänzlich sistirt worden.

Darum schwärmen auch die Anhänger der Doppelwährung für eine Münzkonvention unter den hervorragendsten Kulturländern der Welt, durch welche das Werthverhältniß zwischen Gold und Silber endgültig geregelt werden könnte, welche, wenn nicht für ewige Zeiten, so doch wenigstens für Jahrzehnte bestimmen würde, wie viel Pfund Silber für ein Pfund Gold zu zahlen wären.

Die Wogen des Kampfes zwischen den Mono- und Bimetallisten gehen augenblicklich sehr hoch, und von beiden Seiten werden viele Gründe ins Feld geführt; gewiß wird mit der Zeit eine Klärung der Ansichten eintreten, aber die Kenntniß der positiven Thatsache, der statistischen Daten über die Produktion und den Vorrath an Gold und Silber ist gegenwärtig noch so lückenhaft, daß alle bestimmten Schlußfolgerungen nur mit Vorsicht aufzunehmen sind.

Ueberlassen wir also vorläufig den Volkswirthen und Staatsmännern die Prüfung dieser Frage und hoffen wir, daß ihre Lösung zum allgemeinen Besten führen wird. Sie haben jetzt, verehrte Frau, in allgemeinen Zügen die Tragweite und die Bedeutung des immer weitere Kreise ziehenden Streites erkannt, und damit wäre meine Aufgabe Ihnen gegenüber erfüllt.

Ich will jedoch nicht von Ihnen scheiden, ohne als Optimist Ihnen auf einem anderen Gebiete des Münzwesens eine bessere Zukunft zu verheißen. Neben Realpolitikern treiben bekanntlich in der Welt Idealisten ihr Wesen. Diese gutmüthigen Leute möchten die ganze Menschheit unter das Scepter des ewigen Friedens bringen und suchen unablässig alle engherzigen Kulturschranken wegzuräumen. Man schilt sie Träumer und Phantasten, aber unbewußt folgt ihnen doch die Menschheit. Sie wissen, wie der Zauberer Dampf die Völker einander genähert; Sie sind jetzt Zeugin der intimsten Verbindungen, welche die Magierin Elektricität zwischen Städten und Ländern und Welttheilen knüpft. Im allgemeinen Interesse haben die Völker bereits auf Vieles verzichtet, woran sie früher hartnäckig festhielten. Wir und andere Nationen haben in jüngster Zeit die lieben alten Ellen und Füße, Metzen und Quarte aufgegeben und dafür das metrische Maßsystem angenommen. Glauben Sie nicht, daß mit der Zeit auch in der Geldwirthschaft eine ähnliche Umwandlung sich vollziehen wird? Die Apostel des internationalen Geldes sind schon erschienen. Wozu die Mark, die Franken, die Sterlinge, die Dollars, die Rubel! rufeu sie aus. Schaffen wir ab diese bunte Gesellschaft. Der Handel kennt keine Landesgrenzen, ist längst ein organisches Ganzes, welches den Erdball umschlingt. Laßt uns also auch ein einheitliches Geld für alle Länder und alle Völker schaffen!

Und wie soll dieses Geld beschaffen sein? würden Sie fragen. Sollen wir unsere Münzen opfern und vielleicht die weitverbreiteten Englands adoptiren? Mit Nichten! Wir brechen radikal mit dem Alten und setzen ein Gramm Gold als Münzeinheit ein. Die Grammstücke können in Berlin das deutsche, in Petersburg das russische Wappen erhalten, in Paris mit dem Zeichen der französischen, in Washington mit dem der amerikanischen Republik versehen werden, ihr Werth wird überall der gleiche sein.

Ob wir die Zeit erleben werden, wo wir, nach den böhmischen Bädern reisend, keine Umrechnung der Mark in Gulden nöthig haben werden, wo Ihnen der Miether den obenerwähnten Hauszins mit rund 1792 Gramm fein Gold wird entrichten müssen? Trotz allem mir angeborenen Optimismus zweifle ich selbst daran, möchte aber unsern Enkeln diese Errungenschaft von Herzen wünschen. Zeit ist Geld, und die Aufhebung der Umrechnungen der Mark in Franken, Dollars etc. ist Zeitersparniß und somit Geldgewinn. Jüngst sprach ich darüber mit Ihrem Neffen von der Handelsschule, er war begeistert für diese Idee und pries glücklich die kommenden Geschlechter der Handelslehrlinge, die ihr Gedächtniß mit der lästigen Gesellschaft von Franken, Rubeln, Dollars etc. nicht mehr beschweren werden. Doch Zeit ist Geld, verehrte Frau, das Sprichwort habe ich zu guter Stunde heraufbeschworen. Es mahnt mich daran, diesen Brief zu schließen in der Hoffnung, durch den Exkurs in die Domaine der Ziffern und Zachlen Ihre Geduld nicht auf zu harte Probe gestellt zu haben.




[265]


Ostermorgen.
Von Julius Lohmeyer.
Originalzeichnung von Hermann Vogel.




Wald und Strom in Silberduft,
Glockenklang in sonn’ger Luft;
Durch die Lande frisches Wehen –
Quellensingen, Auferstehen!

5
Ueber Trümmern, Todesgrüften

Froh Erwarten, erstes Düften;
Erstes Grün in Feld und Au –
Lerchenjauchzen hoch im Blau!

Aus der Stadt im Morgenschleier

10
Strömt’s und wogt's zur Frühlingsfeier:

Neu die Erde, neu das Herz –
Kinderjubel allerwärts! –

Mädchenherz, auch dich umblühe
Ahnungsreich die Osterfrühe:

15
Fühl’ den Himmel wieder offen –

Und Erfüllung jedem Hoffen!


[266]

Die Andere.

Von0 W. Heimburg.
(Schluß.)


Ob mir gleich nichts daran lag, die Genesung schritt vorwärts. Es kam der Tag, an dem ich zum ersten Male das Bett auf eine Stunde verließ; es kam die Stunde, wo ich schon wieder am Tische mit Frau Roden saß und alle die guten Sachen essen konnte, mit denen Rekonvalescenten gewöhnlich verzogen werden; ich durfte im Sonnenschein der Mittagsstunde im Garten promeniren, und endlich war ich gesund, ganz gesund.

Mich hielt nichts mehr zurück von meinem Entschluß, nach Berlin zu gehen, als eine thörichte Bangigkeit, eine kaum zu überwindende Angst vor dem Abschied aus diesem Hause. Und eines Abends, als wir still neben einander saßen im Wohnzimmer, begann ich schweren Herzens von meinen Plänen zu sprechen.

Die alte Frau lächelte. „Ich habe keine Vollmacht, Ihre Abreise zu erlauben.“

Ich war noch nervös und reizbar, und meine Antwort fiel wunderbar genug aus, indem ich erregt bemerkte: „Ich brauche Niemandes Erlaubniß für meine Schritte!“

Sie nahm es mir entschieden nicht übel; ja, sie that sogar, als habe sie nichts gehört und verstanden. Sie sagte nur bittend: „So lange Fritz noch fort bleibt, wollen Sie mich doch nicht verlassen, Tone? Es ist zwar nicht hübsch, wenn man dergleichen eingesteht, aber ich weiß, Ihnen gegenüber darf ich ehrlich sein – mich hat die Angst und die Pflege ein klein wenig angestrengt, Kindchen. Und der Fritz – Männer haben ja gar kein Verständniß für dergleichen – wollte es durchaus nicht zugehen, daß eine andere Hand Sie berührte, als die meine.“ Und dabei bog sie sich zu mir herüber; wider Willen mußten meine Augen in die ihrigen sehen.

„Bis er kommt, ja,“ stammelte ich; „aber seien Sie ehrlich, sagen Sie mir den Tag seiner Rückkehr.“

Sie that, als begreife sie noch immer nicht. „Früher überraschte er mich gern einmal. Nun überhaupt, Tonchen, was soll das eigentlich bedeuten? Fürchten Sie sich vor Fritz, was that er Ihnen?“

„Ich kann es Ihnen nicht erzählen! – Wenn er es nicht that –.“

„Ich weiß nichts! Ich wunderte mich nur über die Abreise von Charlotte. Hurr! Burr! Hast Du nicht gesehen! wurden die Koffer gepackt; es war ein Getöse in den oberen Zimmern, daß wir schleunigst hier unten das Bett für Sie rüsteten; Fritz kam, er wußte nicht wie schnell, in sein altes Zimmer. Derweil lagen Sie in der Wohnstube auf dem Sopha und schwatzten lauter wunderliches Zeug. – Es war da mit einem Male eine Menge Menschen in unserem Hause, die von Rechts wegen gar nicht hinein gehörte; bei Ihnen saß der Doktor und schüttelte den Kopf, und oben der Kammerherr, den Lotte in größter Hast rufen ließ und den Rieke noch traf, als er just in den Wagen steigen wollte. Dazu lief Anita treppauf, treppab mit Kisten und Kasten, und ich stand rathlos zwischen alle dem und hatte keine Ahnung, was denn eigentlich passirt sei. Fritz schwieg wie ein Stock, und was Sie zusammensprachen, hatte keinen Sinn.

Am anderen Morgen um neun Uhr kam Lotte herunter; sie war im schwarzen Sammetmantel mit duftigem Pelzbesatz und nahm Abschied von Ihnen. Sie schien es sehr eilig zu haben, draußen hielt schon der prinzliche Reisewagen. Fritz begleitete sie hinaus, und am Schlag stand der Kammerherr von Oerzen mit abgezogenem Hut, als wäre sie die Fürstin selbst. – ‚Schreiben Sie mir, wenn sich Tone’s Zustand verschlimmern sollte!‘ rief sie Fritz zu, der ihr eine Verbeugung machte, die tiefste, die er in seinem ganzen Leben fertig bekommen. Dann zogen die Pferde an, und weg war sie.

Als Fritz wieder in das Zimmer kam, hielt ich ihn am Rockzipfel fest. ‚Jetzt sagst Du, was es gegeben hat,‘ drängte ich. – ‚Wenn sie gesund ist, Mutter,‘ wehrte er ab, ‚laß mich jetzt, geh zu ihr.‘ – Weiter weiß ich nichts," schloß die alte Frau.

„Und Lotte, hat sie nicht geschrieben?“

„Nein, nur einige Karten mit kurzen Anfragen nach Ihrem Befinden. Just Weihnachten war es am schlimmsten; nun ist Alles überstanden, Gott sei Dank! Da draußen Sieg auf Sieg, wir haben einen Kaiser von Deutschland und unser Fritz – ich meine nicht den Kronprinzen von Preußen, Tone, sondern unseren eigenen – er hat das Eiserne Kreuz, am Weihnachtsheiligabend kam es an.“

Unser Fritz! Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Sie wußte wirklich nichts?

Ich blieb. Aengstlich forschte ich nach Eintreffen eines jeden Briefes, der aus Wiesbaden kam: Wann kehrt er heim? Es war noch immer nicht abzusehen.

Leise nahte der Vorfrühling, und als die ersten Schneeglöckchen im Garten blühten, da läuteten sie lieblich den Frieden ein, im Feldlager ruhten die Waffen, unser Kaiser hatte Versailles verlassen und ging nach Berlin. Niemals ist wohl über Deutschland ein Lenz herrlicher aufgegangen! War das ein Jubeln, ein Freuen. „Wenn er wiederkommt!“ Das war ein Wort, tausendmal konnte man es hören in jenen Tagen. „Wenn er wiederkommt!“

Es war am siebenten März, da hörte ich es auch, das Wort, als ich durch die Küche ging. Rieke sprach es aus: „Wenn er wiederkommt, gehen wir zusammen zu den Eltern und im Sommer wird geheirathet! Mädchens, ihr kommt sammt und sonders auf die Hochzeit!“

Ich wandte mich und blickte in das freudig strahlende rothe Mädchengesicht; sie sahen Alle heute so übervergnügt aus da in der Küche.

Im Begriff, das Wohnzimmer zu betreten, erblickte ich Frau Roden, die aus der Stube ihres Sohnes kam mit einem Staubtuch. „Ja, wenn man nicht immer einmal aufräumt, Kind,“ sprach sie, „so wächst einem der Staub über den Kopf.“ Und sie trat in die Hausthür und schlug energisch das Tuch aus.

Da draußen fluthete goldener Sonnenschein über die Dächer und die krausen Bäume. Ein Frühlingstag, so ahnungsvoll und glückverheißend, der das Menschenherz weit macht und an alles Gute, Herrliche glauben läßt. „Möchten Sie nicht einen Gang durch den Garten machen, Tonchen? Es sollte mich wundern, wenn noch keine Veilchen heraus wären,“ sagte sie, als ich neben ihr stand und über den Hof schaute.

„Wo will der Wagen hin?“ fragte ich, als eben der Kutscher die Pferde vor den Landauer spannte.

„Zum Wagenbauer,“ entgegnete Frau Roden; „das rechte – nein, das linke Vorderrad ist beschädigt.“

„Und dazu zieht er Livree an?“

„Aber Kind, er soll wohl in der Stalljacke auf dem Kutscherbock sitzen? Da kennen Sie den Jürgen schlecht.“

Ich blickte sie forschend an, aber sie sah unbefangen in den lichtblauen Himmel empor, an dem einige zartweiße Wölkchen standen.

„Ach, ist das ein Tag!“ sagte sie entzückt. Und nach einer Weile: „Ich muß an alle Die denken, die sich des Frühlings nicht freuen können, weil er nicht wiederkommt. Tone, wenn wir hier so ständen und sähen über den Hof und wüßten ganz genau, niemals käme er wieder da drüben gegangen, niemals wieder hörte ich seine Stimme – ich glaube, ich könnte den blauen Himmel und den Sonnenschein nicht mehr ertragen.“

Mir war es bei dieser Vorstellung, als erbleiche wirklich die Sonne, als werde das Blau dort oben ein einförmiges trauriges Grau. „Es müßte entsetzlich sein!“ flüsterten meine Lippen, aber inwendig murrte es bitter und häßlich: Was geht es Dich an!

Dann fiel mir ein, daß ich schon seit gestern einen Brief von Lotte in der Tasche trug, den zu lesen ich mich noch nicht entschließen konnte. Ich ging rasch in meine Stube und erbrach ihn. „Liebe Tone,“ schrieb sie, „von Tag zu Tag warte ich auf Deine Verlobungsanzeige; wo bleibt sie? Ich irre mich doch nicht, ich meine, Fritz hat mir einmal gesagt, daß er Dich liebt, und ich bin neugierig, zu erfahren, ob er den Muth gehabt hat, Dich zu fragen – –“

Ich ballte das Papier zusammen, ich konnte nicht weiter lesen. Wäre ich doch fort von hier! Ich war so seltsam unruhig [267] heute; es kam mir vor, als sei ein ungewöhnliches Leben im Hause. Und ich lief durch alle Zimmer und spähte nach einer Bestätigung meines Argwohns – aber nichts zu sehen.

Es ist besser, ich rüste mich bei Zeiten, dachte ich und stieg die Treppen hinauf, wo ich auf einer Bodenkammer meinen Koffer wußte; ich wollte nachsehen, ob er in Ordnung, und ich fand ihn nicht. Sollte Lotte ihn mitgenommen haben? – Ach ja, Lotte! Und wieder griff ich nach dem Brief in der Tasche und, mich gewaltsam überwindend, setzte ich mich auf eine uralte Truhe mit bunten Blumen bemalt und las:

„Mir geht es außerordentlich gut; ich lebe wieder auf in den Genüssen der Großstadt; begreife mich selbst nicht, daß ich einen Moment daran dachte, in dem philisterhaften Rotenberg zu bleiben. Mein ci-devant Gemahl hat mir eine weit anständigere Rente ausgewirkt, als die sparsame Mama es beabsichtigte; Herr von Oerzen brachte mir diese Nachricht. Leider kann ich Dich nicht auffordern, mich zu besuchen, da ich gewissermaßen selbst Gast bin in dem Hause der Frau von Millern, wenn auch zahlender. Du würdest Dir nebenbei doch nichts aus dem Leben machen, wie wir es hier führen; Dein stiller Ackerhof und zwei gewisse blaue Augen ersetzen Dir wohl die Welt völlig –“

Ich las nicht weiter. Am liebsten hätte ich geweint vor Zorn, aber keine Thräne kam in meine Augen. Todtenstill war es unter dem uralten Hausrath; ein schräger Sonnenstrahl fiel durch das Dachfenster und Millionen Sonnenstäubchen tanzten darin; drüben saß eine Spinne unbeweglich im Netz, das sie zwischen zwei alten Schränken ausgebreitet hatte, und lauerte auf Beute. Ich sehe das Alles noch so deutlich vor mir, und ich höre noch so deutlich das dumpfe Rollen unten auf der Straße, den fröhlichen Peitschenknall und die Männerstimme, die mir das Herz stillstehen ließ vor Schreck und Scham. – Er war gekommen!

Gedämpft scholl Rufen und Sprechen zu mir herauf, Thürenschlagen und Schritte auf der unteren Treppe und im Vorsaal, und endlich sein Ruf: „Tone! Tone!“

Ich rührte mich nicht; wie ein Blitz schoß es mir durch den Kopf: hier sucht dich Niemand, und heute Abend kannst du unbemerkt fort. – Wie? und wohin? Daran dachte ich nicht, nur daß ich ihm nicht gegenüber zu stehen brauche, das arme Närrchen, „Die Andere!“

Ich hörte sie suchen und suchen; es that mir wohl, so ruhig hier zu sitzen, und doch schlug mir das Herz wunderlich bang –. Nun schollen die Stimmen vom Hof und Garten herein, ängstlich, aufgeregt, und plötzlich stand ich auf den Füßen. Dort unten war sein überlauter Ruf erklungen:

„Jürgen, die Braunen vor den Jagdwagen, sofort!“

Ich stand noch immer und schämte mich. War es nicht ein Kinderstreich, mich zu verbergen? Durfte ich ihm zeigen, daß ich ein Wiedersehen fürchtete? Wo war mein Stolz geblieben! Und ich ging die Treppen hinunter, als hätte ich Blei in den Füßen, und mit dem Gefühl einer grenzenlosen Schwäche.

Im Hausflur war es jetzt still, aber vom Hofe scholl das Trappeln der Pferde, die vor den Wagen gelegt wurden. Mit zitternden Händen öffnete ich Frau Roden’s Stube und trat ein. Nebenan im Wohnzimmer hastig auf und abgehende Tritte und die beschwichtigende Stimme der alten Dame:

„Fritz, sei doch ruhig; Du wirst sie ja auf der Station noch finden.“

„Das gebe Gott!“ sagte er bitter; „ich weiß nicht, was werden soll, wenn sie nicht wiederkehrt.“

„Aber Fritz –“

„Mutter,“ klang es da in höchster Bewegung, „ich kann mir das Haus nicht mehr vorstellen ohne das Mädchen, ich kann nicht leben ohne sie! Du hast mich sicher gemacht, Du hast gesagt, sie liebte mich, und hast nicht einmal verstanden, sie fest zu halten! Warum bin ich fort gegangen ohne ihr Wort – ich – –!“

Die alte Frau blieb still nach ihrer gewohnten klugen Weise; sie kam leise herüber geschritten und öffnete die Thür, und nun stand sie vor mir, überrascht, vorwurfsvoll, aber ohne einen Laut. Dann nahm sie meine schlaff herabhängende Hand, drückte sie und flüsterte:

„Ich will ihn her schicken.“

Sie wandte sich, aber da fiel ich ihr in erstickender Angst um den Hals:

„Nein, nein! Ich ertrüge es nicht, wenn ich mich täuschte, er doch nur, um sich zu rächen –“

Nebenan schlug jetzt die Thür, er war hinaus gegangen.

Die alte Frau löste eilig meine beiden Hände von ihrem Hals.

„Eben fährt er fort, in Angst und Verzweiflung,“ sagte sie ernst und deutete hinaus; „meinen Sie, daß Berechnung oder Rache so aussieht? Gehen Sie ans Fenster, Tone, lassen Sie ihn nicht fahren! Und wenn er nachher vor Ihnen steht und Sie sehen seine verweinten Augen, dann bitten Sie ab, daß Sie den ehrlichsten Menschen für einen Heuchler gehalten haben!“

Sie öffnete die Thür, und willenlos folgte ich an das Fenster der Wohnstube, das nach dem Hofe hinaus schaut. Eben nahm er die Zügel dem Kutscher ab, da klopfte energisch ihr Finger an die Scheiben. Ich sah ihn nicht vom Bocke herunter springen, denn ich hatte nicht das Herz, die Augen aufzuschlagen, ich hörte nur seinen jubelnden Ausruf; ich weiß nur noch, daß er durch den Hausflur stürmte, daß die Thür aufflog und ich im nächsten Augenblick an seiner Brust lag. Wo waren Zweifel, Sorge, Noth? Wie Eis und Schnee vergangen, und über mir der Frühling, der Sonnenschein meines Lebens, zwei ernste blaue Augen in Thränen schimmernd.

„Tone, Du liebes freundliches Geschöpf, sage Ja!“ sprach er.

„Du hast mich lieb, mich, die Andere?“

„Nein! nicht die ‚Andere‘ – die Eine, die Echte und Rechte! Du mußtest es wissen, Tone; längst, längst!“

„Ach, ich dachte, Du könntest Lotte nicht vergessen.“

„Lotte? Tone, würde ich sie gebeten haben in meinem Hause zu bleiben, wenn ich nicht völlig gefeit war gegen ihre Macht durch die Neigung zu Dir? Wie gern hätte ich es Dir schon gestanden, daß Du mir theuer bist, aber ich fürchtete, ich ertrüge ein ‚Nein‘ nicht in jenen Krankheitstagen. Und da wollte ich es Dir heimlich kundthun und strich eine kleine Stelle im „Ekkehard“ an, weil ich gar wohl merkte, Ihr hattet Angst um mich wegen der schönen Frau da oben. Aber Du wolltest es nicht verstehen; wie kannst Du stolz sein, Tone!“

„Wie heißt die Stelle?“ fragte ich.

„Selig der Mann, der überwunden hat,“ sprach er. „Ich aber sage heute: ‚Und dreimal selig der Mann, der gefunden hat!‘“

Und da erzählte ich ihm von den Worten, die Lotte gesagt, und die ich zufällig gehort: „Aus Rache!“ –

Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Hättest Du ein wenig länger gelauscht, so wäre Dir und mir Vieles erspart geblieben, denn dann hättest Du meine Antwort gehört.“

„Und?“ flüsterte ich.

„‚Aus Rache? Nein, Frau Gräfin. Rache ist der Ausbruch eines todtwunden Herzens, und meines ist gesund schon lange, lange! Und das Heilmittel waren ein Paar stille sanfte Augen und ein liebes, liebes Mädchenantlitz.‘ – – Willst Du noch fort?“ fragte er und ließ mich los, indem er mich übermüthig ansah wie Einer, der seiner Sache gewiß ist.

„Ach Fritz, ich wäre ja mein Lebtag unglücklich gewesen!“ flüsterte ich.

Da nahm er mich bei der Hand und führte mich zu seiner Mutter.

„Meine lieben Kinder!“ sprach sie fröhlich.




Horch, es läutet! Jubelnd schwingen sich die Klänge hinaus über das blühende Frühlingsland, und allerwärts tönt ihnen gleiche Freudenkunde entgegen, selbst das kleinste Dorfkirchlein erhebt seine Stimme. Zu einem großen Lobgesang schwillt der Chorus an, über Berg und Thal hallt es. Friede! Friede unserem Deutschland, dem einigen! Gott segne unseren Kaiser, der heute einzieht in Berlin. Wie die Fahnen flattern im lauen Sommerwinde, wie die Menschen alle so fröhlich aussehen, wie selbst das Häuschen der Armuth im Schmuck grüner Kränze prangt!

Am 10. Mai war der Friede zu Frankfurt geschlossen und heute, am Abend des 16. Juni gab Rotenberg seinen siegreich heimgekehrten Söhnen ein Bankett auf dem Rathhaussaal. Fritz konnte nicht mit Theil nehmen, der hatte mich am Nachmittage in die Kirche vor den Altar geführt, und der alte Superintendent hatte gesprochen: das sei der rechte Hochzeitstag, das Friedensfest; und Friede möge in unserem Hause wohnen immerdar, Friede von heut’ an zwischen uns, bis der Tod uns scheidet!

[268] Nur wenige Gäste saßen an der hochzeitlichen Tafel, aber welch echte Fröhlichkeit herrschte! Beim Nachtisch, als schon die Dämmerung herniedersank, brachte Frau Roden mir das gewichtige Schlüsselbund des Hauses, ein wunderfeines Häubchen und eine zierliche funkelnagelneue Geldtasche mit dem Purpurherz darauf. Wie stolz und doch zaghaft nahm ich die Zeichen meiner neuen Würde, wie innig habe ich die Mutter geküßt! Die Frau Oberförsterin aber rief, Fritz müsse mir nun die Haube aufsetzen; und als sie statt des Kranzes mein Haar schmückte, band ich mir scherzend die Tasche um und hakte das Schlüsselbund hinein.

Die Fenster standen offen, Musik schallte herüber und in jeglichem Hause flammten Lichter auf, ein Jubelzeichen deutscher Kraft und Einigkeit. Wir ließen die fröhliche Gesellschaft und gingen durch den wonnigen Sommerabend in den dunklen Garten, Hand in Hand; bei jedem Schritt schlugen leise klirrend die Schlüssel zusammen und läuteten meinen ersten Weg als junge Hausfrau ein. Dann saßen wir unter der Linde und sprachen von allen den Geschehnissen der letzten Jahre und wie es sich nun so wunderbar gewendet.

„Komm, Tone,“ sagte er, „ich weiß hier einen kleinen Eichensprößling, den wollen wir heute pflanzen; sieh, dort drüben, mitten auf dem Rasenplatz soll er stehen, ein Denkzeichen des heutigen Tages.“

Er holte Spaten und Schaufel und grub im Gebüsch das junge Bäumchen aus; er im Bräutigamsfrack und ich im weißen bräutlichen Gewande haben im Abendthau die kleine Eiche gepflanzt. Glückselig uns umfassend standen wir davor. „Möge es wachsen und gedeihen,“ sagte er, „möge Gott den Frieden erhalten unserem Vaterlande und unserem Hause, – denn von allen Lauten, von allen wonnigen Dir wohlvertrauten, kannst Du ein sanfter Wort als Frieden sagen?!“


Aus dem kleinen Schößling ist heute ein stattliches Bäumchen geworden. Es ist mit einem Eisengitter umfriedet und auf einer Tafel das Datum jenes Tages zu lesen, an welchem es gepflanzt wurde. Alljährlich wird dieser Tag gefeiert, in diesem letzten Jahre hat unser Aeltester sogar eine kleine Rede bei der Erdbeerbowle gehalten, die mein Mann unter der Linde auf dem steinernen Tische bereitet hatte.

Es war aber auch ein besonders festlicher Tag! – Zwischen der Mutter und mir saß eine blasse wunderschöne Frau, in reicher Toilette. Und als nun die Gläser zusammenklangen, da wollte jeder meiner blonden Buben zuerst mit der schönen Tante Lotte anstoßen. Sie war gekommen, eine Pathenstelle bei meinem jüngsten und einzigen Töchterchen zu übernehmen, das heute Abend getauft werden sollte –. Wir hatten uns nicht wiedergesehen, und lange hatte ich bitten müssen, ehe sie kam.

Sie war schon seit zehn Jahren zum zweiten Male verheirathet mit einem österreichischen Baron L. und hatte mit ihrem Gatten, der bei der Botschaft in Italien eingestellt war, lange Zeit in Rom gelebt. Kinder besaß sie nicht. Sie war entschieden beunruhigt, als die meinigen sie mit Zärtlichkeiten überschütteten. „Wenn man Kinder nicht gewöhnt ist –“ entschuldigte sie sich.

Am späten Abend, als die Gäste sich entfernt hatten, standen wir in dem Zimmer, in welchem Lotte damals gewohnt, und das auch heute wieder für sie zugerichtet war. Sie sah sich lange um. „Es ist nicht die Spur verändert in Eurem alten Neste, Tone, unten nicht und oben nicht, jedes Möbel steht noch auf dem alten Fleck.“

„Nur daß ich unten wohne und die Mutter oben, Lotte; – früher war es umgekehrt.“

Sie trat zum Fenster und blickte nach dem Schlosse hinüber, dessen weiße Mauern durch die jungen Kastanienblätter leuchteten; und in dem hellen Mondenlicht sah ich, wie mit einem Male ein müder trauriger Zug über ihr schönes Gesicht flog. Ich schlang den Arm um sie. „Ach Lotte, wenn ich nur Eines wüßte – ob Du glücklich bist?“

„Glücklich?“ sagte sie und sah an mir vorüber; „was heißt ‚Glück‘, Tone? Ich habe Alles, was man dazu zu rechnen pflegt, einen Mann, der mich anbetet, soweit der Rennsport ihm Zeit läßt, die ausgesuchteste Eleganz um mich her, die sogenannte Gesellschaft, Theater, Toilette, Equipage, Reisen – ob das Glück ist? Ich bin, glaube ich, nicht fähig Glück zu empfinden –. Aber Du, Tone?“

„Ach Gott im Himmel, Lotte, namenlos glücklich!“

„Man sieht es Dir an,“ flüsterte sie, – „und ihm auch.“

Als sie fortreiste, küßte sie das kleine Lottchen. „Bei Euch ist Frieden,“ sagte sie leise zu mir. Fritz aber stand am Wagenschlage, und mein Jüngster neben ihm mit einem frischen Strauß, darin prangten die schönsten Rosen aus unserem Garten.

„Den schenkt Dir der Vater, Tante Lotte,“ sagte der kleine treuherzige Kerl und reichte ihr die Blumen.

Sie nahm den Strauß und stieg mit abgewandtem Gesicht in den Wagen, und dort ließ sie den Schleier über ihre thränenden Augen fallen.

„Lebe wohl, Lotte!“ riefen wir.

Arm in Arm standen Fritz und ich und winkten ihr nach, die hinausfuhr in das bunte bewegte Leben mit seinem trügerischen Glanz und Schimmer.

Bei uns aber steht die Friedenseiche im Garten, und unsere Kinder spielen in ihrem Schatten; in unserem altmodischen Hause wohnt das Glück.


Noch heute „das geheimnißvolle Grab“.

Neue Studien und alte Erinnerungen von0 Friedrich Hofmann.

Vor dreiundzwanzig Jahren führte ich die Leser der „Gartenlaube“ vor „ein geheimnißvolles Grab“. In den Nummern 19 und 20 des Jahrgangs von 1863 erzählte ich ihnen von einem Menschenpaar oder vielmehr von drei Personen, welche im Jahre 1807 plötzlich in Hildburghausen aufgetaucht waren, ungemeldet und unbekannt und offenbar hohem Stande angehörig. Im eigenen Geschirr angekommen, stiegen vor dem Gasthause zum „Englischen Hof“ am Marktplatz ein Herr und eine tiefverschleierte Dame aus; der Mann, der ihnen in silberbetreßter Livrée Kutscherdienst geleistet hatte, entpuppte sich bald als Kammerdiener und Faktotum der Herrschaften. Die Ansprüche derselben zeigten sofort einen ungewöhnlich hohen Maßstab, aber ebenso die Honorirung für geforderte Leistungen. In kurzer Zeit stand in der kleinen Stadt die Ansicht fest, daß diese Fremden mindestens ein Graf und eine Gräfin sein müßten, diese Bezeichnung wurde bald allgemein, und da von keiner Seite je ein Widerspruch dagegen erfolgte, so erhielt sich dieselbe im Volke fort und ging schließlich auch in die Presse über; auch wir wollen sie, der Kürze und Allgemeinverständlichkeit wegen, beibehalten.

Auffallend wurde bald aber Eines. Hildburghausen war zu jener Zeit noch die Residenz eines herzoglichen Hofes. Wie damals sämmtliche sächsische Herzogshöfe, nicht bloß Weimar und Gotha, sich durch frisches geistiges Leben auszeichneten, wie in Meiningen wenige Jahre früher Herzog Georg mit Jean Paul in traulichstem Verkehr gelebt, in Koburg der edle Prinz Friedrich Josias, der Feldmarschall, einen Anziehungspunkt bildete, so glänzte Hildburghausen durch seine Herzogin Charlotte[1], die durch Schönheit und Geist ausgezeichnete Schwester der Königin Luise von Preußen. Hier wurde besonders die Musik gepflegt, die Kapelle hatte so tüchtige Kräfte, daß Karl Maria von Weber seiner Ausbildung wegen längere Zeit dort wohnte, und die Herzogin selbst wurde von den Kunstrichtern jener Tage als eine der größten Sängerinnen von feinster Schulung gepriesen. Es war ein vielbegehrter Vorzug, die schöne Fürstin in Hofkoncerten oder bei Kirchenmusiken singen zu hören. Mußte man nicht erwarten, daß so vornehme Fremde, welche sich für längeren Aufenthalt einzurichten schienen, vor Allem einem solchen fürstlichen Hofe sich nähern würden?

Vom ersten Tage an hatte man jedoch das Gegentheil davon zu erleben. Herr und Dame beharrten in strengster Abgeschlossenheit von der gesammten Außenwelt. Angeblich der größeren Ruhe wegen zog man erst in ein anderes Haus am Markt, dann aber in ein isolirt stehendes in der sogenannten Neustadt, einer von französischen Emigranten gebauten freundlichen Vorstadt von Hildburghausen. Wie die Lebensweise der drei fremden Menschen in ihrer oft wunderlichen Absonderlichkeit nach und nach ruchbar wurde, wie sie nach drei Jahren (1810) die Stadt verließen, um in dem anderthalb Stunden entfernten, an der Straße nach Koburg liegenden Landschloß von Eishausen dauernde Unterkunft zu finden, und wie dort ihr Dasein, soweit man dasselbe wahrnehmen konnte, sich gestaltete, bis der Tod der Gräfin, noch mehr aber der des Grafen an dem Schleier des Geheimnisses zu zerren veranlaßte, das habe ich in dem ersten Artikel über unsern Gegenstand dargelegt. Erst drei Jahre später, im Jahrgang 1866, Nr. 24, benutzte ich noch einmal meine erste Quelle, Dr. Kühner’s Mittheilungen in Bülau’s „Geheimen Geschichten und räthselhaften Menschen“, sowie meine eigenen Nachforschungen an Ort und Stelle zu einem Rückblick auf die Herkunft und Vergangenheit der

[269]

Hasen in Wassersnoth.
Originalzeichnung von C. F. Deiker.

[270] drei Geheimnißvollen (denn der Kammerdiener gehörte nachweislich dazu) und zur Zusammenstellung der Vermuthungen über die Abkunft der Dame, in welcher man bald die Hauptgestalt des Geheimnisses erkannte. Ich sprach am Schlusse die Hoffnung aus, daß es der „Gartenlaube“, die schon damals zu den verbreitetsten Blättern gehörte, gelingen möchte, zu Personen vorzudringen, welche Licht in das unheimliche Dunkel zu bringen im Stande wären, das nicht bloß die nächste Umgebung, sondern immer weitere Kreise aufregte. Wirklich überraschte mich schon ein Jahr darauf eine Benachrichtigung über wenigstens einen der mit auffälliger Vorsicht verborgen gehaltenen Wege, auf welchen die bedeutenden Summen, über die der Graf verfügte, in das einsame Schloß gelangten. Ich theilte dies in Nr. 26 des Jahrgangs 1867 mit. Seitdem haben wir den Gegenstand ruhen lassen.

Schloß in Eishausen.

Warum wir nach so langer Zeit wieder auf ihn zurückkommen? Nicht, weil der Schleier des Geheimnisses endlich gehoben wäre – er schwebt noch vor uns in seiner düsteren Unheimlichkeit – sondern weil die Möglichkeit der Thatsache eines solchen Geheimnisses in unserem Jahrhundert, vor noch Tausenden lebender Zeitgenossen noch immer unser Staunen erregt; weil wir den Wächter desselben wegen seiner Unerschütterlichkeit in der Durchführung seiner Aufgabe ebenso sehr bewundern, als wegen seiner unerbittlichen Rücksichtslosigkeit gegen Alles um sich her, was seiner Aufgabe entgegenzutreten drohte, oft verdammen müssen. Das Geheimniß kann aber kein geringes, am wenigsten von einer Sonderlingslaune gemachtes sein, weil man zum Wächter desselben einen Mann von hoher wissenschaftlicher Bildung und offenbar diplomatischer Erfahrung wählte und weil man zu seiner Wahrung in der Dorfeinsamkeit mehr als eine halbe Million Gulden verwendete. Je mehr man aber durch historische Beleuchtungsmittel die Vergangenheit der verschleierten Dame zu erhellen sucht, desto mehr wird die menschliche Theilnahme für sie rege, und so wird dieses „Geheimniß von Eishausen“ seine Anziehungskraft noch für Tausende auch in kommenden Zeiten behalten.

Es ist keine Frage, daß dieses außer aller Ordnung und doch in aller Ruhe vor sich gehende Treiben des großen Unbekannten unmöglich gewesen wäre, wenn damals eine Presse von der Rührigkeit der gegenwärtigen bestanden hätte. Vergeblich würde der fremde Herr den Ruf des größten Wohlthäters des Landes sich erworben und dadurch alle Gesetze zum Schweigen über sich gebracht haben; die Wucht der öffentlichen Meinung hätte die Riegel gesprengt, hinter denen eine heimlich Gefangene verborgen war. Als das einzige Blatt des Landes, die „Dorfzeitung“, 1818 gegründet wurde, stand der Nimbus des „Grafen“ schon so fest, daß ihn kein auch noch so bescheidenes Artikelchen antastete. Selbst als es nach dem Tode der Dame bekannt wurde, daß sie nicht seine Gemahlin gewesen, blieb die Presse still; durfte doch nicht einmal ein Aufruf nach etwaigen Verwandten und Erben der Todten erlassen werden. Erst als der Hüter des Geheimnisses die Augen geschlossen, gingen die der Zeitgenossen auf, und nun schienen Publicisten und Poeten das Versäumte im Sturmschritt nachholen zu wollen. Die „Vossische“, die „Allgemeine“ und die „Dorfzeitung“ traten zuerst mit Berichten für und wider den „Grafen“ und das mit ihm begrabene Geheimniß auf; die Quellenschrift für alle späteren Autoren wurde aber die 1852 erschienene, bereits genannte Veröffentlichung Karl Kühner’s über „die Geheimnißvollen im Schlosse zu Eishausen“, und ihm folgte auf dem Fuße Ludwig Bechstein mit seinem Roman „Der Dunkelgraf“. Nach ihm kam G. Hesekiel, welcher 1858 denselben Stoff in seinem „Graf d’Anethan d’Entragues“ behandelte. Im Jahr 1867 erschien „Ein ungelöstes Räthsel“ von Karl Deutsch; 1869 die Novelle „Die Verschollenen“ von Adolf Wilbrandt, und 1873 A. E. Brachvogel’s Erzählung „Das Räthsel von Hildburghausen“, während La Roche gleich nach des Grafen Tod in einer Broschüre, ein O. R. 1870 im „Fränkischen Merkur“ und 1878 A. Müller in Saalfeld in einem Vortrage den Gegenstand kritisch behandelten. Es war ein Durcheinander von Wahrheit und Dichtung aus der Presse erwachsen, das den Schleier des Geheimnisses nur immer mehr verwirrte und dichter zusammenzog. Da muß es ohne Frage als ein Verdienst anerkannt werden, daß ein Mann sich entschloß, den Wirrwarr mit kritischem Messer zu lösen und auf Grund eigener Forschungen aus den noch zu erreichenden Familienpapieren und bei den noch lebenden Zeugen des Ereignisses und mit Benutzung der bewährten gedruckten Vorlagen das Bild der Geheimnißvollen neu aufzustellen. Ich freue mich, bemerken zu dürfen, daß derselbe den Artikeln der „Gartenlaube“ besonderen Werth zuerkennt.

Das Grab der Gräfin.

Diese neue Schrift ist: „Der Dunkelgraf von Eishausen“. Erinnerungsblätter aus dem Leben eines Diplomaten, von R. A. Human, Dr. jur. et philos. I. Theil 1883, II. Theil 1886. Hildburghausen, Kesselring’sche Hofbuchhandlung. Dieser Schrift folge ich nun bei der abermaligen Behandlung dieses Gegenstandes für die „Gartenlaube“, und ihr verdanken wir auch die derselben beigefügten Illustrationen.

Ehe ich aber damit beginne, darf ich wohl mit wenigen Worten verrathen, was in mir die ganz besondere Theilnahme für diese Geheimnißvollen erweckte.

Als ich vor nahezu einem Menschenalter von dem gräflich Mensdorff’schen Schlosse Einöd im wunderschönen Felsenthal der Hudina in der grünen Steiermark nach Hildburghausen zurückkehrte, um Joseph Meyer’s durch seinen Tod verwaistes „Universum“ fortzusetzen, war es mir unmöglich, in der Stadt, in „der Gassen quetschender Enge“ Wohnung zu nehmen, so nahe auch alle Thore dem Centrum derselben liegen. Mein Blick fiel auf das von der halben Höhe des Stadtbergs herabschauende große Gartenhaus mit seinem Oberstock auf hohen Schwibbögen, und dort zog ich ein.

Mit dem ersten Schritt in dieses Haus war ich mitten in das dunkle Geheimniß getreten. Dieses Gartenhaus war Eigenthum des Grafen gewesen, hier durfte die „Gräfin“ im Genuß der freien Natur und des lieblichen Landschaftsbildes, welches das Werrathal zwischen den fränkischen Vorhügeln des Thüringer Waldes darbietet, Augenblicke verbringen, die ihr den Wunsch auspreßten, daß sie hier begraben werden möchte. Und so geschah es; man zeigte mir die Kammer, in welcher sie hier oben geschlafen hatte – es wurde nun die meinige – ferner die Stelle in dem Hausflur, wo der Sarg gestanden, in welchem das arme Weib, das im Leben von keinem Menschenauge gesehen werden sollte, nun im Tode vor den Blicken der wenigen bei der Bestattung beschäftigten Männer vom Dorf und aus der Stadt offen da lag – in dem weißen Kleide und mit gelben Saffianschuhen, – „wie zum Tanz geputzt,“ meinte einer der Träger. Und etwa zehn Schritte vom Hause entfernt, an einem etwas höher am Berg sich hinziehenden Wege zwischen Tannen und Buschwerk, welcher der Lieblingsgang der Gräfin gewesen, ragt aus der Berglehne die Steinumfassung des Grabes hervor, in welchem seit dem 28. November 1837 die wichtigste Hälfte des großen Geheimnisses ruht. – Und wer war die jetzige Besitzerin des Hauses und führte mich in diese Vergangenheit ein? Die Tochter jenes geheimnißvollen Kammerdieners, Kutschers und Faktotums, die selbst acht Jahre im Schlosse zu Eishausen gelebt hat und vor deren Augen der Graf gestorben war.

Die Leser glauben es mir nun wohl ohne Versicherung, daß die Geheimnißvollen längere Zeit Tag und Nacht mit mir umgingen und daß ich Kühner’s Schrift mit um so größerer Begier las, als ich zugleich aus dem Munde der lebenden Zeugin so Vieles erfuhr, was noch in keinem Buche stand. Wie oft saßen wir an schönen Abenden auf dem Mauerrand des Grabes, wo sie von der stillen Schläferin da unter uns erzählte: Wie schön die Gräfin gewesen sei! Sie habe besonders große, herrliche blaue Augen gehabt, stets rothe Wangen und sei, obwohl damals schon eine Fünfzigerin, noch immer sehr rüstig gewesen. Lange Zeit habe sie das Haar à la Titus getragen, vor Allem seien ihre Haltung und ihr Gang so schön und vornehm gewesen, wie sie niedriger Gestellte gar nicht nachahmen könnten. Wenn sie auf ihrem liebsten Weg da auf und ab wandelte, sang sie gern, immer jedoch traurige Weisen, leise vor sich hin; vergaß sie sich aber und wurde lauter, so daß der Graf es hörte, der sich in der Regel in der Kastanienallee neben dem Hause aufhielt, so eilte er sofort herbei und warnte sie, damit ihr Gesang nicht Aufmerksamkeit errege. Und traurig schwieg sie dann ganz.

Der Graf hat das Grab nur einmal besucht, kurz nach Bestattung der Todten, dann nie wieder. Er schenkte Haus und Garten seinem Diener Simon Schmidt, dem ersten Gatten Dorothea’s, der Tochter Squarre’s, des Kammerdieners. Nach Schmidt’s Tode ging sie eine zweite Ehe ein und lebt als Frau Nothnagel noch heute in dem Berggarten.

Machen wir uns nun mit dem Leben und Treiben unsrer Geheimnißvollen näher bekannt.

Durch den Kammerdiener, den der Graf selbst als Philipp Squarre aus der Schweiz bezeichnete, erfuhr man in der Stadt, daß „der gnädige Herr“ sich Baron Vavel de Versay schreibe. Die Landleute in und um Eishausen nannten ihn deßhalb in ihrer fränkischen Sprechweise kurzweg „der Pfaffel“.

Sobald der Graf das Haus in der Neustadt bezogen hat, geht eine neue Ordnung der Dinge los: fortan muß Todtenstille herrschen, und Niemand darf das obere Stockwerk betreten, das völlig abgesperrt ist und dessen Fenster Tag und Nacht dicht verhängt sind. Einen dorthin verirrten Handwerksburschen jagt der Graf mit der Pistole in der Hand die Treppe hinunter. Nur Squarre wohnte mit im gehüteten Raum; Köchin und Aufwärterin hatten ihr Nachtquartier außer dem Hause.

[271] Die Hausbesitzerin (Frau Geheime Assistenzrath Radefeld) muß sich verpflichten, alle nach dem Hof gehenden Fensterläden zu schließen, so oft die Herrschaften ausfahren wollen. Natürlich bohrte die Neugierde Gucklöcher durch diese Läden, und so sah man denn, wie der Graf im braunen Frack, der damaligen französischen Hofkouleur, und mit dem Hut in der Hand die Dame in den selbst beim herrlichsten Wetter niemals aufgeschlagenen und stets dicht verhängten Wagen führte und mit Verbeugung ihr die Hand zum Einsteigen bot. Bei Spaziergängen ist die Dame allezeit tief verschleiert. Auffällige Aufmerksamkeit widmet der Graf den Durchreisenden: ein Polizeidiener (Heun) muß ihm stets die Fremdenliste mittheilen; auch die Hausbesitzerin lädt er bisweilen ins obere Stockwerk ein, aber nur um sie über Einheimische und durchpassirende Fremde mit fast kleinlicher Neugierde auszufragen. Die „Gräfin“ war niemals bei solchen Unterhaltungen anwesend, wurde auch nie erwähnt, sollte überhaupt für Niemand vorhanden sein. Postsendungen, welche unter der Adresse „Vavel“ oder „Vavel de Versay“ zahlreich eintrafen, wurden, um das Betreten der oberen Räume durch die Briefträger zu vermeiden, von der Hausbesitzerin in Empfang genommen, in einen Korb gelegt und auf ein Klingelzeichen in die Oberwelt hinaufgezogen.

Um diese Zeit waren die drei Geheimnißvollen oft tage-, ja wochenlang abwesend. Wie Human aus „vertraulichen Notizen“ erfahren, pflogen sie damals in Gotha, Frankfurt am Main und Mainz intimen Verkehr mit sehr „distinguirten Personen der französischen Aristokratie“. Um diesem Verkehr, welcher am Schlusse des Human’schen Buches zu größter Bedeutung kommt, gleich hier näher zu treten, müssen wir auf drei Jahre vor der Ankunft der Geheimnißvollen in Hildburghausen uns zurückwenden.

Wir befinden uns zu Ingelfingen im Jagstkreise Württembergs. Das Städtchen war bis 1806 Hauptort einer Standesherrschaft und Residenz der protestantischen Linie der Fürsten von Hohenlohe, Hohenlohe-Oehringen, oft auch Hohenlohe-Ingelfingen genannt. Für unsere Geschichte ist es nicht ohne Bedeutung, daß die Gemahlin des Fürsten Ludwig Karl Friedrich von Hohenlohe-Oehringen-Wickersheim eine Tochter des Herzogs Ernst Friedrich von Sachsen-Hildburghausen (Sophie Amalie Karoline) war, und daß die Hohenlohe als eifrige Anhänger der Bourbonen galten. Hier stoßen wir auf einen Anknüpfungspunkt einer möglichen fürstlichen Empfehlung der Geheimnißvollen an den verwandten Hof.

Graf Vavel.

Es war im Jahre 1803, als bei dem Hofapotheker Rampold ein ernster Herr erschien, die obere Etage des Hauses miethete, zugleich eine Dienerin, die Jungfer Vöth, annahm und Alles, Wohnung und Lohn, auf Monate voraus bezahlte. Bald darauf fuhr derselbe Herr, jetzt als Kutscher, zur Nachtzeit einen dichtverschlossenen Wagen vor das Haus, dem ein großer Herr und eine festverschleierte Dame entstiegen, welche von jenem ehrfurchtsvoll in die bestellten Zimmer geführt wurde. Auch hier durfte die Dienerin in Anwesenheit der Dame ihr Zimmer nicht betreten, erlauschte aber oft ihr heftiges Weinen und sah sie dicht verschleiert zu den Ausfahrten die Treppe hinunter gehen. Ebenso versah auch hier der Kutscher Kammerdienerdienst, nur er durfte die Speisen in das Vorzimmer der Herrschaften tragen, und er allein war der Vermittler der letzteren mit der Außenwelt und der Hüter ihrer Ungestörtheit. Oft gingen Dame und Herr auch im Schloßgarten und im angrenzenden Kastanienwäldchen am Kocher spazieren. Endlich scheint auch hier der Herr „Graf Vavel“ geheißen und die Dame als seine Gemahlin gegolten zu haben, wie folgender Vorfall beweist. Bei einem solchen Spaziergang kam man an einen Steg, welcher über einen Bach führte. Dort, am Wasser gleich neben dem Steg, spielte ein Knabe, der Sohn des Geheimraths Kraus. Die Dame hatte den Schleier zurückgeschlagen, den Arm ihres Begleiters verlassen und schritt vorsichtig vorwärts, als sie plötzlich den Knaben erblickte, der ihr erstaunt ins Antlitz sah. Erschrocken blieb sie einen Augenblick stehen, strich den Knaben über die Locken und eilte dann, wieder sorglich verschleiert, weiter. Der Knabe aber konnte den Anblick der Dame und besonders ihre schönen großen Augen nicht vergessen, und als ihm später in einer Zeichenstunde, die er mit seiner Schwester besuchte, Bildnisse von bourbonischen Familienmitgliedern vorgelegt wurden, rief er plötzlich hocherfreut aus: „Das ist meine Gräfin Vavel!“ Unter dem Bilde standen die Worte: „Duchesse d’Angoulème“. – Auch Andere, welche die Dame in Ingelfingen gesehen, fanden eine auffallende Aehnlichkeit zwischen ihr und der Tochter Ludwig’s XVI., deren Bildniß damals viel verbreitet war.

Der Graf verkehrte oft mit einem Kreise von Männern, die sich in der Apotheke zusammenfanden, wo er häufig auch chemischen und medicinischen Studien oblag. Doch verfolgte er offenbar mit größter Gespanntheit die öffentlichen Angelegenheiten in Frankreich und Deutschland; er hatte in Mergentheim, Heilbronn und Künzelsau bei der Post verschlossene Brieftaschen, die durch Stafetten an ihn befördert wurden. Auch waren für ihn stets Postpferde bereit gestellt und alle Miethen immer um eine Woche voraus bezahlt. Eine lebhafte Korrespondenz scheint mit der Prinzessin Rohan-Rochefort in Ettenheim stattgefunden zu haben. Zwei Tage vor der officiellen Anzeige von der Verhaftung ihres Gemahls, des Herzogs von Enghien, hatte eine Stafette die Nachricht zum Grafen gebracht – und am folgenden Morgen waren die drei Geheimnißvollen verschwunden.

Einige Monate nach dieser Flucht aus Ingelfingen berichtete der „Schwäbische Merkur“, daß Graf Vavel gestorben sei. Da steigen nun wieder zwei Fragen auf: Hat der Graf selbst diese Todeskunde veranlaßt, um an einem anderen Zufluchtsorte desto sicherer zu sein? – Oder ist jener Graf Vavel wirklich gestorben, und ein anderer, mit der Vergangenheit desselben vertrauter Mann nimmt die Rolle des Geheimnißvollen in demselben Augenblick auf, wo sie dem Sterbenden aus der Hand fiel? – Letzteres führt zu einer „schauerlichen Hypothese“, welche wir später noch näher betrachten werden.

Für den Augenblick ist eine andere Bemerkung wichtiger: es ist die Frage, ob der Schutz der bourbonenfreundlichen Fürsten von Hohenlohe nicht die Geheimnißvollen nach Ingelfingen gelockt, und ob nicht die hildburghausische fürstliche Verwandtschaft den Fingerzeig zur stillen Stadt an der Werra veranlaßt hat. Die Zeit von der Flucht bis zur Fahrt nach Hildburghausen sollen sie in einem einsamen Gehöfte der Schwäbischen Alb zugebracht haben.

Da das Leben in Hildburghausen in der bereits geschilderten Weise drei Jahre ohne nennenswerthe Aenderungen fortgeführt wurde, so folgen wir unserem seltsamen Kleeblatt von Menschen sogleich nach Eishausen, wohin die Uebersiedelung am 30. September 1810 stattgefunden hatte.

Es ist ein wunderlicher Zufall, daß der Dorftheil, an dessen äußerstem Ende das Schloß stand, ebenfalls „die Neustadt“ hieß. Der Graf datirte somit seine sämmtlichen Briefe mit vollem Recht von „Neustadt“ und hatte dabei die Genugthuung, daß er, bei der erklecklichen Anzahl von deutschen Städten, Marktflecken, Dörfern, Weilern und Einzelhöfen dieses Namens, unter diesem Zeichen für alle Welt unfindbar war.

Das „Freiherrn-Schloß“ von Eishausen war ein ansehnliches Gebäude, ein dreistöckiges Rechteck aus Fachwerk mit 88 Fenstern, gewaltigen Kellern, einer hohen Steintreppe mit kunstvoll gewundenem Eisengeländer und weit hervorragenden Delphinen an den Dachrinnen. Graf und Gräfin bewohnten das zweite Stockwerk mit 10 Zimmern. Im dritten Stockwerk befand sich der Rittersaal mit schöner Stuckdecke, darüber erhob sich ein großer Doppelboden. Im unteren Stock wohnten der Kammerdiener und die Köchin. Im Miethvertrag war wohl bedungen, daß der Pächter des herzoglichen Domainenguts, zu welchem das Schloß gehörte, die Dachräume desselben zu Fruchtböden benutzen dürfte und daß der alte Schloßverwalter (Handschuh hieß er) mit seiner Frau ihre Wohnung im Schlosse behalten sollten, „um die Ruhe desselben zu überwachen“. Beide Bedingungen waren jedoch so wenig nach dem Geschmack des Grafen, daß er es sich eine höhere Miethsumme kosten ließ, um Pächter und Schloßverwalter für immer aus dem Hause zu entfernen. Und so stand denn nun das ganze Gebäude mit den mehr als 25 Zimmern der drei Stockwerke, sammt allen Kellern und Böden ganz allein den vier Menschen zu Gebote, die unter einem Willen darin lebten.

Ehe wir aber dieses Leben betrachten, wollen wir uns mit den Personen näher bekannt machen, die in und mit dem Schloß verkehrten.

Wir beginnen bei dem Haupte derselben, beim Grafen.

Dr. Human hat aus Familienpapieren, welche die holländischen Verwandten des Grafen ihm zukommen ließen, ein Lebensbild aus der Jugend desselben zusammengestellt, aus dem wir das Wesentlichste hier wiedergeben.

Was die Person des Grafen betrifft, so wird er von Allen, die ihn sahen, geschildert als ein großer hagerer Mann mit ovalem, scharfgeschnittenen Gesicht, großem blauen, hervorstehenden Auge, freier Stirn, bräunlichem Haar und Backenbart, etwas gebogener Nase, feiner Hand und stolzem entschiedenen Gang. Dieses Signalement galt natürlich für die Jahre der Kraft. Hatte man ihn in der Stadt nur im Frack beobachtet, so sah man ihn auf dem Dorf fast nur im langen, dunkeln Rock, mit Schuhen und einem hohen weißgrauen Filzhut. Nach dem Tod der Dame, bis zu welchem von den Herrschaften sich selten eines an einem Fenster zeigte, konnte man ihn stundenlang in weißer Flanelljacke und Nachtmütze am Fenster sitzen sehen, jedoch nur nach der Hofseite hin, wo er den Blicken der Neugierde weniger ausgesetzt war.

Was nun das aufgefundene Biographische betrifft, so muß ich im Voraus bemerken, daß wir dabei wieder vor einer verhängnißvollen Frage stehen: Nicht bei den vielen anderen „Briefen von fürstlichen Personen, Gelehrten, Kaufleuten und Agenten“, sondern im verschlossenen Kutschenkasten des Reisewagens fanden sich Papiere, welche über Geburt, Stand und frühere Lebensverhältnisse des Verstorbenen ziemlich helles Licht verbreiten, aber – dies Alles bezieht sich nicht auf einen Vavel de Versay, sondern auf einen Leonardus Cornelius van der Valk. Konnte das derselbe Mann sein, der 40 Jahre lang als „Vavel de Versay“ gelebt und unter diesem Namen unzählige Briefe empfangen und als solcher sich selbst unterschrieben hatte?

Die Gerichte nahmen, allerdings nicht ganz ohne Bedenken, diese Identität an, Human’s kritische Untersuchungen scheinen sie zu bestätigen, und uns bleibt vor der Hand auch weiter nichts übrig, als uns diesem Glauben geduldig zu fügen – aber „die schauerliche Hypothese“ spukt doch dabei abermals.

Das aufgefundene Taufzeugniß berichtet also, daß besagter Leonardus Cornelius van der Valk am 22. September 1769 in der katholischen Kirche zu Amsterdam durch den Priester Theodor van der Jdsert getauft worden, und daß sein Vater Adrianus van der Valk, seine Mutter aber Maria Johanna, eine geborene van Moorsel gewesen. Aus den dabeiliegenden Reisepässen [272] geht hervor, daß dieser Herr van der Valk französischer Officier, dann bis 1799 Sekretär bei der holländischen Gesandtschaft in Paris war und endlich am 1. Juni 1799 nach Deutschland ging, von wo aus er bis zu seinem Tode mit der Familie van der Valk in Briefwechsel gestanden.

Aus der Jugendzeit erfahren wir, daß van der Valk mit seinem Vater nicht immer in Einklang gelebt habe. Er bezog 1789 die Universität Köln, die damals wegen ihrer trefflichen medicinischen Fakultät von Holländern viel besucht war, siedelte im Juli 1790 nach Göttingen über, wo er als Jurist inskribirt war, aber bis 1792 vorzugsweise Geschichte und Staatsrecht studirte. Da verschwindet er plötzlich und taucht 1793 in Paris wieder auf. „Stellungslos und abenteuernd“ – hält er es mit der aristokratischen Jugend des Palais-Royal, mit der er für die royalistischen Armeen der Emigration schwärmte. Im Juni 1795 finden wir ihn als Officier einer französischen Grenzarmee, 1797 ist er Kriegsgefangener in England, aber unter fremdem Namen, und am 6. Februar 1798 tritt er in die Dienste der holländischen Diplomatie, und zwar als Legationssekretär im Haag. Er kommt nun mit einer Reihe angesehener Diplomaten in Berührung, wird schon am 2. Juli durch den holländischen Minister van der Göß zum Sekretär bei der Gesandtschaft der Batavischen Republik in Paris mit 4000 Gulden Gehalt ernannt, wohnt sehr vornehm in der Rue de Lille und vertritt im Oktober desselben Jahres den Gesandten Schimmelpennink als Chargé d’Affaires mit anerkanntestem Erfolg. Auch mit Lafayette und Talleyrand trat er damals in Verkehr. Doch plötzlich, am 18. März 1799, nimmt er seinen Abschied, reist am 26. März nach Amsterdam, kommt noch einmal nach Paris zurück und begiebt sich am 1. Juni nach Deutschland. Damit schließt der erste, noch ziemlich helle Theil seines Lebens. Von nun an beginnt der zweite, der dunkle, in welchem wir ihn in Ingelfingen wieder gefunden und bis ins Schloß von Eishausen begleitet haben.

(Fortsetzung folgt.)

Was will das werden?

(Fortsetzung.)
Viertes Buch.

Der furchtbare, der glorreiche Winter war zu Ende, und Deutschland durfte sich des Höchsterrungenen freuen. Ich nahm meinen Theil an dieser Freude, die freilich eine ganz reine nicht sein konnte für mich, dem es nicht hatte vergönnt sein sollen, das Höchste mit erringen zu helfen. Dafür hatte mir dann aber der Frühling das Ende meiner Lehrzeit gebracht, nach welchem ich zuletzt doch mit Sehnsucht ausgeschaut. Nicht als ob ich mich für fertig gehalten, von dem Erfolge meines demnächstigen Auftretens sicher überzeugt gewesen wäre! Ich dachte sehr bescheiden von meinen Fortschritten, sehr klein von meinen gelegentlichen Leistungen auf der Liliput-Bühne des süddeutschen Städtchens, in welchem mein Lehrer nach manchem Umherirren den geeignetsten Ort für unsre Studien gefunden haben wollte. Aber ich meinte, wenn ich denn wirklich, wie er standhaft behauptete, bereits schwimmen könne, so wäre die Probe doch nur in tiefem Wasser anzustellen, nicht in diesem hier, das Einem höchstens bis an die Kniee reiche. Er mußte das zugeben, aber er habe sich nach seiner Instruktion zu richten. Hoheit habe befohlen, daß ich nicht früher in seiner Residenz erscheine, als bis er selbst zurück sei, da er mich, bevor ich aufträte, zu sehen und zu prüfen wünsche. Nun, und Hoheit war nicht zurück; Hoheit war bis zuletzt in Versailles geblieben, um das Ende der Kommune-Tragödie abzuwarten; dann zur Erholung von den Strapazen des Feldzuges nach Gastein ins Bad, zur Nachkur an die oberitalienischen Seen gegangen – er, Weißfisch, könne doch nichts dafür, daß darüber der April, der Mai ins Land kam, und freilich auch die Saison auf dem Residenztheater, das der Schauplatz meiner Heldenleistungen sein sollte, zu Ende ging. Hoheit habe das einmal so angeordnet, ich müsse eben Geduld haben; nur mit der Zeit pflücke man Rosen. –

Aber ich merke, daß ich da in Räthseln spreche: meine Lehrzeit – mein Lehrer – Komödienspielen – eine Hoheit, der ich vorgestellt werden soll – was heißt das? wie kommt das? wie bin ich in diese Lage gerathen?

Ja, wie ich in sie gerathen bin! Es ist ein sehr langes und sehr trauriges Kapitel, das ich um des Lesers und um meiner selbst willen so kurz wie möglich berichten will.

Durch den Tod des Vaters und die Flucht der Mutter war ich in eine jammervolle, völlig verzweifelte Situation gerathen. Keine leiseste Andeutung, wohin sie sich gewandt! Dafür von Herrn von Ruver, ihrem Beichtiger, die trockene Anzeige, daß sie ihr bei Herrn Israel angelegtes Kapital flüssig gemacht und mit sich genommen; das Haus, in welchem wir so lange gewohnt und das ihr gehörte, an Herrn Israel verkauft habe, und daß ich jetzt frei dem Zuge meines Herzens folgen und mich auf die eigenen Füße stellen dürfe, ohne fürchten zu müssen, durch Einwände der Mutter (die sich nicht von mir, sondern von der ich mich losgesagt) weiter behelligt zu werden.

So war ich denn auf die Straße geworfen, hätten sich meiner nicht mitleidige Menschen angenommen, anzunehmen versucht: die braven Hopps, die guten Israel’schen Frauen, der wackere Professor von Hunnius. Aber für mich wäre das ein Leben unter dem Henkersbeil gewesen – unmöglich, unerträglich.

Und ich hoffte, diesem unerträglichen Leben entrinnen und zugleich einen Wunsch erfüllen zu können, ein glühendes Verlangen, das aus dem Mahnworte des Majors von Vogtriz im Parke von Nonnendorf in meiner Seele emporgewachsen war, sie ganz erfüllend, all mein Sehnen wie in einen Strudel in sich reißend, all mein Denken tyrannisch unterjochend: das glühende Verlangen, in den Krieg, der nun entbrannt war, ziehen, mein Blut für das Vaterland vergießen, mein Leben, das keinen Werth mehr für mich hatte, für das Vaterland dahingeben zu dürfen.

Es sollte nicht sein.

Wie das kam, das dem Leser in Kürze zu erzählen, wird sich demnächst Gelegenheit bieten. Hier nur so viel, daß die Veranlassung, der Hinderungsgrund so schmerzlich war, wie das Krankenlager, auf das ich in Folge dessen geworfen wurde und von welchem ich als ein Halbinvalide erstand, der den freien Gebrauch seines rechten Armes im Leben nicht wieder gewinnen sollte.

Und da trat zu dem gänzlich Verzweifelten der Versucher in der Gestalt des Kammerdieners Weißfisch. Er hatte den scheuen Vogel nur zum Schein entfliehen lassen; in Wahrheit hielt er ihn an dem Faden fest, den er in Nonnendorf geknüpft und der sich jetzt als stark genug und als unzerreißbar bewies. Was da von lahmem Arm! Damit – und wenn’s so bliebe – es würde aber sicher nicht so bleiben – könne ich noch jeden Augenblick sämmtliche Erste-Liebhaber-Rollen der Welt spielen! Und wie spielen! ein junger Kerl wie ich, hübsch und schlank, und mit einer Stimme – ah! wenn er die Stimme gehabt hätte –

So lockte der schlaue Finkler, und ich war ein Verzweifelter und – achtzehn Jahre! Zu welchen Tollheiten läßt man sich da nicht leicht überreden, ja, hält die Tollheiten wohl noch gar für höchst verständige Handlungen, für heroische Thaten!

Ich darf zu meiner Ehre sagen, daß mir meine Flucht (denn eine Flucht war’s und wurde bei Nacht und Nebel ausgeführt) auch nicht einen Moment in diesem Lichte erschienen ist. Aber noch einmal: ich sah keinen anderen Ausweg, und ich war achtzehn Jahre.

Und so ade, du alte Stadt, in der ich meine Jugend verlebt und die doch nicht meine Heimath war! Ade, du graue Schule, die du wohl dein gewichtiges Haupt schütteln mochtest, als der Schüler, den du immer als einen der fleißigsten und besten geschätzt und gerühmt, dir entfloh wie ein echter, rechter Thunichtgut! Ade, ihr Freunde, die ihr es so gut mit mir meintet und die ihr mir doch alle ausnahmslos als Schergen und Kerkermeister meiner gefesselten, freiheitsdurstigen Seele erschient! Ade – und vorbei! vorbei! –

Die Rosenzeit war wirklich gekommen und meine Geduld völlig erschöpft, als eines Morgens Weißfisch mit der Nachricht ins Zimmer trat: „Er ist zurück und will Sie sofort sehen. Morgen Abend um neun Uhr!“

„Und das sagen Sie mir mit dem düstern Ton des schwedischen Hauptmanns aus dem ,Wallenstein‘?“ rief ich lachend.

„Es ist immerhin ein entscheidender Augenblick,“ sagte Weißfisch.

„Natürlich ist es das, und Gott sei Dank!“ erwiderte ich heiter. „Uebrigens sehe ich den entscheidenden Augenblick gar nicht in der Audienz, die mir der Herzog gewähren will –“

[273] „Zu der mich Hoheit befohlen hat,“ verbesserte Weißfisch.

„Meinetwegen! – sondern in meinem Debüt auf der Bühne. Hoheit wird – oder heißt es ,werden‘?“

„Wenn Sie mit Hoheit sprächen, würde es ,werden‘ heißen müssen; in diesem Falle, da Sie von Hoheit sprechen ist ,wird‘ zulässig.“

„Also! Hoheit wird mich doch deßhalb nicht fortschicken, weil ihm etwa meine Nase nicht gefällt?“

Der Mann sah so prüfend auf das genannte Organ, als ob er das Für und Wider der Frage in ernstliche Erwägung ziehe, und sagte dann fast heftig: „Es wäre zu arg!“

„Was?“

„Daß Sie ihm nicht gefielen.“

„Sehr schmeichelhaft; aber, wenn er der kluge Mann ist, für den Sie ihn ausgeben, so wird er doch, falls das Gegentheil einträte – was ich ja selbst nicht zu fürchten keck genug bin – das endgültige Urtheil über mich dem Publikum und der Kritik überlassen. Ich will doch nicht in seinen persönlichen Dienst, sondern auf seine Bühne gehen. Das wissen Sie ein- für allemal: zum Höfling bin ich nicht geschaffen.“

Trotz dieser kecken Reden schlug mir nun doch das Herz, als am Frühabende des folgenden Tages bei einer Biegung der Bahn in dem hügeligen Terrain auf einer grünen Thalmulde, in welche sie eingebettet war, die kleine Residenz mit ihren grauen Häusern und Kirchthürmen und einem massigen Schloß, das, auf einem Hügel gelegen, die Stadt herrisch überragte, vor meinen Blicken auftauchte. Nur für ein paar Minuten, um dann abermals hinter einem höheren Berge zu verschwinden, den die Bahn in mächtiger Kurve umkreisen zu wollen schien, bis der Zug, als sei er die Sache müde, sich nach gellem zornigen Pfeifen in die Nacht eines Tunnels stürzte. Nun kamen wir wieder ans Licht, auch alsbald in ein mit hübschen Villen besetztes Gartengelände, in Mitte dessen der Bahnhof lag. Weißfisch begann das Handgepäck zu ordnen, brauchte aber ganz gegen seine Gewohnheit sehr viel Zeit zu dem einfachen Geschäft und erregte dadurch meine Ungeduld, um so mehr, als er mir gesagt hatte, daß das Hôtel, in welchem wir absteigen wollten, am anderen Ende der Stadt unmittelbar neben dem Schlosse liege, und ich sah, daß die wenigen auf dem Bahnhofe haltenden Einspänner einer nach dem andern mit den angekommenen Passagieren davon fuhren. Endlich war er fertig, und wir betraten den bereits wieder leer gewordenen Perron. Ein Beamter, wohl der Bahnhofsinspektor, gesellte sich, mich höflich, aber stumm begrüßend, zu uns und führte uns, nachdem er einige leise Worte mit Weißfisch gewechselt, durch ein paar sehr stattliche Empfangsräume des Gebäudes, die jedoch mit ihren verhängten Möbeln für gewöhnlich nicht benutzt werden mochten, zu einer Hinterthür, vor welcher eine geschlossene Equipage hielt. Ich war einigermaßen erstaunt, als ich hörte, daß dieser Wagen für uns bestimmt sei; aber Weißfisch schob mich hastig durch die Thür, welche ein Diener geöffnet hielt, der dann auf den Bock sprang. Die Pferde zogen an; ich sah nur eben noch den sich höflich verbeugenden Inspektor. An Gärten und Villen flog der Wagen nun vorüber; rasselte durch ein altes Thor in engere und dunklere Gassen; dann über einen kleinen Platz; abermals durch ein Thor und hielt, wie ich beim Aussteigen bemerkte, auf einem weiten, von hohen düsteren Gebäuden umgebenen Hof am Fuße einer Außentreppe zu einer mit mächtigen, aus Stein gehauenen Wappen gekrönten Spitzbogenthür, aus der, als der Wagen über den Sand des Hofes knirschte, ein Diener getreten war und jetzt die Stufen herabkam. Dieser zweite Diener zu dem ersten, der vom Bock herabsprang; zu beiden Weißfisch, der sich um mich mit dienerhafter Geschäftigkeit bemühte; die im letzten Abendlicht doppelt feierliche Runde der den stillen Hof einschließenden Gebäude von verschiedener Höhe und Form mit ihren weitausladenden Erkern und ragenden Thürmen; die Equipage mit den feurigen Rossen, über deren Pracht ich mich schon auf der Fahrt durch die Stadt im Stillen gewundert hatte – „Was bedeutet dies? wo sind wir?“ raunte ich Weißfisch zu, als wir hinter dem zweiten Diener bereits die Steintreppe hinanschritten, worauf Weißfisch, mit bedeutender Gebärde nach dem Diener, den Finger auf den Mund legte. Mir war zu weiteren Fragen nicht die Begierde, wohl aber vor seltsam bangem Erstaunen, das sich immer mehr meiner bemächtigte und mir bald ein regelrechtes Herzklopfen verursachte, Muth und Athem geschwunden.

So ging es, immer den Diener voran, schweigsam die Außentreppe vollends hinauf, durch die Spitzbogenthür; andere, mit Teppichen belegte Steintreppen empor; über enge Korridore, die mir endlos schienen, und die bald durch das Abendlicht, das durch die Fenster hereinfiel, bald durch Lampen erhellt waren, bis wir vor einer Thür Halt machten, welche der voranschreitende Diener zu einem großen Gemach öffnete, in das wir hinter ihm eintraten. Schweigsam entzündete er eine Anzahl von Kerzen auf verschiedenen Tischen und an den Wänden; verschwand dann in einem Nebengemach, in welchem er dasselbe Geschäft zu vollführen schien, kam alsbald wieder herein, flüsterte ein paar Worte mit Weißfisch und verließ das Zimmer. Ich hatte, mitten in dem Raume regungslos stehend, mit den Blicken den Mann verfolgt, während unter seinen Händen ein Theil des Gemaches nach dem andern: ein Spiegel hier, ein Kamin da, ein Sofa dort aus dem Dunkel – denn die Vorhänge waren geschlossen gewesen – hervortrat. Nun, als er die Thür hinter sich zugwdrückt hatte, erwachte ich jäh aus meiner Versteinerung.

„Um Himmelswillen, Weißfisch, was bedeutet dies Alles?“

Auf dem glatten Gesichte wollte das gewöhnliche freche verschmitzte Lächeln nicht recht gelingen: es war ein gut Theil Verlegenheit darin; und so klang auch seine Stimme ein wenig unsicher, als er nach einer kleinen Pause erwiderte:

„Ich gebe Ihnen mein Wort, ich wußte selbst nichts davon, bis mir der Bahnhofsinspektor sagte, daß ein Hofwagen draußen stehe. Ich hatte die Zimwer in dem Gasthof bestellt, Sie können sich morgen danach erkundigen. Es scheint, daß der Befehl in der letzten Minute gekommen ist.“

„Dann sind wir also –“

„Im herzoglichen Schloß – allerdings.“

„Aber wozu? weßhalb? was soll ich hier? was will der Herzog mit mir? So reden Sie doch, Mann!“

Ich hatte ihn in meiner Aufregung an der Brust gepackt und geschüttelt. Die Verlegenheit aus seinem Lächeln wollte noch immer nicht weichen.

„Lassen Sie mir denn Zeit zum Antworten?“ sagte er. „Und was soll ich antworten? Ich weiß nicht mehr, als Sie. Hoheit haben es so befohlen. Uebrigens ist es im Grunde auch ganz egal, ob Sie sich aus einem Gasthofszimmer zur Audienz bei Seiner Hoheit zurecht machen, oder hier im Schlosse – es ist nur so viel bequemer. Sehen Sie, da kommen Ihre Sachen schon.“

Die beiden Diener trugen meine Koffer herein und auf Weißfisch’s Wink sofort in das Nebengemach, worauf sie sich wieder entfernten, nachdem der eine abermals Weißfisch etwas zugeflüstert, wovon ich nur die Worte: „pünktlich neun Uhr“ deutlich verstand.

„Es ist jetzt halb Neun,“ sagte Weißfisch, seine Uhr mit der Standuhr auf dem Kaminsims vergleichend; „wir haben eben noch Zeit.“

Ich brauchte nicht zu fragen, wozu, da weißfisch mir gesagt hatte, daß ich im Gesellschaftsanzuge, der auch deßhalb wohlverpackt zuoberst im Koffer lag, vor dem Herzog zu erscheinen habe. Er hatte mir außerdem noch gar Vieles gesagt, was bei dieser Gelegenheit von meiner Seite in Beziehung auf Haltung, Rede und Antwort und, ich weiß nicht, auf was noch Alles, zu beobachten sei; ja, er hatte mir die Scene spaßeshalber wiederholt vorgeführt, wobei er abwechselnd mit tollem Uebermuth den Herzog und mich selbst gar ergötzlich darstellte. Aber jetzt waren ihm der Spaß und der Uebermuth vergangen, und seine Mahnungen und Vermahnungen kamen so kläglich heraus, daß ich nun meinerseits in ein lautes Gelächter ausbrach.

„Ei was, Weißfisch,“ rief ich; „der Mann ist doch schließlich ein Mensch wie wir auch. Was kann mir denn passiren, als daß er nicht der Narr ist, einen Narren an mir zu fressen, wie gewisse andere Leute.“

„Und wäre das etwa noch nicht schlimm genug?“ fragte Weißfisch.

Der Mann hatte es so ernsthaft gesagt, daß es mich selber ernsthaft und nachdenklich machte. Er hatte ja Recht. Von dem Ausfall dieser Audienz, von dem Eindruck, welchen der Herzog von mir bekam, und dem Urtheil, zu welchem er nach einer Prüfung, die er mit mir anstellen würde, über meine schauspielerische Begabung gelangte, hing doch mein Schicksal ab und, was mir erst jetzt zum ersten Male schwer auf die Seele fiel, das des Mannes, der sein Schicksal an meines geknüpft, der Alles aufgegeben hatte, um mir eine glänzende Zukunft zu verschaffen, und, [274] wie er mit Wallenstein zu sagen pflegte, „in meines Glückes Schiff mit mir gestiegen“ war.

„Lassen Sie gut sein, Weißfisch,“ sagte ich, während er mir die weiße Kravatte knüpfte; „ich werde mich schon aus der Affaire ziehen. Jedenfalls verspreche ich Ihnen, daß ich mich so klug und geschickt benehmen will, als irgend in meinen Kräften steht; und wenn’s zum Vortrag kommt, meinen Max oder Romeo, oder was er sonst befehlen wird – hören Sie, Weißfisch, befehlen! – aber, um Gott, Mann, Sie werden mir doch nicht auch noch das Haar brennen?“

„Nur ein paar Locken auf der Stirn,“ sagte Weißfisch, der schon die Flamme in dem Spirituslämpchen entzündet hatte und jetzt nach der Scheere griff.

„Na, meinetwegen! Sie sollen nicht sagen, daß ich es an irgend etwas habe fehlen lassen.“

Und so stand ich denn, aufs Beste herausgeputzt, vor dem großen Stellspiegel und beschaute nachdenklich mein Bild. Es war mir kein fremdes mehr, wie vor dem Weißfisch’schen Regiment. Ich hatte mich seitdem gar oft in dem Spiegel gesehen, wenn ich nach seiner Anleitung meine theatralischen Posen und Mienen studirte und, da er mich immer wieder versicherte, daß ich ein hübscher Mensch sei, nach Ueberwindung der ersten keuschen Scheu, ein ganz herzhaftes Wohlgefallen an mir gefunden. Ich that das auch in diesem Moment; nur kam ich mir etwas blasser als gewöhnlich vor. Weißfisch sagte: es ist die Beleuchtung.

Es war nicht die Beleuchtung, wie ich an der ängstlichen Spannung in der Herzgegend spürte, als ich etwas später mit Weißfisch hinter dem Diener her, der uns zu holen gekommen war, anfangs durch einen Theil der mir bereits bekannten Korridore, dann durch neue, dann durch Gemächer und Säle, in denen es dunkel gewesen wäre, wenn der Diener nicht eine Laterne bei sich geführt hätte, einen Weg, der mir endlos schien, nach dem Flügel des Schlosses schritt, in welchem der Herzog wohnte. Nun eine Reihe von kleineren behaglicheren Räumen, die mäßig hell beleuchtet waren, und vor denen der Mann mit der Laterne Halt gemacht hatte, um uns einem neuen Diener auszuliefern, der uns eben wieder nur bis zu dem allerletzten Gemach führte, wo uns Jemand in schwarzem Frack und weißer Binde empfing, den ich für einen Herrn vom Hofe hielt, bis mein Blick auf seine unteren Extremitäten fiel, die in Kniehosen, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen staken, so daß ich ihn doch wohl nur für einen Kammerdiener nehmen durfte. Der Mann tauschte ein decentes Lächeln des Wiedersehens und Willkommens mit Weißfisch, nachdem er mich mit einer ernsten Verbeugung beehrt hatte, und wir standen vor einer weißseidenen Portière, die der Mann in den Kniehosen mit der einen Hand zurückschlug, während er zugleich mit der andern an einem Elfenbeinknopf die dahinter befindliche Thür zur Seite schob, eine zweite innere Portière hob und hinter uns – Weißfisch und mir, er selbst war draußen geblieben – fallen ließ.

Ein mäßig großes, mit Gegenständen aller Art überfülltes Gemach, dessen Beleuchtung hauptsächlich von einer mehrarmigen Lampe auszugehen schien auf einem großen, mit Büchern und Papieren und vielen anderen Gegenständen bedeckten Tisch, an welchem, uns den Rücken zuwendend, ein Herr stand und so hinreichend lange stehen blieb – es mögen aber trotzdem nur wenige Sekunden gewesen sein – daß ich jene obigen Beobachtungen anstellen konnte.

Nun machte der Herr eine Bewegung, aber ohne seinen Platz zu wechseln, und sagte, halb über die Schulter gewandt, in einer tiefen, trotz einiger Rauhheit wohllautenden Stimme:

„Ah, Weißfisch! und mein junger Protégé!“

Weißfisch und ich hatten uns gleichzeitig verbeugt; ich war aber mit meiner Verbeugung lange vor meinem Lehrer fertig, der nun im respektvollsten Ton, eben laut genug, um von dem Herrn verstanden zu werden, fragte: „Haben Hoheit sonst noch für mich Befehle?“

„Ich danke Ihnen,“ lautete die kurze Antwort.

Der Herzog – ich wußte also endlich sicher, daß er es war – hatte sich bereits wieder über den Schreibtisch gebeugt. Weißfisch machte abermals seine tiefe Verbeugung und war verschwunden.

In dem Moment richtete sich der Herzog, ein Papier, das er zur Hand genommen, auf den Tisch fallen lassend, zu seiner ganzen stattlichen Höhe empor und kam ein paar rasche Schritte von dem Tisch auf mich zu, blieb abermals stehen und sagte; „Treten Sie näher!“

Ich that es, bis ich mich in schicklicher Entfernung von ihm glaubte, und sah ihm gerade in die Augen, weil dieselben mit einem bis zur Herbheit festen, prüfenden Blick auf mich gerichtet waren. Ich meinte, daß, wenn der hohe Herr, wie doch offenbar, mein armes Ich, so weit das durch den Blick möglich ist, ergründen wollte, ich ihm das nach Kräften erleichtern müsse und nicht etwa durch ein kindisches Niederschlagen der Augen erschweren dürfe.

Auf keinen Fall hatte ich ihn durch meine Kühnheit beleidigt, denn nachdem wir ein paar Momente, die mir allerdings ein wenig lang erschienen, uns so gegenüber gestanden und in die Augen geblickt hatten, glitt etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht, und er reichte mir die Hand, indem er gleichzeiug sagte:

„Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Aber setzen wir uns dorthin!“

Er wies auf eine Nische in der Wand, die an den Rändern mit einem schmalen Vorhang drapirt und mit einem Sofa ausgestattet war, auf welchem er jetzt Platz nahm, mir winkend, mich auf einem Stuhl in seiner unmittelbaren Nähe zu setzen.

„So!“ sagte er. „Und nun lassen Sie uns ein wenig plaudern. Ich habe genau eine halbe Stunde für Sie.“

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Osterwasser. (Mit Illustration S. 26l.) Alles hat seine Zeit, die Zeit des Emporkeimens, der Blüthe und des Zerfallens. Diesem ehernen Naturgesetze sind ebenso wie die Menschen auch ihre Werke unterthan – und die schönsten Sitten und Bräuche machen von der Regel keine Ausnahme. Auch sie altern, verlieren an Frische und Zauber, bis sie verwelkt der Vergessenheit anheimfallen. An dieses Werden und Vergehen selbst der tiefsinnigsten Bräuche erinnert uns das stimmungsvolle Bild des Osterwasserholens.

Ein uralter Glaube führt die Mädchenschar zur Quelle um die stille feierliche Zeit, da am anbrechenden Ostermorgen der Himmel und die Wolken in Purpurgluth erröthen. Um diese Zeit soll die allmächtige Zauberin Natur in dem Wasser der Quellen und Ströme wunderbare Kräfte erzeugen. Von Geschlecht zu Geschlecht berichtete der Volksmund, daß das „Osterwasser“ Krankheiten heile, daß es Jugendfrische und Schönheit dem Körper verleihe, Glück dem in Liebe erwachenden Herzen und Reichthum dem ehrgeizigen bringe. Jahrhunderte lang lebte dieser Glaube und stärkte nach seiner Art die schwindende Hoffnung in Tausenden kämpfender Herzen, bis die Menschheit weiser wurde, an das Märchen nicht mehr glaubte und Trost und Hoffnung bei dem Zeichen des Kreuzes suchte, das vom hohen Thurme Wacht hielt über die Häuserschar der Stadt und die frühen Wanderer am Ostermorgen an größere Verheißung, dauernderes Glück, besseres Leben gemahnte! Von der Sitte des Osterwasserholens blieb nur die leere schöne Form übrig, und so zog man jahraus jahrein in der Osterfrühe zum Fluß und Quell in froher lustiger Schar. Aber auch dieser Brauch verlor sich fast gänzlich, denn ihm fehlte die innere Weihe! Vor Jahrtausenden, als noch die altheidnische Göttin Ostera gläubige Verehrer in allen Gauen des Landes zählte, wurde die Osternacht anders gefeiert. Ihre Priesterinnen wuschen sich in klaren Quellen das Gesicht und verrichteten damit ein Hochamt der Göttin, welche alljährlich die Erde nach langem winterlichen Schlaf zum neuen Leben weckte, wie das Bad den Körper erfrischt. Das Osterwasser war nur ein Symbol eines tiefsinnigen auf Naturanschauung beruhenden Glaubens. Später, als der Kultus der Göttin und ihre Tempel und Haine und ihre Priesterinnen verschwunden waren und nur die Erinnerung an die vergangene Zeit im Volke fortlebte, ward der Glaube zum Aberglauben, welcher dem Symbol die göttlichen Kräfte zuschrieb. Was einst nur die Göttin zu schaffen vermochte, das sollte jetzt das Osterwasser wirken. Thörichter Wahn, den die Erfahrung Lügen strafte. Der Brauch gerieth in Zeiten des Verfalls, und er suchte in Ausflüchten sein Heil. Nun hieß es, man müsse heimlich das Osterwasser holen, wenn man seine Kraft erhalten wolle, man dürfe von Niemand beim Schöpfen überrascht werden, mit Niemand ein Wort wechseln und so weiter, und so weiter! Thörichter Wahn auch dieses, hörte man bald sagen, und nur der Gewohnheit halber wanderte man, wenn die ewigen Sterne am Himmel erloschen, wenn die Klänge der Auferstehungsmesse in christlichen Kirchen verhallt und verstummt waren, zum klaren Quell, um gedanken- und glaubenlos einen alten Brauch zu üben. Aber die vergessene Frühjahrsgöttin grollt nicht der Menschheit, selbst jetzt noch lohnt sie die Mühe den Auserwählten unter ihren unbewußten Verehrern. Durch das werdende Licht am Himmelszelt, durch das Murmeln der neugeborenen Wellen, durch die erwachenden Lieder der Vögel weckte sie und weckt allezeit in den zweifelnden Herzen den festen Glauben an die Unsterblichkeit und Ewigkeit des Lebens. *     

[275] Heimkehr vom Markt. Seit den Tagen, in welchen Karl von Piloty noch als Professor an der Münchener Kunstakademie thatsächlich die Führung dieser Anstalt übernahm, hat kein anderer Lehrer an derselben solchen Einfluß auf die Schüler zu gewinnen vermocht als Wilhelm Diez, dem wir das Original unseres Holzschnittes „Heimkehr vom Markt“ verdanken.

Wilhelm Diez ward am 17. Januar 1839 in Baireuth geboren, besuchte die Gewerbeschule seiner Vaterstadt und erhielt an derselben auch den ersten Zeichenunterricht, worauf er 1853 an die Münchener Akademie übertrat und sich an ihr etwa dritthalb Jahre fortbildete. Im Hinblick auf die allgemein anerkannte Tüchtigkeit seiner Leistungen wurde ihm 1871 die Leitung einer Malklasse und im folgenden Jahre eine Professur an derselben Akademie, deren Zögling er gewesen, übertragen. Diez behandelt mit Vorliebe und eingehender Kenntniß Stoffe aus dem Kriegs- und socialen Leben des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, wobei er das kulturgeschichtliche Element mit schlagendem Erfolge betont und sich an die hervorragenden Meister jener Periode anlehnt, ohne sie sklavisch zu kopiren. Auch sein Vortrag mit dünner Farbe und spitzem Pinsel erinnert an sie, hat aber hier und da etwas Runzeliges, während sein Kolorit durch einen feinen Silberton das Auge wohlthuend berührt. Bei der schlagenden Charakteristik seiner alten Bauerfrau kann sich unser Kommentar zum Bilde auf einige wenige Worte beschränken. In der nahen Stadt war Jahrmarkt und damit den benachbarten Dörflern Gelegenheit gegeben, ihre Waare an den Mann zu bringen. Es mögen wohl junge Hühner, fette Gänse und quiekende Ferklein gewesen sein, die unsere Bäuerin an den Sattelknopf hing, eh’ sie sich selber auf den Rücken ihres Rößleins – nicht schwang, denn dazu erscheint sie nicht mehr elastisch genug, sondern – heben ließ. Bis zum 14. Jahrhundert hatten Klöster und Adel ihre leibeigenen Bauern im Ganzen gut gehalten, gegen das Ende des 15. aber drückte Alles auf dieselben und das 16. ging mit ihnen nicht besser um. Die uns vom Künstler vorgeführte, den Gewinn ihrer Marktgeschäfte überzählende Bauerfrau gehört immerhin noch zu den wohlhabenderen, die über schlechte Zeiten nicht zu klagen braucht. Karl Albert Regnet.     

Heimkehr vom Markt.0 Nach dem Oelgemälde von Wilhelm Diez.

Hasen in Wassersnoth. (Mit Illustration S. 269.) Der Winter ist plötzlich gewichen, überall schmilzt der Schnee, dazu hat der Himmel seine Schleusen geöffnet und es in Strömen regnen lassen auf Gerechte und Ungerechte. Zu Ersteren dürfen wir wohl den Freund aller Jäger, den guten Lampe, zählen. Thut er doch Niemand etwas zu Leide, wogegen die Welt ihm mit schnödem Undanke lohnt. Von Mensch und Thier wird er verfolgt, nun kommt auch noch das nasse Element und erklärt dem Wehrlosen den Krieg. Weithin sind Wiesen und Aecker überschwemmt, gleich Inseln ragen die Dächer der Häuser aus der weiten Wasserfläche empor, und nur der schmale Damm, welcher den Fluß umsäumt und das tiefer liegende Land gegen die Fluthen schützen soll, ist zum Theil noch trocken, während er hier und da bereits dem Drucke der Wogen hat weichen müssen, die jetzt auch die wenigen, noch stehen gebliebenen Theile seiner Krone zu stürzen trachten. Auf jene trockenen Stellen haben sich zwei Mitglieder der Sippe Lampe gerettet. Verschiedene ihrer Gefährten sahen sie bereits im Kampfe mit dem nassen Elemente untergehen, sie allein sind dem furchtbaren Geschick entgangen. Schon beginnen sie zu hoffen, daß es ihnen noch einmal vergönnt sein werde, einer winterlichen Treibjagd beizuwohnen – läßt doch die sichere Gefahr der Gegenwart die nur mögliche, wenn auch furchtbare der Zukunft selbst einem Hasenherzen gering erscheinen – da werden sie plötzlich zu ihrem Entsetzen gewahr, daß das Wasser von Neuem zu steigen beginnt. Und nun hoppeln sie verzweifelt auf dem Damme hin und her, bis sie endllch, da der Boden bereits unter ihren Läufen zu wanken beginnt, an einer schräg über den Fluß hängenden Weide Halt machen. Erst versucht der Eine, an der rauhen Fläche emporzuklettern. Die ungewohnte Arbeit gelingt ihm, geborgen hockt er, zitternd vor Frost und Nässe, hoch oben, wo die Aeste der Krone beginnen; vorsichtig folgt ihm nun der Andere.

Auch er hat bereits den sichern Standpunkt erreicht, er hält sich für gerettet, als er plötzlich ein Plätschern am Fuße des Baumes vernimmt. Er wendet sich, eng schmiegt er sich an den Leidensgefährten, indem er, von Entsetzen gepackt, der neuen Gefahr entgegenblickt. Doch auch diese geht gnädig vorüber: es ist nur ein dritter Leidensgefährte, der den Weg zum rettenden Baumstamm gefunden. Wünschen wir dem schwer geängstigten Kleeblatt, daß es das Fallen des Wassers erlebe und in den frisch aufgrünenden Kohlgärten die rauhen Tage der Ueberschwemmung vergesse. F.     

Die Wiederherstellung der Marienburg. Es war im Jahre 1881, als der nunmehr verstorbene Dr. Marschall in der „Gartenlaube“ einen Artikel veröffentlichte, welcher in beredten Worten die Wiederherstellung des Hochschlosses der Marienburg, des von dem Deutschen Orden errichteten Monumental-Baues, als eine Ehrenschuld der deutschen Nation hinstellte. Und dieser Ruf ist nicht ungehört verklungen. Man ist sich der Ehrenschuld bewußt geworden, die alte ehrwürdige Burg gilt nicht mehr als „formloser Steinhaufen“, sondern aus den Trümmern und Schuttmassen, aus den verwitterten Mauern mit ihren Magazinluken ersteht nun langsam ein Phönix mittelalterlicher Baukunst, der in seiner Pracht und Schönheit einzig dasteht. – Der Verein zur Ausschmückung und Herstellung der Marienburg, welcher seit seiner Gründung im Jahre 1879 eifrig und thatkräftig bestrebt war, das große Werk zu fördern, hat bekanntlich die staatliche Genehmigung zu einer großen Lotterie erwirkt, deren Ertrag die Erfüllung der Ehrenpflicht in nahe Aussicht stellt. Wahrlich zu den schönsten Hoffnungen berechtigen uns die Restaurirungspläne, welche der mit dieser Arbeit betraute Regierungsbaumeister Steinbrecht in einer kürzlich veröffentlichten Broschüre bekannt machte. Nach seiner Aussage existirt kein zweiter Bau aus jener Zeit, der einerseits diesem an Schönheit, Größe und Gediegenheit gleichkommt und andererseits so getreu historisch wieder hergestellt werden kann. Die Forschungsresultate haben derartig feste und unwiderlegbare Anhaltspunkte über die frühere architektonische Beschaffenheit des Bauwerks gegeben, daß das stolze „hohe Haus“ ganz in seiner alten Würde neu erstehen wird. T. S.     

Heim für deutsche Erzieherinnen in Paris. Das unter dem Protektorat der deutschen Kronprinzessin stehende Heim für deutsche Erzieherinnen und Bonnen in Paris (vergl. „Gartenlaube“ Nr. 9) ist nunmehr eröffnet worden. Dasselbe befindet sich in dem zu diesem Zwecke angekauften Hause 21 Rue Brochant. * *     

[276] 0


Sprechsaal.


Frage 11: Können Sie mir ein gutes Recept für die Bereitung des Johannisbeerweins geben?

Antwort: Nach Heinrich Semler erhält man ein sehr starkes Getränk, wenn man dem ausgepreßten Saft der Johannisbeeren die doppelte Menge Wasser zusetzt und dann zwei Eßlöffel Hefe einrührt. Zwei Tage läßt man den Saft gähren, seiht ihn dann durch ein Haarsieb, fügt für je ein Liter ein Pfund Zucker bei und läßt die Vergährung erfolgen. Wenn dieselbe nahezu beendet ist, wird Franzbranntwein, dessen Menge den vierzigsten Theil des Wassers betragen soll, in das Faß gebracht, das man zwei Tage nachher fest verspundet. In vier Monaten ist der Wein reif. Das Recept ist sehr einfach; nur müssen Sie nicht glauben, daß die Bereitung des Beerenobstweines so leicht vor sich geht, wie man das Recept liest. Sie ist ebenso gut eine Kunst, wie die Weinbereitung aus der Weintraube, sie muß geprüft und will gelernt werden. Daß sie in Deutschland so wenig beachtet wird, ist nur zu bedauern. In England und Nordamerika bilden Beerenobstweine (Erdbeer-, Brombeer-, Johannisbeerwein und Stachelbeerchampagner) nicht zu unterschätzende Handelsartikel. Ausführlichere Anweisungen über die Bereitung dieser Weine finden Sie in Semler’s „Die Hebung der Obstverwerthung“ (Wismar. Hinstorff’sche Hofbuchhandlung) und in der kleinen Preisschrift „Das Beerenobst“ von Franz Göschke (Bernhard Thalacker, Leipzig-Gohlis).

Frage 12: Ist es richtig, das faserige untere Ende des Spargels wegzuschneiden, oder beeinträchtigt es nicht den Geschmack, wenn man dasselbe beläßt?

Antwort: Schälen Sie richtig, vorschriftsmäßig den Spargel, dann erhalten Sie kein faseriges Ende. Die Schale des Spargels muß ganz entfernt werden. Sie ist bei einiger Aufmerksamkeit leicht vom Fleische zu unterscheiden, da beide eine durchaus verschiedene Struktur besitzen. Gegen das untere Ende wird die Schale dicker, hier muß man also mehr, als am oberen Ende abschälen. Sie brauchen dabei nicht ängstlich zu verfahren, denn die Schale ist keineswegs werthlos. Der treffliche Kenner des Spargelbaus und der Spargelverwendung, E. Brinckmeier, läßt, wie er in seinem „Braunschweiger Spargelbuch“ mittheilt, seit Jahren die abgeschnittenen Schalen, in Sieben oder auf Tüchern ausgebreitet, womöglich in der Sonne trocknen. Dieselben können an luftigen Orten in Beuteln aufbewahrt werden und geben, in der Bouillon gekocht oder zu Sauce verwendet, diesen den vollen Geschmack von frischem Spargel.

Frage 13: Wie entfernt man alten Schellackanstrich aus Fußböden? Spiritus und Schmierseife wurden vergeblich versucht. Eine besonders ätzende Lauge aus einer Droguenhandlung, auf einen solchen Anstrich angewandt, ergab außer blutigen Händen einen häßlich gefleckten Boden. Wir bitten um Antwort aus dem Leserkreise.



Allerlei Kurzweil.


Schach.
Von Georg Chocholous in Bodenbach.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Räthsel.

Groß ist die Zahl meiner Brüder, unzählig scheinen sie dir wohl;
Fügst du ein Zeichen mir bei, nenn’ ich ein fröhliches Fest.



Kleiner Briefkasten.

Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

Vieljährige Freundin der „Gartenlaube“ in St. Petersburg. Herzlichen Dank für die zu einem „Rollstuhl oder irgend einem anderen wohlthätigen Zwecke“ bestimmten uns übersandten 50 Mark. Möge Ihr edles Beispiel recht zahlreiche Nachahmer finden! Auch die kleinste Gabe ist uns zu solchem Zwecke willkommen.

Langjährige Abonnentin in Metz. Die Veröffentlichung der Erzählung „Aus eigener Kraft“ von Wilhelmine von Hillern im Jahrgang 1870 der „Gartenlaube“ mußte wegen Krankheit der Verfasserin unterbrochen werden. Die für Nr. 23 bestimmte Fortsetzung erschien deßhalb erst in Nr. 38.

Margarethe v. E. Das Manuskript ist nicht verwendbar und steht zu Ihrer Verfügung.

A. A. in Riga. Gustav Nieritz ist bereits am 16. Februar 1876 gestorben.


Inhalt: Die Lora-Nixe. Novelle von Stefanie Keyser (Fortsetzung). S. 257. – Kleine Freunde. Illustration. S. 257. – Von klingender Münze und ihrem Werthe. Offener Brief an eine Wißbegierige. Von C. Falkenhorst. S. 263. – Ostermorgen. Gedicht von Julius Lohmeyer. Mit Illustration. S. 265. – Die Andere. Von W. Heimburg (Schluß). S. 266. – Noch heute „das geheimnißvolle Grab“. Neue Studien und alte Erinnerungen von Friedrich Hofmann. S. 268. Mit Abbildungen S. 270 und 271. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 272. – Blätter und Blüthen: Osterwasser. S. 274. Mit Illustration S. 261. – Heimkehr vom Markt. Von Karl Albert Regnet. Mit Illustration. S. 275. – Hasen in Wassersnoth. S. 275. Mit Illustration S. 269. – Die Wiederherstellung der Marienburg. S. 275. – Heim für deutsche Erzieherinnen in Paris. S. 275. – Sprechsaal. – Allerlei Kurzweil: Schach. – Räthsel. – Kleiner Briefkasten. S. 276.




Unseren neu eingetretenen Abonnenten

theilen wir hierdurch mit, daß sie den letzten Jahrgang (1885) der „Gartenlaube“ bis auf Weiteres noch zum Subskriptionspreise von M 6.40 durch alle Buchhandlungen beziehen können. Derselbe enthält unter anderem folgende Novellen und Romane:

Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Von E. Marlitt. 0 Trudchens Heirath. Von W. Heimburg. 0 Ein wunderlicher Heiliger. Novelle von Hans Hopfen. 0 Unruhige Gäste. Von Wilhelm Raabe. 0 Unterm Birnbaum. Von Th. Fontane. 0 Verdächtig. Von E. Werner. 0 Edelweißkönig. Von Ludwig Ganghofer etc. etc.

Von einzelnen älteren Jahrgängen der „Gartenlaube“ können wir noch eine beschränkte Anzahl von Exemplaren zu dem ermäßigten Preise von nur Mark 3. – für den vollständigen Jahrgang abgeben.

Es sind dies die Jahrgänge 1868, 1869, 1872, 1875, 1876, 1877.

Aus dem reichen Inhalte dieser Bände seien hier nur folgende größere Novellen und Romane genannt:

Der Schatz des Kurfürsten von L. Schücking Ein kleines Bild von E. Wichert
Vetter Gabriel von Paul Heyse Das Capital von L. Schücking
Prinz oder Schlossergeselle von Louise Mühlbach 1868 Hund und Katz’ von Herman Schmid 1875
Süden und Norden von Herman Schmid Die Kaiserin von Spinetta von Paul Heyse
           
Reichsgräfin Gisela von E. Marlitt Im Hause des Commerzienrathes von E. Marlitt
Die Gasselbuben von Herman Schmid Vineta von E. Werner
Jedem das Seine von Ad. von Auer 1869 Ein Grab von A. Godin 1876
Verlassen und Verloren von L. Schücking      
           
Am Altar von E. Werner Aus gährender Zeit von Victor Blüthgen
Die Diamanten der Großmutter von L. Schücking 1872 Im Himmelmoos von Hermann Schmid 1877
Was die Schwalbe sang von Fr. Spielhagen Teuerdank’s Brautfahrt von G. von Meyern

manicula 0 Bestellungen auf den Jahrgang 1885 sowohl als auf die älteren Jahrgänge führen alle Buchhandlungen aus, welche den neuen Jahrgang liefern. Nur solche Besteller, welche an ihrem Wohnort oder in dessen Nähe keine Buchhandlung haben, wollen sich unter Beifügung des Betrags der Bestellung (event. in Briefmarken) direkt franko an die unterzeichnete Verlagshandlung wenden.

Leipzig, April 1886. Ernst Keil’s Nachfolger. 



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redakteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Vgl. „Gartenlaube“ 1863, S. 294, und 1874, S. 454.