Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1885)/Heft 20

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[321]

No. 20.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Schluß.)


28.

Die Frau Amtsräthin hatte am andern Tage noch nicht ausgetrotzt. Sie war für Niemand sichtbar; nur das Stubenmädchen durfte bei ihr aus- und eingehen, und als der Landrath Mittags vom Amte zurückkam und um Zutritt bitten ließ, da wurde ihm der Bescheid, daß die Nerven der alten Dame noch allzu sehr erschüttert seien, sie bedürfe für einige Tage der ungestörtesten Ruhe. Er zuckte die Achseln und machte keinen weiteren Versuch, in das selbstgewählte Exil seiner Mutter einzudringen.

Nachmittags kam er herunter in die Beletage. Er hatte sein Pferd satteln lassen und war im Begriffe auszureiten.

Margarete war allein in dem für den Großpapa bestimmten Wohnzimmer und legte eben die letzte Hand an die behagliche Einrichtung. Am Spätnachmittage sollte sie im Glaswagen nach Dambach fahren, um am nächsten Morgen mit dem Patienten in die Stadt zurückzukehren.

Sie hatte Herbert heute schon gesprochen. Er war in aller Frühe im Packhause gewesen und hatte ihr Morgengrüße von dem kleinen Bruder und seinen Großeltern und die Beruhigung gebracht, daß die gestrige heftige Nervenerschütterung der Kranken nicht im Geringsten geschadet habe; sie gehe im Gegentheil ihrer völligen Wiederherstellung mit raschen Schritten entgegen, wie er von dem Arzte erfahren habe. Nun kam er hier herein, um auch noch einmal Rundschau zu halten. Margarete placirte eben ein schönes, altes, den Lamprechts gehöriges Schachbrett in der Zimmerecke unter dem Pfeifenbrette. Er übersah von der Thür aus den äußerst gemüthlichen Raum.

„Ah, wie das anheimelt!“ rief er, näherkommend. „Da wird unser Patient seine einsame Pavillonstube nicht vermissen! Ich freue mich, daß wir ihn endlich hier haben werden! Wir wollen ihn zusammen pflegen und für sein Behagen und Wohlbefinden treulich sorgen – ist Dir’s recht, Margarete? Es soll ein schönes, inniges Zusammenleben werden!“

Sie hatte sich weggewendet und zog und ordnete an den verschobenen Falten der nächsten Portière. „Ich weiß mir nichts Lieberes, als mit dem Großpapa zusammen zu sein,“ antwortete sie, ohne sich umzusehen. „Aber mein kleiner Bruder hat jetzt auch Ansprüche

Gestörte Gastfreundschaft.0 Nach dem Gemälde von K. Fröschl.

[322] an mich, und ob der Großpapa sich an das Kind so schnell gewöhnen wird, um es neben mir in seiner Nähe zu dulden, das steht doch sehr in Frage. Ich muß dann meine Zeit zwischen ihnen theilen.“

„Ganz recht,“ gab er zu. „Und die Sache hat auch noch eine Seite, die beleuchtet sein will. Nichts ist natürlicher, als daß sich die Jugend zur Jugend gesellt; wir zwei alten Leute – mein guter Papa und ich – können mithin nicht von Dir verlangen, daß Du Dich für uns allein aufopferst. Aber lasse mit Dir handeln – dann und wann ein Abendplauderstündchen, willst Du?“

Sie wandte sich mit einem schattenhaften Lächeln nach ihm um, und er griff nach seinem hohen Hute, den er auf den Tisch gelegt hatte – sein nicht zugeknöpfter Ueberzieher ließ einen tadellos eleganten Gesellschaftsanzug sehen.

Er bemerkte ihren befremdeten Blick. „Ja, es liegt heute noch Vieles vor mir,“ sagte er erklärend. „Zunächst habe ich die Aufgabe, meinem Vater Mittheilung von dem Umschwunge der Verhältnisse in Eurer Familie zu machen, und dann“ – er zögerte einen Moment, dann fügte er um so rascher hinzu: „Du bist die Erste, die es erfährt, selbst meine Mutter weiß es noch nicht – dann gehe ich nach dem Prinzenhof zur Verlobung.“

Sie wurde schneeweiß über das ganze Gesicht, und ihre Rechte hob sich unwillkürlich nach dem Herzen. „Dann darf ich Dir ja wohl jetzt schon Glück wünschen?“ stammelte sie tonlos.

„Noch nicht, Margarete,“ wehrte er ab, und auch in seinen Zügen malte sich plötzlich eine tiefe innere Bewegung; aber er unterdrückte sie rasch. „Heute Abend, wenn ich nach Dambach komme, um von da nach der Stadt zurückzukehren, sollst Du Gelegenheit haben ,den Onkel‘ glücklich zu sehen.“

Er winkte mit der Hand nach ihr zurück und ging mit eiligen Schritten hinaus. Bald darauf sah sie ihn über den Markt reiten.

Sie blieb, bewegungslos am Fenster stehen. Die krampfhaft verschränkten Hände fest auf die Brust gedrückt, starrte sie in das Stück Himmel hinein, das sich heute durch einen schmutzig grauen Wolkendunst getrübt, über den weiten Marktplatz spannte. … Wohl durchkreiste das Blut in wilder Wallung ihre Adern, und doch fühlte sie sich tödlich matt, als sei sie mit einem Streiche zu Boden gestreckt worden. … Ja, dahin war sie gekommen! Vor wenigen Monaten noch war ihr die Welt zu eng gewesen, himmelstürmend in Uebermuth, Jugendlust und Freiheitsdrang hatte sie jede Fessel verlacht, und heute dominirte in dem armseligen Bischen Gehirn ein einziger Gedanke, und ihre arme Seele wand sich kläglich hilflos am Boden, zum Gaudium all Derer, die gern am Boden kriechen, die stolze Seelen hassen und verfolgen. Aber mußte denn die Welt um die Wunden wissen, die ihr in Kopf und Herzen brannten? Gingen nicht Viele durchs Leben und nahmen Geheimnisse mit ins Grab, um die kein Mitlebender gewußt hatte? Und dazu mußte auch sie die Kraft finden. Sie mußte lernen, ruhig in ein Paar Augen zu blicken, welche die größte Macht über sie hatten; sie mußte es über sich gewinnen, zuvorkommend mit einer schönen Frau zu verkehren, die sie verabscheute, und in einem Heim aus- und einzugehen, in welchem diese Frau als Herrin, als ihre hochgeborene Tante schaltete und waltete.

Später kam sie in die Wohnstube herunter und rüstete sich zur Fahrt nach Dambach. Tante Sophie schalt, daß sie den Kaffee stehen lasse und den Kuchen nicht anrühre, den die zerknirschte Bärbe heute Morgen einzig und allein für sie gebacken habe; allein das junge Mädchen hörte kaum, was sie sagte. Sie knüpfte schweigend die Hutbänder unter dem Kinne; dann legte sie den Arm um Tante Sophiens Hals – und da überkam sie eine plötzliche Schwäche, nämlich der tiefe, sehnsüchtige Wunsch, hier, wie sonst in ihrer Kindheit in jeglicher Bedrängniß, Zuflucht zu suchen und in das Ohr der Tante Alles zu flüstern, was ihr Inneres durchtobte – unter dem Zureden der treuen Pflegerin war sie ja stets ruhiger geworden. Aber nein, das durfte nicht geschehen! Die Tante durfte nicht den Jammer erleben, sie so unglücklich zu wissen!

Und so schloß sie die Lippen fest auf einander und bestieg den Wagen.

Draußen, jenseit der Stadt, ließ sie das Glasfenster herunter. Von Süden her kam ein leichter Wind und wehte sie an mit jenem süßen Hauche, der das starre Eis zu rinnenden Thränen zwingt, der die Schneelast von Baum und Strauch löst und ein wundersames Regen in Allem weckt, was da lebt und webt, auch – im Menschenherzen – es war Thauwetter im Anzuge. … Und weich wie die Luft lag auch das erste Abenddämmern auf der Gegend; die harten, unvermittelten Töne der winterlichen Tagesbeleuchtung erloschen zu einem einzigen milden Grau, aus welchem bereits da und dort das Lampenlicht vereinzelter Dorfhäuser auftauchte. Und dort zur Rechten flimmerte es, als liege eine Perlenkette in schwachgoldigem Glanze zu Füßen der alten Nußbäume – die ganze Fensterreihe des Prinzenhofes war beleuchtet, die Verlobungskerzen brannten. …

Sie drückte sich tief in die Wagenecke, und erst als der Kutscher von der Chaussee ab in den Fahrweg nach der Fabrik einlenkte und der Prinzenhof im Rücken liegen blieb, da sah sie auf, scheu und ungewiß, fast wie ein furchtsames Kind, das sich zu vergewissern sucht, ob eine unheimliche Erscheinung auch in der That verschwunden sei.

Der Großpapa empfing sie mit freudigem Zurufe, und bei dem Laute der lieben, rauhen Stimme raffte sie sich auf und suchte möglichst unbefangen seinen Gruß zu erwidern. Aber der alte Herr war heute auch ernster als sonst. Zwischen seinen Brauen lag ein Zug finsteren Grolles. Er rauchte nicht, seine Lieblingspfeife lehnte kalt in der Ecke, und nachdem die Enkelin Hut und Mantel abgelegt, nahm er seine Wanderung durchs Zimmer, welche Margarete durch ihre Ankunft unterbrochen hatte, wieder auf.

„Ja gelt, wer hätte das gedacht, Maikäferchen?“ rief er, plötzlich vor ihr stehen bleibend. „Ein Narr, ein vertrauensseliger Schwachkopf ist Dein alter Großvater gewesen, daß er die Augen nicht besser aufgemacht hat! Nun kommt das wie ein plötzlicher Hagelschauer aus blauem Himmel über Einen her, und man steht da wie in den April geschickt und muß die Bescherung hinnehmen und ,Ja und Amen‘ dazu sagen, als wenn man’s gar nicht anders erwartet hätte.“

Sie schwieg und sah zu Boden.

„Arme Kleine, wie verstört und elend Du aussiehst!“ sagte er, indem er die Hand auf ihren Scheitel legte und ihr Gesicht der Lampe zuwendete. „Nun, ein Wunder ist’s nicht! Schwerenoth noch einmal, das ist mehr als genug, um einen alten Kerl wie mich außer Rand und Band zu bringen! Und Du verbeißest es und trägst es still und tapfer! … Herbert sagt, wie ein Mann, ein braver, muthiger Kamerad habest Du neben ihm gekämpft.“

Sie wurde feuerroth und sah ihn an, als schrecke sie aus einem Traume empor. Er sprach von den Enthüllungen in ihrer Familie, während sie gemeint hatte, sein Groll gelte Herbert’s Verlobung. … Es stand schlimm um sie! So ausschließlich beherrschte sie der Gedanke an das, was zu dieser Stunde drüben im Prinzenhofe vorging, daß alles Andere daneben spurlos versunken war.

„Aber nun paß auf, Kind!“ hob er wieder an. „In der Kürze wird man uns in unserem guten Krähwinkel auf das Allerschönste zerzausen. Die Klatschbasen haben vollauf zu thun, und es soll mich nur wundern, wenn sie nicht den Ausrufer auf den Markt schicken und die pikante Geschichte, so da geschehen im Hause Lamprecht, ausschellen lassen. … Na, thut Nichts! Um das Gerede in der Stadt hab’ ich mich mein Lebtag nicht gekümmert, und die Sache an sich wird ja wohl auch zu ertragen sein; nur Eines verwinde und verzeihe ich nicht – pfui Teufel über die Feigheit, die Grausamkeit, mit der ein Vater sein Kind verleugnet und –“

„Großpapa!“ unterbrach ihn Margarete flehentlich bittend und legte ihre Hand auf seinen Mund.

„Nun, nun,“ brummte er und schob die kleinen kalten Finger von seinem Schnauzbarte, „ich will still sein, um Deinetwillen, Gretel. Ich will Dir auch das Leben nicht sauer machen mit ungewünschten Rathschlägen und zudringlichen guten Lehren; denn Du wirst selbst am besten wissen, daß Ihr viel gut zu machen habt an dem kleinen Burschen, der Euch ins Haus gefallen ist, und auch an dem armen Kerl, dem alten Lenz. … Möcht’ nur wissen, wie der’s fertig gebracht hat, nicht mit beiden Beinen hineinzuspringen in die Geschichte und von dem – na, von Deinem Vater, gleich zu Anfang das klare Recht für den Jungen [323] zu fordern! Na ja, ein Künstler, eine stille Mondscheinnatur! – wie soll da der Ingrimm, die Empörung hineinkommen!“ –

Die Frau Faktorin hatte einen schönen Abendtisch hergerichtet; aber Margarete konnte nicht essen. Sie bediente den Großpapa und sprach lebhaft dabei, und nach Tische stopfte sie ihm eine Pfeife. Dann packte sie seine Bücher in eine Kiste und trug Alles herbei, was sich zur morgigen Fahrt nöthig machte. Sie lief treppauf, treppab, und da blieb sie plötzlich an einem Fenster der unbeleuchteten Oberstube stehen und preßte beide Hände gegen die Brust, in welcher das Herz zu zerspringen drohte. Fast greifbar nahe blitzten dort die hohen, lichtfunkelnden Fenster des Prinzenhofes durch das Nachtdunkel herüber, und bei diesem Anblicke brach der letzte Rest von Selbstbeherrschung, den sie mit fast übermenschlicher Kraft dem Großpapa gegenüber behauptet hatte, in ihr zusammen.

Mit einem Jammerlaute aus tiefster Brust warf sie sich auf das nahestehende Sofa und wühlte das Gesicht in die Polster. Da zogen sie nun sieghaft an ihr vorüber, die Bilder, denen sie hatte entrinnen wollen! Sie sah frohe, glückliche Menschen in den blumendurchdufteten, strahlenden Räumen des kleinen Schlosses, sah vor Allem die Braut, die blonde Schönheit, die das Fürstenblut in ihren Adern nicht geltend machte, die ihren stolzen Namen aufgehen ließ in dem eines bürgerlichen Beamten, um ihrer Liebe willen. Und er daneben – sie sprang auf und floh aus dem Zimmer.

Drunten saß der Amtsrath in seiner Sofa-Ecke hinter dem Tische. Er war offenbar ruhiger geworden, denn er las die Zeitung und rauchte seine frischgestopfte Pfeife.

Margarete griff nach ihrem Mantel. „Ich muß einen Augenblick in die frische Luft hinaus, Großpapa!“ rief sie von der Thür her dem Lesenden zu.

„Geh’ Du, Kind,“ sagte er. „Wir haben Südwind, der löst die Spannung in der Natur und ihren Kreaturen und macht Vieles gut, was der Mosje Isegrim vom Nordpole her verbrochen hat.“

Sie ging hinaus, an dem Teiche vorüber, der, hartgefroren unter seiner Schneedecke, kaum vom Wege zu unterscheiden war. In den Fabrikräumen brannte längst kein Licht mehr – es war still im Hofe; und nur der grimme Kettenhund kam aus seiner Hütte und schlug an, als die junge Dame das Thor passirte.

Draußen über die Felder her sauste der Thauwind, der in der hereingebrochenen Nacht allmählich zum Sturme anwuchs; er zerwühlte das unbedeckte Haar der Dahinschreitenden, aber ihr Gesicht badete er gleichsam in weichen, feuchten, schmeichelnden Wogen.

Es war sehr dunkel; auch nicht das kleinste Sternenlicht blinzelte der Erde zu; der Himmel hing voll schwerer, tiefgehender Wolken, die jedenfalls in dieser Nacht noch als warmer Regen niederrieselten. Dann war allerdings die Spannung gelöst, und es tropften wohlthätige Thränen von Ast und Zweig und nahmen der Mutter Erde den weißen Todtenschleier vom Gesicht. Ja, wer sich ausweinen konnte! Aber so mit trockenen, brennenden Augen in ein Leben voll unausgesprochener Schmerzen hinein sehen zu müssen –!

Wohinaus sie wollte? Immer dem Lichte nach, dem verderblichen Lichte, das dem Nachtfalter die Flügel verbrennt und ihn tödtet! … Und wenn ihr dort aus den Fenstern lodernde Flammen entgegen geschlagen wären, sie hätte den Fuß nicht rückwärts zu wenden vermocht! Weiter, weiter, selbst in den Tod hinein, wenn es sein mußte!

Sie lief mehr, als sie ging, den festgetretenen Weg entlang, der das Ackerland durchschnitt. Noch knirschte der Schnee unter ihren Füßen; das war bisher der einzige Laut gewesen, der die Nachtstille unterbrochen; aber nun, nachdem auch die Chaussee überschritten war und das weite Parterre des Prinzenhofgartens sich vor ihr hinbreitete, da trug ihr der Wind rauschende Akkorde zu – im Schlosse wurde Klavier gespielt. Da saß die Braut am Flügel – keine zarte heilige Cäcilie mit durchgeistigtem Gesichte, weit eher eine Rubensgestalt von üppiger Fülle und blühendstem Inkarnat – das volle Blondhaar glitzerte im Lichte der Kronleuchter, und die schöngebogenen Finger glitten über die Tasten – aber, nein, unter ihren Fingern erbrauste das Instrument nicht in so erschütternd beseelter Weise, Heloise von Taubeneck spielte stümperhaft und geistlos, wie sie neulich zur Genüge gezeigt hatte! – Aber wer es auch sein mochte, der da spielte, er hatte Theil an der Feier, die man heute beging – ein wahrer Sturm von Jubel und Begeisterung brauste durch den Vortrag.

Vor der Nordfront des Schlößchens breitete sich ein mächtiger Lichtschein hin. Der weite, im Sommer von buntfarbigen Blumengruppen unterbrochene Rasengrund lag fleckenlos weiß, ein einziges glitzerndes Schneefeld, hinter dem Rankrosenspalier, das ihn von dem dicht an die Hausmauern stoßenden Kiesplatze schied. Dieser Platz war ziemlich von Schnee gesäubert, nur eine dünne, festgetretene Schicht lag auf den Kieseln.

Margarete war bis hierher gekommen, ohne irgendwie durch Menschennähe erschreckt zu werden. Nun mäßigte sie ihren Laufschritt und ging unter den Fenstern hin. … Was sie hier wollte? Sie wußte es selbst kaum – eine geheimnißvolle, furchtbare Gewalt trieb sie wie der Sturm in den Lüften vor sich her; sie mußte laufen und sehen und wußte doch, daß gerade der Anblick der Glücklichen ihr wie Dolchstiche das Herz zerfleischen würde.

In dem Salon, wo der Flügel stand, waren die weißen Rollvorhänge herabgelassen; kein Schatten einer menschlichen Gestalt bewegte sich hinter dem transparenten Gewebe, man lauschte, wie es schien, regungslos dem meisterlichen Spiele. Dagegen waren die drei Fenster des anstoßenden Zimmers, in dessen Nähe das junge Mädchen stehen geblieben war, nicht verhüllt. Das Licht des Kronleuchters floß in grellem Glanze durch die Scheiben und auf die Fürstenbilder, die im Hintergrunde des Zimmers von der Wand herabsahen. Das war der Speisesaal; hier hatte das Verlobungsdiner stattgefunden; zwei Lakaien waren beschäftigt, die Tafel abzuräumen; sie hielten die angebrochenen Flaschen gegen das Licht und tranken die Reste aus den Weingläsern.

Die Schlußakkorde des Musikstückes waren längst verhallt, und noch stand Margarete neben einer der niederen Kugelakazien, welche da und dort das Rankrosenspalier unterbrachen. Der Wind warf ihr das Haar von Stirn und Schläfen zurück und stäubte die gelockerten Schneereste von dem dürren Gezweig des Bäumchens über sie her. Sie fühlte es nicht. Ihr Herz hämmerte in der Brust, mühsam rang sie nach Athem, während ihre heißen Augen unablässig über alle unverhüllten Fenster irrten – einmal mußten sich die Glücklichen doch zeigen. O, der Thörin, die in Wind und Wetter harrte und aushielt, um einen tödlichen Streich zu empfangen!

Da wurde plötzlich eine Thür, ziemlich am Ende der Hausfronte, geöffnet. Aus einem schwachbeleuchteten Entrée trat ein Mann und stieg die niedere Freitreppe herab, während die Thür hinter ihm wieder geschlossen wurde.

Einen Augenblick stand die Lauscherin wie gelähmt vor Schrecken. Das Rosenspalier hinderte sie, über den Rasengrund in die Dunkelheit des freien Feldes hinaus zu flüchten, und vor ihr lag der lange, fast tageshell beleuchtete Kiesplatz. Aber da gab es kein Besinnen, gesehen wurde sie, und nur ihre flinken Füße konnten sie vor einer unausbleiblichen Demüthignng retten. So floh sie wie gejagt den Kiesplatz entlang und über die Ausfahrt vor dem westlichen Portal des Schlößchens hinaus ins Freie.

Hier packte sie der Wind; er trieb sie vor sich her wie eine Schneeflocke und erleichterte ihr die Flucht; allein weder er, noch ihr eigenes Dahinfliegen konnten ihr helfen - die Männerschritte, die sie verfolgten, kamen näher und näher. Der Weg war glatt und schlüpfrig geworden, sie glitt plötzlich aus und sank auf ein Knie nieder – in diesem Moment eines namenlosen Entsetzens umfaßte sie ein kräftiger Arm und hob sie empor.

„Spottdrossel, hab’ ich Dich?“ rief Herbert und schlang auch den anderen Arm um das athemlose, an allen Gliedern bebende Mädchen, „Nun sieh, wie Du wieder frei wirst! Mit meinem Willen niemals! Der ,Spottvogel‘, der mir unbesonnen ins Garn geflogen ist, gehört mir von Gott und Rechtswegen! Bist Du’s wirklich, Margarete? – Ah, ‚Sie ist gekommen in Sturm und Regen‘!“ recitirte er und verhaltener Jubel durchbebte seine Stimme.

Sie strebte vergebens, sich loszuwinden, er umschloß sie desto fester. „O Gott, ich wollte –“

„Ich weiß, was Du wolltest,“ unterbrach er die fast weinend hervorgestoßenen Worte. „Du wolltest die Erste sein, die dem Onkel gratulirte! Deßhalb bist Du durch Sturm und Wetter über weite, öde Felder gelaufen, hast vor lauter Eifer vergessen, [324] eine warme Hülle über Deinen Tollkopf zu werfen, und bei alledem hast Du Dich rettungslos verflogen und wirst obendrein Deine Glückwünsche nicht loswerden, es sei denn, daß wir umkehrten und dem Prinzen Albert von X. und seiner Braut unsere Aufwartung machten. Aber Du wirst einsehen, daß Dein windzerzauster Lockenkopf in diesem Augenblick nicht gerade salonfähig ist.“

Jetzt hatte sie sich losgerissen. „Dein Glück macht Dich übermüthig!“ stieß sie in schmerzlichem Zorn hervor. „Das ist ein grausamer Scherz!“

„Ruhig, Margarete!“ mahnte er mit sanftem Ernst, indem er sie wieder an sich zog und ihre widerstrebende Hand fest in seine Linke nahm. „Ich scherze nicht. Fräulein von Taubeneck ist nach längerem Hoffen und Harren endlich mit hoher, landesherrlicher Bewilligung die Braut des Prinzen von X. geworden; und jetzt darf es ja ausgesprochen werden, daß ich in dieser Angelegenheit der Vermittler gewesen bin. Die rothe Kamelie, mit welcher ich neulich dekorirt wurde, war ein Dankesausdruck für meine sieggekrönten Bemühungen … Darin also hast Du schwer geirrt. Dagegen muß ich Dir nach einer anderen Seite hin Recht geben. Ich bin wirklich übermüthig! Ich triumphire! Ist mir nicht mein Glück von selbst in die Arme gelaufen? Ja, bist Du nicht gekommen ,in Sturm und Regen‘, getrieben von böser Eifersucht, die ich längst in Deinem Herzen gelesen habe? Denn Du bist und bleibst die Grete, deren gerades, offenes Wesen keine Weltpolitur hat schädigen können. Nun leugne noch, wenn Du kannst, daß Du mich liebst –“

„Ich leugne nicht, Herbert!“

„Gott sei Dank, er ist begraben, der alte Onkel! Und Du bist fortan nicht meine Nichte, sondern –“

„Deine Grete –“ sagte sie mit schwacher Stimme, von dem jähen Wechsel zwischen Glück und Leid völlig überwältigt.

„Meine Grete, meine Braut!“ ergänzte er mit siegerhaftem Nachdruck. „Nun wirst Du auch wissen, weßhalb ich es abgelehnt habe, Dein Vormund zu werden.“

Er hatte sich längst so gestellt, daß er sie mit seiner hohen Gestalt vor dem brausenden Winde schützte; nun bog er sich nieder und küßte sie innig; dann nahm er den Seidenshawl von seinem Halse und band ihn sorglich über ihr unbedecktes Haar.

Nunmehr schritten sie in raschem Tempo der Fabrik zu; und dabei erzählte er der Aufhorchenden, daß er von der Universitätszeit her mit dem jungen Fürsten von X. befreundet sei. Derselbe habe ihn gern und gebe viel auf sein Urtheil. Vor einem halben Jahre nun habe der jüngere Bruder des Fürsten die schöne Heloise am Hofe ihres Onkels kennen gelernt und eine tiefe Neigung für sie gefaßt. Diese Neigung sei auch von ihrer Seite erwidert worden, und ihr Onkel, der Herzog, habe dieselbe begünstigt. Dagegen sei der fürstliche Bruder ein entschiedener Gegner der Verbindung gewesen, auf Grund der illegitimen Geburt der jungen Dame. Der Herzog habe schließlich ihn, Herbert, in das Geheimniß gezogen und die Vermittelung in seine Hand gelegt, und daß dieselbe zum glücklichen Ziele geführt, beweise die heutige Feier im Prinzenhofe.

„Hast Du das wundervolle Klavierspiel gehört?“ fragte er zum Schluß.

Sie bejahte.

„Nun, das war er, der Bräutigam, der sein Glück in alle Lüfte hinaus jubelte … Morgen wird unsere gute Stadt auf dem Kopfe stehen vor Erstaunen über das Ereigniß. An beiden Höfen ist das strengste Stillschweigen beobachtet worden, und daß ich das Geheimniß ebenso streng behütet habe, versteht sich von selbst. Nur mein guter Papa hat darum gewußt. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er auch nur stutzig geworden wäre gegenüber dem allgemein kolportirten, albernen Märchen von meiner Bewerbung um Fräulein von Taubeneck’s Hand! … Aber mit Dir habe ich nun noch eine Rechnung abzumachen. Du hast mich für einen Erzbösewicht verschrieen, hast mir die schnödesten Bitterkeiten gesagt über mein Buhlen um Fürstengunst; einer jener gewissenlosen Streber sollte ich sein, die, über das Lebensglück Anderer hinweg, die höchste Spitze des ‚Kletterbaums‘ zu erreichen suchen, gleichviel, ob sie für eine hohe, verantwortliche Stellung befähigt sind oder nicht, und was dergleichen schöne Dinge mehr sind – was hast Du darauf zu sagen?“

„O, sehr viel!“ antwortete sie, und wenn es nicht tiefdunkle Nacht gewesen wäre, so hätte er sehen müssen, wie das liebliche, schalkhafte Lächeln, das ihn beim ersten Wiedersehen an der „übermüthigen Grete“ überrascht und entzückt hatte, ihr Gesicht belebte. „Wer hat mich geflissentlich in dem Glauben bestärkt, daß der Landrath Marschall um die Nichte des Herzogs freie? Du selbst. Wer hat das schlimme Feuer der Eifersucht in einem armen Mädchenherzen entfacht und böswillig zur hellen Flamme angeblasen? Du, nur Du! Und wenn ich anfänglich nicht glauben konnte, daß Du Liebe, wahre, tiefe Liebe für die schöne, aber erschrecklich indifferente Heloise fühltest, so geschah das aus Respekt vor Deiner geistigen Ueberlegenheit, und ich mußte, wie die böse Welt auch, zu dem Schluß kommen, daß die weißen Hände der herzoglichen Nichte erkoren seien, Dich auf die höchste Staffel des Kletterbaumes, den Ministerposten, zu heben … Abbitten werde ich nicht mehr – wir sind quitt! Du hast selbst glänzend Revanche genommen. Denke nur an das arme Mädchen, das Du bei Nacht und Nebel zu einem ‚Gang nach Canossa‘ getrieben hast!“

Er lachte leise in sich hinein. „Das konnte ich Dir nicht ersparen – ich habe ja selbst dabei gelitten. Aber es war doch schön, zu beobachten, wie Du mir Schritt um Schritt näher kamst! … Nun aber genug des Kampfes! Friede, seliger Friede sei zwischen uns!“ Er schlang seinen Arm um ihre Schultern, und nun ging es in wahrem Sturmschritt fürbaß.


29.

Am anderen Morgen war es, als sei die gute Stadt B. durch plötzlichen kriegerischen Trommelwirbel aus dem gewohnten Geleise des Werkeltages aufgeschreckt worden. Das Gerücht von der Verlobung im Prinzenhofe lief von Mund zu Mund, und daß keine Menschenseele auch nur „eine blasse Ahnung“ davon gehabt hatte, ja, daß selbst die Damenkränzchen mit ihrem unbestrittenen Monopol für Spürsinn und Kombinationen so stockblind gewesen waren, das machte allerdings die Leute nahezu auf dem Kopfe stehen.

Durch das Stubenmädchen kam auch die alarmirende Nachricht brühwarm in das Schlafzimmer der Frau Amtsräthin.

„Unsinn!“ rief die alte Dame verächtlich, fuhr aber doch mit beiden Füßen aus dem Bette und stand nach wenigen Minuten in Schlafrock und Nachthäubchen vor ihrem Sohne.

„Was ist das für ein fabelhaft dummes Gerede über Heloise und den Prinzen von X., das die Bäckerjungen und Metzgerfrauen von Haus zu Haus tragen?“ fragte sie, das Thürschloß in der Hand.

Er sprang auf von seinem Schreibstuhl und bot ihr die Hand, um sie tiefer ins Zimmer zu führen; aber sie wies ihn zurück. „Lasse das!“ sagte sie hart. „Ich habe nicht die Absicht, hier zu bleiben. Ich will nur wissen, wie es möglich ist, daß ein solch grundloses Gerücht entstehen konnte.“

Er zögerte einen Moment. Sie that ihm leid, daß sie diesen bitteren Kelch leeren mußte, wenn sie auch selbst die Schuld trug; aber nun sagte er ruhig: „Liebe Mama, die Leute reden die Wahrheit, Fräulein von Taubeneck hat sich allerdings gestern mit dem Prinzen von X. verlobt.“

Das Thürschloß entglitt ihrer Hand – sie fiel fast um. „Wahr?“ stammelte sie und griff nach ihrer Stirn, als zweifle sie an ihrem eigenen Verstande. „Wirklich wahr?“ wiederholte sie und sah ihren Sohn mit funkelnden Augen an; dann brach sie in ein hysterisches Gelächter aus und schlug die Hände zusammen. „Da hast Du Dich ja schön an der Nase herumführen lassen!“

Er blieb vollkommen gelassen. „Ich bin nicht geführt worden, wohl aber habe ich das Brautpaar zusammengeführt,“ entgegnete er ohne die mindeste Gereiztheit und knüpfte daran mit wenig Worten die Mittheilung des Sachverhaltes.

Sie hatte ihm, während er sprach, immer mehr den Rücken gewendet und nagte erbittert an der Unterlippe. „Und das Alles erfahre ich jetzt erst?“ fragte sie, nachdem er geendet, mit zuckenden Lippen über die Schulter zurück.

„Kannst Du von Deinem Sohne wünschen, daß er ein ihm anvertrautes Geheimniß vor Damenohren laut werden läßt? Ich habe nach Möglichkeit gegen Deinen Irrthum angekämpft; ich habe Dir oft genug erklärt, daß mir Fräulein von Taubeneck vollkommen gleichgültig sei, daß es mir nicht einfiele, mich je ohne

[325]

Die Wittwe des Märtyrers. Nach dem Oelgemälde von G. Becker.
Photogravure von Goupil u. Comp. (Boussod, Valadon u. Comp.) Berlin und Paris.

[326] Liebe zu binden. Du hast für alle diese Versicherungen stets nur ein geheimnißvolles Lächeln und Achselzucken gehabt –“

„Weil ich sah, wie Dich Heloise mit ihren Blicken verfolgte und –“

Er erröthete wie ein Mädchen. „Und ist das nicht einseitig gewesen? Kannst Du dasselbe von mir behaupten? Fräulein von Taubeneck ist sich ihrer Schönheit bewußt und kokettirt mit Allen. Solche Blicke sind wohlfeil – mir machen sie nicht den geringsten Eindruck. Du aber solltest doch wissen, daß das ein leichter amüsanter Tauschhandel ist, den die Meisten für erlaubt und durchaus nicht für verpflichtend halten. Fräulein von Taubeneck wird trotz alledem eine brave Frau werden – dafür bürgt schon ihre große Gemüthsruhe.“

Die Thür fiel wieder zu, und die alte Dame verschwand mit blassem, verstörtem Gesicht abermals in ihrem Schlafzimmer. Aber eine Stunde später eilte das Stubenmädchen zur Schneiderin und in die Putzhandlung, und der Hausknecht rumorte auf dem Boden und schleppte verschiedene Koffer und Köfferchen die Treppe hinab – die Frau Amtsräthin wollte nach Berlin zu ihrer Schwester reisen.

Und als gegen Mittag der Amtsrath seinen Einzug hielt und am Arme seines Sohnes die Treppe im Lamprechtshause hinaufstieg, da kam just seine Frau im Pelzmantel und Schleierhut von oben herab, um in der Stadt Abschiedsbesuche zu machen. Sie sprach überall von ihrem längstgehegten, sehnsüchtigen Wunsche, doch auch wieder einmal eine gute Oper und Koncerte zu hören, der sie nunmehr unwiderstehlich nach Berlin locke. Das Ereigniß im Prinzenhofe wurde nur nebenbei berührt und lächelnd als etwas längst Gewußtes behandelt, über das sich selbstverständlich jedes loyale Herz innig freuen müsse; der Allerintimsten aber flüsterte sie ins Ohr, daß sie den anfänglichen Widerstand des Fürsten von X. sehr wohl begreife – es sei nicht Jedermanns Sache, die Tochter einer ehemaligen Ballerina in seine Familie aufzunehmen. –

Mit ihrer Abreise wurde es für einige Tage still und friedlich im alten Kaufmannshause; aber dann kam noch ein Sturm, der allen Bewohnern das Herz erbeben machte. Reinhold mußte endlich die Umwandlung der Familienverhältnisse erfahren. Der alte Amtsrath und Herbert waren möglichst vorsichtig zu Werke gegangen; allein die Enthüllungen hatten trotz alledem die Wirkung einer zerspringenden Bombe gehabt. Reinhold gerieth in eine furchtbare Aufregung. Er schrie und tobte und erging sich in den heftigsten Anklagen gegen seinen verstorbenen Vater. Sein leidenschaftlicher Protest half ihm freilich nichts, er mußte sich schließlich fügen. Aber von da an zog er sich noch mehr als früher zurück von der Familie – er aß sogar allein auf seinem Zimmer, aus Furcht, daß er dem kleinen Bruder einmal in der Wohnstube begegnen könne; denn mit „dem Burschen“ wolle er nie und nimmer etwas zu schaffen haben, und wenn er hundert Jahre alt werden solle, wiederholte er immer wieder.

Für diesen Ausspruch hatte der alte Hausarzt immer nur ein melancholisches Lächeln – er wußte am besten, wie es um die Altersaussichten seines Patienten stand. Er forderte deßhalb möglichste Nachgiebigkeit und Schonung von Seiten der Verwandten für den Kranken, und das geschah bereitwilligst. Der kleine Max kreuzte seinen Weg nie. Die Thür nach dem Packhause war nicht zugemauert worden; auf diesem Wege wurde der lebhafte Verkehr zwischen dem Vorder- und Hinterhause vermittelt … Der Amtsrath hatte den prächtigen Knaben an sein Herz genommen, als sei er auch ein Kind seiner verstorbenen Tochter, und Herbert war sein Vormund geworden.

In Stadt und Land machte, wie vorausgesehen, das geoffenbarte Geheimniß des Lamprechtshauses großes Aufsehen; es blieb lange Tagesgespräch, und in den Klubs, den Damenkränzchen und auf den Bierbänken wurde für und wider debattirt – die Lamprechts wurden in der That „auf das Allerschönste zerzaust“. Dieser Widerstreit blieb jedoch ohne jedwede Einwirkung auf das jetzige friedvolle Zusammenleben in Großpapas Zimmer, dem rothen Salon. Man kam da täglich zusammen, ein enger Kreis von Menschen, die innige Liebe und Zuneigung verband. Und auf dieses Bild der Eintracht zwischen Alt und Jung sah „die Frau mit den Karfunkelsteinen“ lächelnd und augenstrahlend herab.

„Die Schönheit der Frau da oben ist so dämonisch und packend, daß man sich vor ihr fürchten könnte,“ sagte Frau Lenz eines Abends erblassend zu Tante Sophie, die neben ihr auf dem Sofa saß und Margaretens Namensziffer in eine Ausstattungsserviette stickte. Eine Lampe stand auf der Kommode unter dem Bilde, und aus dem Lichtstrom tauchte das junge Weib so lebenathmend empor, als werde es im nächsten Augenblick die Lippen öffnen, um auch ein Wort in die Unterhaltung zu werfen.

„Dieser verderbliche Zauber muß sich meiner armen Blanka förmlich an die Fersen geheftet haben, als sie von hier wieder in die Welt hinausgegangen ist,“ setzte die alte Frau mit gepreßter Stimme hinzu. „Sie hat sich am liebsten mit den Steinen geschmückt, die dort in den dunklen Haaren stecken, und in ihren letzten Fieberträumen hat sie mit der schönen Dore gerungen, die – ‚sie mitnehmen wolle‘.“

Der Landrath stand auf und rückte die Lampe fort, sodaß die Gestalt wieder ins Halbdunkel zurücktrat.

„Ich habe die Rubinsterne heute in den Händen gehabt und sie weggeschlossen … In Dein Haar werden sie nie kommen!“ sagte er zu Margarete.

Sie lächelte. „Denkst Du wie Bärbe?“

„Das nicht – aber an ‚den Neid der Götter‘ muß ich denken. Und so mag das unheimliche rothe Gefunkel für künftig in Frieden ruhen!“

Bärbe aber sagte fast zu derselben Stunde drunten in der Küche zu den Anderen: „Der Weg, den unser Junge jetzt alle Tage durch den Gang machen muß, will mir aber nicht gefallen. Die mit den Karfunkelsteinen hat ihr Kindchen mit in die Erde nehmen müssen, und da ist nun so ein schöner, strammer Stammhalter dageblieben, und das macht boshaftig.“

„Jetzt müssen Sie sich aber die Zunge abbeißen, Bärbe!“ sagte der Hausknecht. „Sie haben ja von dem Unwesen in Ihrem ganzen Leben nicht wieder sprechen wollen.“

„Ach was, ‚einmal ist keinmal‘! Am besten wär’s, der Gang würde vermauert; denn wer kann’s wissen, ob nicht jetzt gar auch noch der schöne Flachskopf neben der Schwarzhaarigen umgehen thut?“ …

Der Glaube an dunkle Mächte wird nicht sterben, so lange das schwache Menschenherz liebt, hofft und fürchtet!


Eine Verschwörung.

Von Johannes Scherr.


1.0 Von einer Rabenmutter und einem Säbelheiland.

Rabenmutter Revolution hatte, wie Vergniaud es trauervoll vorhergesagt, viele ihrer besten und auch manche ihrer schlechtesten Söhne verschlungen. Allerschlechteste, wie die Barère, Fouché und Talleyrand, hatte sie verschont, weil ja im öffentlichen Leben, wie im privatlichen, grundsatzlose Streber und abgefeimte Schufte das meiste Glück haben. Die Rabenmutter hatte sich aber in ihrer wahnwitzig-terroristischen Verschlingungsgier den Magen so mit Blut überladen, daß sie schließlich zerbarst – am 9. Thermidor (27. Juli) von 1794.

Der robespierre’schen Diktatur des Schreckens folgte die thermidorische Anarchie und dieser das direktoriale Regiment der Lüderlichkeit. Dann schmiegte sich Voltaire’s „Tiger-Affe“, durch die eigenen wüthenden Leidenschaften müdegehetzt, als eine richtige Schmeichelkatze dem korsischen Abenteurer zu Füßen, welcher es verstand, einem vom „Tollrausch“ der „Freiheit“ kläglich ernüchterten Volke die Tyrannei des Säbels als einzige Rettung aus gränzenlosem Elend aufzuschwindeln.

Von einer gerechten Würdigung der französischen Staatsumwälzung konnte zunächst keine Rede sein. Namentlich in Frankreich nicht. Die ungeheuren Geschehnisse standen den Menschen noch so nahe, daß sie ihrem ganzen Umfange, ihrer ganzen Bedeutung und Wirkung nach gar nicht zu überblicken und zu schätzen waren, sondern vielmehr mit ihrer Wucht die Unbefangenheit des [327] Urtheils geradezu erdrückten. Darum erschien die Vergangenheit schon im verschönernden Lichte der Ferne. Alle die namenlosen Leiden, welche zur Zeit des Ancien Régime der Despotismus über das französische Volk gebracht hatte, galten jetzt, auf der Schwelle zum 19. Jahrhundert, für nichts, verglichen mit den in frischester Erinnerung stehenden Nöthen, womit die terroristische Blutraserei und die alle socialen Bande lösende Anarchie Frankreich geschlagen. Nicht die selbstlosen Idealisten und ehrlichen Enthusiasten, welche die Revolution begonnen hatten, lebten im Gedächtnisse der Franzosen vom Jahre 1800, sondern nur die hirnlosen Phantasten, welche die Bewegung fortgesetzt und überspannt, sowie die steinherzigen Fanatiker, welche dieselbe besudelt, und die selbstsüchtigen Schurken, welche sie zu Grunde gerichtet hatten.

Die Erkenntniß des Guten und Großen, was die Revolution angeregt, vollbracht und geschaffen, ging erst späteren Geschlechtern auf. Beim Eintritt in das neue Jahrhundert waren aber die Franzosen mit verschwindend wenigen Ausnahmen leidenschaftlich widerrevolutionär gestimmt und sie blickten nur mit den Gefühlen der Erbitterung, des Abscheu’s und der Rachgier auf die Jahre zurück, welche sie unter allen den Schrecknissen, Gefahren und Mühsalen, die ein wüstes Pöbelregiment, eine räuberische und mörderische Sansculotterie mit sich gebracht, hatten durchleiden müssen. Es stand ihnen ja in schmerzlicher Erinnerung, was das verfälschte Evangelium von der „liberté, égalité et fraternité“, in die Wirklichkeit übersetzt, zu bedeuten hätte. Sie wußten jetzt oder glaubten wenigstens zu wissen, daß dieses Symbolum nur eine Maske für leichtfertige Abstraktoren, betrogene Betrüger und herzlose Bösewichte gewesen sei. Auch an dem seit einem Jahrzehnt unaufhörlich schwirrenden parlamentarischen Schwatz hatten die Franzosen schließlich sich verekelt. Die ganze Nation war nachgerade phrasenmüde geworden oder wollte wenigstens, daß die Phrasendrehorgel wieder einmal auf eine andere Tonart gestimmt würde. Vor allem wollten die Leute Ruhe haben, Ruhe, Ruhe, Ruhe um jeden Preis! Ja, sie lechzten nach Ruhe und Ordnung, auf daß sie wieder in Sicherheit den Pflug führen, Gewerbe und Handel treiben, essen, trinken, heiraten, sich amüsiren, schlafen, in ihren Betten sterben und schließlich anständig begraben werden könnten. An den Säbel Bonaparte’s glaubten sie als an einen allmächtigen Zauberstab, welcher ihnen „Brot und Spiele“ schuf und zudem als ein wundersamer Schwertfiedelbogen sich auswies, der dem gallischen Größewahn zum hochwillkommenen Gloiretanz aufspielte.

Daß dieser Säbel eigentlich ein cäsarisches Skepter, das war gleich nach dem 18. Brumaire (9. November) von 1799 für alle denkenden Franzosen eine ausgemachte Sache. „Wir haben einen Herrn, und zwar einen Herrn, der alles weiß, will und wagt“ – sagte sauersüß der Verfassungenfabrikant Sieyès, als er vom ersten Rathschlag der drei Konsuln herauskam, allwo Bonaparte ohne Umstände den Vorsitz genommen und diktatorisch gesprochen hatte. Schon an jenem Tage wurde dem neuen Staatsbau der Stämpel einer absoluten Despotie aufgedrückt. „Ich bin nicht gemacht zu einem konstitutionellen König-Mastschwein à la König von England,“ sagte wachtstüblich-drastisch der neue Gebieter Frankreichs. Die verfassungsstaatlichen Ornamente, womit die Konsularverfassung herausgeputzt wurde – (Gesetzgebender Körper, Senat, Tribunal) – erwiesen sofort ihre kläglich-gipserne Natur und es war nur ein Hohn, so eines Tiberius würdig gewesen wäre, wenn der Erste Konsul solche Statisten wie Roger-Ducos und Sieyès, dann Lebrun und Cambacérès als „Mitkonsuln“ eine Weile um sich duldete und allergnädigst gestattete, daß sein Frankreich noch etliche Jahre lang amtlich eine Republik hieße.

Auf die Walstätten der italischen Feldzüge von 1796–97 hatte Bonaparte mit der Spitze seines Siegerdegens das falsche Testament der Revolution geschrieben, kraft dessen er sich als ihren „legitimen Erben“ Frankreich auflog. Denn an diesem Menschen war alles Lüge, ausgenommen sein Genie und seine Selbstsucht. Diese überragte jenes noch weit. Denn alles zusammengehalten, konnte der Mann, wenigstens innerhalb der Zeit seines aufsteigenden Sterns, den Menschen nur darum so riesengroß erscheinen, weil seine Gegner so zwerghaft klein waren. Es erforderte ja fürwahr keine übermenschliche Kraft, Kunst und Mühe, unter lauter Liliputanern sich als ein Gulliver aufzuspielen. Man hat es bekanntlich dem Göthe verübelt, daß er vor dem Bonaparte so gewaltigen Respekt gehegt. Aber, du lieber Gott, wenn der kosmopolitische Dichter aus dem Schneckenhause seiner krähwinkeligen Ministerschaft heraus mit ansah, wie der französische Machthaber mit dieser armsäligen Gesellschaft von Fürsten, Generalen und Ministern umsprang, die er so zu sagen im Handumdrehen aus Gegnern zu Vasallen und Dienern machte, da mußte er doch wohl vom Bonaparte denken wie Shakspeare’s Cassius vom Cäsar: –

„Fürwahr, er schreitet durch die enge Welt
Wie ein Koloß daher, derweil die Zwerge
Ihm zwischen den Gigantenbeinen wuseln.“

Als einen Haupthebel seines staunenswerthen Glückes handhabte der „Erbe der Revolution“ seine gränzenlose Menschenverachtung. Er wußte die Leute bei ihren Schwächen, ihren schlechten Instinkten und gemeinen Leidenschaften zu fassen und darum hatte er sie und war er ihres Gehorsams und ihrer Dienste sicher. Denn nur in selten wiederkehrenden und immer schnell welkenden Frühlingen der sogenannten Weltgeschichte ist es von Wirkung und Erfolg, an die edleren Triebe der Menschen zu appelliren. Der idealischc Aufschwung ist dauerlos, das realistische Bedürfniß dauerhaft. Die Begeisterung ist eine hochauflodernde, aber zumeist rasch sich verzehrende Flamme, die Freude an einem sorglos-genüsslichen Dasein eine langhin glostende Kohle. Auf das Gemeine demnach, woraus unserem großen Propheten des Idealismus zufolge „der Mensch gemacht ist“, muß seine Berechnungen bauen, wer die Völker beherrschen will. Seit Oktavian Augustus hatte das kein Despot mehr so gut gewußt und so keck bethätigt, wie Bonaparte es wußte und bethätigte. Und wie er die Menschen allgemein verachtete, so die Franzosen ganz besonders. Dieser Verachtung gab er gelegentlich schroff-grobianischen Ausdruck. So schon an jenem Junitag von 1797, allwo er mit Miot und Melzi im Parke von Montebello spazierenging und sich über die „eine und untheilbare Republik“ Frankreich lustigmachte. „Das ist nur eine Chimäre, für welche die Franzosen augenblicklich schwärmen, die aber so schnell vorübergehen wird wie andere Chimären. Gloire brauchen die Franzosen, Kitzelungen ihrer Eitelkeit; aber Freiheit? Bah, davon verstehen sie nichts. Kinderklappern muß man ihnen geben, das genügt. Sie werden sich damit die Zeit vertreiben und sich leiten lassen, falls man ihnen nur geschickt das Ziel verbirgt, welchem man sie zuführt“ – (Miot, Mem. I, 163–64).

So war es. Der Menschenverächter hatte richtig vorhergesehen. Mit wahrhaft asiatischer Sklavenhaftigkeit stürzten sich die Franzosen, die ihnen in die Hände gedrückten Gloire-Kinderklappern schüttelnd, in die Knechtschaft, welche ihnen ihr Vergewaltiger vom 18. Brumaire aufthat. Das Wort „Gesellschaftretter“ war dazumal noch nicht erfunden. Es kam erst ein Halbjahrhundert später auf, als der vorgebliche Neffe des angeblichen Onkels seinen 18. Banditen-Brumaire verübte, den 2. December von 1851. Im Jahre 1800 sprach man dafür von einem „Wiederhersteller (restituteur) der Gesellschaft“, als welchen, wie auch als „Wiederaufrichter der Altäre“, den Ersten Konsul einer jener Glattschwätzer anschmeichelte, welche jedes gelungene weltgeschichtliche Verbrechen lobpsallirend beflöten und beharfen, Monsieur de Fontanes, ein gelungener Typus jenes knechtschaffenen Gelehrten- und Literatenthums, das allzeit und überall um die Gunst des Erfolges und der Macht wettkroch, wettkriecht und wettkriechen wird.

Mit alledem soll nicht bestritten werden, daß Frankreich, das Frankreich von 1800, eines Herrn und Meisters dringend bedurfte, der mit einem Willen von Erz und mit einer Hand von Stahl in dem chaotischen Trümmerhaufen, zu welchem die liebe „Freiheit, Gleichheit und Bruderschaft“ das Land gemacht hatte, wieder Ordnung schuf. Ursprünglichkeit der Anschauung, eigene und neue Gedanken brauchte der „Wiederhersteller der Gesellschaft“ nicht zu haben. Ideen und Tendenzen lieferte ihm die gewaltsam beerbte Revolution genug. Er eignete sich davon an, was ihm in den Kram seines Despotismus zu passen schien, und wo sie sich nicht in denselben hineinpassen lassen wollten, verfälschte er sie unbedenklich oder verkehrte sie geradezu in ihr Gegentheil. Das Reich der Schönheit war und blieb ihm verschlossen. Für Poesie nahm er die rhetorische Phrase. Erziehung, Wissenschaft und Unterricht waren für ihn nur soweit vorhanden und berechtigt, als sie ihm anstellige Ingenieure, tüchtige Officiere und brauchbare Beamte lieferten. Alles ideale Streben verfolgte er mit unerbittlichem Haß. [328] Ganz natürlich also, daß ihm der Staat nichts war als ein blindlings seiner herrschenden Hand gehorchender Mechanismus, eine komplicirte und wohlgeölte Polizeimaschine, deren Räder in stummem Gehorsam zu arbeiten hatten. Auch die von ihm „wiederhergestellte“ Kirche sollte nur ein solches Rad in der besagten Maschine sein. Neben die eine Grundsäule des bonaparte’schen Staates, den Gendarm im Uniformsfrack, wurde als andere der Gendarm in der Soutane hingestellt, der Priester. Mittels der Thätigkeit und Wachsamkeit dieser weltlichen und geistlichen Gendarmerie war das Regiment im Innern dergestalt bestellt, daß es dem französischen Volke wieder möglich, sein Brot, obzwar im Schweiße seines Angesichts, aber doch in Sicherheit zu erarbeiten. Für die „Spiele“, für die Ausstaffirung der bewußten Gloire-Kinderklapper mit mehr und mehr Schellen, für immer gesteigerte Kitzelungen der Nationaleitelkeit, für buntwechselnde Befriedigungen der Schaulust der lieben Pariser sorgte die auswärtige Politik des Bonapartismus, – sorgte dafür immer eifriger, rücksichtsloser, heftiger, bis zuletzt die zügellose Eroberungswuth und Herrschaft des weiland armen Schluckers von Artillerieleutnant sogar im Imperatorenmantel sich beengt fühlte und zu dem bekannten Kaiserwahnsinn ausschlug, dessen rasende Launen die Glückgöttin schließlich so verstimmten, daß sie ihrem so lange gehätschelten Galan hohnlachend den Rücken kehrte.


2.0 Warum die Verschwörung gemacht wurde.

Mittels der Siegesschläge von Marengo und Hohenlinden – jener geführt von Bonaparte am 14. Juni, dieser gethan von Moreau am 3. December 1800 – hatte die französische Republik der deutschen Reichsruine und Oestreich den Friedensschluß von Lüneville abgezwungen (8. Februar 1801), allwodurch Deutschland etwa 1150 Quadratmeilen Gebiet mit nahezu 3,500,000 Bewohnern einbüßte. Der deutsche Michel war ja dazumal, wie seit dem 16. Jahrhundert allzumal, der bekannte Prügeljunge der Weltgeschichte und mußte sich alles gefallen lassen. Auch den „Reichsdeputationshauptschluß“, wie man das jammersälige Ding bandwurmig nannte, vom 25. Februar 1803, das Vorwort zu jenem schmachtriefenden Blatt unserer Geschichte, worauf bald das Kapitel „Rheinbund“ geschrieben werden sollte, geschrieben vom „Protektor“ Napoleon und unterthänigst unterzeichnet von unseren vieltheuren „Angestammten“.

Noch vor dem Reichsdeputationshauptschluß war in Amiens zwischen Frankreich und England ein Friedensschluß zustandegekommen (27. März 1802). Freilich nur ein Scheinding, nur eine Friedensphrase, von englischer Seite unterhandelt und zuwegegebracht durch das Ministerium Addington, welches im übrigen den Pittismus fortsetzte, obzwar ohne Pitts Geist und Energie. Die große Mehrzahl des englischen Volks begrüßte diesen zu Amiens todtgeborenen Friedensengel mit ausgelassener Freude – „with extravagant joy“, sagt ein vollwichtiger Zeuge. Es wußte ja nicht, wie wenig ernsthaft seine herrschende Oligarchie den Frieden nahm, diese englische Oligarchie, welche wie an Tugenden: Muth, Standhaftigkeit, Zähigkeit – so auch an Lastern: steinherzigem Hochmuth, brutaler Selbstsucht, broncestirniger Heuchelei – glücklich mit der altrömischen wetteiferte. Allerdings war sie zum Mißtrauen gegenüber dem neuen Herrn Frankreichs berechtigt, insofern derselbe ja bereits als ein sehr gefährlicher Konkurrent im Länderverschlingungs- und Völkerausbeutungsgeschäft sich ausgewiesen hatte. Solche Konkurrenz war im grünen Neidauge der Großkrämerin Britannia nicht nur ein schmerzender Splitter, sondern ein ganzer Qualbalken. Die oligarchischen Geschäfteführer der englischen Großkrämereifirma erkannten scharfsichtig, daß der Frieden von Amiens nur einen Waffenstillstand bedeutete, weil die Gefahr der bonaparte’sch-französischen Konkurrenz eben bloß mittels eines Kampfes auf Leben und Tod beschworen werden könnte. Moralische Skrupel hinsichtlich der Mittel, diesen Kampf zu führen, kannte der englische Pharisäismus ganz und gar nicht. Alles, was zweckdienlich war oder auch nur schien, fand seine Billigung und Unterstützung. Das Ministerium der „hochherzigen Briten“ hielt in seinem Solde die ganze Bande französischer Emigranten, von den Prinzen des allerchristlichsten Hauses Bourbon bis herab zum letzten „Chouan“, um diese Bande bei Gelegenheit gegen Frankreich auszuspielen – sei es im offenen Felde oder aus dem Hinterhalt, als Soldaten oder als Attentäter und Meuchelmörder, je nachdem. Das „Geschäft“ brachte es so mit sich. Beweise für dieses Verhalten der englischen Oligarchen lagen handgreiflich vor. Die emigrirten französischen Royalisten trachteten dem Ersten Konsul nach dem Leben, sobald ihnen klargeworden, daß ihre Hoffnung, derselbe würde sich zur Rolle eines Monk hergeben, eine lächerliche Illusion gewesen. Mit englischen Staatsgeldern war jenes Komplott großgefüttert worden, welches, durch den charaktervollsten und entschlossensten Chouansführer, den Müllerssohn Georges Cadoudal aus dem Morbihan, fernher geleitet, am Abend vom 24. December 1800 in der Straße Sainte-Nicaise in Paris die „Höllenmaschine“ vergebens gegen Bonaparte losgebrannt hatte.

Der Erste Konsul hatte also seinerseits vollauf Ursache, dem „mordstiftenden Albion“ zu mißtrauen und zu glauben, die englischen Oligarchen meinten es mit dem Frieden von Amiens nicht ehrlich. Warum also sollte er es thun? Dennoch muß gesagt werden, daß der Bruch dieses Friedens nicht von dem französischen Machthaber ausging. Die Erneuung des Krieges mit England kam ihm dazumal sogar sehr ungelegen. Er hatte ja vorderhand noch in Frankreich selbst gar viel zu thun. Er mußte seine Gewalt befestigen, sein Verwaltungssystem ausbauen, die Finanzen neu ordnen, die Einführung des „Code civil“ vorbereiten und das Konkordat durchsetzen, nebenbei auch mit seiner „Mediation“ die Schweiz beglücken, d. h. in höflicher Form dieselbe zu einem französischen Vasallenland machen, und endlich mußte er den allbereits fertiggeschneiderten Kaisermantel anprobiren. Ihm war überdies gar wohl bewußt, daß, um den Engländern mit Aussicht auf Erfolg den Krieg machen zu können, die Herstellung einer großen Seestreitmacht unumgänglich wäre. Dazu aber, rechnete er, bedürfte es einer Frist von 7 bis 8 Jahren. Auf solange wünschte er demnach den Krieg mit England vertagt. Allein dieses merkte die Absicht und wurde so verstimmt, daß es schon im Mai von 1803 kriegerische Parlamentsbeschlüsse faßte. Darauf gab Bonaparte zur Antwort die Schaffung des Lagers von Boulogne, allworin 150,000 Mann, zum Einfall in England bestimmt, versammelt und aus republikanischen Wehrmännern vollends in kaiserliche Soldaten umgewandelt wurden. Die kolossalen Rüstungen zu Land und Wasser, welche der Erste Konsul damals betrieb, waren keineswegs eine bloße Spiegelfechterei. Der Plan einer Kriegsfahrt nach England war durchaus ernstgemeint und wurde bis in alle Einzelnheiten hinein mit außerordentlicher Sorgfalt vorbereitet.

Jenseits des Kanals hatte man ein sehr beängstigendes Gefühl der Gefahr, obzwar die Mandatare der „oberen Zehntausend“ sich noch für eine Weile den Anschein zu geben suchten, das, was drüben auf der französischen Küste vorging, nur für einen riesigen Humbug, für eine großartige Finte oder gar nur für eine thörichte Bramarbasenschaft anzusehen. Bald aber konnte man doch nicht umhin, in England die Sache ebenso ernst zu nehmen, als sie in Frankreich gemeint war, und eilends die ausgedehntesten Vorbereitungen zur Abwehr des Bedrohlichen zu treffen. Kriegerische Vorbereitungen und – meuchelmörderische. Helfe, was helfen mag, dachte der britische Pharisäismus, lief in die Kirche, schlug sich zerknirscht an die Brust und – steckte dem Georges Cadoudal eine Million zu, auf daß der Chouanshäuptling „nervum rerum“ besäße, in seiner Art gegen diesen verteufelten Bonaparte, der uns in unserm Inselkontor aufsuchen will, um unsern Großkram an der Wurzel zu vernichten, bourbonischen Krieg zu führen, Krieg bis aufs Messer!.

Daß die Verschwörung, welche nach ihrem Hauptmann Georges Cadoudal benannt ist, mit englischem Gelde gemacht wurde, kann gar keinem Zweifel unterstellt werden. Woher sonst hätten alle diese armen Schlucker von Emigranten, welche, vom Grafen Artois bis herab zum bettelhaftesten Exsoldaten von der „Condé’schen Armee“, sammt und sonders vom aus der englischen Staatskasse bezogenen Almosen lebten, die sehr bedeutenden Summen genommen, welche das Komplott kostete? Natürlich existiren keine den englischen Zahlmeistern von den Verschworenen ausgestellten Quittungen. Ueber derartige Machenschaften pflegen keine Protokolle aufgenommen und keine Aktenfascikel angelegt zu werden. Auch in lichtscheuen Zettelungen bewanderte und verhärtete Leute hegen ja ein gewisses Gefühl von Scheu, wenn nicht von Scham, ihre Nichtswürdigkeiten schwarz auf weiß vor sich zu sehen.

(Fortsetzung folgt.)

[329]

Der Kongo und die Gründung des Kongostaates.[1]

Bericht über das neue Werk von Henry M. Stanley.

Ein hoher Berg langer bedruckter Zettel liegt vor mir. Mit neugieriger Hast durchfliege ich Seite um Seite. Bald fühle ich mich wie von einem Zauber erfaßt, der Wirklichkeit entrückt, in eine andere Welt versetzt.

Fremdartig sind die Menschen, die ich schaue, fremdartig die Wälder und Berge, durch die ich schweife, und selbst das Licht, das auf die Landschaft niederstrahlt, ist so sonderbar, so eigenartig. Nicht das warme Gold, in dem die Wälder meiner Heimath erröthen, sendet hier das Tagesgestirn hernieder – über diesen „feierlich aussehenden Hügeln“ waltet der seltsame „afrikanische Sonnenschein“, der, trotz seiner Gluth einer Art stärkeren Mondlichts vergleichbar, die Schatten vertieft und das schwärzlich-grüne Laubwerk der Wälder verdunkelt. Seine Wirkung ist ein erkältender Ernst, eine unbeschreibliche Feierlichkeit.

Bald jedoch ändert sich das Bild. Mit tobenden Stürmen stürzen Regenmassen auf das stille, todte Land hernieder; weicher und anmuthiger wird der Anblick; auf den früher sonnverbrannten Flächen schaukeln üppige Grasfluren, und Vögelvölker und ganze Heerden von Rindern und Ziegen erfreuen das Auge.

Und jetzt ruhe ich im tiefen Schatten des Urwaldes; kreischende Papageienschaaren schwirren über meinem Haupte, und ihrem Zuge folgend, besuche ich weite Seen, deren tiefschwarze Gewässer geheimnißvoll mein staunendes Antlitz wiederspiegeln.

Orientirungskarte des Kongostaates und des centralafrikanischen Freihandelsgebiets.

Ein Land der Märchen und Wunder! Aber die Größe der Natur allein ist es nicht, die mein Sinnen und Trachten gefangen hält. Fesselnderes soll ich noch schauen als die Pracht der tropischen Urwälder und die Majestät eines gewaltigen Weltstromes. Zwischen Palmen und Bananen grüßen mich Werke der Menschenhand, von den Hügeln wehen Flaggen neugegründeter Siedelungen – Spuren des Kampfes, den der weiße Mensch mit der tropischen Natur unternommen, Zeichen der Siege, die er über ihre feindliche Macht errungen. –

Die langen bedruckten Streifen, aus denen es mich so zauberisch anweht, werden bald zu einem Buche geordnet, mit Bildern geschmückt, in Tausenden von Exemplaren in die weite Welt hinausgehen und vor den Nationen Europas zum ersten Male ein vollständiges Bild des mühseligen Ringens entrollen, das der Gründung eines afrikanischen Staatswesens voranging: das längst mit so großer Spannung erwartete Werk Stanley’s habe ich endlich in der Hand und will versuchen, einen Bericht über dasselbe zu schreiben.

Wer jemals in der Nothlage war, über ein gewaltiges Epos auf wenigen Seiten gedrängt zu berichten, der wird meine Verlegenheit begreifen; denn kein gewöhnliches Reisewerk ist es, was uns Stanley heute bietet, eine große Episode aus den Lebensschicksalen der Entdecker und Staatengründer liegt vielmehr vor unseren Augen ausgebreitet – reich fürwahr an Abenteuern und Kämpfen, an Hoffnungen und Enttäuschungen.

*      *      *

Das große Publikum ist genügend vorbereitet, um dieses Buch zu verstehen. Die früher so leere und einfache Karte von Afrika wird von Jahr zu Jahr bunter, reicher nicht allein an neu entdeckten Flüssen, Seen, Gebirgszügen und Städten, sondern auch an politischen Grenzen, welche aufblühende Machtbezirke der Kultur andeuten. Diese Veränderungen beschränken sich nicht allein auf die Küstengebiete, sie reichen schon tief in das Innere des dunklen Welttheils hinein. Quer durch das äquatoriale Afrika ist ein breiter Gürtel gezogen, der das Freihandelsgebiet darstellt, jenen unermeßlichen Länderstrich, auf dem alle [330] Völker im friedlichen Wettstreite die brachliegenden Felder der Kultur erschließen sollen. Den Mittelpunkt und sozusagen das Herz desselben bildet der junge Kongostaat, der, jetzt unter der Souveränetät Leopold’s II. von Belgien stehend, trotz der an Frankreich und Portugal abgetretenen Gebiete noch fünfmal so groß ist wie das Deutsche Reich und von etwa 43 Millionen Menschen bewohnt wird. An ihn grenzen im Norden und Westen die Besitzungen Frankreichs und im Süden die alten Kolonialgebiete der Portugiesen. Im fernen Osten leuchtet wie eine Oase inmitten „herrenloser Länder“ das deutsche Usagara, und auch dort, wo am unteren Kongo die Grenzen der neuen Staatsgebiete hart an einander stoßen, weht von den Stationsgebäuden Nokkis unsere Flagge, ein kleines deutsches Gebiet bezeichnend, das bestimmt ist, den Ausgangspunkt größerer Unternehmungen zu bilden.

Wer vor zehn Jahren diese Wandlung der Dinge in Afrika prophezeit hätte, er würde keine Gläubigen gefunden haben; denn unerforscht war damals noch das Innere des Landes, unbekannt selbst der Lauf des gewaltigen Stromes, der heute die wichtigste Handelsstraße jenes Welttheils zu werden verspricht. Aber der Zauberer ist erschienen, der den Schleier zu lüften vermochte, der das Unglaubliche gethan, und er selbst schildert uns heute die Geschichte seiner Schöpfung.

Es ist gewiß verlockend und interessant, diese Geschichte aus Stanley’s Munde zu vernehmen, obwohl uns der Umstand zugleich zwingt, vorsichtig zu sein, zu prüfen, ob wir ein objektives Geschichtswerk oder eine Rechtfertigungs- und Anklageschrift vor uns haben.

Ja, wenn Stanley mit bitterer Ironie über die Handlungsweise seiner Stellvertreter spricht, wenn er gegen den Schluß seines Werkes die Erklärung abgiebt, daß er, da er über die Zufriedenheit des Königs von Belgien mit seiner langjährigen bitteren Arbeit keine schriftliche Anerkennung besitze, dem Leser es überlassen müsse, sich sein eigenes Urtheil zu bilden – dann sind wir geneigt, jenem Verdacht Raum zu geben.

Aber solche Betrachtungen bilden keineswegs den Hauptkern seines Werkes; sie bilden auch nicht das Fesselndste in ihm.

Es ist schon interessant, wenn wir den kurzen Brief Gordon’s, des Opfers von Khartum, lesen, in dem er seine baldige Ankunft am Kongo seinem „lieben Stanley“ anzeigt, um „mit ihm und unter ihm“ die Sklaverei zu bekämpfen. Es ist interessant, solche Worte von einem Manne zu lesen, der bald darauf, unter schwierigen Verhältnissen, die Sklaverei im Sudan wieder gestattete. Es hat auch gewissen Reiz, zu erfahren, daß Stanley über den neuen ihm aufgedrungenen Kollegen nicht besonders erfreut war und aus Brüssel Aufklärung über diese ihm mysteriöse Sendung wünschte. Aber das Hauptinteresse bei der Erörterung dieser Fragen liegt mehr zwischen den Zeilen, als in dem sehr vorsichtig Erzählten.

Auch die wissenschaftlichen und handelspolitischen Kapitel des Werkes bringen wenig durchaus Neues. Ueber den Europäer in Afrika, über das Klima etc. ist schon viel geschrieben worden, und alle Welt kennt die vielleicht zu optimistischen Ansichten Stanley’s, der in seinen Kongo so innig verliebt ist, daß er dessen Schwächen nicht sehen will oder besser gesagt nicht sehen kann.

Aber wer das Buch bis ans Ende gelesen, der wird auch finden, daß Stanley weder ein schlauer Diplomat noch ein Händler oder Rechner ist, daß er andere große Vorzüge besitzt, die in der Geschichte der Gründung des Kongostaates wie helle Sterne leuchten und leuchten werden.

Stanley, der Städtegründer, der Straßenbauer, der Missionär der Kultur am Kongo, der kühne Entdecker – das ist der Mann, der unsere Sympathie im Sturme erobert. Auf diesem Gebiete seines Wirkens und Schaffens müssen wir ihn aufsuchen, dort ist er der Meister für Viele, ein leuchtendes Vorbild kommenden Geschlechtern.

Stanley, der Städtegründer – haben wir gesagt. Ja, dieser Titel gebührt ihm, wenn wir auch zugeben müssen, daß die afrikanischen Städte, die er ins Leben rief, vorerst nur Stationen, nur einfache Niederlassungen bilden. – Der Titel gebührt ihm, denn nur dort ließ er Häuser bauen, wo ihm der Platz zur künftigen Gründung einer Stadt geeignet erschien, wo seine Station die Akropolis, die Burg zu werden versprach, um die sich später die Häuserflucht einer blühenden Handelsstadt schaaren würde. Darum beginnt auch sein Werk mit dem Kapitel „Die Gründung von Vivi: Eine Geschichte der Arbeit“ so ungemein fesselnd zu wirken.

Dort, wo im unteren Laufe des Kongo die wildrauschenden Stromschnellen die Schifffahrt unterbrechen, liegt die düstere Gegend von Vivi. Der Handel hat sie gemieden, der religiöse Eifer dort kein passendes Feld für seine Thätigkeit gefunden und die Rauheit der Natur sogar den Zeloten abgeschreckt. Aber Stanley ruft aus: „Jetzt laßt sehen, was aufmerksame Sorgfalt, geduldiger Fleiß und ein vertrauender Glaube aus derselben machen kann; die Kraft des Menschen ist groß, obgleich er nur ein schwaches vergängliches Geschöpf ist, doch mit kleinen, aber vielen Zügen hat er schon wiederholt Wunder vollbracht; seine Lebenszeit dauert nur eine kleine Anzahl von Stunden, aber in jeder derselben legt er, vom Fleiße beseelt, einen Stein, und viele Steine machen eine Straße.“

Mit solchen Ansichten begab er sich ans Werk, und bald krönten Gebäude den Hügel von Vivi und schon jetzt gaben dem muthigen Unternehmer die staunenden Eingeborenen den Titel „Bula Matari“, das heißt Felsenbrecher. Aber die neue Station steht auf nacktem Stein, den sengenden Strahlen der äquatorialen Sonne ausgesetzt. Auf dem Felsen muß ein Garten hervorsprießen und schattenspendende Baumkronen sollen über die Dächer ragen. So will es Stanley, und die Eingeborenen schleppen zwanzig Tage hindurch schwarze fruchtbare Erde vom Thal herauf, bis der Boden für einen 2000 Quadratfuß großen Garten bereitet ist. Nun pflanzt der Gründer Vivis die ersten Mango-, Orangen- und Limonenschößlinge, säet Zwiebeln, Lattich, Pastinak, steckt Rüben, Tomaten und Melonen.

Nachdem Vivi gegründet war, unternahm Stanley eine Rekognoscirung nach Isangila, um die zweite seiner wichtigsten Aufgaben zu erfüllen, eine fahrbare Straße zwischen den beiden genannten Orten zu bauen und auf ihr die Stromschnellen des Kongo umgehen zu können. Bevor er aber an die Arbeit ging, hielt er mit den Häuptlingen ein Palaver ab, in dem die Koncession des ersten Straßenbaus am Kongo ertheilt wurde. Es ist ein sonderbares Aktenstück – ein mündliches, das er uns aufbewahrt hat. Wir geben es in Rede und Gegenrede wieder:

„Häuptling De-de-de“, schreibt Stanley, „ist heute eine sehr wichtige Persönlichkeit; er hat aber auch seine Sache gut gemacht, indem er Boten durch das ganze Land geschickt hat, um die Mächtigen von Nsanda zu einer wichtigen Konferenz zusammenzuberufen. Nachdem die ceremoniellen Begrüßungen vorüber sind und ich die mir gebrachten Gegenstände in gehöriger Weise entgegengenommen habe, eröffne ich das Palaver, indem ich ihnen den Zweck meiner Anwesenheit in Vivi mittheile und sie über die Gründe aufkläre, welche zur Berufung dieser Versammlung Veranlassung gegeben haben. Sie sind ihnen allerdings längst bekannt, die Etikette verlangt jedoch, daß dieselben ihnen nochmals öffentlich erläutert werden.

‚Ich beabsichtige eine Straße durch Euer Land von Vivi nach Isangila herzustellen, aber ich bin erst auf Euern eigenen Pfaden hierhergekommen, um auszufinden, ob es möglich ist, eine Straße anzulegen, auf welcher große, mit schweren Booten etc. beladene Wagen passiren können; ferner um in persönlicher Unterredung mit Euch zu erfahren, ob Ihr Einwendungen dagegen zu machen habt, daß Ihr mir das Recht zur Herstellung dieser Straße gebt, denn es könnte vielleicht vorkommen, daß Euere Gärten und Felder gerade in der Linie einer guten Straße lägen und daß diese nicht anders gebaut werden kann als direkt durch jene Gärten. Ehe ich Geld an die Herstellung einer Straße wende, welcher der erste beste Garten, auf den wir stoßen, ein Ende machen kann, muß dieser Punkt nothwendigerweise besprochen und aufgeklärt werden. Auch muß ich von Euch wissen, ob Ihr, wenn ich eine solche Straße mache, die für Euch ebenso offen ist wie für mich, von mir erwartet, daß ich jedesmal, wenn ich auf meiner eigenen Straße reise, Euch dafür bezahle. Ebenso will ich erfahren, ob Ihr gestatten werdet, daß Eure jungen Leute für einen guten Lohn an der Straße für mich arbeiten, wie die Bevölkerung von Vivi mir beim Bau meiner Stadt geholfen hat.‘

Gegen vier Uhr wurde, nachdem sie mehrere geheime Berathungen abgehalten hatten, zu denen sie sich in einiger Entfernung von De-de-de’s Dorfe versammelten und bei welchen es, nach dem lauten Sprechen und den lebhaften Geberden einiger der Redner zu urtheilen, zu sehr heißen Debatten zu kommen schien, bei dieser ersten allgemeinen Berathung der Häuptlinge der verschiedenen Distrikte zwischen Vivi und Isangila Folgendes mündlich vereinbart und mir mitgetheilt:

‚Sie seien sehr erfreut darüber, daß wir in ihr Land gekommen seien. Es würde für das Land sehr gut sein, wenn eine Straße gebaut werde. Kein Häuptling habe irgend etwas gegen dieses Projekt einzuwenden. Ihrer Ansicht nach würde das Kommen des weißen Mannes nur Gutes schaffen, Gutes für die Häuptlinge und das Volk. Es bedeute Handel und sie seien alle Kaufleute. Der Weg nach Boma sei weit und viele fürchteten denselben und seine Schwierigkeiten. Sie würden sich daher alle sehr freuen, wenn der Handel zu ihnen, bis vor ihr Haus komme. Deßhalb könne die geplante Straße ohne Furcht angelegt werden, und es solle von derselben in Zukunft keine Abgabe mehr erhoben werden; wenn der weiße Mann ein Papier für jeden Häuptling unterzeichnet habe und demselben jeden Monat ein kleines Geschenk für das Wegerecht gebe, dann solle die Straße das Eigenthum des weißen Mannes werden. Wenn dieselbe [331] Gärten, Felder und Dörfer erreiche und es sei kein besserer Weg zu finden, dann solle der Eigenthümer des Gartens oder Feldes oder Dorfes in gerechter Weise sagen, wieviel an Waaren er für die Zerstörung seines Eigenthums verlange, und nach der Bezahlung solle die Straße in Zukunft ungestört bleiben, und Niemand brauche etwas zu bezahlen, wer dieselbe passirt. Die jungen Leute aus den verschiedenen Distrikten, welche sich durch Arbeit Geld zu verdienen wünschen, haben die volle Erlaubniß, sich auf so lange Zeit engagiren zu lassen, wie es ihnen beliebt. Es solle dadurch keine Schwierigkeit entstehen, und wenn die Wagen durch diesen Distrikt kommen, solle jedes Dorf Hilfe senden, dieselben weiterzuziehen, bis sie den Distrikt passirt haben, und wenn das Dorf nicht Leute genug habe, sollen demselben die benachbarten Dörfer helfen.‘“

Auf Grund dieser Koncession begann Stanley das Riesenwerk. Es wurde glücklich vollendet, obgleich er dabei den Tod von 6 Europäern und 22 seiner schwarzen Leute zu beklagen hatte, obgleich er nicht allein mit den Hindernissen der wilden Natur, sondern auch mit dem Aberglauben der Eingeborenen kämpfen mußte. Als er im Begriff stand, die tiefen, hohen Wälder des Njongena zu durchdringen, waren seine eingeborenen Hilfskräfte von Besorgniß erfüllt. Böse Geister, behaupteten sie, noch schlimmer als diejenigen von Inga, bewachen den Wald, und schon mancher unglückliche Wicht aus dem Innern, der seine Tiefen durchschreiten wollte, ist aus dem Bereiche der Menschen entführt worden. Als sie jedoch sehen, daß die übrigen Arbeiter diese Furcht nicht theilen und gemeinsam zum Angriff gegen die gezeichneten Bäume vorgehen, als die Aexte gehandhabt werden, das zähe, harte Holz zu Boden stürzt und es in der unbekannten Gegend Licht wird, da fassen sie wieder Muth und beginnen mit den scharfen Hacken das kleine Unterholz auszurotten und mit Plantagemessern die Oeffnung und den Blick zu erweitern.

So schreitet der Bau der Straße vorwärts. Dann wird der schwere mit dem Dampferboot beladene Wagen über steile Hügel geschafft – bald schallt dabei durch den Wald der monotone Gesang der Afrikaner, bald hört man ein lautes kräftiges „Hip, hip, hip, Hurrah“, wenn die Mannschaft auf der Krone des Hügels angelangt ist. Felsen versperren den Weg, aber sie werden fortgeräumt, gesprengt – Bula Matari’s Name bewährt sich und steigt im Ansehen bei den Eingeborenen.

„Ein seltsames Kapitel“ nennt Stanley diese Abtheilung seines Werkes – seltsam und wunderbar ist es in der That!

Als Stanley an einem Sonntag während des Straßenbaues in sein Lager zurückgekehrt war, stürzte ihm ein junger Eingeborener entgegen und überreichte ihm einen Papierstreifen, auf welchem die mit Bleiftift geschriebenen Worte standen: „Le comte Savorgnan de Brazza“. Eine Visitenkarte im Urwald! Ob sie Stanley freudig überraschte? Wie er selbst gesteht, kannte er damals noch nicht die Bedeutung des französischen Forschers – er ahnte nicht, daß ein gleichwerthiger Rival ihm gegenüber stand, der schon am Stanley-Pool die Station Brazzaville besetzt hatte, während sich Stanley erst anschickte, Leopoldville zu gründen. Vor dem Sergeanten Malamine, den Brazza dort zurückgelassen, mußte Stanley vom rechten auf das linke Kongo-Ufer weichen. Er hat das Gebiet nie wieder erobert, er mußte auf der Berliner Konferenz noch mehr dem gallischen Nachbar ausliefern.

Mit Stanley’s Erscheinen am Stanley-Pool, jener seeartigen Erweiterung des Kongo, beginnt der interessanteste, spannendste Theil seines großen Werkes. Bis jetzt hat er den Widerstand der Natur zu bezwingen gewußt, nun muß er Menschen zwingen. Schwierig war jener Kampf, dieser wird aber noch schwieriger. Auch der Wilde ist die Spitze der Schöpfung, und seine Schlauheit und List sind nicht minder gefährlich wie die fieberschwangere Luft der Sumpfniederungen.

Die Gründung von Leopoldville hat eine seltsame Geschichte, voll von zwar unbedeutenden, aber interessanten Ereignissen, welche sich um zwei im Mittelpunkte stehende Personen drehen, um die „Blutsbrüder“ Ngaljema und „Bula Matari“.

„Ohne Zweifel,“ sagt Stanley, „ist ‚Bula Matari‘ bekannt, wenigstens glauben viele, die seine Werke über Afrika gelesen haben, sich eine Idee von dem Manne machen zu können; allein wer könnte Ngaljema beschreiben, ohne im Einzelnen die vielen erklärenden Vorfälle zu schildern, welche seinen eigenen Blutsbruder erst nach geduldigem Studium diesen Mann ganz verstehen ließen.“

Wer ist denn Ngaljema? Ein mächtiger Häuptling? Ja, für eine solchen hielt ihn Stanley, als er auf seiner ersten denkwürdigen Kongofahrt mit ihm die Blutsbruderschaft schloß, als solchen begrüßte er ihn und als solchem vertraute er ihm, da er zum zweiten Male nach dem Stanley-Pool gekommen war. Von ihm hatte auch Stanley Land in Kintamo zur Gründung einer Station gegen viele Geschenke gekauft, denn Ngaljema wußte zu rechnen und kostete der Expedition mehr als alle andern Häuptlinge am Kongo zusammen. Aber Ngaljema verkaufte, was nicht sein Eigenthum war. Er war kein Häuptling, sondern nur ein geschickter Elfenbeinhändler, der sich großen Reichthum (Stanley schätzte seine Waarenvorräthe auf 60 000 Mark) erworben und seine Macht durch kluge Heirathen befestigt hatte. Er war außerdem ein Fremder im Lande, der nur mit Erlaubniß der eingeborenen Häuptlinge sich in demselben niederließ. In Folge dieses falschen Kaufes gerieth Stanley in die größten Verlegenheiten und Verwickelungen, wobei Ngaljema bald als der größte Feind seines Blutsbruders sich geberdete. Wir können hier unmöglich ein vollständiges Bild dieser romanartigen Vorgänge geben, die viele Kapitel füllen – nur eine Episode möchten wir erzählen, die eine der Künste veranschaulicht, mit welchen Stanley seinen „Freund“ zu einem fügsamen Menschen zu erziehen wußte.

Durch einen Boten des befreundeten Königs Makoko erfuhr Stanley, daß Ngaljema mit Gewehren aufgebrochen sei, um ihn aus dem Lande zu vertreiben.

„Das waren nicht sehr angenehme Nachrichten,“ schreibt der Verfasser, „die keineswegs dazu dienten, mich in sanften Schlummer und ruhiges Vergessen einzuwiegen. Daß Ngaljema 18 km so rasch zurückgelegt hatte und so plötzlich erschien, deutete darauf hin, daß seine Absicht ernst und sein Entschluß, meine soeben voll erblühten Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der Angelegenheit zu zerstören, ein unbeugsamer war.

Der folgende Tag, Dienstag der 8. November, begann mit triefendem Regen, doch brach die Sonne gegen 10 Uhr durch und der Tag versprach schön zu werden.

Ngoma’s Dorf, in dessen Nähe das Lager aufgeschlagen war, liegt auf einem schmalen, aber ebenen Ausläufer der östlichen Abhänge des Ijumbi-Berges, von denen noch mehrere ähnliche Rücken hervorragen, die durch bewaldete oder mit Unterholz bedeckte Schluchten – die Betten kleiner krystallheller Ströme – von einander getrennt werden. Auf dem, dem unsrigen zunächst gelegenen Ausläufer stand das Residenzdorf Makoko’s und wir erwarteten deßhalb aus dieser Richtung das Herannahen Ngaljema’s, was freilich, wenn erst die offenen Feindseligkeiten erklärt waren, ohne die Gefahr vollständiger Vernichtung gänzlich unmöglich war. Ngaljema, obgleich ein Barbar, war jedoch viel zu schlau, um seine Operationen auf diese Weise zu beginnen, viel wahrscheinlicher war, daß er im Vertrauen auf die frühere Brüderschaft und das gegenseitige Austauschen von Höflichkeiten, mit lächelndem Gesichte die brüderliche Liebe zur Schau tragend, zur prahlerischen und lärmenden Begrüßung ins Lager kommen und hoffen würde, uns beim geselligen Trinken des Palmweins zu überraschen.

Ich ließ daher meinen Leuten durch meinen Zeltdiener sagen, sie sollten sich am äußersten Ende des Ausläufers, wo sie von etwaigen Spionen auf Makoko’s Hügel nicht gesehen werden konnten, versammeln, und begab mich wenige Minuten später selbst dorthin, um mich zu überzeugen, daß sie auch wirklich Alle am Platze seien.

Die Instruktionen, welche ich ihnen ertheilte, waren nur kurz, damit sie dieselben besser im Gedächtniß behalten könnten:

‚Gehe Jeder von Euch in seine Hütte und lege den Patronengürtel um, achtet Alle darauf, daß die Taschen mit Patronen gefüllt sind. Legt Eure Gewehre unter die Schlafmatten oder Grasbetten. Ihr Alle, mit Ausnahme von Susi’s (20) Leuten, vertheilt Euch dann in dem Busche auf dieser Seite des Hügels. Einige legen sich im ‚En Avant‘[2] auf dem Wagen, andere hinter meinem Zelte, ein Dutzend im Vorrathszelte nieder und Einige bleiben als angeblich Kranke in den Hütten. Einerlei wie viel Leute ins Lager kommen oder was Ihr hört, Ihr dürft Euch nicht von der Stelle rühren, bis Ihr den Gong hört. Aber wenn Ihr den Gong hört, dann springt Alle auf, ergreift Eure Gewehre, stürzt, wie Verrückte schreiend, herauf und schwingt die Gewehre so wüthend, wie die Ruga-Ruga von Unjamwesi! Habt Ihr verstanden?‘

‚Inschallah!‘[3] riefen sie.

Susi’s Abtheilung mußte sich dagegen auf dem offenen Terrain niedersetzen und eine gleichgültige indolente Haltung annehmen.

Eine Viertelstunde später sah ich eine lange Reihe von Männern an Makoko’s Hügel nach dem zwischenliegenden Thale hinabsteigen; ich zählte im Ganzen 197 Personen jeglichen Ranges in der Expedition Ngaljema’s. Trommeln, Trompeten und Eingeborenenmusik kündigten an, daß der Häuptling in großem, feierlichem Staatsaufzuge komme.“ – –

Wir übergehen den spannenden Dialog, der sich nunmehr zwischen den beiden Blutsbrüdern entwickelte und den Ngaljema mit folgenden Worten unterbrach:

„Genug, genug!“ schrie er. „Ich sage Dir zum letzten Male, daß Du nicht nach Kintamo kommen sollst. Wir wollen keine Weißen in unserer Mitte haben. Laß uns gehen, Endjeli!“

„Mit diesen letzten Worten,“ fährt Stanley fort, „schob er die Thür des Zeltes beiseite und schritt hinaus, während die unterdrückte Leidenschaft deutlich in seinen Zügen zu lesen stand. In der Nähe des Zeltes [332] einen Augenblick unschlüssig stehen bleibend, entdeckte er den großen chinesischen Gong, der an einer von zwei gabelförmigen Stangen getragenen Brechstange hing.

‚Was ist das?‘ fragte er, auf den Gong zeigend.

‚Ein Fetisch,‘ erwiderte ich bedeutungsvoll.

Sein Sohn Endjeli, der weit gewitzigter zu sein schien als der Häuptling, flüsterte diesem zu, er glaube, es sei das eine Glocke, worauf Ngaljema rief:

‚Bula-Matari, schlage dies; laß mich es hören.‘

‚O Ngaljema, ich darf nicht; es ist der Kriegsfetisch!‘

‚Nein, nein,‘ erklärte er ungeduldig. ‚Schlage es, Bula-Matari, damit ich den Klang höre.‘

‚Ich darf nicht, Ngaljema. Es ist das Zeichen zum Kriege. Es ist der Fetisch, der die bewaffneten Männer herbeiruft; es würde zu schlimm sein.‘

‚Nein, nein, nein! Ich fordere Dich auf zu schlagen. Schlage es, Bula-Matari,‘ wiederholte er nochmals, in kindischer Ungeduld mit dem Fuße stampfend.

‚Gut denn,‘ entgegnete ich, den Klöppel in die Hand nehmend. ‚Aber bedenke, daß es ein böser Fetisch, der Fetisch des Krieges ist.‘ Und während ich den Schlägel hoch hob, fragte ich nochmals: ‚Soll ich jetzt schlagen?‘

‚Schlage, ich sage Dir, schlage!‘

Mit aller Kraft schlug ich auf den Gong; der laute glockenähnliche Ton klang bei dem allgemeinen Schweigen, welches während unserer Unterredung unter den aufmerksamen Begleitern Ngaljema’s und auf dem ganzen Schauplatze herrschte, schon äußerst beunruhigend; aber als die rasch auf einander folgenden Schläge auf den Gong fielen, glaubten sie den Donner zu hören. Noch hatten sie sich nicht von ihrer ersten Ueberraschung erholt, als sie Menschengestalten über den gerade über ihrem Kopfe befindlichen Bord des ‚En Avant‘ springen sahen, aus meinem Zelte das Kriegsgeschrei in ihr Ohr schallte und in der schwarzen Schlucht hinter ihnen ein Strom wüthender Wahnsinniger aus dem Erdboden hervorzudringen schien. Das Vorrathszelt war in heftiger Bewegung und stürzte schließlich zusammen, und aus dem Innern sprang eine Horde Dämonen heraus, einer noch wilder als der andere. Die einzelnen trägen, verschlafenen Männer wurden zu Wütherichen, aus allen Hütten, unter den Schlafstellen strömten die bewaffneten Krieger hervor, sodaß die von panischem Schrecken ergriffenen Eingeborenen glaubten, Himmel und Erde seien in Bewegung gesetzt, um die beständig zunehmende Zahl der bewaffneten Krieger noch zu vermehren. Alle anwesenden Eingeborenen, ob Freund ob Feind, verloren vor dieser fürchterlichen Scene die Fassung, die noch sitzenden Krieger ließen ihre Gewehre im Stich, sprangen auf und ergriffen vor dieser seltsamen Sündfluth die Flucht, die Munitionsträger warfen ihre Flaschen fort, sodaß dieselben zerbrachen und das Pulver und die Metallstückchen über den Erdboden zerstreut wurden, und Ngaljema stand stumm und starr, wie vom Schlage getroffen. Ihn beim Arm fassend, sagte ich sanft zu ihm:

‚Fürchte Dich nicht, Ngaljema. Bedenke, daß Bula-Matari Dein Bruder ist. Stelle Dich hinter mich, ich werde Dich schützen!‘

Vor mir schrieen und wütheten die Sansibarer, indem sie mit gellendem Kreischen ausriefen:

‚Ha, ha, Ngaljema! Du bist gekommen, um mit Bula-Matari zu kämpfen. Wo sind Deine Krieger, Ngaljema?‘

Unbarmherzige, blutdürstige Wuth könnte kaum natürlicher dargestellt werden, als wie es von meinen schwarzen Schauspielern bei dieser so plötzlich improvisirten Scene geschah. Ihre scheinbare Raserei streifte fast an Wirklichkeit, und wäre ich nicht in das Geheimniß eingeweiht gewesen, so würde auch ich mich haben täuschen lassen; die Tapferkeit, mit welcher ich meinen armen Bruder vertheidigte, der mich mit beiden Händen um den Leib gefaßt hielt und von einer Seite zur andern tanzte, um den wüthenden Streichen der wie Wahnsinnige ausschauenden Krieger zu entgehen, während der junge Endjeli sich an seinem Vater festhielt und dessen Bewegungen mitmachte, erinnerte mich an das längst vergessene Spiel ‚Henne und Küchlein‘, mit welchem wir in der Schule die Freistunden hinzubringen pflegten.

‚Rette mich, Bula-Matari, laß sie mir nichts thun!‘ schrie Ngaljema. ‚Ich habe keine böse Absicht gehabt.‘

‚Halte Dich fest, Ngaljema; halte Dich gut an mir fest. Ich werde Dich vertheidigen, fürchte nichts! Kommt nun, kommt alle! Ah, ha!‘

Das Lager war fast leer von unsern Besuchern, welche größtentheils die Munition zurückgelassen und die Gewehre über den Boden verstreut hatten. Die Posse war ausgezeichnet zu Ende gespielt worden.

‚Genug, Leute; stellt Euch auf und Stillgestanden!‘ schrieen Susi und die andern Aufseher, und die gehorsamen, gut einexercirten Burschen kamen sofort zusammen und stellten sich mit der Präcision alter gedienter Soldaten mit ‚Gewehr über‘ auf. Als Ngaljema dann, von diesem neuen Schauspiel und der veränderten Scene aufs höchste überrascht, mich los und die Arme sinken ließ, faßte ich ihn bei der Hand und fragte mit gewinnendem Lächeln:

‚Nun, Ngaljema, wie denkst Du jetzt über den Fetisch des weißen Mannes?‘

‚O, ich habe mich nicht gefürchtet; glaubst Du das? Sieh, meine Leute sind alle davongelaufen. O, die Feigen! Nur Endjeli und Gantschu sind bei mir geblieben. Aber sage mir, Bula-Matari, woher sind alle diese Leute gekommen?‘

‚O, das ist der böse Fetisch, von dem ich Dir gesagt habe. Willst Du noch mehr sehen? Komm, ich will den Gong nochmals schlagen, vielleicht ist die nächste Scene noch wunderbarer als die erste.‘

‚Nein!‘ kreischte er und legte die Hand auf meinen Arm. ‚Nein, nein, berühre es nicht. O, das ist gewiß ein böser Fetisch,‘ fügte er ernsthaft hinzu, die runde unschuldige Oberfläche des Gongs mit Kopfschütteln betrachtend.

‚Nun, blicke nochmals jene Leute an, Ngaljema,‘ sagte ich, auf die lächelnden Gesichter meiner Arbeitersoldaten deutend.

‚Achtung! Augen rechts! Vorwärts marsch, Ihr Alle, und ruhig, kein Geräusch; legt Eure Gewehre fort und gehe Jeder wieder an seine Arbeit. Vorwärts marsch!‘ Damit setzte sich die Truppe in Bewegung und verschwand; Ngaljema begann wieder Muth zu fassen und Endjeli und Gantschu schrieen und riefen, die Flüchtigen sollten wieder herbeikommen. Nach einer halben Stunde waren Alle wieder im Lager und unter allgemeiner lärmender Heiterkeit, bei welcher Ngaljema’s lautes Lachen dasjenige aller übrigen übertönte, erzählte der eine dem andern seine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen.“

Aber Ngaljema und seine Leute machten trotz dieser Lehre Stanley noch viel zu schaffen, verstiegen sich wohl auch zu schlechten Witzen, indem Endjeli Stanley auf dessen Zimmer einschloß und mit dem Schlüssel davonlief. Dabei verlor aber Stanley niemals die gewohnte Ruhe, er klagte gegen die Missethäter bei den Häuptlingen und gewann glänzend seine afrikanischen Processe. Wer wissen will, wie Stanley zu Macht und Ansehen in Afrika gelangte, der lese dieses Kapitel, der präge sich dieses fesselnde Bild des Lehrers und Civilisators der wilden Stämme ein. Wenn der künftige Kongodichter, von dem Stanley spricht, wenn ein Cooper des Kongo jemals erstehen wird, dann werden in seinen Werken die beiden Gestalten „Bula-Matari“ und Ngaljema gewiß die Hauptrolle spielen müssen. –

Wir haben noch Stanley’s als Entdeckers zu gedenken, denn auch in dieser seiner hervorragenden Eigenschaft stellt er sich uns in seinem neuesten Werke vor. Mit dem [k]leinen Dampfer „En Avant“ fährt er gegen den Strom, und da ihn neue Probleme fesseln, so kehrt er trotz der falschen Berichte der interessanten Königin Gankabo nicht um, bis er den großen Leopold II.-See entdeckt. Auch aus diesem Kapitel wollen wir eine Episode herausgreifen; sie schildert den überwältigenden Eindruck, den das Erscheinen des ersten Dampfers auf die Eingeborenen ausübte, und zugleich die Gutmüthigkeit und das launige Temperament des kühnen Forschers.

„Als wir gegen 10 Uhr aus einer langen baiartigen Bucht des Landes herauskamen, bemerkten wir in der Mitte des Sees ein halbes Dutzend Kanoes, 3 km weiter hinaus noch ein anderes und, nachdem wir eine felsige Spitze umfahren hatten, das Dorf, in welchem jene Fahrzeuge zweifelsohne zu Hause waren. Wir hatten also eine ausgezeichnete Gelegenheit, um uns über das Land zu informiren und vielleicht frische Fische und Nahrungsmittel zu erhalten. Wir hielten deßhalb nach den Fischern zu; da diese eifrig mit dem Einholen ihrer Netze beschäftigt waren, konnten wir uns bis auf 1½ km Entfernung nähern, ehe sie unsere Gegenwart bemerkten. Und wie müssen wir ihnen erschienen sein! Ein langes weißes Boot mit weitem, ausgebreitetem Flügel, das ein ganz seltsames Geräusch machte und nicht die geringste Aehnlichkeit mit irgend einem Thier hatte, von dem sie je gehört! In Verzweiflung heben sie die Hände auf. Einer scheint mehr Geistesgegenwart zu haben, als die anderen, ergreift sein Ruder und treibt das Boot instinktmäßig zur Flucht. ‚Ein vorzüglicher Gedanke‘, sagen offenbar die anderen, und alle tauchen ihre Ruder tief in das schwarze Wasser, sodaß die kleinen Kanoes mit großer Schnelligkeit fortgetrieben werden und im Fluge über den See hinjagen. Nur der Mann in dem einsamen Kanoe ist so gründlich in das Einholen der Netze vertieft, daß er noch immer keine Ahnung von der ihm drohenden Gefahr hat. Da, horch! Was ist das? Was ist das für ein seltsam stöhnendes, puffendes, klatschendes und klapperndes Geräusch? Er dreht sich nach unserer Richtung um und erblickt ein wunderbares Ungethüm, ganz weiß, mit einem hohen Flügel und ein paar sich drehenden Klappern, welche das Wasser hinter sich in langgestreckte Wellen aufwühlt. Er fällt wie vom Schlage getroffen ins kleine Kanoe und scheint sich klar machen zu wollen, ob das Wirklichkeit oder ein ihn äffender Traum ist. Ohne Zweifel fliegt der Gedanke durch sein Hirn: ‚Noch vor einem Augenblicke sah ich mich nach allen Seiten um und bemerkte nichts Seltsames, das mir Furcht oder Angst machen könnte, und nun? Woher kann das Ungethüm gekommen sein? Es ist sicher ein wilder Traum!‘

Aber unaufhörlich wieder trägt der leichte Wind die starken regelmäßigen Töne und das tiefe aber kräftige Seufzen an sein Ohr; er hört das verzweifelte Herumwirbeln der Schaufelräder und sieht die langgestreckten, rollenden Wellen im Kielwasser. Mit wilder Energie springt er auf, wirft noch einen raschen Blick um sich und begreift nun die Wirklichkeit, daß, während er als gedankenloser Narr am hellen Mittag seinen Träumereien nachgehangen hat, er von seinen Freunden im Stiche gelassen worden ist. Allein so lange noch Leben, ist auch noch Hoffnung; er kauert nieder, ergreift das Ruder, taucht es auf dieser Seite und auf jener Seite ein, und willig seinem Befehl und den langen Schlägen gehorchend, springt der zierliche, wie eine Speerspitze scharfe Kahn über das Wasser.

‚Zieht das Segel ein, Jungen!‘ Das Segel wird aufgerollt und es zeigt sich eine hohe dünne Stange, während hinter demselben eine schwarze Säule steht, welche Feuer und Rauch aus ihrem Munde speit.

Näher und immer näher kommt der Dampfer dem fliehenden Kanoe, allein plötzlich treibt der schwarze Insasse dasselbe mit einer Drehung des Ruders in rechtem Winkel zur Seite, während der ‚En Avant‘, überrascht von der unerwarteten Schwenkung, in rasendem Laufe geradeaus stürmt; aber binnen kurzem setzt er die Jagd fort, indem er dieses Mal jede

[333]

Am Kellersee bei Eutin.
Nach dem Oelgemälde von Fr. Ebel.

[334] Bewegung des Kanoes genau beobachtet. Der geängstigte Mann hat mittlerweile wilde Blicke über die Schulter geworfen; er bemerkt, wie das Ungethüm, das seiner aufgeregten Phantasie immer größer erscheint, rasch herankommt, und er hört das schreckliche Geräusch der Räder, das Aechzen der Maschine und das Puffen des Dampfers. Noch einen Blick wirft er hinter sich, aber derselbe scheint ihn vollständig zu überwältigen; im nächsten Augenblicke springt er, ‚ach Gott!‘ über Bord und wir jagen an dem leeren Kanoe vorbei.

‚Uledi, Dualla! Wir wollen um die Stelle herumkehren, wo er über Bord sprang; wenn er wieder auftaucht, springt über Bord und fangt ihn.‘

Wir wandten den Dampfer um und fuhren langsam nach dem leeren Kanoe zurück, in dessen Nähe der Schwarze schwamm. Als wir in die Nähe kamen, tauchte er plötzlich unter, doch waren unsere beiden Matrosen wie der Blitz hinter ihm her. Es war ein hübscher Anblick, als die beiden graziösen Gestalten wie Haifische auf ihre Beute losstürzten; sie brachten ihn bald herauf und schwammen, ein Jeder einen Arm des Eingeborenen haltend, nach dem Dampfer. Wir hoben ihn sanft herauf und setzten ihn auf das Segel, geduldig wartend, bis sein Puls weniger wild schlage und seine fürchterliche Aufregung sich beruhigte.

‚Komm, Ankoli, sprich milde mit dem armen Mann.‘

Die liebegirrenden Worte und klagenden Töne Ankoli’s erhalten keine Antwort.

‚Versuche es noch einmal – noch sanfter, Ankoli.‘

Und wieder fragt Ankoli ihn in beruhigendem, flüsterndem Tone, wie sein Name sei.

‚Was habt Ihr mit mir vor? Es sind in unserem Dorfe viele bessere Leute als ich.‘

‚Wieso bessere Leute?‘ frage ich. ‚Was meint er?‘

‚Er meint,‘ sagte Ankoli, ‚es seien bessere Sklaven im Dorfe als er.‘

‚Ah, es sind also Sklavenfänger hier gewesen. Woher sind sie gekommen?‘

‚Wie kann ich das wissen? Ich habe diesen See nie vorher gesehen; vielleicht Gankabi oder Ingja von Ngete.‘

Nachdem wir offenbar alle Informationen erhalten hatten, die der arme Teufel uns geben konnte, nahm Dualla zwei Hände voll glänzende Perlen und ein Dutzend Tücher, holte dann das Kanoe längsseits und ersuchte den Eingeborenen, sein Boot zu besteigen, worauf er Letzterem die Tücher, Perlen und ein kleines Päckchen Kauries (Muschelgeld) ins Boot gab. Sobald der Eingeborene begriffen hatte, daß er ein freier und reicher Mann sei, brachte er eine solche Distanz zwischen sich und uns, daß es uns zur Unmöglichkeit wurde, ihn wieder zu fangen, selbst wenn wir dies gewollt hätten. Als das Boot noch wie ein kleiner Punkt erschien, richtete er sich zu seiner vollen Höhe auf, ein Zeichen, daß er nun erst sicher war, sein altes Leben wieder beginnen zu können.“

Doch genug der Auszüge! Das, was wir berichtet haben, beweist ja deutlich, daß Stanley bei der Abfassung seines Buches nicht ausschließlich die Gelehrten als seine Leser im Auge hatte. Sollte seine Geschichte der Gründung des Kongostaates jemals volksthümlich werden, so mußten in dieselbe auch alle jene kleinen Züge aufgenommen werden, die den Charakter der Eingeborenen wiedergeben, alle jene kleinen Erlebnisse, die für sich einzeln genommen als lustige Abenteuer erscheinen, in ihrer Gesammtheit aber eine Kette lästigster Hemmnisse bilden, die nur durch Klugheit und Geduld überwunden werden konnten. Mit vielen Gleichnissen und Beispielen hat Stanley sein Werk ausgeschmückt, und er hat damit das Richtige getroffen – er wird nicht allein von den Weisen, sondern auch von den Völkern der civilisirten Welt verstanden werden. Das Buch wird wandern von Haus zu Haus und Sympathien werben allüberall für den „Felsenbrecher“ am Kongo und für den jungen Staat, dem noch viele Kämpfe beschieden sind, über den aber die Götter des Friedens und Glückes wachen mögen. St. J.     


Unter der Ehrenpforte.

Von Sophie Junghans.
(Fortsetzung.)


An der Ehrenpforte, mehrere Stufen über dem Boden erhöht, befand sich eine weite, ganz in Scharlach und Gold ausgeschlagene Estrade und darauf standen prächtige Sitze für das fürstliche Brautpaar und ihre vornehmsten Gäste; hier war es, wo, nachdem die erlauchte Gesellschaft Platz genommen hatte, die Ueberreichung der Geschenke der Stadt an die Landgrafenbraut stattfand.

Es nahm dieser Theil der Festlichkeiten, wie man denken kann, keine geringe Zeit in Anspruch, besonders da die Fürstin zwischendurch mit lateinischen sowohl als deutschen Reden und Gedichten, die keineswegs alle kurz waren, angesprochen wurde. Doch war man in jener Zeit an starke Dosen in Spiel und Scherz wie im Ernst, im Genießen sowohl als im Ertragen gewöhnt, und die hohe Frau hielt bewundernswürdig Stand; sie soll sogar zuguterletzt, das heißt nach Verlauf von mehr als drei Stunden, dem würdigen Doktor Avenarius für sein lateinisches Carmen mit ein paar wohlgesetzten Worten in der Sprache des Cicero, und zwar aus dem Stegreif, und dazu mit dem frischesten Lächeln, gedankt haben!

Die Herzen der Zünftler gewann Gräfin Sabine sämmtlich, wo dies nicht schon vorher geschehen war, durch die Art, wie sie eine jede Gabe aufnahm, ihrem Staunen und ihrer Freude darüber unverhohlen Ausdruck gab und zugleich sehr wohl merken ließ, wie sie den besonderen Werth eines jeden einzelnen Gegenstandes zu schätzen wisse. Ganz besonders gewinnend erwies sie sich auch gegen ihr eigenes Geschlecht, wo ihr dasselbe huldigend sich nahte, gegen die blumenspendenden jungen Städterinnen und die Töchter der fremden Weber, welche das Festgeschenk dieser Schutzbefohlenen ihres Gatten ihr überbrachten. Da hatte sie eine franke und zugleich mütterliche Art, welche alle Schüchternheit verbannte. Kosend fuhr sie der hübschen Rosine Külwetter, einer der Blumenspenderinnen, um das weiche Kinn und klopfte ihr die Wange, hieß auch die Mädchen in ihrer Nähe bleiben, diese sowohl wie die Webertöchter, die letzteren als halbe Landsmänninnen von ihr, wie sie freundlich sagte. Und so umgab denn dieser anmuthige Kranz die Stufen der Estrade, auf deren oberster die Fürstin noch immer unermüdlich verharrte, der Landgraf etwas hinter ihr.

Sogar das rechnete der allgemeine gute Wille der Gräfin hoch an, daß sie ihre helle Stirn, das fürstlich zarte Weiß und Roth ihres Angesichtes so lange der Sonne aussetzte und des Schutzes der weiter hinten über der Estrade aufgespannten seidenen Decken, sowie des hoch über allem aufsteigenden Ehrenbogens sich begab, um recht nahe an die Huldigenden herantreten zu können. Es war aber auch, als wenn die Sonne ihr das Dank wüßte und mit rechter Lust ein Bild bestrahlte, so reich und prächtig, so voll von heiterem kräftigen Leben, wie es ihr feuriges Auge selten begrüßen mochte – ein Bild, an dem nur Eines, nur die unabwendbare Vergänglichkeit, zu beklagen war.

Und schon jetzt nahte der Zeitpunkt, wo dies Bild sich auflösen und gleichsam zerrinnen sollte. Die Geschenke waren dargebracht und die Reden gehalten worden; eine Bewegung that sich kund, als ob nun bald ein anderer Akt dieses prächtigen Schauspiels beginnen werde. Nur Derjenige, von welchem erst der Anstoß für eine Veränderung der Scene ausgehen mußte, der Landgraf selber, zögerte noch.

Die Wahrheit zu berichten, war der hohe Herr, so wenig man dies seinem ruhigen, sogar etwas schwerfälligen Aeußeren ansehen mochte, innerlich in ungewöhnlicher Bewegung. Es war nämlich dieser Empfang durch die Bürgerschaft der wichtigsten Stadt des Landes, es waren diese Geschenke an die landgräfliche Braut so überraschend prächtig ausgefallen, und es überstieg das Alles soweit die Erwartung, daß es ihn förmlich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Doch kam ihm jetzt seine ruhige, schweigsame Art zu Hilfe: man war es an ihm gewohnt, daß er nicht viele Worte machte. Ein Mann war es, gegen welchen er seiner Bewegung, zum Theil wenigstens, in kurz hervorgestoßenen Sätzen, halben Ausrufen, Luft machte, ein Mann, der dieselben trotzdem wohl verstand und welchen sie mit frohem Stolze erfüllte, und dieser eine war der Bürgermeister der Stadt, der Doktor Tiedemars.

Der Landgraf hatte den Doktor die ganze Zeit über neben sich gehalten, hatte ihm bald zugenickt, bald, die Ueberreicher der Geschenke betreffend, eine kurze Frage an ihn gerichtet, hatte, mit einem Worte, vor allem Volk dargethan, daß er den Bürgermeister mit all diesem in Verbindung brachte. Denn das fühlte der Fürst wohl: insofern gerade der Werth und die Pracht der dargereichten Hochzeitsgaben die allgemeine Billigung seiner Wahl zum Ausdruck brachte, hatte er Niemand so sehr dafür zu danken, als dem klugen Manne neben sich. So fand er sich denn auch im weiteren, glänzenden Verlauf dieser Huldigungen von einem immer lebhafteren Gefühl überraschter Dankbarkeit gegen den Bürgermeister erfüllt, und gerne hätte er dieser Empfindung vor aller Welt einen so recht bedeutsamen Ausdruck verliehen.

[335] Eine schwere goldne Kette hatte er jetzt, da die Ueberreichung der Geschenke zu Ende war, vom Halse genommen und sie mit einem gnädigen Worte dem Bürgermeister umgehängt, zu der andern, von der kaiserlich römischen Majestät selber empfangenen, welche der Doktor schon über dem schwarzsammetnen Festwams trug. Den ehrerbietigen Dank des Bürgermeisters wehrte er kurz ab, mit den halblauten Worten: „Wir sind noch immer tief in Deiner Schuld, Jakob Tiedemars, aber wir wollen’s wett machen.“

Die Hand auf des Bürgermeisters Schulter gestützt, stand er da und ließ den Blick über das festliche Gedränge gleiten. Da blieb derselbe an einer jugendlichen Gestalt ganz vorne an den Stufen haften, der eines schlanken jungen Mannes, welchem die reiche Festtracht überaus wohl stand, wenn nur der Ausdruck des hübschen Gesichtes ein wenig besser dazu gepaßt hätte.

Mit rascher Frage wandte sich der Landgraf an den Bürgermeister; dieser bejahte und nun sah man alsbald den jungen Mann nach verwundertem Aufblick die wenigen Stufen ersteigen und erröthend vor dem fürstlichen Paare stehen.

Gar gütig begrüßte die Gräfin Sabine den Sohn des Bürgermeisters, denn dieser war es, welchen ihr Gemahl eben vor sie hin gewinkt hatte. Ihre muntern Augen hingen mit unverhohlenem Wohlgefallen an dem jungen Manne, während sie einige Fragen an ihn richtete. „Nur Eure eignen Augen, Herr, dürften festlustiger und minder ernsthaft dreinschauen,“ hatte sie eben neckend gesagt, als der fürstliche Gemahl sich mit leiser Rede an sie wendete.

Sie horchte lächelnd auf; Georg war indessen geziemend wieder zur Seite getreten. Dem Landgrafen war ein Gedanke gekommen. Mit kurzen Worten verständigte er die Dame, und auch ihr mochte die Sache nicht übel scheinen. Ihr Gemahl hatte ihre Aufmerksamkeit auf die ganz in der Nähe noch weilenden Jungfrauen gelenkt. Dort befand sich diejenige, welche der Bürgermeister dem Landgrafen auf seine Frage als die von den Eltern dem Sohne bestimmte Braut gezeigt hatte.

Nun traf es sich, daß dort allerdings Rosinchen Külwetter recht vorne an stand. Sie hatte diesen in die Augen fallenden Platz die ganze Zeit über tapfer behauptet, sogar mit einigen verstohlenen Ellbogenstößen nach hinten, die dem rosigen Jungfräulein gewiß Keiner von all den Vielen, welche sie heute bewundernd betrachteten, zugetraut hätte. Sie war aber auch gar zu reizend und appetitlich anzusehen in dem Festkleide von granatfarbenem Atlas mit weißseidenen Puffen, und aus der klaren Spitzenkrause hob sich die runde, feste Kehle und das apfelartige Angesicht mit solcher Frische und solchem Schmelz hervor, daß man hätte hinein beißen mögen, wie unter den Zuschauern auf der Gasse ein Alter mit wässerndem Munde behauptete.

Lag nun um die frischen, aber ein wenig zu fest aufeinander gepreßten Lippen ein gewisser Zug, der bei näherer Betrachtung zum „Anbeißen“ doch nicht gerade ermuthigte, so galt dieser nicht der allzu dreisten Bewunderung der Menge, sondern einzig und allein der Nachbarschaft, in welche Zufall oder Fügung Rosinen nun schon Stunden lang versetzte. Sie war nämlich, wie es sich traf, als Gräfin Sabine sie und ihre Genossinnen zur Seite winkte, hart neben die Tochter des Meister Lukas zu stehen gekommen.

Wer es hätte wissen können, wie Haß und Grimm im Busen Rosinens wühlten! und wie die Gluth auf ihren Wangen, welche sie noch schöner machte, da sie einen ihrer Hauptreize, den Farbenschmelz des Angesichts, erhöhte, eigentlich nur die Röthe des Aergers war! Ein Trost nur freilich, daß Rosinchen keinen Augenblick das Bewußtsein davon verlor, wie gut ihr die Purpurwangen standen. Und wenn ihr Bürgerhochmuth sich krümmte unter der Zufallstücke, die sie hier mit der von ihr so gering Geachteten auf eine Stufe stellte und sie und jene Stunden lang für das Volk zum selben Schauspiel vereinte, so kam es Rosinen während der ganzen Zeit doch kein einziges Mal in den Sinn, es könne Antlitz und Gestalt jener Andern neben ihr auch nur irgend einen Anspruch auf Beachtung erheben.

Und doch gab es unter den Zuschauern wenn nicht viele, so doch immerhin einzelne und nicht die schlechtesten Kenner, welche ganz anders dachten. Denn nicht nur daß die Festtracht der Brabanterinnen in ihrer strengen Eigenthümlichkeit etwas sehr Stattliches hatte – es konnte auch eine so edle, ebenmäßige Gestalt wie die Hildens in diesem für sie wenigstens kleidsamen Schmucke nicht anders als manchen staunenden Blick auf sich ziehen. Helle, heitere Farben freilich verbannte der ernste Sinn der kleinen Gemeinde, dem Eindruck aber, welchen Hildens stolz getragene Gestalt zu machen fähig war, that dies keinen Abbruch. Ja, man hätte sagen können, daß sie sogar neben der glänzenden Fürstin noch fürstlich aussehe in dem dunkeln Gewand von schwerem Stoffe und entsprechend reichem Schnitt; und ganz eigen und reizvoll erschien das klare Oval ihres Gesichts unter der schleierartig um Stirn und Wangen und über den Nacken niederfallenden Spitzenhaube, die von festanliegenden Silberplatten an den Schläfen gehalten wurde. Es war dies ein Schmuck, der die wunderschöne Form des für ihre schlanke Höhe kleinen Kopfes bei Hilden noch besonders hervorhob.

Wie dem auch sei, und ob auch dies Alles Vorzüge waren, welche nur dem feinern Auge auffielen – Einen gab es, der sie mit den Blicken nicht nur, der sie mit allen Sinnen empfand, und den sie gleichsam auf allen Punkten seines schmerzhaft empfänglichen Wesens reizten und verwundeten. Georg hatte diese ganze lange Zeit hindurch fast unbeweglich unten auf der Gasse, hart an den Stufen der Estrade, gestanden, wo er Hilden sowohl wie Rosinen etwas über sich und gerade gegenüber hatte. Er wollte leiden, heute noch ein Mal, mit ganzer Seele … er sog den Anblick der Geliebten in sich hinein unter schmerzlichem Genießen, etwa wie der Büßer, der den mystischen Rosenstrauch fest an sein Herz drückt, sodaß der Duft ihn fast berauscht, während zu gleicher Zeit die Dornen ihn zerfleischen.

Und wunderbar war es, wie in all dieser Menge etwas wie ein geheimer Zauber diese Beiden aussonderte, so daß sie eigentlich nur für einander da waren. Denn auch Hilde lebte während dieser Stunden allein im Empfinden der Nähe des Geliebten. Sie wurden nicht inne, wie die Zeit verging, noch achteten sie groß auf das glänzende Schauspiel vor ihnen, als sich die Scenen desselben lästig in den Raum zwischen sie und ihre Blicke drängten. Und von Blick zu Blick lebten sie nur. Auch Hilde, von dem erhöhten Daseinsgefühl dieses Tages getragen, gab sich willig in den Bann und tauchte wieder und wieder ihre schönen Augen wie zum Abschied sehnsüchtig tief in die heißen Jünglingsaugen, die sie immer dieses Blickes wartend fand. Ihr war zu Muthe, als möge noch heute kommen was da wolle; als dürfe sie an diesem einzigen Tage aus dem schäumenden Lebenskelche sich satt trinken, süßes Weh und bittere Lust, genug für ein Leben lang.

Bei all diesem konnte es geschehen, daß Rosine, die, wie gesagt, ganz nahe an Hilden stand und sich für das Ziel so vieler Blicke halten durfte, auch die beharrliche stumme Huldigung des hübschen Bürgermeistersohnes unten an den Stufen im Stillen auf ihr Theil setzte. Ihr Herz klopfte unter dem Atlasmieder und den kostbaren Spangen aufs neue höher auf in einer Hoffnung, die sie zuvor noch keineswegs ganz aufgegeben hatte. Zur selben Zeit aber achtete sie scharf auf Alles, was um sie her vorging, denn Rosine war nicht dazu gemacht, in Selbstvergessenheit zu versinken, selbst wenn ein Liebhaber im Spiele war. Und zugleich hatte sie die Gabe, unter gesenkten Lidern hervor mehr zu sehen als andere, wenn sie die Augen umher warfen.

Von den Mienen und Blicken, mit welchen das fürstliche Paar nach der Ansprache der Gräfin an Georg seine leise Wechselrede begleitete, war ihr nichts entgangen. Sie sah, wie das Auge des Landgrafen in ihrer Nähe suchte, sie aussonderte, wie er die Aufmerksamkeit der hohen Frau eben dahin richtete, und mit einem Male, unter stürmischem Herzklopfen, begriff Rosinchen, was der Fürst vorhatte. Wir wissen ja, daß in Allem, was sie selber betraf, ihr Verstand eine besondere Schärfe besaß. Blitzschnell reimte sie sich Alles in Gedanken zusammen. Der Landgraf wollte vor der ganzen Stadt dem Bürgermeister einen glänzenden Beweis seines Wohlwollens geben … Er hatte von der zwischen seinem und dem Hause Külwetter geplanten Verbindung gehört, und nun dachte er die Familie Tiedemars, die ihre und damit zugleich die ganze Bürgerschaft zu ehren, indem er die zwei ansehnlichen Stadtkinder hier auf der Stelle zusammen gab, und das bürgerliche Familienfest dadurch, daß er es mit seinem Feste gewissermaßen vereinte, aufs glänzendste zu erhöhen.

So ungefähr ahnte, bebte, hoffte die schöne Rosine, und wir wissen, daß sie das Vorhaben des Landgrafen ganz richtig deutete. Nun stand sie pochenden Herzens und harrte der weitern Entwicklung der Dinge. Und diese ließ nicht lange auf sich warten.

(Schluß folgt.)

0

[336]

Blätter und Blüthen.

Die Wittwe des Märtyrers. (Mit Illustration S. 325.) Das allgemein Menschliche, das aus diesem Bilde spricht, fesselt uns zunächst an ihm: es ist das tiefe Leid der Wittwe, deren Trauer verklärt erscheint durch das Bewußtsein, daß ihr Gatte seine Pflicht erfüllt hat und für Das gestorben ist, was auch für sie heilig ist. Sie steht unter der wunderbaren Macht einer der großen Ideen, in denen die Menschen aufgehen, für die sie dulden und ihre eigenen Schmerzen gering achten. Die Menschheit braucht diese großen Ideen, welche die Welt bewegen und hohe Tugenden erzeugen, ohne sie würde das Leben kaum des Lebens werth sein und die Herzen müßten wehrlos bleiben gegen die Schläge des Schicksals. Auch bei der Wittwe auf unserm Bilde hat eine siegreich die Geister bezwingende Weltanschauung Wunder gewirkt. Die Verlassene murrt nicht und klagt nicht über den bitteren Verlust, sondern preist den Gott, der dem Todten die Dornenkrone des Martyriums verliehen, und läßt das Kind das Zeichen küssen, um dessentwillen Trauer in ihr Herz Einzug gehalten.

Die Umgebung der Gruppe bezeichnet deutlich die Zeit, in welcher diese Scene spielt. Der Sarkophag in dem dunklen, von einer Ampel nur matt erleuchteten Gange verräth die Katakomben, jene unterirdische Todtenstadt der ersten Christen in Rom. Die halb lateinische halb griechische Inschrift deutet auf jene Epoche des Christenthums, während welcher die früher in der Kirche alleinherrschende griechische Sprache der lateinischen zu weichen begann, und der Bilderschmuck auf der unteren Tafel des Sarkophags sagt uns, daß zu derselben Zeit im Gegensatz zu der heitern heidnischen die ernste christliche Kunst ihre Keime treiben ließ und in der Verherrlichung der Todten und dem Schmuck der Gräber ihre vornehmste Aufgabe fand. Die Palmenzweige und der Märtyrerkranz endlich erinnern uns daran, daß die Zeit der Christenverfolgungen noch nicht aufgehört hat, daß in dem großen Cirkus, über diesen stillen Gräbern, vielleicht jetzt eben die Cäsaren und das Volk den auf wehrlose Menschen losgelassenen Hyänen und Löwen jauchzenden Beifall spenden. – i.     


Am Kellersee bei Eutin. (Mit Illustration S. 333.) Holstein ist so reich an herrlichen Buchenwäldern wie an lieblichen Seen. Freilich können diese letzteren mit der großartigen Schönheit der Seen in den Bergen nicht wetteifern; aber so anheimelnd, so friedlich licht und heiter, wie im östlichen Holstein, findet man sie nirgends sonst. Weithin bekannt seiner prachtvollen Lage wegen ist der wald- und hügelumkränzte Ukleisee, nicht so eigenartig, aber doch auch herrlich schön der Dieksee und zwischen beiden der heitere Kellersee.

Der Kellersee liegt inmitten der reizvollsten Gegend des östlichen Holstein, die während der Sommerzeit das Ziel zahlreicher Touristen bildet. Zwischen dem Uklei- und dem Kellersee findet man an den Ufern des letzteren das freundliche Dorf Sielbeck, am entgegengesetzten Ostende des Sees das Kirchdorf Malente mit dem Godenberg, einem alten heidnischen Begräbnißplatze, auf welchem früher oft Aschenkrüge und viele der Steinzeit angehörige Gegenstände gefunden wurden. An der lieblichen Schwentine, die unsern See mit dem benachbarten Dieksee verbindet, trifft man auf Gremsmühlen, die am schönsten gelegene Ortschaft im ganzen östlichen Holstein. Nicht fern liegt zwischen den Eutiner Seen die Geburtsstadt Karl Maria von Weber’s, Eutin, ehemals Sitz des Fürstbischofs von Lübeck; zu der weiteren Umgebung gehört auch der Bungsberg, der höchste Punkt Ostholsteins, von dessen Spitze aus gegen dreißig Thürme umliegender Städte und Kirchorte zu übersehen sind.

Ein reizender Ausblick auf den See bietet sich vom Prinzenholze aus, doch sind zahllose weitere Partien ebenso anziehend und manche Walddurchsicht wetteifert mit der vom Künstler unseres Bildes wiedergegebenen. Ein kleiner Dampfer erleichtert die Verbindung zwischen den umliegenden Ortschaften und bietet Gelegenheit, die hervorragendsten Uferpartien auch vom See aus an sich vorüberziehen zu lassen.

Die silbern schimmernden Stämme der Buchen erscheinen wie Säulen, hier und da blickt aus üppigem Grün ein Haus, die freundlichen Dörfer sind umgeben von reichen Saatfeldern. Lachend blau wie der Himmel ist der See selbst und ohne Falsch wie die Menschen, die an seinen Ufern wohnen. Ein gemüthstiefer Dichter hat von dem See und seiner Umgebung ein Stimmungsbild entworfen, das poetisch schön und wahr zugleich ist: Johann Heinrich Voß, dessen Grünau in „Luise“ kein anderer Ort ist, als das reizvolle Kirchdorf Malente, und dessen ansprechendstes Landschaftsbild in der gleichen Dichtung fast allein von der südwestlichen Gegend des Kellersees entnommen ist. „Stehn wir ein wenig still? Mir klopfet das Herz!“ läßt er Luise sagen. Und bald fährt er fort:

 „Wie erfrischend
Ueber den See die Kühlung heraufweht! Und wie die Gegend
Ringsum lacht! Da hinab langstreifige, dunkel und hellgrün
Wallende Korngefilde; mit farbigen Blumen gesprenkelt!
O des Gewühls, wie der Roggen mit grünlichem Dampfe daherwogt!
Dort in fruchtbaren Bäumen das Dorf, so freundlich gelagert
Um den geschlängelten Bach, und der Thurm mit blinkendem Seiger!
Oben das Schloß hellweiß in Kastanien! Vorn auf der Wies’ hin
Röthliche Küh; und der Storch, wie vertraut er dazwischen einhertritt!
Dort die schimmernde Bläue des Sees um den waldigen Hügel!
Dort Heuschober gereiht, dort Mähende! Aber wir selbst hier,
Vom Buchweizen umblüht, im Gesums eintragender Bienen!
Schaut doch umher, ihr Kinder, und freuet euch!“ – –

Nur „oben das Schloß hellweiß in Kastanien“ ist vom Dichter eingelegt, im Uebrigen aber sein Stimmungsbild eine farbenfrische Schilderung auch des Kellersees von heute, der nichts von seinen Reizen eingebüßt hat und Naturfreunde heute noch ebenso durch seine Schönheit entzückt, wie zu des Dichters Zeiten. D. Th.     


Friedrich Christoph Dahlmann. Auf dem Friedhofe zu Bonn, wo neben Niebuhr die Schlegel, Bunsen, Arndt ihre letzte Stätte gefunden, ruht auch Friedrich Christoph Dahlmann. Seit seinem Tode am 5. December 1860 ist bald ein Vierteljahrhundert verflossen; der Tag seiner Geburt kehrt am 13. Mai d. J. zum hundertsten Male wieder. Dahlmann war ein hervorragender Gelehrter, dessen Werke, wie z. B. seine meisterhafte „Quellenkunde der deutschen Geschichte“, noch heute von Bedeutung sind; nicht minder aber auch ein namhafter Politiker. In Göttingen gehörte er zu den bekannten Sieben, die gegen die Aufhebung der Verfassung durch den König Ernst August energisch protestirten und in Folge dessen ohne Recht und Urtheil ihrer Aemter entsetzt wurden; und in der Nationalversammlung war er einer der Führer der Partei, welche den deutschen Bundesstaat mit preußischem Erbkaiserthume gründen wollte. Die Zeit, leider erst die nach seinem Tode, hat gelehrt, mit welchem Scharfblick er das einzig Richtige erkannt, wenn auch damals noch alle Bemühungen und Hoffnungen scheiterten.

Eine eingehende Biographie Dahlmann’s findet sich in den Nummern 11 und 12 des Jahrgangs 1861 der „Gartenlaube“. – th.     


Neue Karten von Afrika. Wir waren bis jetzt bemüht, unsere Leser über die Veränderungen der politischen Grenzgebiete in Afrika stets auf dem Laufenden zu erhalten. Unsere Karten können jedoch selbstverständlich keinen Anspruch auf Ausführlichkeit erheben, sie sind nur Orientirungsskizzen, wie z. B. die in unserer heutigen Nummer auf S. 329 abgedruckte. Dem Verlangen vieler unserer Leser dürften wir entsprechen, wenn wir jetzt auf einige gute Karten von Afrika hinweisen, in denen die neuesten Veränderungen berücksichtigt sind.

Eine kleine, aber recht übersichtliche Karte von Afrika ist zunächst in dem letzten Hefte von „Petermann’s Geographischen Mittheilungen“ erschienen. Vier vorzügliche Specialkarten lieferte ferner in letzter Zeit das Geographische und nautische Institut von L. Friedrichsen in Hamburg. Dieselben sind im Auftrage des Auswärtigen Amtes bearbeitet und beziehen sich auf sämmtliche deutsche Besitzungen in Afrika, sowie auf das centralafrikanische Freihandelsgebiet. Eine sehr interessante Kollektion von Specialkarten sämmtlicher deutscher Kolonialgebiete erscheint endlich im Verlage von Justus Perthes in Gotha; in diesen Karten werden namentlich unsere Handelsbeziehungen, Faktoreien etc. berücksichtigt.

Allen Lesern, die sich für das neue Afrika besonders interessiren, können wir die oben genannten Karten mit gutem Gewissen empfehlen. S–d.     


Allerlei Kurzweil.


Bilder-Räthsel.


Auflösung des magischen Tableaus „Der zerbrochene Spiegel“ in Nr. 18: Verbindet man die den Scherbenspitzen und Einbuchtungen gegenüberstehenden Buchstaben, von dem mit einem Punkt markirten G angefangen, zu Worten, so erhält man den Satz: „Glück und Glas, wie bald bricht das“. S. Atanas.     


Auflösung des Scherz-Räthsels in Nr. 18: Die Pfeilspitze trifft den Hals, die zunächst sich bildende Schlinge das Auge, die zweite Schlinge die Nase und die letzte die Stirn. Die Anfangsbuchstaben der genannten Gesichtstheile geben den Namen: „Hans“.


Kleiner Briefkasten.

Johannisbeerwein. Heinrich Semler giebt in seinem trefflichen von uns bereits empfohlenen Werke „Die Hebung der Obst-Verwerthung und des Obst-Baues“ folgendes Recept: „Ein sehr starkes Getränk erhält man, wenn man dem ausgepreßten Saft der Johannisbeeren die doppelte Menge Wasser zusetzt und dann zwei Eßlöffel Hefe einrührt. Zwei Tage läßt man den Saft gähren, seiht ihn dann durch ein Haarsieb, fügt für je ein Liter ein Pfund Zucker bei und läßt die Vergährung erfolgen. Wenn dieselbe nahezu beendet ist, wird Franzbranntwein, dessen Menge den vierzigsten Theil des Mostes betragen soll, in das Faß gebracht, das man zwei Tage nachher fest verspundet. In vier Monate[n] ist der Wein reif.“

K. L. in Hamburg, Fr. K. in Str. Nicht geeignet.


Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Schluß). S. 321. – Gestörte Gastfreundschaft. Illustration. S. 321. – Eine Verschwörung. Von Johannes Scherr. S. 326. – Der Kongo und die Gründung des Kongostaates. Bericht über das neue Werk von Henry M. Stanley. S. 329. Mit Karte des Kongostaates. S. 329. – Unter der Ehrenpforte. Von Sophie Junghans (Fortsetzung). S. 334. – Blätter und Blüthen: Die Wittwe des Märtyrers. S. 336. Mit Illustration S. 325. – Am Kellersee bei Eutin. S. 336. Mit Illustration S. 333. – Friedrich Christoph Dahlmann. – Neue Karten von Afrika. – Allerlei Kurzweil: Bilder-Räthsel. – Auflösung des magischen Tableaus „Der zerbrochene Spiegel“ in Nr. 18. – Auflösung des Scherz-Räthsels in Nr. 18. – Kleiner Briefkasten. S. 336.


Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

  1. Unter diesem Titel beginnt Mitte Mai, noch vor der Ausgabe des englischen Originals, die deutsche Uebersetzung des längst mit so großer Spannung erwarteten Werkes des berühmten Afrikaforschers im Verlage von F. A. Brockhaus in Leipzig zu erscheinen. Unsere Leser machen wir ganz besonders darauf aufmerksam, daß dieses hochinteressante Buch auch in einzelnen Lieferungen durch jede Buchhandlung zu beziehen ist, sodaß dasselbe auch denjenigen Kreisen, welche ein derartiges Werk lieber nach und nach durch kleinere Zahlungen erwerben, zugänglich wird. Der Verlagshandlung von F. A. Brockhaus, die uns durch ihr überaus freundliches Entgegenkommen die rechtzeitige Besprechung ermöglicht hat, sagen wir hiermit unsern besondern Dank. Die Red. 
  2. Der kleine Dampfer, den Stanley mit sich führte.
  3. „Wie Gott will.“ Die Sansibar-Neger sind bekanntlich Mohammedaner.