Die Gartenlaube (1885)/Heft 2
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No. 2. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Die Frau mit den Karfunkelsteinen.
Es war recht still geworden im Hofe. Tante Sophie und Bärbe
hatten die letzten Wäschestücke von der Leine genommen und
die hochgethürmten Korbwannen in’s Haus getragen;
der Hausknecht war, nachdem er die Stallthür
geschlossen, ausgegangen, um Besorgungen
zu machen, und der kleine, stille Junge saß wieder auf
der Bank und malte mit beneidenswerther Geduld
seine gerühmten Buchstaben auf die Schiefertafel.
Margarete setzte sich neben ihn und faltete die kleinen, hageren, sonnenverbrannten Hände im Schoße; sie ließ die ewig unruhigen Füße baumeln und verfolgte mit ihren lebendigen, klugen Augen den Flug der Schwalben, wie sie über die Dächer herkamen und in scharfen Bogen die blauen Lüfte durchschnitten, um unter den weit hervorspringenden Fenstersimsen des gegenüberliegenden Seitenflügels zu verschwinden.
Inzwischen kam Bärbe mit dem Wischtuch; sie fuhr mit demselben über den Gartentisch, legte eine Kaffeeserviette auf und stellte das klirrende Tassenbrett hin; dann fing sie an, die Wäschleine aufzurollen. Von Zeit zu Zeit warf sie einen ärgerlichen Blick nach dem Kinde, das so ungenirt und angelegentlich seine Augen über die obere Fensterreihe des spukhaften Hauses hinwandern ließ; für die alte Köchin war das eine naseweise Herausforderung, die ihr einen gelinden Schauder über die Haut jagte.
„Bärbe, Bärbe, schnell, drehe Dich um! es ist Jemand drin!“ rief die Kleine plötzlich und zeigte mit dem ausgestreckten Finger direkt nach einem der Fenster in Frau Dorotheens ehemaliger Wochenstube, wobei sie von der Bank sprang. Unwillkürlich, als werde sie von einer fremden Macht herumgerissen, wandte Bärbe den Kopf nach der bezeichneten Stelle und ließ vor Schrecken den mächtig angeschwollenen Wäschleinenknäuel aus den Händen fallen. „Weiß Gott, der Vorhang wackelt!“ murmelte sie.
„Unsinn, Bärbe! Wenn er blos wackelte, so wäre das weiter gar nichts; das könnte auch vom Zugwind sein!“ sagte Margarete überlegen. „Nein, er war dort in der Mitte“ – sie zeigte abermals nach dem Fenster – „dort war er auseinander, und es hat Jemand herausgesehen; und das ist doch närrisch – es wohnt kein Mensch drin –“
„Um tausend Gotteswillen, Kind, wer wird denn immer mit dem Finger
[22] hinzeigen!“ raunte Bärbe und griff nach der kleinen Hand, um sie niederzubiegen. Sie war dicht vor die Kinder getreten, als wolle sie die Kleinen mit ihrer breiten, massiven Figur decken, und kehrte dem bezeichneten Fenster den Rücken – um keinen Preis hätte sie noch einmal die Augen zurückgewendet. „Siehst Du, Gretchen, das hast Du nun von Deinem ewigen Hingucken! Ich wollte Dir’s vorhin schon sagen, aber Du bist ja immer gleich oben hinaus, und da war ich still … Für so ’was wie die Fenster da oben muß der Mensch gar keine Augen haben.“
„Abergläubische, alte Bärbe – das sollte nur Tante Sophie hören!“ schalt das kleine Mädchen ärgerlich und suchte - die vierschrötige Alte aus dem Wege zu schieben. „Erst recht muß man hinsehen! Ich will wissen, wer das gewesen ist! Es ging vorhin zu schnell – husch, war’s weg! – Ich glaube aber, es war Großmama’s Stubenmädchen, die hat so eine weiße Stirn –“
„Die?“ – Jetzt war es an der gescholtenen Köchin, eine überlegene Miene anzunehmen. „Erstlich, wie käme die in die Stube? Doch nicht durch’s Schlüsselloch? Und zum Zweiten thäte sie’s auch gar nicht – nicht um die Welt, Gretchen! Das naseweise Ding hat’s gerade so gemacht wie Du – die dachte auch, ihr könnt’s nicht fehlen, und da hat sie vorgestern Abend in der Dämmerstunde ebenso ihren Schreck weggehabt, wie gestern der Kutscher … Geh Du lieber ’nauf in die gute Stube mit den rothen Tapeten, wo die alten Bilder hängen – die mit den Karfunkelsteinen in ihren kohlpechschwarzen Haaren, die ist’s! Die hat wieder einmal keine Ruh in der Erde und huscht im Hause ’rum und erschreckt die Menschen.“
„Bärbe, Du sollst uns Kindern nicht solchen Unsinn vorschwatzen, hat die Tante gesagt!“ rief Margarete bitterböse und stampfte mit dem Fuße auf. „Siehst Du denn nicht, wie Holdchen sich ängstigt?“ ... Beruhigend wie ein Großmütterchen legte sie die Arme um den Hals des Knaben, der mit angsterfüllten, weit aufgerissenen Augen zuhörte. „Komm her, Du armes Kerlchen, fürchte Dich nicht, und lasse Dir doch nichts weismachen von der demmen Bärbe! Es giebt gar keine Gespenster – gar keine! Das ist Alles dummes Zeug!“
In diesem Augenblick trat Tante Sophie aus dem Hause. Sie brachte den Kaffee, und stellte einen großen, zuckerbestreuten Napfkuchen auf den Tisch. „Kind, Gretel, du siehst ja aus wie ein streitlustiges Kickelhähnchen! Was hat’s denn wieder einmal gegeben?“ fragte sie, während Bärbe sich schleunigst aus dem Staube machte und ihrem abwärts gerollten Leinenknäuel nachlief.
„Es war Jemand dort in der Stube,“ antwortete die Kleine kurz und knapp und zeigte nach dem Fenster.
Tante Sophie, die eben den Kuchen anschnitt, hielt inne. Sie drehte den Kopf um und streifte mit einem flüchtigen Blick die Fensterreihe. „Da oben?“ fragte sie mit halbem Lachen. „Du träumst am hellen Tage, Kind!“
„Nein, Tante, es war ein wirklicher Mensch! Gerade dort, wo der Vorhang so roth ist, da ging er auseinander. Ich sah ja die Finger, ganz weiße Finger, die ihn schoben, und auf einen Husch sah ich auch eine Stirn mit hellen Haaren –“
„Die Sonne, Gretel, weiter nichts!“ versetzte Tante Sophie gleichmüthig und hantirte taktmäßig mit ihrem Messer weiter an dem Kuchen. „Die spielt, und spiegelt in allen Farben auf den alten verwetterten Scheiben, und das täuscht. Hätt’ ich den Schlüssel, da müßtest Du auf der Stelle mit mir hinauf in die Stube, um Dich zu überzeugen, daß kein Mensch drin ist und dann wollten wir sehen, wer Recht behielte, Du Gänschen! Den Schlüssel hat aber der Papa, und die Großmama ist eben bei ihm, und da will ich nicht stören.“
„Bärbe sagt, die Frau, die im rothen Salon hängt, hätte herausgesehen – die läuft im Hause herum, Tante, und will alle Menschen erschrecken,“ klagte Reinhold in weinerlich ängstlichem Ton.
„Ach so!“ sagte Tante Sophie. Sie legte das Messer hin und sah über die Schulter nach der alten Köchin, die aus Leibeskräften an ihrem riesigen Knäuel wickelte. „Bist ja ein lieber Schatz, Bärbe – die richtige Jammerbase und Todtenunke! … Was hat Dir denn das arme Weibchen im rothen Salon gethan, daß Du sie zum Popanz für die Urenkelchen machst?“ –
„Ach, mit dem Popanz hat’s keine Noth, Fräulein Sophie!“ entgegnete Bärbe trotzig und ohne von ihrer Beschäftigung wegzusehen. „Gretchen glaubt’s so wie so nicht ... Das ist ja eben das Unglück heutzutage! Die Kinder kommen schon so superklug zur Welt, daß sie gar nichts mehr glauben wollen, was sie nicht mit Händen greifen können.“ – Sie wickelte mit so grimmigem Eifer weiter, als gelte es, all den kleinen Ungläubigen die Hälse zuzuschnüren. – „Glaubt der Mensch aber nicht mehr an die Geister- und Hexengeschichten, da kommt auch unser Herrgott zu kurz, ja – und das ist eben die Gottlosigkeit heutzutage, und darauf leb’ und sterb’ ich!“
„Das magst Du halten, wie Du willst; aber unsere Kinder lässest Du mir künftig aus dem Spiel, ein- für allemal!“ gebot Tante Sophie streng. Sie schenkte den Kindern Kaffee ein und legte ihnen Kuchen vor, dann ging sie, um ein Rosenbäumchen von der Wäschleine zu befreien, die sich, durch Bärbe’s Ungestüm in seinen Aesten verwickelt hatte.
„Die Sonne war’s aber nicht - das steht bombenfest! – Ich will’s schon herauskriegen, wer immer durch den Gang huscht und in die Stube schleicht!“ murmelte die kleine Skeptikerin am Kaffeetisch vor sich hin und brockte sich die Obertasse voll Kuchen. –
„Auf ein Wort, Baldun!“ hatte die Frau Amtsräthin gebeten, und seit Herr Lamprecht die Ehre hatte, ihr Schwiegersohn zu sein, waren ihre Bitten stets wie Befehle seinerseits respektirt worden. So auch heute. Er hatte zwar eine tiefe Falte des Mißmuthes auf der Stirn, und am liebsten hätte er wohl dem verzogenen Papagei, der fortgesetzt kreischend gegen seinen mißliebigen Träger protestirte, den bunten Hals umgedreht; allein davon wurde der Frau Amtsräthin nicht das Geringste bemerklich, um so weniger, als, sehr zur rechten Zeit, das aus der oberen Etage kommende Stubenmädchen das Thier in Empfang nahm und hinauf trug. –
So ging das zarte, schmächtige Frauchen ahnungslos und graziös neben dem Schwiegersohne her; die Spitzenbarben ihres Häubchens wehten in der Zugluft des Treppenhauses, und die kurze, dunkelseidene Schleppe raschelte vornehm über die Stufen. – Sie waren ziemlich ausgetreten, diese breiten, mächtigen Sandsteinstufen. Weit über zwei Jahrhunderte hindurch war Alles, was das Haus an Lust und Leid gesehen, da hinauf- und hinabgeglitten. Hochzeiten und Tauffeierlichkeiten, Tanz- und Tafelfreuden, wie der letzte Prunkzug der Hingeschiedenen - das Alles, was den verschiedenen Generationen Kopf und Herz bewegt und erfüllt, es war verbraust und verschmerzt, und nur die Fußspur war geblieben – Und jetzt stieg die zierliche alte Dame mit ihren kleinen Goldkäferschuhen auch Stufe um Stufe hinauf, um droben eine Herzensbeklemmung los zu werden – Unmuth und Besorgniß sprachen deutlich genug aus ihren Zügen.
Herrn Lamprecht’s Privatwohnung bildete, hart an der Treppe gelegen, den Schluß der langen Zimmerreihe in der mittleren Etage. Hinter diesen Räumen, nach dem Hofe zu, lag der Korridor oder Flursaal, wie er im Hause genannt wurde, in seiner Länge und gewaltigen Breite so recht der Raumverschwendung der alten Zeiten entsprechend. Er endete erst hinter dem letzten Zimmer, dem sogenannten rothen Salon, dort bog er um die Ecke des angebauten östlichen Seitenflügels und verengte sich zu dem dämmernden Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer, in welchen nur an dem entgegengesetzten äußersten Winkel, da, wo ein paar kleine Stufen seitwärts in das Packhaus hinunterführten, das karge Tageslicht durch ein hochgelegenes Fensterchen hereinfiel.
In dem Flursaal standen alterthümliche Kredenzen von wundervoller Schnitzarbeit, und an der Rückwand, zwischen den herausführenden dunkelgebeizten Flügelthüren der Zimmer, reihten sich Stühle hin, über deren Sitze und Polsterlehnen sich noch derselbe gepreßte gelbe Sammet spannte, den einer der alten Kaufherren einst aus den Niederlanden mitgebracht … Hier war manches Menuett aufgeführt, mancher Festschmaus abgehalten worden, und es ließen sich auch heute noch die häßliche Frau Judith in der Spitzendormeuse und das verführerische junge Weib mit den Karfunkelsteinen im Haar als Herrinnen in die altfränkische Ausstattung unschwer hineindenken. – Aber mochte auch Vieles von dem Prachtgeräth der Urväter seinen Platz hier und in den Zimmern und Sälen drinnen behauptet haben, vor der Wohnung des Hausherrn machte die Pietät Halt, und der moderne Luxus übernahm die Herrschaft.
[23] Es war mehr das Boudoir einer Dame, als ein Herrenzimmer, in welches Herr Lamprecht seine Schwiegermutter eintreten ließ. Rosenholz und Seide, Aquarellbilder und ein sanftes Rosalicht, das von den Vorhängen und Polsterbezügen ausging – dies zarte Gemisch bildete zusammen eines jener süßen Nestchen, in welchen man sich eine schöne junge Frau behaglich zusammengeschmiegt denkt – und hier hatte in der That Herrn Lamprecht’s verstorbene Frau gewohnt.
Die Frau Amtsräthin ging auf einen der kleinen Lehnstühle zu, die, halb in die Spitzen und Seidenfalten der Vorhänge vergraben, die tiefen Fensterwinkel füllten. Ihr kam in diesem Raum nur selten noch der Gedanke an die Tochter, die einst hier gewaltet; sie war es gewohnt, ihren Schwiegersohn an dem kleinen Schreibtisch sitzen und all das zierliche Geräth benutzen zu sehen. Ein Mann von starken Leidenschaften, hatte er sich nach dem Tode der jungen Frau in seinem ersten Schmerz hier eingeschlossen, und seitdem war das Zimmerchen sein Tusculum verblieben.
„Ach, wie reizend!“ rief die alte Dame und blieb wie angefesselt vor dem Schreibtisch stehen, neben welchem sie sich eben niedersetzen wollte. Sie war auch reizend, die Malerei in Wasserfarben da auf dem Medaillon einer Briefmappe – ein durchsichtiges Gegitter von zartem Farrenkraut, und dahinter wie eingefangen ein Stückchen des geheimnißvollen Sprießens, Lebens und Webens nahe dem Waldboden. „Eine originelle Idee, und wie sauber ausgeführt!“ setzte die Frau Amtsräthin hinzu und nahm die Lorgnette zu Hilfe. „Hier das Blumengeistchen, wie es sich begehrlich aus seinem Glockenblumenhäuschen nach der Erdbeere hinüberreckt – wirklich ganz allerliebst! … Eine Arbeit von schöner Damenhand, Balduin? – Hab’ ich Recht?“ –
„Möglich!“ meinte er achselzuckend mit einem flüchtigen Seitenblick nach der Mappe, während er sich bemühte, ein schief-hängendes Bild an der Wand gerade zu rücken. „Die Industrie rekrutirt ja heutzutage eine ganze Armee helfender Kräfte auch aus der Frauenwelt –“
„Also nicht speziell für Dich ausgedacht?“
„Für mich?!“ – Der kleine Nagel, der das Bild seitwärts in gerader Linie festhalten sollte, war herausgefallen – der große, stattliche Mann bog sich tief nieder, um den Flüchtling auf dem Teppich zu suchen, und als er sich wieder aufrichtete, da hatte ihm das Bücken das ganze Blut nach dem Kopfe getrieben ... „Liebe Mama, sollten Sie wirklich von dem allermächtigsten Faktor in unserem modernen Leben, dem Egoismus, nichts wissen, und könnten Sie in der That glauben, daß man heutzutage irgend Etwas ganz umsonst, ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg thue?“
Er sagte das noch abgewendet, wobei er den Nagel wieder in die Wand zu drücken suchte. Nun erst wandte er der alten Dame sein Gesicht voll zu – um seinen Mund zuckte es bitter und spöttisch. „Nehmen wir doch einmal alle die schönen Damenhände unserer Kreise durch, und sagen Sie mir, welche von ihnen wohl im Stande sein würde, eine solch künstlerische, die größte Geduld erfordernde Aufgabe auszuführen für einen Mann, der – nicht mehr zu haben ist!“
Er trat auf das andere Fenster zu, während sich die alte Dame in ihrem kleinen, weichen Lehnstuhl zusammenschmiegte. „Nun ja, darin magst Du wohl Recht haben!“ sagte sie lächelnd und in dem gleichmüthigen Tone, wie man längst Feststehendes, Unanfechtbares und sattsam Bekanntes zugiebt. „Es ist allerdings stadtkundig, daß unsere arme, theure Fanny Dein Gelöbniß der Treue für Zeit und Ewigkeit mit in das Grab genommen hat. Erst vorgestern Abend wieder war bei Hofe die Rede davon. Die Herzogin sprach von der Zeit, wo meine arme Tochter noch gelebt und eine vielbeneidete Frau gewesen sei, und der Herzog meinte, man solle doch ja die sogenannte gute, alte Zeit mit ihrem Biedersinn im Gegensatz zu der heutigen nicht immer herausstreichen; der hochangesehene, wegen seiner Strenge fast gefürchtete alte Justus Lamprecht zum Beispiel habe in seiner Jugendzeit einen Treuschwur in eklatantester Weise gebrochen, während ihn sein Urenkel durch edle Festigkeit beschäme!“
Herr Lamprecht war hinter der rothen Gardine verschwunden. Er hatte die Hände auf den Fenstersims gestützt und sah über den Marktbrunnen hinweg in die gegenüberliegende, vom Markt bergaufsteigende Gasse hinein. – Der schöne Mann hatte ein merkwürdiges Gesicht. Stolz, oder vielmehr Hochmuth, in so scharfer Linie ausgeprägt, würde jedem anderen Antlitz etwas gleichsam Versteinertes gegeben haben; hier aber wirkte ein feuriges Blut unverkennbar überwältigend. Es machte die Augen in unbezähmbarer Wildheit auffunkeln und ließ ein sanftverlangendes Lächeln unwiderstehlich um seine Lippen spielen, es jagte den Gluthstrom des Jähzornes in die Stirnadern und hauchte die Blässe des Seelenschmerzes in die Wangen. Jetzt aber, bei den letzten Worten der alten Dame, schlug Herr Lamprecht die Augen nieder. Er sah aus, als habe er die Stützen seiner Seele, die stolze Zuversicht, den Mannestrotz, das Vollbewußtsein reichen Besitzes nach innen und außen für einen Moment vollständig verloren – nahezu wie ein gescholtener und beschämter Schulknabe stand er da, den dunkelbärtigen Kopf tief gesenkt und sich die Lippen fast wund beißend.
„Nun, Balduin!“ rief die Frau Amtsräthin und bog sich spähend vor, weil es so still blieb in der Fensterecke. „Freut es Dich nicht, daß man bei Hofe eine so schmeichelhafte Meinung von Dir hat?“
Das Rascheln der Seidengardine verschlang den tiefen Seufzer, der ihm über die Lippen zitterte, während er in das Zimmer zurücktrat. „Der Herzog scheint diese edle Eigenschaft lieber an Anderen zu bewundern, als an sich selbst – er hat eine zweite Frau!“ sagte er bitter.
„Ich bitte Dich ums Himmelswillen, was führst Du für eine Sprache!“ fuhr die alte Dame ganz alterirt empor. „Danken wir Gott, daß wir allein sind! Hoffentlich haben diese Wände keine Ohren! – Nein, nein, Balduin, ich fasse es wirklich nicht, wie Du Dir eine solche Kritik erlauben magst!“ setzte sie kopfschüttelnd hinzu. „Das ist ja doch ein ganz anderer Fall! Die erste Gemahlin war sehr kränklich –“
„Bitte, Mama, ereifern Sie sich nicht! Lassen wir doch das!“
„Nun ja, lassen wir das!“ ahmte sie ihm nach. „Du hast gut reden! An Dich wird der Versucher freilich nie heräntreten. Nach Fanny muß es Dir selbstverständlich ganz unmöglich sein, auch nur ein vorübergehendes Interesse für eine Andere zu fassen. Die Herzogin Friederike dagegen –“
„War boshaft und häßlich.“ Herr Lamprecht warf diese Worte offenbar nur ein, um das Thema auf fremdem Terrain festzuhalten.
Sie schüttelte abermals mißbilligend den Kopf. „Diese Ausdrücke würde ich mir selbst nie gestatten – der Glanz und die Auszeichnung hoher Geburt versöhnen und verschönern. Uebrigens ist ja dabei wie gesagt ein himmelweiter Unterschied: den Herzog band kein Versprechen; er war frei und vollkommen berechtigt, eine neue Ehe zu schließen.“
Damit lehnte sie sich wieder in ihren Stuhl zurück, schob die Spitzenbarben ihrer Haube mit einer sanftgelassenen Bewegung aus dem Gesicht und faltete im Schoß die Hände, auf die sie gedankenvoll niedersah, „Du kannst derartige Dilemma’s überhaupt nicht beurtheilen, lieber Balduin. Fanny war Deine erste und einzige Liebe, und wir gaben Dir mit Freuden unsere Tochter. Und als Du Dich mit ihr verlobtest, da weinten Deine Eltern Freudenthränen und nannten Dich ihren Stolz, weil sich die Neigung Deines Herzens nach oben und nie und nimmer in unglückseliger Jugendverirrung abwärts gerichtet habe“ – mit einem tiefen Seufzer unterbrach sie sich und blickte bekümmert vor sich hin. „Gott weiß am besten, welch sorgsam behütende, pflichtgetreue Mutter ich zu allen Zeiten gewesen bin, gewiß nicht weniger, als Deine Eltern; und doch muß es mir passiren, daß mein Sohn auf Abwege geräth – Herbert macht mir in der letzten Zeit unbeschreiblichen Aerger!“
„Wie, der Mustersohn, Mama?“ rief Herr Lamprecht. Er war während der langen Rede seiner Schwiegermutter auf- und abgeschrittenn den Kopf vorgeneigt und in mechanischem Tempo auf die regelmäßig verstreuten Rosenbouquets im Teppichmuster tretend. Jetzt blieb er an der entgegengesetzten Wand des Zimmers stehen und sah spöttisch fragend über die Schulter zurück.
„Hm!“ räusperte sich die Frau Amtsräthin und reckte ihr Figürchen ziemlich gereizt empor. „Das ist er ja wohl in vieler Beziehung auch noch. Er hat ein großes Ziel –“
„Ei ja, wie ich schon vorhin unten im Hofe sagte. Er wird einmal steigen und steigen, bis er mit seinen Fußtritten alle [24] anderen Streber unter sich hat und nichts mehr über sich weiß, als den Allerhöchsten im Staate.“
„Tadelst Du das?“
„Ei bewahre, gewiß nicht, sofern er wirklich das Zeug dazu hat. Aber wie Viele werfen jetzt ihre wahren Ueberzeugungen von sich, heucheln und schmeicheln und hängen sich der Macht an den Rockschoß, um aus bedientenhaften Speichelleckern mit mittelmäßigen Köpfen einflußreiche Männer zu werden!“
„Du brandmarkst ja förmlich die treueste Hingebung und Selbstverleugnung!“ zürnte die alte Dame. „Aber ich frage Dich, würdest denn Du den Frevelmuth, die Dreistigkeit haben, einer höheren Orts gegebenen Richtung entgegenzutreten? – Ich weiß doch recht gut, daß Niemand lieber einer Einladung in die ersten Kreise folgt, als Du, und kann mich nicht erinnern, je einen Widerspruch gegen dort herrschende Meinungen aus Deinem Munde gehört zu haben.“
Auf diese scharfe und jedenfalls wohlbegründete Bemerkung schwieg Herr Lamprecht. Er sah angelegentlich in die gemalte Landschaft hinein, vor welcher er eben stand, und fragte nach einer kurzen Pause: „Und welchen Vorwurf machen Sie Herbert?“
„Den einer entwürdigenden Liebelei!“ platzte die alte Dame erbittert heraus. „Wäre es nicht allzu deutsch und vulgär ausgedrückt, so würde ich sagen, ich wünsche diese Blanka Lenz ins Pfefferland. … Steht der Mensch doch aller Augenblicke oben an den Flurfenstern und starrt nach dem Packhause hinüber! Und gestern weht mir der Zugwind im Treppenhause ein Rosapapier vor die Füße, das dem verliebten Jungen wohl aus einem Schreibhefte gefallen sein mag – selbstverständlich enthielt es ein glühendes Sonett an ‚Blanka‘! – Ich bin außer mir!“
Herr Lamprecht stand noch an seinem Platze, mit dem Rücken nach seiner Schwiegermama; aber es war eine seltsame Bewegung über ihn gekommen – er schwang, genau wie vorhin im Hofe, die geballte Faust auf und ab, als fuchtele er mit der Reitpeitsche durch die Luft.
„Bah, dieses Milchgesicht!“ sagte er, als sie wie erschöpft schwieg, und ließ die Hand sinken. Er reckte seine herrliche Gestalt hoch empor, und mit einer militärisch strammen und doch eleganten Schwenkung drehte er sich auf dem Absatze und stand so gerade dem deckenhohen Spiegel der Fensterwand gegenüber, der ihm ein tiefgeröthetes, verächtlich lächelndes Gesicht zeigte.
„Dieses Milchgesicht ist der Sohn eines vornehmen Hauses – das vergiß nicht!“ entgegnete seine Schwiegermutter und hob den Finger.
Herr Lamprecht lachte hart auf. „Verzeihen Sie, Mama, aber ich kann mit dem besten Willen den Herrn Amtsrathssohn ohne Bart, trotz des Glorienscheines seiner Geburt, nicht für gefährlich und verführerisch halten!“
„Darüber magst Du die Frauen entscheiden lassen!“ sagte die Frau Amtsräthin hörbar empfindlich. „Ich habe alle Ursache, zu glauben, daß Herbert bei seinen nächtlichen Promenaden unter der Holzgalerie, dem Balkon dieser Julia –“
„Wie – er wagt es?“ brauste Herr Lamprecht auf – in diesem Augenblicke war sein Gesicht nicht wieder zu erkennen, so furchtbar entstellte der Jähzorn die schönen Züge.
„Du sprichst von ‚wagen‘ dieser Malertochter gegenüber? Bist Du von Sinnen, Balduin?“ rief die alte Dame tief empört und stellte sich plötzlich mit fast jugendlicher Elastizität auf die kleinen Füße, Aber der Schwiegersohn hielt dem erbitterten Redestrom, der unausbleiblich erfolgen mußte, nicht Stand; er entwich in die Fensterecke – dort trommelte er mit den Fingern so heftig auf die Scheiben, daß sie dröhnten.
„Sag’ mir nur ums Himmelswillen, was ficht Dich an, Balduin?“ rief die Frau Amtsräthin in etwas herabgewildertem, aber immer noch entsetzten Tone und folgte ihm in die Fensternische.
Der Blick hinaus schien ihn wieder zu sich selbst gebracht zu haben. Er hörte auf zu trommeln und sah seitwärts auf die kleine Frau nieder. „Das ist Ihnen ein Räthsel, Mama?“ fragte er höhnisch zurück. „Soll ich nicht empört sein, wenn auf meinem Gebiet – ich will sagen in meinem Hause – solche Stelldicheins provozirt werden von dem – Bankrutscher, der er noch ist? Unverschämt! Da wäre wirklich eine eklatante Züchtigung mit der Haselgerte noch ganz am Platze!“ Wieder schlugen die Flammen des Zornes gesteigert empor; aber er zwang sie nieder. „Bah, alteriren wir uns nicht, Mama!“ sagte er ruhiger und zuckte verächtlich die Achseln. „Die Geschichte ist zu jungenhaft dumm! Mit dem unreifen Bürschchen, das gerade jetzt ausschließlich, womöglich bis über beide Ohren in Griechisch und Latein stecken müßte, wird man doch wohl noch fertig werden – meinen Sie nicht?“
„Nun sieh, da stehen wir ja auf ganz gleichem Boden, wenn Du auch allzu hart in Deinen Ausdrücken bist!“ rief sie sichtlich erleichtert. „Das ist’s gerade, weshalb ich Dich um eine Besprechung bat … Denke aber ja nicht, daß ich bei dieser Liebelei etwa gar eine Befürchtung für Herbert’s Zukunft hege – so weit würde er sich nie vergessen –“
„Eine Porzellanmalerstochter zu heirathen? – Guter Gott! Seine Excellenz, unser zukünftiger Staatsminister!“ lachte Herr Lamprecht auf.
„Herbert’s Karrière reizt Dich ja heute ganz besonders zum Spott – immerhin! Was geschehen soll, geschieht trotz alledem,“ sagte sie spitz. „Aber das ganz bei Seite! Ich habe jetzt nur sein bevorstehendes Examen im Auge. Es ist unsere heilige Pflicht, Alles zu beseitigen, was ihn irgendwie abzieht, und das wäre denn in erster Linie diese unglückliche Flamme drüben im Packhause.“
Er war, während sie sprach, von ihr weggetreten und ging wieder auf und ab. Und jetzt langte er nach einem der auf einem Bücherbrett stehenden Miniaturbändchen, schlug es auf und schien den Inhalt zu mustern.
Die alte Dame zitterte vor Aerger. Eben noch ohne einen eigentlichen Grund bis zur Tollheit aufbrausend, zeigte er jetzt ein unverhehltes Gelangweiltsein, eine geradezu impertinente Passivität! Aber sie kannte ihn ja – er konnte zuweilen auch recht launenhaft und bizarr sein ... Nun, diesmal mußte er still halten, bis ihr Zweck erreicht war.
„Ich verstehe übrigens nicht, was das Mädchen so lange in Thüringen zu suchen hat,“ fuhr sie fort. „Es hieß anfänglich, sie gehe nach England zurück und sei nur auf vier Wochen zu ihrer Erholung bei den Eltern. Nun sind bereits sechs Wochen in’s Land gegangen, und so sehr ich mich auch bemühe und aufpasse, ich sehe nicht, daß irgendwie zur Abreise gerüstet wird … Solche Eltern sind – fast hätte ich gesagt ‚Prügel werth!‘ Das Mädchen liegt buchstäblich auf der faulen Bärenhaut. Sie singt und liest, tänzelt hin und her und steckt sich Blumen in die rothen Haare, und die Mutter sieht ihr verzückt zu und plättet auf dem Gange im Schweiß ihres Angesichts Tag für Tag die hellen Sommerfähnchen, damit das Prinzeßchen ja immer recht kokett und verführerisch aussieht. … Und um dieses Irrlicht flattern alle Gedanken meines armen Jungen! Das Mädchen muß fort, Balduin!“
Die Blätter des Buches raschelten unter seinen immer hastiger umwendenden Fingern. „Soll sie in’s Kloster?“
„Ich bitte Dich inständigst, nur jetzt keinen Scherz! Die Sache ist bitterernst. Das ‚Wohin‘ ist mir sehr gleichgültig; ich sage nur das Eine: Sie muß fort aus unserm Hause!“
„Aus wessen Hause, Mama? Meines Wissens, sind wir hier im Hause Lamprecht, und nicht auf dem Gute meines Schwiegervaters. Zudem wohnt der Maler Lenz weit drüben über dem Hofe –“
„Ja, das ist eben das Unbegreifliche!“ fiel sie ein, klug über seine scharfe Zurechtweisung hinwegschlüpfend. „Ich kann mich nicht erinnern, daß das Packhaus je bewohnt gewesen wäre.“
„Nun ist es aber bewohnt, liebe Mama,“ sagte er mit fingirtem Phlegma und warf das Buch lässig auf ein Tischchen.
Sie zuckte die Achseln. „Leider – und ist noch dazu neu tapeziert worden für die Leute. Du fängst an, Deine Arbeiter zu verwöhnen –“
„Der Mann ist kein gewöhnlicher Arbeiter.“
„Mein Gott, er bemalt Tassen und Pfeifenköpfe! Deshalb wirst Du ihn doch wahrhaftig nicht so auszeichnen, daß er im Hause des Prinzipals wohnen darf? – In Dambach ist doch wirklich Platz genug!“
„Als ich Lenz vor einem Jahre engagirte, da stellte er die Bedingung, in der Stadt wohnen zu dürfen, weil seine Frau an einem körperlichen Uebel leidet, das oft plötzlich die rascheste äeztliche Hilfe nöthig macht.“
„Ach so!“ – Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie kurz entschlossen: „Nun gut, dagegen läßt sich ja nichts einweuden,
[25][26] und es soll mir auch schon genügen, wenn die Stimme nicht mehr über den Hof schallt und das Hin- und Herschweben der kleinen Kokette auf dem Gange ein Ende hat. Es giebt ja genug Miethwohnungen für kleine Leute in der Stadt.“
„Sie meinen, ich soll den Mann Knall und Fall aus seinem stillen Asyl vertreiben, weil – nun weil er so unglücklich ist, eine schöne Tochter zu haben?“ Seine Augen blitzten die alte Dame an – ein düsteres Feuer glomm in ihnen auf. „Würden nicht alle meine Leute glauben, Lenz habe sich Etwas zu Schulden kommen lassen? Wie dürfte ich ihm das anthun? Das schlagen Sie sich nur aus dem Sinn, Mama, das kann ich nicht!“
„Aber mein Gott, Etwas muß doch geschehen! Das kann und darf nicht so fortgehen!“ rief sie in halber Verzweiflung. „Da bleibt nur nichts Anderes übrig, als selbst zu den Leuten zu gehen und dahin zu wirken, daß das Mädchen abreist. Auf ein Geldopfer, und sei es noch so bedeutend, soll es mir dabei nicht ankommen.“
„Das wollten Sie in der That?“ – Etwas wie ein geheimes Erschrecken klang in seiner tonlosen Stimme mit. „Wollen Sie sich lächerlich machen? Und vor Allem, wollen Sie mit diesem auffallenden Schritt auch mein Ansehen als Prinzipal in den Augen Aller schädigen? Soll man denken, von Ihrem Privatinteresse hänge das Wohl und Wehe meiner Leute ab? Das kann ich nicht dulden“ – und er hielt inne; er mochte wohl fühlen, daß er zu heftig für empfindliche Damenohren wurde. – „Es ist mir stets eine Freude und Genugthuung gewesen, meine Schwiegereltern im Hause zu haben,“ setzte er beherrschter hinzu, „und das Gefühl der unumschränkten Herrschaft in Ihrem Heim ist Ihnen gewiß niemals beeinträchtigt worden; ich habe wenigstens zu allen Zeiten streng darauf gehalten, daß keines der Ihnen zugestandenen Rechte auch nur um ein Jota verkümmert werde. Dafür verlange ich aber auch, daß kein Uebergriff in mein Departement stattfindet. Verzeihen Sie, liebe Mama, aber darin verstehe ich keinen Spaß; ich könnte da vielleicht sehr unangenehm werden, und das wäre für beide Theile nicht wünschenswerth!“
„Bitte, lieber Sohn, Du steigerst Dich in ganz unmotivirter Weise!“ fiel die Frau Amtsräthin kühl, mit einer vornehm abwehrenden Handbewegung ein. „Und im Grunde ist es ja doch nichts als eine Laune, die Du so hartnäckig verfichtst – ein anderes Mal wird es Dir vollkommen gleichgültig sein, ob der Herr Maler Lenz sammt Familie ein Dach über dem Haupte hat oder nicht – dafür kenne ich Dich! Nun immerhin! Selbstverständlich bin ich die Nachgebende. Vorläufig werde ich freilich gezwungen sein, fortwährend auf Wachtposten zu stehen, und keine ruhige Stunde mehr haben –“
„Da seien Sie ganz ruhig, Mama! Sie haben an mir den besten Verbündeten,“ sagte er unter einem sardonischen Auflachen. „Mit den nächtlichen Promenaden und schwülstigen Sonetten hat es ein Ende – mein Wort darauf! Wie ein Büttel werde ich dem verliebten Jungen auf den Fersen sein, darauf können Sie sich verlassen!“
Draußen wurde die Flügelthür geräuschvoll geöffnet, und trippelnde Schritte kamen über den Saal.
„Dürfen wir hereinkommen, Papa?“ rief Margaretens Stimmchen während ihre kleinen Finger kräftig anklopften.
Herr Lamprecht öffnete selbst die Thür und ließ die beiden Kleinen eintreten. „Na, was giebt’s? Das Dietendörfer Gebäck habt Ihr gestern aufgegessen, Ihr Leckermäuler, und das Naschkästchen ist leer –“
„Ach bewahre, Papa, das wollen wir gar nicht! Heute giebt’s Napfkuchen unten!“ sagte das kleine Mädchen. „Tante Sophie will nur den Schlüssel haben – den Schlüssel zu der Stube hinten in dem dunklen Gange, die immer zugeschlossen ist –“
„Und wo die Frau aus dem rothen Salon vorhin in den Hof hinunter gesehen hat,“ vervollständigte Reinhold.
„Was ist das für ein Kauderwälsch? Und was soll das unsinnige Gewäsch von der Frau aus dem rothen Salon?“ schalt Herr Lamprecht mit barscher Stimme, ohne jedoch ein gewisses beklommenes Aufhorchen verbergen zu können.
„Ach, das sagt die dumme Bärbe nur so, Papa! Die ist ja so schrecklich abergläubisch,“ entgegnete Margarete. . . . Und nun erzählte sie von dem, was sie am Fenster gesehen haben wollte, von dem großen rothblumigen Bouquet in dem verschossenen Vorhang, das sich plötzlich zu einem breiten, dunklen Spalte auseinander gethan, von den schneeweißen Fingern und der Stirn mit den hellen Haaren, und wie Tante Sophie dabei bleibe, die Sonne sei es gewesen, was doch gar nicht wahr sei – und Herr Lamprecht wandte sich seitwärts und griff nach dem hingeworfenen Miniaturbändchen, um es wieder auf das Bücherbrett zu stellen.
Die Nihilisten.
Ihre größte Reformthätigkeit entwickelte die russische Regierung in der Zeit von 1861 bis 1865: – Aufhebung der Leibeigenschaft, Einführung der Kreis- und Provinzialstände in 35 Provinzen, Gerichtsverfassung mit Oeffentlichkeit und Mündlichkeit, Pressefreiheit für Moskau und Petersburg.
Um diese Beschränkung ihrer Freigebung auf die beiden Hauptstädte kümmerte sich aber die russische Presse ganz und gar nicht und eine geraume Weile ließ man sie gewähren. Sie hat sich ihrer Freiheit in einer Weise bedient, welche zu dem Wahrspruch berechtigt, daß kaum jemals knäbische Unreife und greisenhafte Ueberreife so widerlich mitsammen verbunden gewesen wie hier.
Man hätte doch erwarten sollen, daß in dieser Sturm- und Drangzeit Russlands die Literatur eine vielleicht etwas rohe Gesundheit, immerhin aber eine energische Jugendfrische kundgäbe. Bewahre! Nichts als krampfhaft überreizte Kritik, nörgelnde Blasirtheit, größenwahnwitzige Einbildung, gewaltsam aufgespannte Impotenz. Selbst beim weitaus begabtesten russischen Schriftsteller dieser ganzen Periode, beim Iwan Turgénjew, niemals ein voller Hauch jugendfreudiger Schöpfungslust, kein wohlthuender Laut der Menschheittrösterin Poesie, sondern überall nur ein fataler, alles durchdringender, bleischwer auf die Nerven sich lagernder Fäulniß- und Modergeruch. Wehe über Russland, wenn Turgénjew ein Dichter im Sinne der Alten, ein vates, ein Seher und Zukunftsahner gewesen wäre! Wie trostlos müßte dann die Zukunft des russischen Volkes sein!
Und doch war der „Realist“ Turgénjew, der Grau-In-Grau-Maler, noch ein Idealist und Optimist, verglichen mit der jüngeren Schriftstellergeneration der Tschernyschewski, Pisarew, Schelgunow, Sokolow, Dobroljubow, Saizew und Konsorten. In den Stilübungen dieser Leute machte sich der ödeste Materialismus breit und saß der souveräne Dünkel des Unverstandes und der Unwissenheit über Recht und Sitte, über Literatur und Kunst, über alle Errungenschaften der Civilisation zu Gericht. Diese Propheten des Nihilismus haben unter anderem auch jenen westeuropäischen Kathedrariern, welche, um, koste es was es wolle, mittels neuen „Fünden“ Aufsehen zu erregen und nebenbei das unsern lieben Zeitgenossen so unbequeme Princip der Verantwortlichkeit aus der Welt zu schaffen, das Verbrechen zu einer im Bau des Gehirns begründeten Naturnothwendigkeit umlogen, ihren Ruhm vorweggenommen.
Denn sie orakelten ja, Laster und Verbrechen im herkömmlich moralischen Wortsinne gebe es eigentlich gar nicht. Da nur physische, chemische und physiologische Lebensbedingungen existirten, so sei das Thun und Lassen der Menschen immer und überall nur eine unausweichliche und folglich berechtigte Schlußfolgerung aus dieser Voraussetzung.
Die Ehe? Eine Ungerechtigkeit gegenüber den ledigen Frauenzimmern. Die Familie? Eine reine Absurdität. Die Erziehung? Bah, es ist „infam“, den Willen des Kindes zu brechen, „in die intellektuelle Sphäre eines andern Wesens eingreifen zu wollen“, und es ist „irrationell“, Kindern die sogenannte sittliche Reinheit und Unschuld so lange als möglich erhalten zu
[27] wollen“. Mord? Ja, der Mörder muß eben morden, sein zu kurzer Hintergehirnlappen zwingt ihn dazu. Diebstahl? Als ob nicht Proudhon zufolge alles Eigenthum auch Diebstahl wäre! Jedennoch mögen Diebstahl, Raub, Betrug und Fälschung als „inopportun“ bezeichnet werden, sofern nämlich der Dieb, Räuber, Betrüger oder Fälscher so dumm ist, sich erwischen zu lassen.
Wie allbekannt, hat dieser vonseiten „kolossal entwickelter“ Wortführer aufgestellte „zeitgemäße“ Moralkodex die entsprechenden Früchte getragen, namentlich auch in Gestalt von Verdikten der russischen Herren Geschworenen.
Wie verwildernd die zerstörerischen Theorieen der Nachschwätzer ihres von „Allzerstörung“ und „Allgestaltlosigkeit“ faselnden Vorschwätzers Bakunin auf die russische Jugend, insbesondere auf die sogenannte studirende, wirken mußten, begreift sich leicht. Es schmeichelte ja Schwachköpfen von nichtstudirenden Studenten, zu vernehmen und zu glauben, mittels anmaßlichen Raisonnirens und Kritisirens vermöge man sich, der Mühe des Lernens überhoben, leicht und rasch auf die Höhe „zeitgemäßester Entwickelung“ zu schwingen. Von dieser eingebildeten Höhe herab verkündeten zum Jubel einer hoffnungsvollen Studentenschaft die oben genannten Orakler unter anderen diese „wissenschaftlichen Fünde“: – Puschkin war ein so kolossal unentwickelter Mensch, daß er noch die Ehre als ein sociales Motiv statuirte. Shakspeare machte sich mit lauter Dummheiten zu schaffen. Voltaire und Montesquieu sind nur wegen ihrer Bornirtheit allenfalls bemerkenswerth, wie nachmals Macaulay. Göthe war ein Schmarotzer, Schiller ein Philister. Und so weiter in der Litanei des Blödsinns.
Daß die russische Jugend in großer Anzahl diese Litanei zu ihrem Kredo machte, daran hatte das unheilvolle Experimentiren der Regierung mit Erziehungsmethoden und Unterrichtssystemen nicht geringe Schuld. Verhängnißvoll, weil dem Materialismus kräftigsten Vorschob leistend, mußte vor allem die jahrelang sinnlos einseitig betriebene Bevorzugung der sogenannten realistischen Disciplinen wirken. Die russische Regierung verkannte ganz und gar die große Wahrheit, daß die einzige, schlechthin unersetzliche Grundlage aller gediegenen und wesentlich-humanen Bildung das Studium der alten Sprachen und die Kenntniß der klassischen Literatur ist und, allen Banausiern und Böotiern zum Trotz, auch bleiben wird, so lange es überhaupt eine höhere und höchste Geisteskultur gibt. Sie begünstigte daher die sogenannten Realien und unter diesen wiederum einseitig die Naturwissenschaften.
Die Folgen traten an russischen Gymnasien und Hochschulen bald erschreckend zu Tage. Grasgrüne Bursche, welche einen blassen Hochschein von physikalischen Rudimenten und chemischen Verbindungen hatten und todte Frösche zu galvanisiren und lebende Kaninchen „wissenschaftlich“ zu Tode zu martern verstanden, hielten sich für so „kolossal entwickelt“, daß sie berechtigt wären, über alles und jedes abzusprechen und befähigt, im Handumdrehen den Staat zu demoliren und die Gesellschaft zu „anarchisiren“. Alles, natürlich, nach der Schablone vom langen Bakunin und seinen gefährlichen Mitnarren.
Ein charakteristisches Merkmal dieser unreifen Weltverbesserer war der Haß, womit sie auf die geschichtlichen Studien blickten. Begreiflich! Das Buch der Geschichte widersprach ja auf jeder seiner Seiten den größewahnwitzigen Phantastereien solcher Nichtse, welche von historischer Entwickelung nichts wußten und nichts wissen wollten. Wissenden aber ist wohlbekannt, daß nur der ein durchgebildeter Mensch zu heißen verdient, welcher von dem geschichtlichen Lebensgang seines eigenen Volkes und der Menschheit eine klare Vorstellung besitzt. Wem dieselbe fehlt, der mag ja in seinem Specialfach ein recht tüchtiger, brauchbarer und nützlicher Mensch sein; aber über die höchsten Probleme, über politische und sociale Fragen sollte er keine Reden halten, sondern nur das Maul.
Zu Anfang des Jahres 1875 wurde im Auftrage des damaligen russischen Justizministers, des Grafen Pahlen, auf Grund amtlicher Erhebungen eine für den Zaren, den Großfürsten-Thronfolger und die höchsten Staatswürdenträger bestimmte Denkschrift über den Nihilismus und dessen Verbreitung verfaßt.
Die Bedeutung dieses „ältesten officiellen“ Dokuments über die nihilistische Bewegung braucht nicht hervorgehoben zu werden. Bemerkenswerth aber ist, daß darin die Ausdrücke „Nihilismus“ und „Nihilisten“ noch nicht gebraucht sind, sondern nur von „Revolutionären“ und „Anarchisten“ die Rede ist. Und doch war das Hauptwerk der nach dem Tode des Zaren Nikolai in Russland aufgekommenen sogenannten „Anklageliteratur“, Turgénjews Roman „Väter und Söhne“, schon 1861 erschienen, ein literarisches nicht nur, sondern auch sociales Ereigniß für Russland. Da hatte der berühmte Novellist den Begriff des Nihilismus, d. h. Idee und System einer allgemeinen und unbedingten Verneinung, entwickelt und den Typus eines Nihilisten (Bazarow) zuerst hingestellt. Seither waren dann die Bezeichnungen Nihilismus und Nihilisten, zu deutsch Nichtsheit und Nichtser (vom lateinischen nihil, russisch nitschewo), dem europäischen Sprachschatze einverleibt worden.
Alexander Herzen beanspruchte jedoch in einem Aufsatz im „Polarstern“ von 1869, worin er Turgénjews Helden zergliederte, für den Nihilismus ein höheres Alter, indem er den Nachweis unternahm, daß der bekannte Kritiker Bielinski schon zu Anfang der 40ger Jahre, der Commis Voyageur der „Universalrevolution“ Bakunin schon 1848, der „Verschwörer“ Petraschewski schon 1849 richtige Nihilisten gewesen seien. Bei derselben Gelegenheit bestimmte Herzen den Nihilismus als „die absolute Freiheit von allen fertigen Begriffen, von allen überkommenen Hemmnissen und Störungen, welche das Vorwärtsschreiten der abendländischen Intelligenz mit ihrem historischen Klotz am Fuße aufhalten und hindern.“
Die praktische Anwendung dieser Definition auf Leben und Gesellschaft hatte um mehrere Jahre früher schon, als sie gegeben wurde, Nikolai Tschernyschewski zu lehren unternommen mittels seines „mit wenig Witz und viel Behagen“ geschriebenen, breitspurig langweiligen Romans „Was thun (Tschto djelat)?“, auf welchen darum die vorhin erwähnte geheime Denkschrift nachdrucksam hinwies. Mit gutem Grund. Denn dieses inhaltlich und stilistisch gleich schlechte Buch übte einen so großen Einfluß auf die verstand- und urtheilslose Menge der Unzufriedenen und revoluzisch Gesinnten in Russland, daß es eine geraume Weile geradezu für das Lehrbuch des Nihilismus gelten konnte.
„Was thun?“ Der Aufwerfer dieser Frage suchte selbige dadurch zu beantworten, daß er es unternahm, das Bild eines Staates zu entwerfen, wie sich ein solches in seinem kranken Gehirne spiegelte. Also das Bild eines zukünftigen Unstaats, d. h. einer Gesellschaft, die, völlig losgebunden von Gesetz und Sitte, aller Wonnen unbedingter Anarchie sich zu erfreuen hätte. Weil sich Tschernyschewski der Begabung eines Morus („Utopia“), Campanella („Civitas solis“) oder Cabet („Voyage en Icarie“) nicht rühmen konnte, fiel, wie schon erwähnt, seine anarchistische Traumbildnerei sehr langweilig aus. Aber er hat das Verdienst, die heimlichsten Gedanken, Absichten und Wünsche des Nihilismus kundgemacht und allen Menschen von fünf gesunden Sinnen gezeigt zu haben, wie es in der hochgelobten Anarchie zu- und hergehen würde und müßte. So, daß anständige Menschen jedenfalls lieber in einer der „Bolgen“ von Dante’s Hölle leben möchten als in solchem Zukunftsparadies.
Es ist recht kennzeichnend, daß die Figuren, welche Tschernyschewski als Träger der nihilistischen Ideen auftreten läßt, entweder Lumpe oder Schufte oder Narren sind. Auch an entsprechenden Lumpinnen fehlt es natürlich nicht, d. h. nicht an „Normalweibern“ im Sinne des Autors. Und, wohlverstanden, dieses Pack stellt er als Idealtypen der Zukunft hin, als „riesig entwickelte“ Muster und Vorbilder, welchen, nebenbei bemerkt, alles Wissen nur so anfliegt, ohne daß sie sich mit dem dummen Lernen abzugeben brauchen. Als einen Ur- und Erznihilisten, welcher die höchste Höhe der „Vorurtheilslosigkeit“ erklommen hat, führt Tschernyschewski einen Kraftkerl Namens Rachmetow vor, welcher es für etwas eines „entwickelten“ Menschen Unwürdiges und Unberechtigtes erklärt, so einer eine Frau oder eine Geliebte für sich allein haben will. Man könnte diesen Rachmetow für eine satirisch ins Verrückte gesteigerte Karikatur von Turgénjews Bazarow halten. Allein der Verfasser von „Was thun?“ will seinen Helden, welcher sich mittels allerhand Kraftübungen, insbesondere mittels Verschlingens „nahezu roher“ Beefsteaks, auf seine nihilistische „Mission“ vorbereitet, durchaus ernsthaft genommen wissen. Im übrigen geht er systematisch darauf aus, in seinen Lesern die Begriffe Gewissen und Pflicht zu zerstören und die Unterscheidung von gut und bös völlig zu verwischen. Item wendet er viel tiftelnde [28] Sophistik auf, die Frauen von ihrer „Gleichberechtigung“ mit den Männern zu überzeugen und ihnen den „Begriff der freien Liebe“ beizubringen.
Die später, in den 70ger Jahren, in Russland selbst oder von der Fremde her kundgewordenen Anpassungen der russischen Revolutionspartei haben dann die durch Tschernyschewski ins anarchische Nichts eröffneten und gebahnten Wege breitgetreten. Nur daß sich mit der Heftigkeit der gegen die Revoluzer angestrengten Verfolgung auch die Rücksichtslosigkeit ihrer Sprache steigerte. Der anständige Ton eines Herzen war jetzt pöbeligem Geschrei gewichen, die gemessene Oppositionsrede gemeinem Wuthgezeter. Was Tschernyschewski nur geflüstert hatte, wurde jetzt brutal hergebrüllt. So in den im Auslande gedruckten Zeitschriften „Vorwärts“ (Wperòd), die „Sturmglocke“ (Nabat) und die „Volksjustiz“ (Narodnaja Rasprawa). In diesen und anderen Erzeugnissen der nihilistischen Presse lief am Ende aller Enden alles auf den blindwüthigen Zorn- und Racheschrei hinaus: „Putscht! Mordet! Schießt!“
Alles Wahrheitgefühls müßte ledig sein, wer da leugnen wollte, daß sothane Literatur furchtbare moralische Verheerungen in der russischen Gesellschaft angerichtet, vorzugsweise in den Kreisen der sogenannten „Gebildeten“ männlichen und weiblichen Geschlechts häufig allen Sinn für Recht, Sitte, Pflicht und Schicklichkeit spurlos vertilgt und an die Stelle einer wohlberechtigten Sehnsucht nach Umgestaltung des Staatslebens einen wilden Fanatismus des Hasses und der Zerstörungslust gesetzt habe.
Anderseits darf aber auch nicht übersehen oder geleugnet werden, daß die Verzweiflung warmblütiger rassischer Patrioten an dem Gelingen des zarischen Reformwerkes, ja an der Aufrichtigkeit der Reformabsichten des Hofes und des „Tschin“, nur allzu begreiflich war. Daß der Zar eben auch nicht allmächtig sei, daß die gegebenen Verhältnisse nicht selten die besten Tendenzen desselben scheitern machten, dies zu erwägen nahm sich die einmal entfachte revolutionäre Leidenschaft keine Zeit. Sodann mußte es den Groll der Revoluzer immer wieder wecken und mehren, wenn sie tagtäglich Gelegenheit erhielten, mitanzusehen, wie die Regierung, während dieselbe theoretisch in die Wege des Rechtsstaates einzulenken suchte, in ihrer Praxis die alte Willkürstraße weiterwandelte. Dafür zeugten ja ganz augenscheinlich die fortwährenden „Verschickungen“ nach Sibirien von polizeiwegen. Die berüchtigte „dritte Abtheilung von Sr. Majestät eigener Kanzlei“, d. h. das Hauptwerkzeug des unverantwortlichen Willkürregiments, wurde erst im August von 1880 aufgehoben und auch dann nur scheinbar.
An fortschwärenden Ursachen, die Revolutionsidee in vielen, in sehr vielen Köpfen zu einer fixen zu machen, war demnach kein Mangel. Man muß aber, so man gerecht sein will, noch mehr sagen. Dieses nämlich, daß dem Nihilismns, sowie er aus der Theorie in die Praxis hinübertrat, trotz alledem und alledem eine gewisse Großheit zuerkannt werden darf – die Größe der Aufopferungsfähigkeit, einer nicht selten an’s Wunderbare gränzenden Aufopferungsfähigkeit. Wo aber diese, da brennt immer eine Flamme, welche vom Besten, was im Menschen, genährt wird. Sie brannte auch, dagegen kann kein Zweifel aufkommen, in vielen Nihilisten, sowie in dieser oder jener Nihilistin. Die Mehrzahl der Partei allerdings mochte aus von Haus aus verkommenen Subjekten bestehen, angefault, bevor sie reif geworden. Andere, und zwar nicht wenige, machten den Nihilismus gedankenlos mit, weil ja derselbe, so zu sagen, in die Mode gekommen war. Wieder andere aus purer Eitelkeit und Wichtigthuerei. Aber es gab auch Helden und Heldinnen des Nihilismus, welche, aus echtem Enthusiasmus auf die schiefe Ebene desselben gerathen und nach Erduldung unsäglicher Drangsale schließlich dem Untergang verfallen, dem rascheren Tode am Galgen oder dem langsameren in der sibirischen Bergwerksnacht mit nicht weniger Standhaftigkeit entgegengingen, als mit welcher vordem christliche Märtyrer in römischen Arenen und protestantische Opfer spanischer Autos de Fé glorreich gestorben waren. Wie diese, so lebten und starben auch sie für ihre „Idee“.
Hier jedoch endet die Aehnlichkeit. Denn die christlichen und die ketzerischen Märtyrer hatten ihre Ueberzeugung und Begeisterung nicht in den Dienst des Verbrechens gestellt und starben mit reinen Händen. Für die Nihilisten und Nihilistinnen dagegen, auch für die besten, existirte das Sittengesetz nicht mehr. Der Unterschied von gut und bös war ihnen ein Spott und in ungeheurem Dünkel wähnten sie sich erhaben über alles, was heilig ist unter Menschen. So wurden sie Fälscher, Diebe, Einbrecher, Mörder. Zuletzt schlug ihr Fanatismus zu einem auf Massenmord gerichteten Zerstörungsdelirium aus, welches man mit dem altnordischen „Berserkergang“ oder mit dem malayischen „Mordlauf“ vergleichen könnte, falls nicht so viel kaltblütige Berechnung damit verbunden gewesen wäre.
[29]
{Schluß.)
In den folgenden Tagen war viel vom „Amerikaner“ die Rede,
der ein besonders großes Schiff war und vermuthlich hier überwintern
mußte. Der Kapitän sollte ein höflicher, aber im Ganzen
zurückhaltender Mann sein und sich im ersten Gasthof einquartiert
haben. Ich begegnete ihm ein paarmal auf meinen Gängen.
Das Wetter war hell geworden und zum leichten Frost umgeschlagen.
Er schien sich in Begleitung des Negers die Stadt anzusehen.
Ich hörte ihn mit dem Burschen englisch reden, doch
sollte er sich sonst auch deutsch mit ziemlicher Geläufigkeit ausdrücken.
Als ich zu Anfang der folgenden Woche einmal wieder in den „Schlagtodt“ kam, fehlte Karsten aufs neue, und der Wirth machte ein sorgenvolles Gesicht. „Ich hätte Sie heut’ noch rufen lassen, Herr,“ sagte er. „Es ist nicht gut mit dem Alten. Er klagt nicht, aber er will nicht aus dem Loch und sitzt allein und trinkt Tag und Nacht – das bringt einen Riesen um. Reden Sie mit ihm, auf mich hört er nicht.“ – „Gut, so will ich gleich zu ihm. Wo wohnt er? Ich hörte nie von seiner Wohnung,“ versetzte ich. – Und da erwiderte Christopher grollend: „Ja Herr, das gehört auch dazu. Er hat sich mit dem alten Wallis gezankt und ihm den Stuhl vor die Thür gesetzt. Da hab’ ich ihn denn wohl hier bei mir einlogiren müssen.“ – „Schon recht, wo find’ ich ihn also?“ fragte ich. – „Ich muß Sie selber hinbringen, Herr,“ erwiderte er, halb verdrießlich, halb verlegen. „Es hat mit dem Platz so seine eigene Bewandtniß – es darf nicht davon geredet werden.“ – Ich sah ihn ganz verwundert an. „Was giebt’s, Herr Wirth?“ – „Ei Herr, der Platz muß unbekannt bleiben,“ sagte er achselzuckend. „Nichts für ungut, es ist ’mal nicht anders.“
Er führte mich die Treppe hinauf, durch einen langen Gang und wieder über eine steile Stiege, unter dem Dach hin und zwischen aufgeschichtetem Torf entlang, bis an die durch allerlei altes Gerümpel verstellte Schlußwand. Da trat er um ein paar Möbelstücke und klopfte taktmäßig an. War’s eine Wand oder eine Thür? Es war hier so dunkel, daß man von seiner Umgebung so gut wie nichts zu unterscheiden vermochte. Und nun ging eine Thür auf, und ein kleines, nur durch ein Oberlicht und eine Kerze auf dem Dach dämmerig erhelltes, von Cigarrenrauch erfülltes Gemach lag vor uns. Am Tisch saß Karsten vor Flasche und Glas und schaute uns mit stierem Blick entgegen, ohne sich übrigens zu regen. „Da sitzt er,“ sagte der Wirth. „Wenn Sie hernach gehen, Herr, so soll meine Frau auf Sie passen.“ Und damit trat er zurück und drückte die Thür hinter sich ins Schloß.
So war ich mit Karsten allein, und hatte mich das Bisherige überrascht, so bestürzte mich beinah, was ich nun vor mir sah. Ich hatte den Alten seither nicht blos ruhiger, sondern auch gewissermaßen solider gefunden, als er sich in den alten Zeiten zu geben pflegte. Sein Durst gehörte nun einmal ebenso gut zu ihm, wie der Stoff, mit dem er ihn am liebsten löschte, eigentlich übernommen aber hatte er sich vor meinen Augen bisher nie, wie groß ein paarmal auch seine Aufregung, wie tief zu anderen Zeiten seine Versunkenheit gewesen, von der ich gesagt habe. Er hatte sich, so wie's darauf ankam, stets rasch und vollständig wieder aufzuraffen vermocht. Mit dem hier vor mir schien es jetzt aber ganz zu Ende zu sein, und die Veranlassung war nicht zweifelhaft. Die Rumflasche war fast leer, in der Wasserflasche fehlte kein Dropfen, und das Glas enthielt den reinen Stoff. Von seinem Aussehen habe ich schon gesagt, seine Antwort auf meinen Gruß war ein unverständliches Murmeln, und die Hand, welche er mit einer sozusagen willenlosen Bewegung in die meinige legte, war so welk, als sei kein einziger Knochen darin.
Ich behielt sie in der meinigen und schaute ihn fest an. „Nun, was ist denn mit Dir, alter Mensch?“ fragte ich nicht grade freundlich, denn ich sorgte weniger um ihn, als daß mich dieser Zustand anwiderte. Er blickte nicht auf, sein Gesicht blieb unverändert, die Hand gleich leblos. „Schlafen, Junge, schlafen – ich kann’s nicht!“ murmelte er in klanglosem Ton. – Ich faßte die Hand fester, sie wäre mir sonst entfallen. „Ja, wie kann man denn hier schlafen?“ fragte ich, mich in dem armseligen Gelaß umschauend, – „in diesem licht- und luftlosen Loch, immer allein und mit der Rumflasche als Tröster?“ – Er saß regungslos in seinem dumpfen Brüten, vielleicht hatte er meine Worte auch gar nicht gehört.
„Mach’, daß Du hinaus und hinunter kommst,“ fuhr ich fort, „unter Menschen! Hier erstickst Du oder wirst toll.“ Es regte sich noch immer nichts und da sagt’ ich – der Vorwurf von Feigheit hätte ihn, wie ich wohl wußte, früher von den Todten aufgerufen! – mit allem Bedacht: „Oder hast Du Angst vor den Menschen und verkriechst Dich hier blos?“
Es zuckte wie ein Blitz durch ihn hin; die Hand wurde hart wie Eisen und die Finger spannten sich um die meinen; der Kopf flog auf mit einem Ruck, das Auge traf mich mit drohendem Blick. „Was weißt Du? Wer hat Dir ’was gesagt?“ fuhr er mich ingrimmig an. Und er stand auf den Füßen, – „wird’s, Junge?“ – Ich kann nicht sagen, daß ich erschrocken gewesen wäre, denn ich erlebte einen so jähen Wechsel an ihm nicht zum ersten Mal und hatte, wie gesagt, durch meine Worte eine solche Wirkung zu erzielen gewünscht. Ueberraschend aber blieb ein derartiger Ausbruch immer, und ich mußte mich ernstlich zusammen nehmen, daß ich nicht nachgab, denn dann würde mein Wagniß umsonst geblieben und er entweder in sinnlose Wuth gerathen, oder in die frühere Stumpfheit zurückgesunken sein. Und ich sah ihm fest in das brennende Auge und versetzte so kalt wie nur möglich. „Bist Du schon toll geworden, Karsten? Was sollt’ ich wissen? Wer sollte mir ’was gesagt haben? Oder traf ich’s wirklich, und verkriechst Du Dich hier tatsächlich in dem Hundeloch?“
Er stand vor mir, bebend vor Aufregung; das Auge funkelte, das erstarrte Gesicht hatte ein unheimliches Leben gewonnen, seine Fäuste ballten sich – wollte er mich anpacken? Aber jählings zuckte es durch die wilden Züge und ließ sie, zumal um den Mund, starr und hart werden wie nie zuvor.
„Verkriechen – ich – vor dem Gesindel? – Oh!“ knirschte er, die Fäuste schüttelnd. Er wandte sich zum Tisch und stürzte das noch halb gefüllte Glas ’runter. Und es hart niedersetzend, kehrte er sich wieder gegen mich. „Komm’ mit, Junge, will Dir was zeigen!“ grollte er und trat von mir fort, gegen die Wand. Da schob er etwas wie einen bisher nicht sichtbaren Schieber zurück und ließ eine Oeffnung erscheinen, durch welche plötzlich das scharfe Licht des klaren Wintertags in das halbdunkle Gemach schoß. „Da tritt hin und guck’ hinaus – da ist’s!“
Mir wurde ein überraschender Anblick. Es war nur eine Mauerlücke, wie sie hie und da die Gerüststangen zu hinterlassen pflegen, vielleicht zwei, höchsteus drei Mauersteine groß und dennoch für ein nahes Auge groß genug, um ihm eine wunderbare Aussicht zu eröffnen Ich habe erzählt, daß der „Schlagtodt“ hart am Hafenthor lag, sodaß die Rückwand seiner Hintergebäude nothwendig an die alte Stadtmauer stoßen oder, wie auch anderwärts, durch diese selbst gebildet werden mußte. So lag denn wirklich, bei geringer Wendung des Blicks, ein großer Theil des Hafens vor mir, ein Vorzug, dessen sich vermuthlich kein anderes Haus dieser Stadtgegend rühmen durfte – denn die Steuerbehörde duldete hier nichts wie eine Fensteröffnung – und ein besonderer Vorzug des kleinen Zimmers, in dem wir weilten. Denn wahrscheinlich diente es gelegentlich zum sicheren Aufenthalt für Bursche, welche ihrem Schiffe entlaufen waren und sich des Wirths Protektion verschafft hatten, ihr Fahrzeug aber dennoch gern im Auge behalten wollten, bis sie nichts mehr von ihm zu besorgen hatten.
Leben war da draußen in dieser Jahreszeit nicht viel; die Schiffe lagen fast oder ganz abgetakelt, hüben und drüben gedrängt am Bollwerk entlang, mit einer leichten Schnee- oder Reifdecke überzogen und ohne einen Mann an Bord – Wächter pflegten nur Nachts aufgestellt zu werden. Nur ein einziges war voll Bewegung – der Amerikaner „Die drei Brüder“, der uns gegenüber an der Werft lag und die Zimmerleute an Bord hatte. Es war, wie bemerkt, ein spiegelklarer Tag, sodaß ich von meinem
[31] Guckloch aus alles deutlich sehen und die einzelnen Gestalten unterscheiden konnte. Der Kapitän und der Schwarze waren unter ihnen.
Und wie ich das sah, kam es über mich wie eine Eingebung, und der Morgen, wie jener Mann da durchs Thor gekommen war, und Karsten’s ganzes Verhalten dabei standen auf das Lebhafteste vor mir. Ich wandte mich zu dem Alten um. Er stand einen Schritt zurück, den Kopf ein wenig vornübergebeugt, das Auge mit bohrendem Blick über meine Schulter hinaus auf das Schiff da drüben gerichtet, das Gesicht wie erstarrt. Ich trat zurück und ließ ihm den Blick frei.
„Leugne nicht, Karsten – vor denen da bist Du retirirt!“ sagte ich. „Du kennst das Schiff und seinen Kapitän.“
Er drehte langsam das Auge mir zu und wieder zurück, seine Züge blieben unverändert, nur war’s mir, als höre ich etwas wie einen knirschenden Laut, und endlich grollte es dumpf hervor:
„Ob ich ihn kenne, und den Schuft von Nigger dazu.“
Sein Auge kehrte wieder langsam zu mir zurück und er sprach, jetzt wirklich knirschend. „Ja, vor ihnen bin ich retirirt oder, wie Du sagst, habe ich mich verkrochen! Aber Gott verdamme mich! nicht aus Angst! Ich bin hier auf Wache, Junge, und die Stunde kommt, und ich fasse ihn!“
Mir wurde unheimlich zu Muth, denn was sich hier vor mir erhob, ging über alles Gefürchtete weit hinaus – solche Vorstellungen und Pläne in dem kranken Kopf da ließen, wenn man nicht rasch vorbeugte, das Schlimmste nicht unmöglich erscheinen, denn einmal im Gang, wich Karsten Lehr vor nichts mehr zurück. Ich mußte mehr wissen, und vor allem, wie viel Theil etwa trotz alledem der Rum an diesem Ausbruch hatte, und ich machte es, wie vorhin, indem ich möglichst kaltblütig sagte. „Wozu der Lärm, Karsten, oder hast Du zu viel getrunken?“
Er fuhr jählings auf.
„So, meinst Du? Der da und der schwarze Hund haben mir den Kleinen gestohlen und das Glück dazu! Aber jetzt hab’ ich ihn und mein Auge hält ihn, und –“ Er wandte sich auf dem Absatz um und zum Tisch, goß den Rest aus der Flasche ins Glas und stürzte es aus. „Schließe den Schieber, Junge, oder ich breche schon jetzt aus!“
Ich wußte nicht, was ich sagen, nicht was ich thun sollte, denn die Situation wurde immer unheimlicher, und während mein Bleiben allem Anscheine nach kaum etwas nützen konnte, schien es mir durchaus unthunlich, ihn gegenwärtig auch nur so lange allein zu lassen, daß ich mich mit dem Wirth hätte verständigen können.
„Karsten,“ sagte ich so kaltblütig wie nur möglich, „es ist doch, wie ich vorhin sagte: Du hast zu viel getrunken, denn Du könntest sonst unmöglich so tolles Zeug schwatzen. Was ist das für ein Unsinn mit dem ‚Kleinen‘, der Dir gestohlen sein soll? Du hast nie ein Kind an Bord gehabt!“
Er fuhr auf, faßte sich augenscheinlich sogleich wieder und erwiderte mit einer Art von Ungeduld: „Verstelle Dich nicht, Junge! Du weißt gut genug, was ich meine.“
„Nein,“ versetzte ich, „das weiß ich nicht.“
„Du wüßtest nicht, was der ‚Kleine‘ für ein Ding ist und für Unsereinen bedeutet?“ fragte er, finster mich anblickend.
„Nein,“ sagte ich nochmals, aber es durchzuckte mich eine Ahnung von Aberglauben, auf den ich hier stieß, den ich jedoch am allerwenigsten in dem Alten gesucht hätte. Denn mochte Karsten im Uebrigen sein, wie er wollte – ein Träumer oder Grübler war er nie, vielmehr ein kluger und nüchterner Kopf und in allen – sage ich: übersinnlichen Dingen der richtige Freigeist. Ich sah ihn fest an. „Redest Du am Ende gar von dem lieben Herrn Klabautermann?“
Sein Auge traf finster das meine. „Leugne das Blaue vom Himmel herunter, es hilft Dir nichts. Was ist, das ist!“ sagte er dumpf. „Hättest Du’s nur einmal erlebt – Du glaubtest wie ich! Sieh, ich lachte auch darüber,“ redete er ebenso weiter, „aber an Bord des Holländers lernte ich’s verstehen und schwor mir zu, wo ich noch einmal mit meinem eigenen Schiff segle, thue ich’s nicht ohne den Kleinen. Nun –“ er strich mit der Hand über die gefaltete Stirn und das düstere Auge – „ich kam nach Hause, damals, Junge, als ich das schlechte Weibsbild austrieb, und ließ die Bark auflegen. Da brachte ich’s in Gang. Ich wußte aus meiner Jungenzeit von einer Eiche im Galower Forst, bei der es umgehen sollte, weil an ihrer Wurzel ein neugeborenes und ungetauftes Kind verscharrt war. Solche Seelchen gehen in den Baum über und mit dessen Holz in das Schiff und bleiben diesem treu, so lange noch ein Stück des Baumes drinsteckt. So besorgte ich’s, und da der Baum schlecht war und wenig nutzbares Holz bot, so ließ ich wenigstens ein Stück einfügen an einem gut verborgenen und wohl versicherten Platze.“
Als er hier schwieg, sprach ich auch nichts. Ich beobachtete ihn voll ernsten und schweren Nachdenkens, wie er zuerst ganz versunken saß, dann den Kopf fast lauschend erhob, mit seinem Auge vorsichtig zu mir und voll Haß und Grimm zu dem kleinen Schieber hinüberstreifte – was war aus diesem Kopf geworden, und was kann aus einem Kopf werden! Mich fröstelte. Und ich horchte ins Haus hinein, ob sich nicht vielleicht etwas von dem Wirth oder seiner Frau hören lasse. Nein – nichts, ich mußte mir selber helfen!
„Karsten, Du alter Seebär, das hätte ich von Dir nie im Leben geglaubt!“
Er schaute düster, aber dennoch mit einem, ich möchte sagen: sehenden und gegenwärtigen Blick, wie befreit von seinen Phantasien, zu mir auf. „Ja, lache mich nur aus, Junge! Hab’ es selber gethan und mich grausam verhöhnt, und war drauf und dran mich loszumachen! Aber es ging nicht – er war da: ich hörte ihn, ja, Junge, ich sah ihn auch, und die Jungen glaubten so fest an ihn, wie ich selbst. Lustigere Fahrten giebt’s nicht, als damals die unseren in den ersten zwei Jahren, und eine lustigere und fixere Mannschaft findest Du an keinem Bord. Es glückte uns Alles, kein Sturm und keine See schädigten uns. Man durfte das Tollste wagen.
Da stießen wir einmal auf ein treibendes Boot und fanden in ihm unter den verwesenden Leichen noch zwei Lebende, die aber gleichfalls schon so weit herunter waren, daß sie die Todten nicht mehr hatten über Bord werfen können – das waren die Beiden da,“ unterbrach er sich mit einer Art von Knirschen. „Damals nannte er sich aber Jack Morris. – Sie waren vor vier Wochen von Rio abgesegelt, hatten Schiffbruch gelitten und waren, so viele sich ihrer in das Boot salvirt hatten, mit diesem herumgetrieben, bis alle außer den zweien verschmachteten. So sagten sie. Wir aber hatten unsere eigenen Gedanken. Es trieben sich damals ein paar Kreuzer auf jener Höhe herum, mit denen Niemand gern zu thun hatte. Die Engländer waren scharf hinter ihnen her und machten, wo sie einen trafen, kurzen Prozeß. So war’s, wie wir kürzlich von einem Amerikaner gehört hatten, vor vierzehn Tagen einem von ihnen ergangen, das Schiff verbrannt, von der Mannschaft nichts Lebendes mehr an Bord. Daran dachten wir und sahen uns die Beiden darauf an, kümmern aber that’s uns weiter nicht. Wir hatten sie ’mal und fütterten sie heraus, bis sie wieder Menschen waren. Jack Morris machte sich währenddeß an mich und brachte es dahin, daß wir gut Freund wurden, Kompagnie machten und Jahr und Tag mit einander segelten.
Nun, Junge, davon ist nicht weiter zu reden,“ sprach er weiter, aber noch immer in dem bisherigen, verhältnißmäßig ruhigen Tone. „Es war eine Zeit der Tollheiten, und Du weißt, Junge, zu dergleichen und wo es was zu wagen giebt, war mir immer leicht gepfiffen. Meine Jungen waren auch keine Duckmäuser, sondern hatten einen guten Spaß und hübschen Verdienst gern, und dazu half Morris uns stets von Neuem, und das Glück blieb uns allerwärts treu. Die spanischen Zöllner waren blind und taub, oder wurden, wo sich’s doch ’mal so traf, abgeklopft, daß es eine Freude war. Und so ging’s fort, bis ich einmal wieder an Land mußte. Das kam zu Zeiten, neuer Geschäfte wegen, vor und wurde stets von mir selber oder durch meinen Steuermann besorgt, da wir dem Morris neuerdings nicht mehr recht trauten: es waren ein paarmal kuriose Dinge vorgekommen. – Und als ich jetzt am dritten Abend spät an Bord zurückkehrte, war er mit dem Schwarzen auf und davon. Er hatte, wie mir der Steuermann sagte, der krank darniederlag, die Leute von mir abwendig zu machen gesucht und war, da er böse Worte zu hören bekam, Abends zuvor ans Land gegangen – mit dem höhnischen Wunsch, daß ‚der Kleine‘ uns treu bleiben möge.“
Karsten saß zusammengesunken und starrte düster vor sich hin. Aber nach ein paar Augenblicken hob er den Kopf auf, that einen tiefen Athemzug und redete – es war etwas Grollendes [32] in seiner gedämpften Stimme – weiter: ‚Dann müssen wir gleich hinaus,‘ sagte ich, ‚daß uns am Ende nicht die Bande über den Hals kommt!‘
‚Ja, mich wundert, daß sie nicht schon da ist,‘ sprach der Steuermann. ‚Glaubt’s Herr, er ist ein regulärer Schuft – ich habe nie etwas auf ihn gehalten.‘
Und so liefen wir denn aus und – gerade einem spanischen Zollschoner in die Arme, der draußen auf uns paßte. Es wurde ein harter Kampf, wo uns Alles schief ging, kein Manöver gelang und keine Kugel traf, sodaß mir mit einem Male jene hohnvollen Worte des Schuftes in den Kopf kamen und einen Verdacht wachriefen – Junge, ich stürzte hinunter und sah mich um und – Gott verdamme mich hier und dort!“ setzte er knirschend hinzu, die Stirn drohend gefaltet und die Fäuste geballt, „der Klotz war ausgesägt – der ‚Kleine‘ fort – oh! –
Da wußt’ ich Bescheid und sprang hinauf, um bei meinen noch übrigen Jungen zu bleiben. Die Zöllner enterten gerade und in fünf Minuten lag ich mit dem Hieb durch das Auge besinnungslos darnieder und – die Affaire war zu Ende. Man hat mich und ein paar Andere zur Aburtheilung ans Land gebracht und, wie ich gehört habe, die armen Teufel auch richtig gehängt,“ sprach er nach einer kurzen Pause weiter. „Mich sparte man auf, bis ich wieder bei Verstand wäre. Dann aber kam ich durch ein paar gute Freunde davon und warf mich auf die Spur des Schuftes. Drei Jahre lang bin ich ihr gefolgt, wohin sie mich wies, von einem Schiff und einem Hafen zum anderen. Denn der Bnrsche floh vor mir, er wußte wohl, was ihm blühte. Aber ich hatte kein Glück mehr und traf ihn nicht, bis ich, es werden jetzt auch wieder drei Jahre sein, von einem seiner alten Maaten, den er auch betrogen hatte, vernahm, er sei auf Barbados am gelben Fieber gestorben. So war’s denn aus, auch mit mir. Ich dachte, ich hätte mir die Ruhe verdient, und machte mich hierher und fraß meinen Grimm in mich. Aber –“ und noch einmal kam das Knirschen wieder, sein Auge brannte düster und die Fäuste zuckten – „aber, ich habe doch noch Glück! Da ist er und jetzt ist er mein! – Er ist schlau, der Hund, und geht nicht allein, und spürt herum! – Aber ’s hilft ihm nichts – ich packe ihn schon!“
Er stand auf und ging zum Schieber, stieß ihn auf und schaute hinaus. Und nach einer Weile sprach er über die Schulter zurück: „Packe Dich, Junge! Ich brauche keinen Doktor, ich will mich schon selbst kuriren!“ –
Ich sage nichts mehr von mir, nicht von meinen Gedanken, nicht von meiner Stimmung. Als ich mich entschloß zu gehen, gab ich der Frau drunten einen Wink, daß sie auf den Alten achten und ihn im Hause festhalten solle, und suchte dann den Wirth auf, um ihn von dem Vernommenen und meiner Ansicht über Karsten zu unterrichten. Der rauhe Mann war ganz bestürzt und stimmte mit mir überein, daß hier kein Augenblick zu verlieren sei. Er wolle die Sorge für den Unglücklichen übernehmen, bis ich Kapitän Webster unterrichtet hätte und mit ein paar Wärtern des Krankenhauses zurückkehren könnte, um den Unglücklichen in Verwahrung zu nehmen.
Aber all unser Eifer und all unsere Vorsicht waren umsonst. Denn schon nach einer Viertelstunde, als ich im Krankenhaus weilte, durchflog das Geschrei die Stadt, daß der Kapitän Webster, der allein von seinem Schiffe fortgegangen war, nahe vor der Brücke, die zum Thore führte, von dem tollen Karsten Müller, wie er bekanntlich hier genannt wurde, überfallen und niedergestochen worden sei. Der Thäter habe sich unmittelbar darauf ins Wasser gestürzt und sei noch nicht gefunden worden.
Die Erklärung, wie das Unglück so schnell möglich geworden, schien nicht schwierig zu sein. Karsten hatte zweifellos durch den Ausguck seinen Feind das Schiff allein verlassen sehen und sich die Gelegenheit augenblicklich zu Nutze gemacht, das Haus mit der ihm eigenthümlichen Schlauheit und Vorsicht durchschleichend – vielleicht schon während der Minute, wo ich droben mit der Wirthin im Zimmer verhandelt hatte. Draußen war dann weiter kein Hinderniß mehr, denn wer den alten Menschen wirklich erkannte, hatte am Ende keinen Grund, ihn aufzuhalten da er am allerwenigsten etwas wie sein jetziges Vorhaben argwöhnen konnte. Der Kapitän aber war, als er den Angreifer erblickt hatte, auch bereits niedergestoßen worden und ohne einen Laut gestorben.
Er hatte aber, wie man von dem Neger erfuhr, sich vordem eine Zeitlang wirklich Jack Morris genannt, sodaß Karsten wenigstens von jenem Vorwurfe, in der Blindheit seines Hasses vielleicht nur durch eine zufällige Aehnlichkeit getäuscht worden zu sein, freigesprochen werden mußte. – Ich habe nichts mehr zu sagen.
Ueber den Ocean dringen zu uns Nachrichten von einer neuen, merkwürdigen Stadt, einer verwirklichten Utopie. Selbstverständlich mangelt es da nicht an den bekannten geradlinigen, hübschen Straßen Amerikas; dazu kommt. daß jedes Haus von einem großen. schönen, eingefriedigten Garten umgeben ist. In unseren eisernen Zeiten kann selbst ein Utopien nicht ohne Maschinenwerkstätten ins Leben treten, wenigstens in den Vereinigten Staaten nicht; aber die Waggonfabriken können zum Mindesten inmitten eines Parkes liegen, und in diesem befinden sich viele Springbrunnen, künstliche Felsen und ein See. Auch die nothwendigen Uebel, so man Kaufläden nennt, müssen vorhanden sein, allein sie sind sammt und sonders in einer Arkadenhalle untergebracht, und die Fleischhauereien müssen sich mit einer abgesonderten Verkaufsstelle begnügen, damit Auge und Ohr des Bazarpublikums nicht in anti-utopischer Weise beleidigt werden. Schule, Kirche und „Hospitium“ – ein Unterhaltungslokal – sind aufs Beste eingerichtet. Da alle Utopier reines Wasser als eines der wichtigsten Erfordernisse des Lebens betrachten, finden wir in der Mitte unserer Idealstadt ein riesiges Reservoir, aus welchem das klare Naß geleitet wird. Noch angenehmer als die hier herrschende Reinlichkeit und Ordnung soll den Besucher die Art und Weise berühren, wie sich die Einwohner unterhalten. Sie suchen nicht Stammkneipen und Weinhäuser oder Bierhallen auf – Einrichtungen solcher Gattung giebt es in diesem modernen Utopien überhaupt nicht – sondern rudern singend auf dem See umher, andere spielen auf der Wiese Ball oder lauschen der Parkmusik. Die Hauptrolle jedoch spielt die geistige Erholung: das Theater, die öffentliche Bibliothek, der Debattirklub, der litterarische Verein finden starken Zuspruch. Noth und Elend sind da unbekannte Dinge, wenngleich natürlich von materieller Gleichheit eben so wenig die Rede sein kann wie von geistiger oder physischer, so sind doch in diesem Falle die Gegensätze nicht so groß wie gewöhnlich.
Die meisten Reisenden. die über merkwürdige Städte jenseit des Oceans berichtet haben, unterließen wohlweislich die Angabe, in welcher Gegend der Neuen Welt ihr Utopien liegt. Was die von uns ins Auge gefaßte Idealstadt aber betrifft, so liegt kein Grund vor, ihre geographische Lage zu verheimlichen: sie ist nicht weit von Chicago. Nicht einmal ihr Name braucht „unter uns“ zu bleiben – sie heißt Pullman City. Wer kennte nicht den Namen Pullman? Welcher Reisende hatte nicht schon einen „Pullman Sleeping Car“ gesehen oder gar in einem solchen geschlafen? Alle Welt weiß, daß unter „Pullman“ ein Eisenbahn-Schlaf-Waggon zu verstehen ist. Daß „Pullman“ ein Menschenname, weiß freilich nicht Jedermann. George M. Pullman erfand die bekannten Schlafwagen und verkaufte sein Patent an eine Aktiengesellschaft. Der Aufschwung, den das Geschäft der letztern nahm, machte im Jahre 1880 die Errichtung neuer Gebäude nöthig. Dieser Umstand gab dem als Direktor der Palace Car Company fungirenden Erfinder Gelegenheit, eine alte Lieblingsidee zu verwirklichen. Er hatte in Chicago die schlimmen Schattenseiten der Großstädterei beobachtet und war entschlossen, seine Untergebenen vor denselben zu bewahren. Er gewann die Ueberzeugung, daß der Durchführung seines Planes keine anderen als finanzielle Schwierigkeiten im Wege stünden und diese ließen sich leicht beseitigen. Er huldigte dem Grundsatze: „In der menschlichen Natur steckt ein erheblicher guter Keim, und es hängt ganz von den umgebenden Verhältnissen ab, ob derselbe zur Entwicklung gelangt oder nicht.“ Er wußte, daß in den übervolkerten Großstädten die Arbeiterklasse zumeist auf elende Wohnungen angewiesen ist, in denen die Reinlichkeit oft zur Unmöglichkeit wird, sowie daß die schlechte Gesellschaft, welche gewisse Stadttheile bewohnt, auf Bevölkerungselemente, die unter anderen Umständen vielleicht gut gedeihen würden, moralisch, geistig und physisch schlechte Einwirkungen ausübt.
Da rohe, schwächliche, trunksüchtige, unwissende Arbeiter nicht so leistungsfähig sind wie gesittete, gesunde, mäßige und nach Bildung strebende, so kam Mr. Pullman auf den Gedanken, es müsse rentiren, eine Idealstadt für seine Angestellten zu bauen. Gesagt, gethan, und jetzt werden in Pullman City, vierzehn englische Meilen von Chicago entfernt, auf einem erklecklichen Stück Landes die bekannten Schlafwagen gebaut. Die Stadt zählt über 2000 Einwohner, ausnahmslos lauter Brotnehmer der genannten Firma. Die Voraussetzungen unseres Utopisten sind in jeder Hinsicht eingetroffen. Die Ortschaft ist schon über vier Jahre alt und hat noch immer keine Ursache zur Klage gegeben. Diejenigen Arbeiterfamilien, welche früher im Schmutz lebten, zögerten nach ihrem Einzug in die hübschen neuen Cottages nicht, die Fenster mit Blumen zu schmücken und ihre eigene Person reinlich zu halten.
Das Schönste an der Sache ist vielleicht, daß Pullman City sein Gedeihen durchaus nicht dem von der britischen Rasse so hochgeschätzten „local self-government“, der städtischen Selbst-Verwaltung, verdankt, denn – man höre und staune – es besitzt überhaupt keine Behörden:
[33][34] politisch gehört es natürlich zu einem Bezirk und einem Unionsstaat – Verwaltungs-Ortsbehörden aber hat es nicht. Die Stadt ist Eigenthum der Palace Car Company und wird ausschließlich von dieser und ihren Angestellten verwaltet. Der Reisende steigt in dem von einem Pullman’schen Beamten geleiteten Gasthof ab, besucht das Pullman’sche Theater, trinkt das Wasser der Pullman’schen Wasserleitung, brennt das Gas der Pullman’schen Gasanstalt, miethet ein Pferd im Pullman’schen Marstall, wohnt in der Schule dem Unterricht der Kinder des Pullman-Völkchens durch Pullman’sche Beamte bei, wechselt einen Check in der Pullman’schen Bank, wird des Nachts von der aus Pullman’schen Untergebenen bestehenden Feuerwehr bewacht. Er kann nichts einkaufen, wenn er nicht gesonnen ist, bei Leuten Pullman’s einzukaufen. Er wird vergeblich nach Polizisten, Konstablern, Gerichtshöfen u. dergl. suchen; diese Behelfe der modernen Kultur haben sich bisher als ganz überflüssig erwiesen. Etwaige Ruhestörungen oder Streitigkeiten würde Herr Pullman selber aburtheilen, bislang jedoch ist diese Nothwendigkeit noch nie eingetreten. Offenbar übt der praktische Erfinder und Direktor eine Art „aufgeklärten Despotismus“ aus. Uebrigens ist seine Idealstadt nicht nur ein menschenfreundliches, sondern für seine Aktiengesellschaft auch ein rentables Unternehmen, das sechs Prozent des daran gewendeten Kapitals abwirft. Wie oft könnten in ähnlicher Weise Menschenfreundlichkeit und Geschäft Hand in Hand gehen, wenn Kapitalisten mehr an ihre Mitmenschen denken würden und wenn sie in dieser Beziehung unternehmungslustiger wären!
Bestrebungen verwandter Natur machen sich seit Kurzem in der britischen Viermillionenstadt geltend [1]. Schon der berühmte anglo-amerikanische Menschenfreund Peabody hatte große Summen zur Errichtung und Verwaltung ausgedehnter Komplexe von guten, wohlfeilen Arbeiterwohnungen hinterlassen. Diese Kapitalien tragen ebenfalls Zinsen, welche zur Erbauung neuer Häuser dienen. Doch liegen die Peabody-Komplexe zumeist inmitten der bevölkertsten Bezirke Londons. Nach anderen Grundsätzen verfährt die dortige „Gesellschaft für Handwerker-, Arbeiter- und andere Wohnungen“; sie ist auf dem besten Wege, der Oeffentlichkeit, welche sich seit einigen Monaten so eifrig und ernst mit der Wohnungsfrage der proletarischen Bevölkerungsschichten Londons befaßt, zu zeigen, wie diese brennende Frage sich am zweckmäßigsten lösen lasse.
Die Häuserkomplexe dieser Gesellschaft, deren Mitgliederliste zahlreiche hervorragende Namen aufweist (wie Tennyson, Salisbury, Tyndal, Rothschild und Andere), befinden sich nicht in der Stadt, sondern in nächster Nähe derselben und bilden selbst kleine Städte, sogenannte „estates“, und dann sind sie keine „Zinskasernen“ nach festländischer Art, wie die Wohnungen der Peabodystiftung, sondern separirte Häuschen nach dem in England allgemeinen Muster. Der erste „estate“ (Liegenschaft) der in Rede stehenden Gesellschaft, Shaftesbury Park Estate, wurde im Süden Londons im Jahre 1874 eröffnet; bei dieser Gelegenheit äußerte Disraeli-Beaconsfield: „In meinem Leben war ich über nichts so erstaunt wie über den Anblick dieser sozusagen aus der Wüste erstandenen Stadt.“ Wie würde der bewährte Staatsmann sich erst über den im Nordosten liegenden, vor etwa zwei Jahren eingerichteten Queen’s Park Estate wundern, könnte er denselben sehen! Umfaßt der Shastesbury-Komplex vierzig Morgen Landes mit 1200 Häusern, so zählt der von Queen's Park 2176 Häuser, die sich auf siebzig Morgen vertheilen. Die Straßen haben eine Gesammtlänge von neun Zehnteln einer geogr. Meile, sind breit und gut gepflastert, die Gebäude bestehen aus Ziegeln, sind mit Terrakotta verziert und erregen im Beschauer durch ihr nettes Aeußere um so größere Befriedigung, als die meisten Insassen gewöhnliche Arbeiter mit geringem Einkommen sind. Die vortreffliche Organisation und die Wohlfeilheit des Eisenbahnverkehrs ermöglichen es den Bewohnern der Estates, ihre Arbeitsplätze rasch zu erreichen und am Abend aus der ungesunden Metropole in bessere Luft zu entfliehen.
Unsere Gesellschaft hat zum Zweck die Errichtung von bequemen, gesunden, geräumigen, angenehmen Häuschen mit je einem Vorder- und einem Hintergarten. Je nach ihrer Größe - in der qualitativen Beschaffenheit ist kein Unterschied vorhanden - gehören die Wohnungen einer der fünf folgenden Klassen an: I. zwei Wohn-, vier Schlafzimmer, Spülküche, Küche, Waschkammer; Miethzins zwölf Mark wöchentlich. II. Ein Wohn-, drei Schlafzimmer etc. wie oben, Zins zehn Mark. III. Dasselbe. nur etwas kleiner, neun Mark. IV. Ein Wohn-, zwei Schlafzimmer etc. wie oben, siebenundeinhalb Mark. V. Ein Wohn-, zwei Schlafzimmer. Küche, Waschkammer; Zins sechs Mark für die Woche. Jedes Zimmer ist mit Tobin’schen Ventilationsröhren versehen. Die Oefen, die Gesimse, die Tapeten sind hübsch und gut. Die Fußbodenbretter liegen – im Gegensatz zu den meisten Leistungen der vielen Massen-Schwindelbaumeister Londons – ganz dicht beieinander, abgesehen davon, daß sie ungewöhnlich dick sind. Ein Haus, das jährlich 312 Mark kostet, ist genau so eingerichtet wie ein doppelt so theures. Der Fachmann, der die Estates besichtigt, gelangt alsbald zur Erkenntniß, daß allen bau-hygieinischen Anforderungen hier Rechnung getragen worden, sowie daß die Bedürfnisse der Insassen in einer Weise berücksichtigt sind, die einem gewöhnlichen Hausbesitzer Schrecken einjagen würde, wenn man ihm die Nachahmung zumuthete. Ein intelligenter Mensch mit mäßig starker Familie und mäßigem Einkommen kann sich, sei er nun Industrie-Arbeiter, Gewerbsmann oder Mitglied der freien Stände, keine bessere, hübschere und billigere Wohnung wünschen als ein Haus erster Klasse der Dwellings Company, das auf ein ganzes Jahr blos 624 Mark kostet. Diese Häuser sind denn auch sehr gesucht, und ihre Insassen werden von manchen besser gestellten Bürgern der Mittelklasse beneidet, denen es aus irgend einem Grunde unmöglich ist, nach einem der Estates zu ziehen. Man braucht weder Philanthrop noch Enthusiast zu sein, um anzuerkennen, daß die „Gesellschaft“ sich, außer einem Erträgniß von fünf Prozent, große „Verdienste“ erwirbt.
Die „Dwellings Company“ ist, von ihren seitherigen Erfolgen angespornt, vor einiger Zeit an die Anlage eines dritten Städtchens geschritten: „Noel Park Estate“, auf dem bislang 381 Häuser stehen, wurde erst ganz kürzlich „eröffnet“. Dieser Komplex, der größte von allen, mißt hundert Morgen und liegt nördlich von London, in der Nähe des bekannten Volksbelustigungslokals „Alexandrapalast“, also in prachtvoller Umgebung und herrlicher Luft. Im Ganzen sollen hier 2600 Wohnungen erbaut werden; die Hauptstraßen sollen neunzig, die übrigen sechszig Fuß breit sein. Schon die jetzt fertigen Straßen weisen längs des Trottoirs Baumreihen und auf dem Fahrweg vorzügliches Bodenmaterial auf. Die Häuser werden auch hier fast in allen Fällen sofort nach dem Austrocknen bezogen – so lebhaft ist die Nachfrage.
Auf allen drei Estates wird für die religiösen und geistigen Bedürfnisse der Bewohner und für ihre Erholung im Freien nach Thunlichkeit gesorgt. Es fehlt nicht an Kirchen, Schulen, Lesezimmern, Versammlungslokalen und öffentlichen Gärten. Die Pflege von Fensterblumen und Topfgewächsen wird erfolgreich ermuthigt. Das Erfreulichste aber ist, daß es in keinem der Ideal-Städtchen der „Gesellschaft“ ein Wirthshaus giebt; die Gesellschaft gestattet nicht, daß „Ginpaläste“ errichtet werden, und ihre Miether sind mit dieser Bestimmung vollkommen einverstanden – ja, sie widersetzen sich sogar der Eröffnung von Schenken in der Nähe der „Estates“. Schon die Nüchternheit allein sichert diesen vernünftigen Leuten einen gewissen Grad von Glück, Behagen und Gesundheit, die gute Luft und die Reinlichkeit thun ein Uebriges.
Die „Company“ besaß vor Kurzem nahezu viertausend Häuser:
452 erster, 994 zweiter, 1418 dritter, 731 vierter, 92 fünfter Klasse.
Daß sie so gute Wohnungen so wohlfeil herstellen und dabei noch
einen leidlichen Gewinn erzielen kann, wird nur dadurch ermöglicht,
daß sie ihre Einkäufe in größtem Maßstabe macht und daher beträchtliche
Ersparnisse an den Preisen erzielt. Sie bestellt zwölf Millionen Ziegel
auf einmal und läßt aus Schweden riesige Ladungen Hölzer kommen; in
einem Schuppen auf Noel Park Estate trocknet sie eine Million Fuß
Bretter, die, trocken gekauft, viel mehr kosten würden als die
hunderttausend Mark, die sie in Wirklichkeit kosten. Tapeten, für die in gewöhnlichen Detailgeschäften zwei Mark verlangt wird, kommen der „Company“
blos auf siebzig Pfennig zu stehen. Solcher Vortheile kann sich kein
Privatbaumeister rühmen! Das sind Fingerzeige für die mit der Lösung der
Arbeiterwohnungsfrage betrauten Faktoren! Nicht nur in London, sondern
auch in Paris, Berlin und Wien, wo die Miethzinse viel höher sind als
in der Metropole an der Themse, thäte man gut, sich mit den von uns
geschilderten Idealstädten näher zu beschäftigen Leopold Katscher.
- ↑ Diese Bestrebungen sind zum Theil denjenigen ähnlich, die wir in unserm Artikel „Ein Kampf gegen den Schmutz“ in Nr. 49, 1884 besprochen haben. Eine ausführliche Belehrung über diese Frage findet der Leser in dem neuerschienenen trefflichen Werke: „Die Wohnungen der arbeitenden Klassen in Londen“ von Dr. Wilhelm Ruprecht (Vandenhoeck und Ruprecht’s Verlag, Göttingen).
Die Novizen des Reichstags.
Als der Alterspräsident Graf Moltke am 20. November vorigen Jahres die erste Sitzung des neuen Reichstags eröffnete, war die Physiognomie der hohen Versammlung in der That neu. Die erbitterten Wahlkämpfe des vergangenen Herbstes haben auf die Zusammensetzung derselben einen nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt. Der vierte Theil der Abgeordneten erschien zum ersten Male im Reichstage, und diese „Novizen“ hatten sich erst hineinzufinden in Luft und Licht und Leben ihrer neuen Wirksamkeit.
Zum ersten Male im Reichstage!
Da ist gar Vieles zu beachten und zu lernen, da heißt es nach allen Richtungen hin aufpassen. Es ist interessant, die Novizen im Reichstage zu beobachten; ältere Mitglieder erleichtern ihnen die Akklimatisirung, die Fraktionsgenossen nehmen sich der Neulinge liebevoll an, es tritt ein Verhältniß ein, wie in den studentischen Vereinigungen zwischen „Leibbursch“ und „Leibfuchs“, hat ja doch das Fraktionswesen überhaupt manche Aehnlichkeit mit den studentischen Verbindungen und hat sich aus diesen ja ausdrücklich die Einrichtung des „Senioren-Konvent“ auf unsere Parlamente übertragen. Mit einer gewissen Schüchternheit betritt der Neuling das Reichstagsgebäude. Der fragenden Miene des Portiers begegnet er mit der zuversichtlichen Antwort: „Ich bin der Abgeordnete N. N.“ Die nun folgende ehrfurchtsvolle Verbeugung des Portiers und seine Beflissenheit. den Herrn Abgeordneten sofort in die Mysterien des Hauses einzuführen, schmeicheln dem letzteren gewaltig, es überkommt ihn sofort das Gefühl seiner neuen Würde. So gelangt er in das Bureau. Das Heer von Dienern, Schreibern, Boten aller Art, welches das Vorgemach zum Allerheiligsten füllt, darin der Bureaudirektor, von seinen Untergebenen „der Chef“ genannt, thront, macht den neugebackenen Volksvertreter wieder stutzig und, wenn er nun vor den „Chef“ vorgelassen wird, vollends befangen. Der Direktor patronisirt ihn aber sofort, er hat ihm eine Menge Schriftstücke, Legitimation, Geschäftsordnung, allerlei Broschüren etc. einzuhändigen und unterweist ihn schnell über die allernothwendigsten Erfordernisse für den neuen Beruf. Der Direktor ist ein ungemein liebenswürdiger Herr. er vertheilt seine Gunst ohne Ansehen der Partei: unser Neuling – nehmen wir einmal an, es sei ein Liberaler – hatte nicht übel Lust, der Macht der Vorurtheile zu grollen, Alles, was man ihm Unliebsames über die Bureaukraten gesagt hat, war doch am Ende einseitiger Anschauung entsprungen. Draußen auf dem Flur erinnert er sich der empfangenen Schriftstücke, er ärgert sich, daß er sie nicht gleich durchstudiren kann, daß nicht ein ruhiges Plätzchen im Hause dazu [35] vergönnt ist. Da naht der College X., der seit Jahren dem Reichstage angehört und unseren Mann sofort belehrt, daß es im Hause ein Lesezimmer, ein Schreibzimmer, ein Sprechzimmer, eine Bibliothek mit großartigen Nebenräumen giebt. Er führt ihn durch alle diese Herrlichkeit und unser Neuling bemerkt, er fühle sich wie zu Hause, kein Klub der Welt biete so viele Bequemlichkeiten.
Es folgt ein weihevolles Stündchen der Vertiefung in die Schriftstücke, dadurch kommt man doch ein wenig in Zug und kann schon mit ruhigerem Gewissen in die erste Fraktionssitzung am Abend gehen. Da wird dann die Präsidentenwahl besprochen. Nach mehrstündigem Hin- und Herdebattiren wird man einig. Morgen geht es zur Eröffnungssitzung in den weißen Saal des Schlosses, wo man im Halbkreise mit den Kollegen vor dem Kaiser stehen soll, dann folgt im Reichstage die erste Sitzung. Die Tribünen sind da meist spärlich besetzt, der neue Volksvertreter hatte gehofft, daß sein erstmaliges Erscheinen im Saale weit mehr Neugierige herbeigeführt haben würde.
Das älteste Mitglied, diesmal der berühmte Heerführer Graf Moltke, eröffnet die Sitzung. Ein Namensaufruf stellt die Zahl der Anwesenden fest, die Novizen müssen die erste Rede halten, sie besteht aus dem einfachen Worte: Hier! Dabei prüft man bereits die Stärke des Organs und - „es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.“ Nur zu schnell ist das Geschäft beendet, das wichtigere bringt die nächste Sitzung mit der Wahl des Präsidenten. Das ist eine geschäftige Bewegung vor derselben im Foyer! In dichten Gruppen stehen die Angehörigen der einzelnen Fraktionen zusammen, Jeder weiß vom Verhalten, von den Plänen der anderen Fraktionen Wunderdinge zu berichten; ein kleiner Herr mit interessantem Kopf, den nur wenige Haare noch bedecken, zieht zweifellos das meiste Interesse auf sich, unter der Brille blitzen die klugen Augen, das beredte Mienenspiel zeigt dem von ferne zuschauenden, daß der kleine Herr gewichtige Mittheilungen zu machen hat, es ist Excellenz Windthorst. Am Ende des Foyers bemerkt man in einer lebhaft plaudernden Gruppe die bekannten Erscheinungen der Abgeordneten Virchow, Richter, Rickert, Bamberger, Löwe; dort stehen die Nationalliberalen, aus ihrer Mitte tritt der würdige Abgeordnete v. Benda hervor, und die Herren in besonders eleganter Toilette, die lebhaft plaudernd um einen Tisch sitzen, sind – die Socialdemokraten, die man sich nach unseren Witzblättern kaum anders als mit schäbigen Kleidern und aufgestülptem Schlapphut denken kann. Jetzt tönt das Zeichen der elektrischen Glocken durch das ganze Haus, schnell leert sich das Foyer, man eilt in den Saal und nimmt anfänglich die Plätze ein. Die Diener bringen nun die Wahlurnen herbei, die in antiker Form aus Erz gegossen und von einem Deckel, dem die Kaiserkrone als Griff dient, verschlossen sind. Sie werden auf den „Tisch des Hauses“ niedergesetzt, der Alterspräsident läßt den Namensaufruf vollziehen und jeder Einzelne hat nun einen Zettel in die geöffnete Urne zu legen. Wie viele neue Namen werden da genannt! Man ist begierig die Novizen kennen zu lernen, und jene wieder freuen sich auf die Bekanntschaft der berühmten Kollegen; die allgemeine Aufregung bekundet sich im Verlassen der Plätze. Bald umstehen die Reichsboten Kopf an Kopf den Tisch des Hauses, „mit Würde und Hoheit angethan“ schreiten die neuen Herren zum Wahlgeschäft, sie fühlen, daß zahlreiche Blicke gewichtiger Leute auf sie gerichtet sind. – Alphabetisch wird der Namensaufruf rekapitulirt, die Urnen werden vor den Alterspräsidenten hingestellt, die provisorischen Schriftführer zählen die Stimmen, der Alterspräsident überwacht die Zählung, endlich erfolgt die Publikation des Ergebnisses.
Der neue Präsident, dessen Leitung die Geschäfte des Reichstages anvertraut sind, erhebt sich, um die Annahme der Wahl seinerseits zu erklären. Es ist diesmal ein ganz besonders interessanter Vorgang, denn der Gewählte ist - im Reichstage wenigstens - ein Neuling. Es ist eine hohe, stattliche Gestalt, an Körpergröße würde ihn kaum eines der jetzigen Mitglieder überragen. Der Abgeordnete von Wedell-Piesdorf ist zweifellos äußerlich ein würdiger Repräsentant des deutschen Reichstages, welcher seit seinem Bestehen zum siebenten Male einen neuen Präsidenten erhält. Die Herren Simson, von Forckenbeck, von Seydewitz, von Goßler (der jetzige preußische Kultusminister), Graf Arnim-Boitzenburg und von Levetzow waren die Vorgänger des Herrn von Wedell-Piesdorf. Wir folgen ihm jetzt auf den Präsidentensitz, freuen uns seines scharf geschnittenen, ausdrucksvollen Kopfes, dem der spärliche Haarwuchs in der Erscheinung keinen Abbruch thut und der volle graublonde Bart, der das Kinn umgiebt, recht gut steht, noch mehr aber freuen wir uns an dem hellen Klange seines Organs, wie es kaum einem seiner Vorgänger zu Gebote stand.
Mit den üblichen Worten des Dankes für die Wahl und dem Versprechen der Unparteilichkeit tritt er das neue Amt an, dann folgt der Dank an den Alterspräsidenten, die Mitglieder erheben sich von ihren Plätzen, während Graf Moltke den Präsidentensitz verläßt. Der erste und zweite Vice-Präsident werden durch Zuruf gewählt; Freiherr von Franckenstein, der bayerische Staatsrath und nun erster Vice- Präsident des Reichstages, ist fast so groß wie der Präsident, der zweite, der preußische Amtsgerichtsrath Hoffmann (Abgeordneter für Gera), ist ein Männlein von kleiner Statur und eleganter Beweglichkeit, der einen fast hübsch zu nennenden Kopf trägt, das dichte kurz geschorene dunkle Haar, der braune Schnurrbart und der forsche Knebelbart geben ihm beinah den Typus eines Franzosen. Wenn Herr Hoffmann zwischen seinen Kollegen im Reichstagspräsidium steht, im einfachen schwarzen Frack, während die Uniformen des preußischen Regierungspräsidenten und des bayerischen Staatsrates den imposanten Eindruck der Erscheinungen jener noch erhöhen, so erscheint er – abgesehen von Frack und Uniformrock – wie ein David, dem zur Rechten und zur Linken ein Goliath entgegentritt.
Während man solchen Betrachtungen sich hingiebt, ist auch die Schriftführerwahl durch Akklamation beendet und das Haus konstituirt. Mit der nächsten Sitzung kann die Arbeit beginnen. Schnell leert sich der Saal, im Foyer verabschiedet man sich, die Pforten des Hauses werden weit geöffnet, draußen auf der Straße stehen dichte Gruppen Schaulustiger, der Portier, bedeckt mit dem Dreimaster und mit dem großen Stab in der Hand, bleibt in steifer Positur, bis der letzte Abgeordnete das Haus verlassen hat. Mit demselben Moment aber hält der Hausmeister, eine wahre Hünengestalt, gefolgt von einem Dutzend Frauen mit Kehrbesen und Bürsten seinen Einzug in den Sitzungssaal, der nun für die nächste Sitzung hergerichtet wird.
Mit aufmerksamer Neugierde sieht unser Neuling all diesen Vorgängen zu. Ein Kollege, ein berühmter Redner, naht sich und stört ihn in der stillen Betrachtung.
„Nun Verehrtester, jetzt geht es an die Arbeit!“
Schnell faßt sich der Angeredete. Auf diesem geweihten Boden heißt es schlagfertig sein. Er blickt zu dem gefeierten Manne empor und sagt: „Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort.“
„Ach,“ seufzt der Andere, „wenn sie sich nur immer so glatt
abwickelte, wie heute, bei der Präsidentenwahl, dann wollte ich alle Reden
schenken.“ G.
Blätter und Blüthen.
Innsbruckerin. (Mit Illustration S. 21.) Das dunkle
„Korsettel“, mit den bauschigen Aermeln, am Hals viereckig ausgeschnitten
und mit rothem Besatz verbrämt, dazu der weiße aufstehende Spitzenkragen,
vom schwarzen seidenen „Halsflor“ umschlungen, das ist die kleidsame
Tracht, an der wir auf unserm Bilde sofort „’s Tiroler Madel“
erkennen. Den breitkrämpigen Hut mit den rothen Schnüren darauf
hat unsere Schöne allerdings daheim gelassen. Dafür hat sie ein gelbes
grobes Strohhütlein aufgesetzt, wie es die Sennerinnen auf der Alm
und die Dirnen bei der Feldarbeit tragen. ’s ist freilich kein
Staatsstück, aber was thut’s am Ende? Es paßt doch weit besser als der
altmodische Filz zu dem hübschen, fast feinen Gesichtchen mit den großen
schwarzen Augen, die uns so treuherzig anblicken. Und wie neckisch das
dunkle Kräuselhaar um Stirn und Schläfe unter dem bunt gefütterten
Hutrande sich vordrängt! Ob es unsere Tirolerin wohl selbst weiß, daß
sie so hübsch ist, so weit hübscher als manche Damen in der Stadt drinnen?
- Vielleicht! - Vielleicht hat sie eben deshalb jeden landesüblichen
Schmuck verschmäht, mit dem andere Mädchen sich putzen; selbst die kleinen
goldenen oder silbernen Ohrgehänge, die sonst ihre Kameradinnen zu
tragen pflegen, sie braucht sie nicht! J. C. M.
Hoffen und Harren. (Mit Illustration S. 25.) „Mademoiselle, mein Herz liegt in Ketten vor Ihnen. Jeder Gedanke in mir ist Weihrauch der Anbetung für Sie, mein Pulsschlag nichts mehr als ein Zittern unter der Macht Ihrer Reize. Wenn das schöne Erbtheil der weiblichen Natur, jenes zärtliche Mitleid mit dem Elend, Ihnen nicht versagt ist, geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen ohne Zeugen zu sagen, welch ein Abgrund voll Schmerz und Verzweiflung nach Ihnen verlangt hat. Ihr armer Sklave, Mademoiselle ...“ – „Erwarten Sie mich um 8 Uhr Abends auf der Bank unter der Ulme.“ Das ist die Vorgeschichte. Er ist ein armer verliebter Thor, und sie ein gottloser Schelm, daran läßt unsere graziöse Illustration keinen Zweifel übrig. Da sitzt er und überlegt mit klopfendem Herzen, was er ihr sagen will, um sie zu rühren – o, sie wird ihm das vielleicht erschweren, aber endlich wird sie ihn erhören; wie würde sie sonst diese Friedenstaube von Billet gesandt haben! Indessen steht sie bereits mit der spottlustigen Freundin, von Malven und Amoretten gedeckt am Treppenfuße und betrachtet ihr Opfer. „Pst – da ist er, der Vulkan von Liebe, der Abgrund voll Schmerz und Verzweiflung. Man muß dieses Feuer mit einem kalten Gusse behandeln.“
Sie werden ihn lachend begrüßen, und er wird gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Vielleicht hat er die Lektion verdient.
Einstweilen sitzt er noch, eine bedauerliche Illustration des alten:
Hoffen und Harren macht manchen zum Narren. V. B.
Ein Schüler Meister Schilling’s. (Mit Illustration S. 28.) Wer im Frühjahre 1884 die Hamburger Kunstausstellung besuchte, wird sich gewiß eines mächtig wirkenden Kunstwerks erinnern, das unaufhörlich neue Zuschauergruppen an sich zog, und das in überlebensgroßen Verhältnissen einen altgermanischen Krieger zu Roß darstellte, der von einer Walküre in den Krieg geführt wird.
Vielleicht halfen zwei Umstände das Interesse an dem Werk erhöhen: der junge Künstler Bruno Kruse, der Urheber desselben, ist ein Hamburger Kind, der von Hamburger reichen Kunstfreunden gestützt wird, und dann war das Werk in derselben Werkstatt entstanden, aus welcher das Niederwalddenkmal hervorging, also eine Frucht der Schilling’schen Schule, die ja beim gesammten deutschen Volk eine so warme, begeisterte Aufnahme gefunden.
Wir wollen uns nicht zu sehr bei der Idee aufhalten, die dem Kunstwerke zu Grunde liegt, die altnordischen Sagenbücher geben besser Aufschluß, als wir auf diesem engen Raume ihn zu bieten vermögen. Nur über die Auffassung des Künstlers seien einige Worte gesagt. Kruse hat offenbar in dem Krieger die physische Kraft und den Todesmuth darstellen wollen, die Walküre ist dagegen das geistige Prinzip, das ihn beherrscht und das ihn unwiderstehlich zum Sieg oder in den Tod treibt. Ueber die Ursache des Kampfes läßt uns der Künstler im Dunkeln, auch im Antlitz
[36] der Walküre ist etwas traumhaft Undefinirbares ausgedrückt, und das ist vielleicht eine der vornehmsten Ursachen, warum uns das Werk so fesselt. es giebt uns zu denken oder doch zu sinnen.
Die beiden Gesichter sind ganz aus Schilling’scher Schule, weibliche Anmuth und Innerlichkeit und männliche Kraft und Charakteristik in gemessenen Linien. Es ist eine künstlerisch verklärte Realistik, eine echt deutsche Kunst, die uns hier entgegentritt.
Kruse ist der Sohn eines Hamburger Holzbildhauers, also einer von der Zunft. Schon mit dem zehnten Jahre begann er seine künstlerische Laufbahn in der väterlichen Werkstatt. Der Direktor der Hamburger Gewerbeschule, O. Jessen, erkannte zuerst das hervorrragende Talent, er verschaffte dem jungen Mann Stipendien zum Besuch der Dresdener Kunstakademie. 1876 trat Kruse in das Schilling’sche Atelier ein, und der Meister vertraute ihm sofort hervorragende Arbeiten an. An der Germania (Niederwalddenkmal) arbeitete Kruse mit noch vielen Anderen, aber die wunderliebliche Figur der Mosel hat er allein ausgeführt.
In der Nebenzeit während dieser Arbeiten ist unser Kunstwerk, das
wir hier besprachen, und ein Gegenstück dazu entstanden, welches eine Walküre darstellt, die den gefallenen Helden nach Walhalla emporträgt. Fertig gestellt ist nur das erstere und zwar im Auftrag des Hamburger Kunstfreundes C. Heinszen, der dasselbe auf der Uhlenhorst in Ueberlebensgröße aufstellen ließ. 1883 errang sich der 27 Jahr alte Künstler
die große goldene Medaille auf der akademischen Ausstellung in Dresden.
Th. Gampe.
Verschmähte Freiheit.
(Mit Illustration S. 29.)
„Flieg’, mein Vöglein, nun flieg hinaus!
Draußen schlagen die Buchen aus,
Schau’, wie das Feld in Blumen steht!
Draußen ist Frühling voll Lust und Prangen;
Hier ist ein Winter, der nie vergeht.
... All’ die Bücher, so groß und stolz,
Sorglich gemalt mit reichen Farben,
Sind nicht so reich, wie des Feldes Garben,
Laß’ mich, daß ich darinnen lerne –
Du, mein Vöglein, flieg’ in die Ferne!
Warst mir seit Jahren ein treuer Genoß,
Wenn mir so einsam die Zeit verfloß;
Ueber mein Herz strömt mit einem Mal,
Möcht ich dir, Kleiner, die Freiheit geben,
Die sie genommen aus meinem Leben.
Grüß’ mir die Welt und die Waldesgänger,
Du aber willst nicht – sträubst das Gefieder,
Setzest dich zögernd am Gitter nieder,
Und ist die Welt doch so weit und froh –
... Einstmals ging es mir ebenso.
Sollte wandern und wollt’ es nicht;
Sagte wohl auch: flieg’ fort, mein Herz!
Und es flog immer heimathwärts.
Frühling weckt die Erinnerung ...
Flieg’ mein Vöglein, mein Sehnsuchtssänger,
Grüß’ mir die Welt und die Waldesgänger!“
Karl Stieler.
Vor den Schützen. (Mit Illustration S. 33.) Giebt’s wohl unter den eßbaren Geschöpfen auf Gottes weiter, schöner Erde eines, welches solcher Massenvertilgung ausgesetzt wäre, wie der arme Freund Lampe? Man hetzt ihn, schießt ihn, legt ihm Schlingen, packt ihn, schlägt ihn mit dem Knüttel todt, erlegt ihn aber auch mit „Anstand“; er wird zuweilen roh verschlungen, zuweilen zierlich gebraten, mit Rothkraut fein säuberlich verputzt, und herzuzählen sind die, welche lecker nach so einem Häschen sind, sei’s Mensch, sei’s Thier.
Kein Wunder daher, wenn „vor den Schützen“ ganze Bataillone dieser „Löffelgardisten“ hingemäht werden – und doch ein schöner Tod, denn jeder derselben kommt nachher dahin, wo ein ordentlicher Gardist hingehört: zur Köchin in die Küche, allerdings mit dem kleinen Unterschiede, daß der „Löffelgardist“ zur passiven Rolle beim Essen bestimmt ist. –r.
Das Wachsen eines Riesen soll die Mitte December vorigen Jahres in New-Orleans eröffnete internationale Ausstellung feiern, nämlich das Aufblühen und Gedeihen der nordamerikanischen Baumwollen-Industrie. Genau vor hundert Jahren verließ die erste zur Ausfuhr bestimmte Ernte Südkarolinas in Gestalt von 6 Ballen mit ungefähr 400 Pfund Baumwolle den Hafenplatz Charleston, um zum Londoner Markt gebracht zu werden, heute verschifft Charleston etwa eine halbe Million Ballen im Jahre – so großartig nach echt amerikanischer Weise ist die Entwickelung dieses Riesen. Echt amerikanisch ist auch die Art der Eröffnung
dieser Ausstellung: ungefähr 1300 englische Meilen davon entfernt befand sich der Präsident, umgeben von Senatoren und Abgeordneten, von Diplomaten und Staatswürdenträgern, im Weißen Hause zu Washington und drückte dort auf den Knopf der elektrischen Leitung, wodurch im selben Augenblicke die zwanzig Dampfmaschinen (mit 4500 Pferdekraft) der Ausstellungsräume in New-Orleans in Bewegung gesetzt wurden, zum Zeichen, daß die Ausstellung nunmehr eröffnet sei und unter dem Schutze des Sternenbanners stehe. Deutschland ist ebenso wie Oesterreich, Italien, Frankreich, Rußland und die Türkei nur schwach auf dieser Ausstellung vertreten.–r.
Allerlei Kurzweil.
Auflösung des Jahres-Ringes in Nr. 1: Man beginne mit dem im Centrum stehenden „P“ und lasse jene Buchstaben des Satzes: „Des Jahres letzte Stunde etc.“, auf welche die von „P“ ausgehenden Strahlen münden, so auf einander folgen, wie die Punkte auf den Radien in arithmetischer Folge es bezeichnen. Es ergiebt sich das Motto: „Prosit Neujahr!“
Auflösung des illustrirten Vexir-Räthsels in Nr. 1: Man schalte, wie es die Zeichnung angiebt, das Wort „Herz“ nach dem zweiten Buchstaben des Wortes „Schaft“ ein, und man erhält: „Scherzhaft“ (Sc–Herz–haft).
Auflösung des Kryptonyms „Der Stickrahmen“ in Nr. 1: Läßt man die Buchstaben des Wortes „gratulirend“ so aufeinander folgen, daß man mit dem unterhalb der obersten Blume (Horizontalreihe 1) stehenden Buchstaben beginnt und der Reihe nach abwärts bis zur untersten (11.) Horizontalreihe fortsetzt, so erhält man für die obere Guirlande: „Gertrud“ und für die untere: „Lina“.
Kleiner Briefkasten.
Frau J. M. Klosterneuburg. Wir bedauern sehr, Ihnen die gewünschte Stellung nicht verschaffen zu können. Vielleicht wird ein Inserat in einem Lokalblatte des betreffenden Bade-Ortes von Erfolg sein. Ueber das zu wählende Blatt giebt Ihnen jedes größere Annoncen-Bureau Auskunft.
H. B. in Bukarest. Jedermann darf Ringe tragen nach seinem Geschmack, gleichviel ob sie glatt sind oder nicht; folglich kann auch die betreffende Frau thun, was ihr beliebt. –
C. B. Anonyme Anfragen beantworten wir grundsätzlich nicht.
F. K. Hameln a. W. Das erwähnte Heilmittel ist uns nicht bekannt, die Firma, von der es vertrieben wird, jedoch wegen vielfacher Schwindeleien berüchtigt. – Auf Frage 2. ertheilen wir keine Antwort.
A. Sch. in Pola. Vergl. Sie gefl. Jahrgang 1864, S. 27 etc.!
Josef Richard Freudenthal. Wenden Sie sich an einen Arzt!
Inhalt: Die Frau mit den Karfunkelsteinen. Roman von E. Marlitt (Fortsetzung). S. 21. – Die Nihilisten. Von Johannes Scherr. II. Die Propheten des Nihilismus. S. 26. – Karsten Lehr. Ein Beitrag zur Geschichte des seemännischen Aberglaubens. Aus dem Nachlasse von Edmund Höfer (Schluß). S. 30 – Idealstädte. Von Leopold Katscher. S. 32. – Die Novizen des Reichstags. S. 34. – Blätter und Blüthen: Innsbruckerin. S. 35. Mit Illustration S. 21. – Hoffen und Harren. S. 35. Mit Illustration S. 25. – Ein Schüler Meister Schilling’s. Von Th. Gampe. S. 35. Mit Illustration S. 28. – Verschmähte Freiheit. Gedicht von Karl Stieler. S. 36. Mit Illustration S. 29. – Vor den Schützen. S. 26. Mit Illustration S. 33. – Das Wachsen eines Riesen. – Allerlei Kurzweil: Schach. Problem Nr. 1. Von V. Mieses in Leipzig. – Bilder-Räthsel. Auflösungen des Jahres-Ringes, des illustrirten Vexir-Räthsels und des Stickrahmens in Nr. 1. – Kleiner Briefkasten. S. 36.