Die Gartenlaube (1885)/Heft 1
[1]
No. 1. | 1885. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
neuen Jahr
1885.
„Und wieder schied ein Jahr! Die Welt wird alt!“ So klagt ein traurig Wort: ein Wort des Wahns! Die Welt bleibt jung! Noch scheint so hell, so warm „Was hilft’s? Mir aber fließt das Blut nicht mehr Und muß denn grade dich die Rose schmücken? |
Was Einmal du an Wahren, Schönem, Gutem Dem Ganzen lebe, dem du angehörst Hast du dies Ew’ge frommen Sinns geahnt, Die Neujahrsglocken dieses jungen Jahres, Felix Dahn. |
Tante Sophie hatte die Klammerschürze vorgebunden und nahm Wäsche von der Leine. Das Herz lachte ihr im Leibe, während sie unter den hochgespannten Seilen hinschlüpfte – frischgefallener Schnee, ja, was war der gegen das Weiß der bleichenden Tafeltücher und Leinenbezüge? – Seit unvordenklichen Zeiten war stets das schönste Bleichwetter, sobald die Leinenschätze des ehrenwerthen Hauses „Lamprecht und Sohn“ an die Luft gebracht wurden – „selbstverständlich“! Es sei das so gut ein Vorrecht wie das berühmte Kaiserwetter, meinte Tante Sophie immer mit listigem Augenzwinkern, denn es war Jemand im Hauses der solche „Blasphemien“ absolut nicht hören mochte. …
Nun zog heute wieder die köstliche Sommerluft dörrend durch die feuchten Lakenreihen, und die Julisonne schien ihre ganze Kraft in dem mächtigen Viereck des Hofes zu concentriren. Ueber die Dächer schossen Schwalbenschaaren wie stahlglänzende Pfeile in den Hof herein; ihre Nester hingen an den steinernen Fenstersimsen in der Beletage des östlichen Seitenflügels, und es war Niemand da, der den kleinen Blauröcken wehrte, wenn sie auf den Simsen rasteten und in ihrem aufdringlichen Gezwitscher kein Ende fanden. Ja, es wehrte ihnen weder ein Menschenblick, noch eine fortscheuchende Handbewegung; denn nie klang eines der Fenster droben in diesem Seitenbau, höchstens daß einmal im Jahre auf Stunden gelüftet wurde, dann fielen die großblumigen Gardinen wieder zu und ließen es geduldig geschehen, daß ihnen die Sonne den letzten Farbenrest aus der morschen Seidenfaser sog.
Das Haupthaus, dessen Façade auf den vornehmsten Platz der Stadt hinausging, hatte der Zimmer und Säle genug, und der Bewohner nicht viele, da brauchte man die obere Zimmerflucht des östlichen Seitenflügels nicht. Die Leute sagten aber Anderes. So hell und sonnig auch das angebaute Hinterhaus in die Lüfte stieg, und so friedlich es erschien mit seinen hohen, stillen Fenstern, es war doch der unheimliche Schauplatz eines Kampfes, eines fortgesetzten, gespenstigen Kampfes bis in alle Ewigkeit. So sagten die Leute draußen in Gassen und Straßen, und die drinnen widersprachen nicht. Warum auch? Hatte es doch seit Anno 1795, wo die schöne Frau Dorothea Lamprecht in dem Seitenflügel ihr Wochenbett abgehalten und da verstorben war, fast keinen dienstbaren Geist der Familie gegeben, der nicht wenigstens einmal die lange Schleppe eines weißen Nachtgewandes durch den Corridor hatte schleifen sehen, oder gar gezwungen gewesen war, sich halbtodt vor Schrecken platt an die Wand des Ganges zu drücken, um die lange, hagere „Selige“ im grauen Spinnwebenkleide an sich vorüberzulassen. Drum schliefe auch Niemand droben in dem Hause, sagten die Leute.
An dem „Unwesen“ sollte ein Eidbruch schuld sein.
Justus Lamprecht, der Urgroßvater des derzeitigen Familienoberhauptes, hatte seinem sterbenden Eheweibe, der Frau Judith, feierlich zuschwören müssen, daß er ihr keine Nachfolgerin geben wolle – es sei um ihrer zwei Knaben willen, sollte sie gesagt haben; im Grunde aber war es glühende Eifersucht gewesen, die keiner Anderen den Platz an der Seite ihres zurückbleibenden Ehemannes gegönnt. Herr Justus hatte aber ein leidenschaftliches Herz gehabt, und seine schöne Mündel, die in seinem Hause gewohnt, nicht minder. Sie hatte gemeint, und wenn sie in die Hölle mit ihm müsse, sie lasse doch nicht von ihm und heirathe ihn der neidischen Seligen zum Trotz und Tort. Und sie hatten auch zusammen gelebt wie zwei Turteltauben, bis sich die schöne, junge Frau Dorothea eines Tages in den Seitenflügel zurückgezogen, um sich in der mit fürstlicher Pracht ausgestatteten Wochenstube ein neugeborenes Töchterchen in den Arm legen zu lassen. Herr Justus Lamprecht hatte gesagt, nun sei er auf dem Gipfel des Glückes. …
Es war aber gerade strenger Winter gewesen, und just in der Weihnachtsnacht, wo draußen Alles zu Stein und Bein gefroren, war mit dem Glockenschlag Zwölf langsam und feierlich die Thür der Wochenstube nach dem Gange hinaus zurückgefallen, und die Selige war auf einer grauen Wolke, wie in Spinnweben gewickelt, hereingekommen. Und die Wolke, der Spinnwebenrock und der häßliche Kopf mit der Spitzendormeuse, Alles war unter den seidenen Betthimmel gekrochen und hatte sich auf der Wöchnerin so fest zusammengekauert, als solle dem blühenden jungen Weibe das Herzblut ausgesogen werden. Der Wartefrau waren Hand und Fuß gelähmt gewesen, und sie hatte sozusagen in einer Eisgrube gesessen, so mörderisch kalt war es von dem Spukwesen ausgegangen; die Sinne waren ihr vergangen, und erst lange darnach, als das Neugeborene geschrieen, war sie wieder zu sich gekommen.
Ja, das war nun eine schöne Bescheerung gewesen! Die Thür nach dem eisigkalten Gange hatte noch sperrangelweit offen gestanden, und von der bösen Frau Judith war auch nicht ein Rockzipfelchen mehr zu sehen gewesen, im Bette aber hatte Frau Dorothea aufrecht gesessen und unter heftigem Schütteln und Schaudern mit den Zähnen geklappert und ganz wirr nach dem Kind in der Wiege gesehen, und nachher war sie in Raserei verfallen, und nach fünf Tagen hatte sie, ihr todtes Kindlein im Arme, im Sarge gelegen. Die Aerzte hatten gesagt, Mutter und Kind seien in Folge heftiger Erkältung gestorben; die pflichtvergessene Wärterin habe die Tür schlecht verschlossen, sei eingeschlafen und habe verrückt geträumt – einfältiges Gewäsch! – Wenn das Alles so mit natürlichen Dingen zugegangen war, weshalb geschah es denn nachher, daß die schöne Verführerin oft schon im Abendzwielicht aus der ehemaligen Wochenstube gehuscht kam und die graue Furie hinter ihr hersauste, um ihr von hinten, die langen dürren Arme würgend um den Hals zu schlingen? –
Die Firma „Lamprecht und Sohn“ hatte zu Ende des vorigen Jahrhunderts noch mit Leinen gehandelt, und die öfter wiederholte Bezeichnung „Thüringer Fugger“ sollte gar nicht übel auf ihr Ansehen gepaßt haben. Dazumal hatte ihr großer Häusercomplex am Markte einem Bienenstock geglichen, so lebendig war der Menschenverkehr gewesen. – Bis unter die Dächer hinauf sollen die Leinenballen aufgestapelt gewesen sein, und allwöchentlich waren mächtige Frachtwagen schwerbeladen in die weite Welt hinausgefahren. Tante Sophie wußte das Alles ganz genau. Sie selbst hatte freilich jene Zeiten nicht gesehen; aber in ihrem hellen Kopfe waren Familientraditionen, alte Geschäfts- und Tagebuchnotizen und die verschiedenen, oft curiosen Nachlaßverfügungen so pünktlich registrirt, wie sie kaum der Archivar einer Regentenfamilie in den Annalen sammelt.
So war denn auch die alljährliche Julibleiche eine Zeit der Reminiscenzen. Da kamen uralte Wäschestücke auf die Leine, nicht der Benutzung wegen – bewahre! – nur damit sie nicht vergilbten und in neue Brüche gelegt werden konnten. Und die eingewebten Jäger und Amazonen, die mythologischen und biblischen Figuren in dem Damastzeuge mochten sich dann freilich jedesmal verwundern, wie still und anders es in dem Hofe geworden, daß von Flachspreisen und Webelöhnen kein Wort mehr fiel, kein hochgethürmter Frachtwagen durch die Thorwölbung des Packhauses rasselte und das Schlagen der Webstühle in fast lautloser Stille erloschen war. Es ging ja wohl öfter ein Flüstern und Rauschen durch den Hof, aber das kam vom Zugwind, der durch das Gesträuch und Gezweig fuhr – du lieber Gott, wie sich doch die Welt ändert! Grünes Blattwerk auf dem ehemaligen Geschäftstummelplatze, der dazumal nicht die ärmlichsten Grasspitzen zwischen seinem festen Bachkieselgefüge hatte aufkommen lassen! Je nun, hatte sich doch das alte Steinpflaster im Laufe der Zeiten selbst nicht behaupten können! Eine Rasendecke lag jetzt auf dem etwas abschüssigen Terrain, schöne Rosenbäume schüttelten ihre buntfarbigen Blüthenblätter über das weiche Gras her; es rauschte junges strotzendes Lindenlaub vor dem westlichen Seitenflügel, der sogenannten Weberei, und das alte Packhaus, welches nach Norden hin den Hof abschloß, war von oben bis unten umschnürt von dem grünen Schuppenpanzer des Pfeifenstrauches.
Der Leinenhandel war längst vertauscht worden mit einer Porcellanfabrik, die sich außerhalb der Stadt, auf dem nahegelegenen Dorfe Dambach befand.
Der gegenwärtige Chef des Hauses „Lamprecht und Sohn“ war Wittwer. Er hatte zwei Kinder, und Tante Sophie, die Letzte einer Seitenlinie der Familie, führte ihm die Wirthschaft, mit fleißigen Händen, in Zucht und Ehren und weiser Sparsamkeit. [3] Und die lustige Tante mit der großen Nase und den gescheiten braunen Augen hielt es für den klügsten Einfall ihres ganzen Lebens, eine alte Jungfer geworden zu sein, dieweil auf diese Weise doch noch für ein Weilchen eine echte Lamprechts-Physiognomie aus der Hausfrauenstube auf den Markt hinausgucke. – Das klang nun freilich ebenso unangenehm nervenberührend für das Ohr der Frau Amtsräthin, wie die stehende Bemerkung über das Kaiserwetter; aber die Frau Amtsräthin war eine sehr feine Dame, die zu Hofe ging, und Tante Sophie steckte stets die unschuldigste Miene auf, und so kam es nie zu einem Streit zwischen Beiden.
„Amtsraths“, die Schwiegereltern des Herrn Lamprecht, wohnten im zweiten Stock des Haupthauses. Der alte Herr hatte sein schönes Rittergut verpachtet und sich zur Ruhe gesetzt; aber er hielt es in der Stadt nicht lange aus. Er ließ Frau und Sohn – seinen einzigen – oft allein und war weit mehr draußen in Dambach, in der Landluft, wo ihm der Wald und das Hasenrevier greifbar nahe lagen, und er in dem geräumigen, zu der Fabrik gehörigen Pavillon seines Schwiegersohnes hausen konnte, so oft und so lange er Lust hatte.
Es schlug Vier auf dem nahen Rathhausthürmchen, und mit der Nachmittagskaffeestunde nahte das Bleichwerk seinem Ende. Die Wäsche hatte sich allmählich in den riesigen Korbwannen weiß und hoch wie Schneehügel aufgethürmt, und Tante Sophie nahm zu allerletzt die Klammern behutsam von den kostbaren Wäsche-Alterthümern. Aber da gab es ihr plötzlich einen förmlichen Stich durch das Herz.
„Eine schöne Bescheerung!“ rief sie ganz erschrocken und betreten der helfenden alten Magd zu. „Da guck’ her, Bärbe! Das Tafeltuch mit der Hochzeit zu Kana ist aus dem Leim gegangen – es hat einen mächtigen Riß!“
„Ist auch alt genug – der reine Zunder! Alles hat seine Zeit, Fräulein Sophie!“
„Was Du doch gescheit bist, alte, kluge Bärbe! Das Sätzchen kann ich auch auswendig. O je, der Schaden geht dem Speisemeister geradeswegs durch die ganze Physiognomie – da werde ich meine liebe Noth mit dem Stopfen haben!“ Sie hielt das dünngewordene, morsche Gewebe prüfend gegen das Licht. „Ein altes Erbstück ist’s freilich! Die Frau Judith hat das Gedeck noch mit eingebracht.“
Bärbe räusperte sich laut und schielte verstohlen nach den Fenstern des östlichen Seitenflügels empor. „Solche Leute, die keine Ruhe in der Erde haben, die muß man nicht so laut beim Namen nennen, Fräulein Sophie!“ rügte sie mit gedämpfter Stimme und mißbilligendem Kopfschütteln. „Justement in der Zeit nicht, wo es wieder umgehen thut – der Kutscher hat es erst gestern Abend wieder weiß um die Gangecke laufen sehen –“
„Weiß? Na, dann ist’s ja doch der Spinnwebenrock nicht gewesen … Also der nette dicke Kutscher spielt sich auf das Sonntagskind in Eurer Gesindestube? Das sollte nur der Herr wissen! Ihr Hasenfüße wollt wohl sein Haus wieder einmal in aller Leute Mäuler bringen?“ – Sie zuckte die Achseln und schlug das Tafeltuch zusammen. „Mir, für meine Person, mir wäre das übrigens ganz egal. Es hört sich eigentlich gar nicht schlecht an, wenn die Leute sagen: ‚die weiße Frau in Lamprecht’s Hause!‘ Alt und angesehen genug sind die Lamprechts ja! Den Luxus können wir uns schon erlauben, so gut wie die im Schlosse.“
Diese letzten Worte waren offenbar nicht an die Adresse der Magd gerichtet – Tante Sophiens braune Augen zwinkerten lustig nach der Lindengruppe vor der Weberei. Dort funkelten ein Paar Brillengläser auf dem feinen Nasenrücken der Frau Amtsräthin. Die alte Dame hatte ihren Papagei ein wenig in’s Grüne heruntergetragen und hielt Wache bei ihm von wegen der Hauskatzen. Sie stickte, und neben ihr, am weißgestrichenen Gartentische, saß ihr Enkel, der kleine Reinhold Lamprecht, und schrieb auf seiner Schiefertafel.
„Ich will nicht hoffen, daß Sie das ernstlich meinen, liebste Sophie!“ sagte die Frau Amtsräthin; eine leichte Röthe war in ihr Gesicht getreten, und die Augen blickten scharf über die Brille. „Mit solchen geheiligten Vorrechten spaßt man übrigens nicht; das ist unziemlich – Strengere als ich würden sagen ‚demokratisch‘!“
„Ach ja, das sähe Denen schon ähnlich!“ lachte Tante Sophie, „Das sind Solche, die auch am liebsten wieder mit Feuer und Schwert in der Welt hantiren möchten! Aber muß denn der Mensch gleich ein Demokrat sein, wenn er nicht wie ein Wurm am Boden kriecht? Bei Denjenigen, die da wiederkommen, um die lebendigen Kreaturen in’s Bockshorn zu jagen, ist doch kein Unterschied mehr, und die weiße Schloßfrau muß ebenso gut erst aus einem Moderhäufchen steigen, wie dem Urgroßvater Justus sein schönes Dorchen auch!“
Die alte Dame rümpfte die feine, kleine Nase und schwieg indignirt. Sie legte ihren Stickrahmen weg und trat zu Bärbe. „Wie ist denn das – der Kutscher will gestern Abend auch in dem Gange etwas gesehen haben?“ fragte sie gespannt.
„Ja wohl, Frau Amtsräthin, und der Schreck liegt ihm heute noch in allen Gliedern. Er hat oben in den guten Stuben bis zur Dämmerstunde die Fußböden gewichst, und nachher beim ’Runtergehen ist’s ihm gewesen, als wenn in dem Gange hinten eine Thür sachte zugemacht würde – Frau Amtsräthin, in dem Gange, wo im ganzen Leben kein Thürschlüssel umgedreht wird! Na, kurz und gut – es ist ihm freilich eiskalt über den Rücken gelaufen, und die Beine sind ihm bleischwer geworden; aber er hat sich doch ein Herz gefaßt, ist ein paar Schrittchen auf die Seite geschlichen und hat um die Ecke geschielt. Und da ist’s vor seinen Augen in den langen Gang hingehuscht, ganz schlank und schmächtig und schneeweiß von oben bis unten –“
„Vergiß nur ja die schwarzledernen Handschuhe nicht, Bärbe!“ warf Tante Sophie ein.
„Bewahr’ mich Gott, Fräulein Sophie, nicht einen schwarzen Faden hat das Unding an sich gehabt! Und wie’s um die andere Gangecke saust, da fliegt Alles aus einander wie Schleierzeug und ist verschwunden gewesen, der Kutscher sagt, wie Rauch im Winde. Den bringen um die Dämmerstunde nicht zehn Pferde wieder bis an den Gang hin!“
„Wird auch gar nicht verlangt von der Heldenseele – der gehört in den Altweiberspittel mit seinem Spinnstuben-Gewäsch!“ sagte Tante Sophie halb amüsirt, halb ärgerlich und griff nach einer Serviette, um sie von der Leine zu nehmen: aber in demselben Augenblick fuhr auch ihr Kopf herum. „Potztausend, was kommt denn da angerasselt? Ja Gretel, bist Du denn närrisch?“
Durch den hochgewölbten Thorweg des Haupthauses kam ein hübscher Kinder-Landauer mit einem Gespann von zwei Ziegenböcken in den Hof hereingebraust. Die Lenkerin, ein Mädchen von ungefähr neun Jahren, stand aufrecht und hielt die Zügel stramm in den Händen. Der runde, breitrandige Strohhut war ihr nach dem Nacken zurückgesunken und schwebte, von den Bindebändern am Halse festgehalten, wie eine gelbe Heiligenscheibe hinter dem dunklen Gelock, das wild im scharfen Zugwind aufflog.
Das Gefährt rollte bis zu den Linden, unter denen der kleine Reinhold saß; da erst wurde mit einem kräftigen Ruck Halt gemacht, zum Schrecken des Papageien, der laut aufkreischte, während der Knabe von der Bank glitt.
„Aber, Grete, Du sollst ja nicht mit meinen Böcken fahren! Ich will’s nicht haben!“ zankte Reinhold weinerlich, und sein blasses, schmales Gesichtchen röthete der Zorn. „Es sind meine Böcke! Der Papa hat sie mir geschenkt!“
„Ich thu’s nicht wieder, ganz gewiß nicht, Holdchen!“ versicherte die Schwester, vom Wagen springend. „Geh, sei nicht böse! – Hast mich noch lieb?“ – Der Kleine kletterte wieder auf seine Bank und ließ es nur widerwillig geschehen, daß sie ihn mit stürmischer Zärtlichkeit umfaßte. – „Siehst Du, Hans und Benjamin wollen ja doch auch ihren Spaß haben! Die armen Kerle sind so lange im Dambacher Stalle eingesperrt gewesen.“
„Und Du bist wirklich allein von Dambach hereingefahren?“ fragte die Frau Amtsräthin, Entrüstung und nachträglichen Schrecken in ihrer zarten Stimme.
„Natürlich, Großmama! Der dicke Kutscher kann doch nicht hinter mir im Kinderwagen sitzen! Der Papa ist nach Hause geritten, und ich sollte mit der Factorin wieder im großen Wagen hereinfahren; aber die Trödelei dauerte mir zu lange.“
„Solch ein Unsinn! Und der Großpapa?“
„Der stand im Hofthor und hielt sich die Seiten vor Lachen, wie ich vorbeisauste.“
„Ja, Du und der Großpapa! Ihr seid mir“ – die alte Dame verschluckte weislich den Rest ihrer scharfen Bemerkung und zeigte mit dem Finger empört auf Brust und Leib der Enkelin. „Und wie siehst Du aus? So bist Du durch die Stadt gefahren?“
[4]
[5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] Die kleine Margarete riß an der Schleife am Halse, um sich von dem Hute zu befreien, und streifte mit einem gleichgültigen Blick das gestickte Vorderblatt ihres weißen Kleides.
„Heidelbeerflecken!“ sagte sie kaltblütig. „Es geschieht Euch schon recht, warum zieht Ihr mir immer weiße Kleider an! Ich sag’s ja immer, Packleinwand wäre am besten für mich –“
Tante Sophie lachte, und eine männliche Stimme fiel ein. Fast mit der kleinen Equipage zugleich war ein junger Mensch in den Hof gekommen, ein hübscher, neunzehnjähriger Jüngling, der Sohn der Frau Amtsräthin und ihr einziges Kind; denn sie war die zweite Frau ihres Mannes und nur die Stiefmutter der verstorbenen Frau Lamprecht gewesen. Der junge Mann hatte einen Stoß Bücher unter dem Arm und kam vom Gymnasium her.
Die Kleine streifte ihn mit einem finsteren Blick. „Du brauchst gar nicht zu lachen, Herbert!“ murrte sie geärgert, während sie die Zügel der Böcke wieder aufnahm, um das Gespann nach dem Stalle zu bringen.
„So? Werde mir’s merken, meine kleine Dame! Aber darf man fragen, wie es mit den Schularbeiten steht? Draußen beim Heidelbeeressen hat das gnädige Fräulein schwerlich seine französische Lektion repetirt, und ich möchte wissen, wie viel Kleckse das Schönschreibebuch heute Abend zu verzeichnen haben wird, wenn die Aufgabe per Dampf erledigt werden muß –“
„Keine! Ich werde schon aufpassen und mir Mühe geben – gerade Dir zum Trotz, Herbert!“
„Wie oft soll ich Dir wiederholen, unartiges Kind, daß Du nicht ‚Herbert‘, sondern ‚Onkel‘ zu sagen hast!“ zürnte die Frau Amtsräthin.
„Ach, Großmama, das geht ja nicht, und wenn er zehnmal Papa’s Schwager ist!“ entgegnete die Kleine unwirsch und mit allen Zeichen der Ungeduld die dunkle Lockenwucht aus dem Gesicht schüttelnd. „Wirkliche Onkels müssen alt sein! Ich weiß aber noch ganz gut, wie Herbert mit Ziegenböcken gefahren ist und mit Bällen und Steinen die Fenster eingeworfen hat. Und vom Doctor war ihm das Obst verboten, und er hat doch immer ganze Hände voll Pflaumen heimlich aus der Tasche gegessen – ja wohl, das weiß ich noch sehr gut! Und jetzt ist er ja auch weiter nichts, als ein Schulfuchs, der noch mit den Büchern unterm Arme geht. – Brr, Hans! Wollt ihr wohl warten!“ schalt sie auf das ungeduldige Gespann und faßte die Zügel fester.
Bei der sehr laut gesprochenen, rückhaltslosen Kritik aus kindlichem Munde war der junge Mann dunkelroth geworden. Er lächelte gezwungen. „Du Naseweis, Dir fehlt die Ruthe!“ preßte er zwischen den Zähnen hervor, während sein scheuverlegener Blick das gegenüberliegende Packhaus streifte.
Die ein wenig schiefhängende äußere Holzgallerie, die im oberen Stock vor den Schiebefenstern dieses alten Hauses hinlief, war auch laubenartig von dem Blattgeflecht des Pfeifenstrauches übersponnen; nur da und dort ließ es Raum für Luft und Licht, indem es einen Rundbogen wölbte. Und in einer solchen grünen Nische blinkte es wie mattes Gold, und manchmal hob sich eine zarte, weiße Hand hinter der Brüstung, um wie träumerisch über das lockere Goldhaar hinzustreichen, oder sich hinein zu vergraben … In diesem Augenblick aber blieb drüben Alles still und unbeweglich. Die Frau Amtsräthin war die Einzige, die das verstohlene Hinüberblicken des Sohnes bemerkt hatte. Sie sagte kein Wort, aber ihre Stirn zog sich finster zusammen, während sie dem Packhaus geflissentlich den Rücken wandte.
„Liebste Sophie, mein Sohn hat Recht – Gretchen wird von Tag zu Tag unmanierlicher!“ sagte sie hörbar gereizt zu Tante Sophie, wobei sie den Ständer mit ihrem Papagei ergriff, um ihn wieder hinaufzutragen. „Ich thue mein Möglichstes, so oft das Kind oben bei mir ist; aber was hilft das Alles, wenn hier unten über ihre Ungezogenheiten gelacht wird? Unsere selige Fanny war in Gretchens Alter schon völlig Dame; sie hatte von Klein auf Takt und Chic in bewunderungswürdiger Weise. Was würde sie sagen, wenn sie ihr Kind so wild und ungezügelt aufwachsen sähe, wenn sie hörte, wie das Mädchen so entsetzlich ‚geradeheraus‘ und unverblümt zu sprechen gewohnt ist! Ich verzweifle an irgend einem Resultat diesem Kopf gegenüber!“
„Hartes Holz, Frau Amtsräthin! Daran läßt sich freilich schwer schnitzeln,“ entgegnete Tante Sophie mit einem humorvollen Lächeln, „Ueber wirkliche Ungezogenheiten lache ich nie – da seien Sie ganz ruhig! Aber damit macht mir unsere Gretel das Leben auch gar nicht sauer … Mit den Knixen und Reverenzen mag’s freilich schwer halten – das glaub’ ich Ihnen gerne, und darin kann ich auch nicht helfen, denn ich bin keine von den sogenannten Weltpolitischen. Ich sehe nur immer darauf, daß dem Wildfang seine schöne Wahrheitsliebe verbleibt, daß das Kind nicht heucheln und schmeicheln und schöne Dinge sagen lernt, an die es selbst nicht glaubt.“
Währenddem brachte die kleine Margarete, die bei dem Wort „Ruthe“ empört aufgefahren war, als fühle sie bereits den Schlag, mit Bärbe’s Hülfe das Gefährt unter Dach und Fach, und Reinhold zeigte dem jugendlichen Onkel seine Schreibübungen.
Der Knabe war von ausnehmend zarter Gestalt, ein dürftig zusammengeschmiegtes Figürchen mit matten, langsamen Bewegungen.
„In der Gretel steckt ein Ueberschuß von Kraft, der will sich austoben!“ fuhr Tante Sophie fort. „Wollte Gott, unser stilles, blasses Jüngelchen da“ – sie zeigte verstohlen nach dem Kleinen, und ihr Blick verdunkelte sich – „hätte ein Theil davon!“
„Ueber sogenannte Kraftmenschen habe ich meine eigene Ansicht, Liebste!“ entgegnete die Frau Amtsräthin achselzuckend. „Mir geht die distinguirte Ruhe über Alles! Da sind wir übrigens wieder einmal bei dem alten Thema von Reinhold’s Schwächlichkeit – wenn Sie wüßten, wie Sie mich mit dieser ewigen Gespensterseherei irritiren! Mein Gott, Lamprecht’s einzige Hoffnung, sein Kleinod! Nein, Gott sei Dank, unser Junge ist innerlich ganz gesund! Der Doktor betheuert es, und ich zweifle nicht, daß Reinhold später einmal seinem Papa an Kraft und Gewandtheit nichts nachgeben wird!“
Diese Behauptung erschien sehr gewagt, wenn man das kümmerliche Menschenpflänzchen am Gartentische mit dem Mann verglich, der in diesem Augenblick in den Hof ritt.
Herr Lamprecht kam von einer andern Seite, als sein Töchterlein, durch die Straße hinter seinem Besitzthum, welche einst die mit Leinen befrachteten Wagen frequentirt hatten. Er kam in der letzten Zeit meist diesen Weg.
So wie die Reitererscheinung aus dem Dunkel des tiefen Packhaus-Thorweges auftauchte, hatte sie etwas überaus Imposantes. Herr Lamprecht war ein auffallend schöner Mann, tannenschlank und dunkelbärtig, voll Feuer und Würde zugleich in Haltung und Bewegungen.
„Papa, da bin ich! Volle zehn Minuten früher als Du! Ja, die Böcke laufen anders, als Dein Lucifer, die laufen ganz famos!“ triumphirte Margarete, die bei dem Getrappel der Pferdehufe auf dem Thorwegpflaster aus der Stallthür gesprungen kam.
Das Geräusch des aufgestoßenen Thorflügels drunten brachte auch Bewegung in das grüne Versteck der Holzgallerie, das gerade über der Einfahrt lag – der blonde Kopf fuhr empor. Vielleicht wurden das Grün der überhängenden Blätter und die altersdunkle Hauswand dahinter zur besonderen Folie und ließen die Maiblumenfrische des jungen Gesichts doppelt blendend hervortreten; auf jeden Fall aber war das Mädchen im hellen Sommerkleide eine Gestalt, die sofort Aller Blicke auf sich ziehen mußte.
Sie bog sich, voller Neugierde, wie es schien, aus dem Blätterrundbogen; dabei fielen zwei dicke Flechten darüber und hingen jenseit des Geländers lang herab, sodaß der Zugwind die blauen Bandschleifen an ihren Enden hin- und herwehen machte.
Und auf der Geländerbrüstung mochten Blumen liegen; bei der hastigen Bewegung, mit welcher das Mädchen den Arm aufstützte, flogen ein Paar schöne Rosen herab und fielen vor den Hufen des Pferdes auf das Pflaster nieder. Das Thier scheute; aber der Reiter klopfte ihm beruhigend den Hals und ritt in den Hof herein. Mit einem seltsam starren Blick, der weder rechts noch links zu sehen schien, zog er beim Näherkommen den Hut; er war achtlos über die Blumen hingeritten und hatte nicht einmal emporgeblickt nach dem offenen Gange, von woher die duftenden Störenfriede gekommen – Herr Lamprecht war ein stolzer Mann, und die Frau Amtsräthin begriff vollkommen, daß er den Bewohnern des Hinterhauses wenig Beachtung schenke.
Seine kleine Tochter dagegen schien anders zu denken. Sie lief bis zum Packhaus und hob die Blumen auf. „Sie binden wohl einen Kranz, Fräulein Lenz?“ rief sie nach dem Gange hinauf. „Ein paar Rosen sind heruntergefallen – soll ich sie Ihnen zuwerfen, oder hinaufbringen? Ja?“
Keine Antwort erfolgte. Das junge Mädchen war verschwunden; es mochte sich, erschrocken über das zurückscheuende Thier, in das Innere des Hauses geflüchtet haben.
[7] Herr Lamprecht stieg indessen vom Pferde. Er war nahe genug, um zu hören, wie seine Schwiegermutter mit mißbilligendem Erstaunen zu Tante Sophie sagte: „Wie kommt denn Gretchen zu der Intimität mit den Leuten da drüben?“
„Intim? Davon weiß ich nichts. Ich glaube nicht, daß das Kind je die Treppe im Packhause hinaufgestiegen ist. Nichts als das gute Herz ist’s, Frau Amtsräthin! Die Gretel ist eben hilfreich gegen Jedermann; das ist die richtige Höflichkeit und mir tausendmal lieber als Solche, die außen voller Komplimente sind und innerlich recht grob denken in Bezug auf andere Menschen … Es mag aber auch bei dem Kinde die Freude an der Schönheit sein – ich mach’s ja nicht besser! Mir lacht immer das Herz im Leibe, wenn ich das schöne Mädchen dort auf dem Gange hantiren sehe.“
„Geschmackssache!“ warf die Amtsräthin leicht hin; aber ihre Stirn furchte sich im Mißmuth, und ein finsterer Seitenblick streifte den Sohn, der sich tiefer über Reinhold’s Schiefertafel bückte. „Das blonde Genre hat nie Reiz für mich gehabt,“ setzte sie mit ihrer stets sanften, gedämpften Stimme hinzu. „Uebrigens habe ich ja gewiß an Gretchens Zuvorkommenheit nichts auszusetzen; es überrascht und freut mich vielmehr, daß sie auch höflich sein kann. Ich gehöre auch nicht zu ‚Solchen‘, die innerlich grob in Bezug auf andere Menschen denken, Liebste – keineswegs; dazu bin ich zu mild und christlich! Aber ich stehe auch fest auf meinen gut konservativen Anschauungen, nach welchen gewisse Grenzen absolut aufrecht erhalten werden müssen … Das junge Mädchen – mag es auch Erzieherin in England gewesen sein und einen höheren Bildungsgrad erlangt haben – allen Respekt vor diesem Streben! – aber ich sage trotzalledem: dieses Mädchen ist und bleibt hier doch nur die Tochter eines Mannes, der für die Fabrik arbeitet, und das muß für uns Alle maßgebend sein – Hab’ ich nicht Recht, Balduin?" wandte sie sich an ihren Schwiegersohn, der etwas Ungehöriges an dem Sattelzeug seines Pferdes zu prüfen schien.
Er hob kaum die Stirn; aber ein verstohlener Blitz zuckte seitwärts aus seinen dunkelglühenden Augen, so jäh und grell, als wolle er die zarte, sanfte Frau zu Staub und Asche verbrennen. Sie mußte einen kurzen Moment auf die Bestätigung ihres Ausspruchs warten, dann aber kam sie prompt und gleichmüthig von den Lippen des schönen Mannes: „Sie haben ja stets Recht, Mama! Wer würde sich wohl unterstehen, anderer Meinung zu sein?“
Er drückte sich den Hut tiefer in die Augen und führte das Pferd nach dem Stall in der Weberei.
Unter den Linden ging es inzwischen ziemlich laut her. Margarete hatte die aufgelesenen Rosen auf den Gartentisch gelegt – nur so lange, bis Fräulein Lenz wieder auf den Gang herauskomme, sagte sie und kniete auf der Bank neben dem kleinen Bruder nieder.
„Da sieh’ her, Grete!“ sagte Herbert und zeigte auf die Schiefertafel. Er sah noch sehr roth aus, und seine Stimme klang so sonderbar zitterig und unterdrückt – wahrscheinlich noch vom Aerger, dachte das kleine Mädchen. – „Sieh her,“ wiederholte er, „und schäme Dich! Reinhold ist fast zwei Jahre jünger als Du, und wie schön und korrekt ist seine Schrift gegen Deine Buchstaben, die so häßlich groß und steif sind, als wären sie mit einem Stück Holz, und nicht mit der Feder geschrieben!“
„Aber deutlich sind sie,“ entgegnete die Kleine ungerührt – „so schön deutlich, sagt Bärbe, daß sie die Brille gar nicht erst aufzusetzen braucht wie beim Gesangbuchlesen – warum soll ich mich denn da plagen mit den dummen Schnörkelchen?“
„Nun ja, das konnte ich wissen – Du bist ein unverbesserlich faules kleines Mädchen!“ sagte der junge Mann, wobei er wie zerstreut eine der Rosen ergriff und ihren Duft einathmete – er schien dies aber nur mit den Lippen zu thun.
„Ja, faul bin ich manchmal in der Schule, das ist wahr!“ gab die Kleine ehrlich zu; „aber nicht in der Weltgeschichte – nur im Rechnen und –“
„Und in den Schularbeiten zu Hause, wie Dein Direktor klagt –“
„Ach, was weiß denn der? Solch ein alter Mann, der fürchterlich schnupft und immer nur in der Schule und in seiner engen, schrecklichen Gasse steckt – keine Sonne scheint hinein, und seine Stube ist voll Tabaksqualm wie ein Schlot – der weiß viel, wie Einem zu Muthe ist, wenn man im Dambacher Garten im Grase liegt und – halt, daraus wird nichts! Die wird nicht wegstibitzt!“ unterbrach sie sich, warf ihren geschmeidigen Körper blitzschnell über die Tischplatte hin und haschte nach der Rose, die Herbert, vermuthlich abermals in Folge seiner Zerstreutheit, eben in der Brusttasche verschwinden ließ.
Aber der sonst so beherrschte junge Mann war in diesem Augenblicke kaum wieder zu erkennen. Ganz blaß, die Augen voll Grimm, erfing er die kleine Hand, noch bevor sie ihn berührte, und schleuderte sie von sich wie ein bösartiges Insekt.
Die Kleine stieß einen Schmerzenslaut aus, und auch Reinhold sprang erschrocken von der Bank.
„Holla, was geht denn da vor?“ fragte Herr Lamprecht, welcher dem herbeigeeilten Hausknecht sein Pferd überlassen hatte und eben an den Tisch trat.
„Er darf nicht! Das ist so gut wie gestohlen!“ stieß die kleine Margarete noch unter der Einwirkung des Schreckens hervor. „Die Rosen gehören Fräulein Lenz –“
„Nun, und –?“
„Herbert hat eine weiße genommen und in die Tasche gesteckt – gerade die allerschönste!“
„Kinderei!“ zürnte die Frau Amtsräthin. „Was für abgeschmackte Späße, Herbert!“
Herr Lamprecht sah erhitzt aus, als habe ihm der Ritt das ganze Blut nach dem Kopfe getrieben. Er trat dem jungen Mann schweigend näher und wiegte die Reitpeitsche in seiner Hand; und allmählich umschlich ein überlegenes, verletzend spöttisches Lächeln seinen Mund; er kniff die Augen zusammen und fixirte sein jugendliches Gegenüber von Kopf bis zu Füßen, und es war, als sprängen Funken aus den Lidspalten in das Gesicht des jungen Menschen, der heftig erröthete.
„Lasse ihn doch, Kleine!" sagte Herr Lamprecht endlich mit einem lässigen Achselzucken zu seinem Töchterchen. „Herbert braucht das gestohlene Gut für die Schule – er wird morgen in der botanischen Stunde seinem Professor eine rosa alba vorzeigen müssen.“
„Balduin! –“ die Stimme erstickte dem jungen Mann, als würge eine Hand an seiner Kehle.
„Was befiehlst Du, mein Junge?“ wandte sich Herr Lamprecht mit ironischer Beflissenheit um. „Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, der bravste Schüler, der ehrgeizigste Streber, der je die Schulbank gedrückt hat, werde vor seinem Abiturienten-Examen schlechterdings keinen anderen Gedanken haben, als die Schule und abermals die Schule? – Geh, büffele nicht so übermäßig! Du bist in der letzten Zeit ganz hohläugig geworden, und Dein bausbäckiges Jungengesicht verliert die Farben; unser zukünftiger Minister aber braucht – Du weißt, wie jeder Minister heutzutage – Nerven von Stahl und ein ganz gehöriges Quantum Eisen in seinem Blute.“
Er lachte spöttisch auf, schlug den jungen Mann auf die Schulter und ging.
„Auf ein Wort, Balduin!“ rief ihm die Frau Amtsräthin nach und nahm zum so und so vielten Mal den immer wieder hingestellten Ständer mit ihrem geliebten Papagei auf.
Herr Lamprecht blieb pflichtschuldigst stehen, obgleich er so ungeduldig aussah, als brenne ihm der Boden unter den Sohlen. Er nahm auch seiner Schwiegermutter den Vogel ab, um ihn zu tragen, und währenddem schoß Herbert wie toll an ihnen vorüber in das Haus, und die steinerne Treppe hallte wider unter den wilden Sätzen, mit welchen er aufwärts stürmte …
„Nun hat Herbert doch Recht behalten!“ murrte Margarete und schlug zornig mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich glaub’s nicht! Der Papa hat nur Spaß gemacht – Herbert wird wohl dem Professor eine Rose mitbringen müssen! – Dummes Zeug!“
Sie raffte die übrigen Blumen zusammen, wand ihr seidenes Haarband um die Stiele und lief nach dem Packhaus, um den kleinen Strauß über das Holzgeländer zu werfen. Er blieb auf dem Sims liegen, Niemand griff darnach, nicht ein Schein des hellen Muslinkleides wurde sichtbar, noch weniger aber dankte die sanfte, süße Mädchenstimme, „die man so gern hörte“, vom Gange herab. – Mißmuthig kehrte das kleine Mädchen unter den Lindenschatten zurück.
[8]
Das Nachbarhaus meines väterlichen, erzählte mir jüngst ein alter Freund, gehörte in meiner Jugendzeit einem Schiffskapitän Karsten Lehr. Der Mann saß anscheinend recht im Glück. Er war, wo ich mich seiner zuerst entsinne, etwa vierzig Jahre alt und ein fester, schmucker und fixer Gesell, dem es als echtem Seemann jener Zeit allerdings auch nicht an der nothwendigen Portion Wildheit fehlte; Besitzer eines sauberen Hauses, Gatte einer schönen und lustigen Frau, Vater von einem gesunden, frischen Knaben und endlich Eigenthümer und Führer des stattlichsten Schiffs auf diesem Platz, ein Seemann ersten Ranges und ein sogenannter „glücklicher Kapitän“ – es gelang ihm alles.
Es war aber auch hier wieder einmal nicht alles Gold, was glänzt. Karsten hatte seine Eltern früh verloren und war in fast schrankenloser Freiheit und, von Hause aus in den günstigsten Verhältnissen, auf der See herangewachsen. Sehr jung selbständig geworden, hatte er zugleich geheirathet, und die sehr brave junge Frau hatte auf ihn den allerbesten Einfluß geübt, sodaß der wilde Bursche auf gutem Wege war, ein ganz vernünftiger und auch am Lande brauchbarer Mensch zu werden. Dann aber starb sie und auch das Kind unterlag fast zugleich einer ansteckenden Krankheit. Karsten fand bei der Heimkehr von einer Fahrt sein Haus leer und fing wieder an, das Leben auf seine eigene Weise anzugreifen. Er ließ sich fortan daheim nur selten und stets nur auf kurze Zeit sehen, und alles, was man von ihm sah und hörte, zeigte ihn als eine neue Auflage des unbändigen Gesellen, über welchen man vordem den Kopf geschüttelt hatte.
Nach einigen Jahren heirathete er wieder und lebte mit der jungen Frau wieder in Lust und Freuden. Aber es waren andere Menschen und andere Freuden als vordem. Von Zufriedenheit und Einträchtigkeit war zwischen den Gatten nicht viel die Rede, beide gingen ihre eigenen Wege und schienen sich am wohlsten zu fühlen, wenn ein paar hundert Meilen zwischen ihnen lagen. Er fühlte sich daheim augenscheinlich nicht behaglich, sondern langweilte sich sündhaft, und dies mag denn, außer der alten nachbarschaftlichen Verbindung und Anhänglichkeit, Veranlassung für ihn gegeben haben, daß er sich an mich anzuschließen begann, mit mir spielte, Schiffe für mich baute und auftakelte, mit mir allerwärts umherlief, und was dergleichen mehr war. Wir staken immer zusammen und fingen bei der Rückkehr von einer neuen Fahrt genau da wieder an, wo wir bei der Abreise aufgehört hatten.
Als ich siebzehn Jahre alt war, kehrte er nach fast vierjähriger Abwesenheit auf einmal wieder zurück. Er hatte vor Jahr und Tag schon sein Schiff verloren und sich seitdem auf anderen umhergetrieben – wie es fast schien, nur um nicht nach Hause zu müssen. Sein Empfang daheim war allerdings ein wenig erfreulicher. Seine Frau hatte während seiner Abwesenheit ein leichtfertiges Leben begonnen und trat ihm jetzt trotzig und widerspenstig entgegen. Er machte nun allerdings den kürzesten Prozeß von der Welt mit ihr, indem er sie aus dem Hause jagte und diesen Abzug – das malt den unbändigen Gesellen! – von allen Musikanten der Stadt und Umgegend mit einer wahren Höllenmusik begleiten ließ. Aber was hatte er davon? Das schlechte Weib freilich war er los, aber sich selbst behielt er, und das war nichts Gutes. Es war etwas Verkommenes an ihm, leiblich und geistig; er war ruhlos und ausgelassen, unbändig und grimmig und wurde vor allem von einem unlöschbaren Durst geplagt. An mich fesselte ihn noch die alte Neigung, im Uebrigen aber war er ziemlich vereinsamt, denn die alten Bekannten gingen ihm aus dem Wege, und er seinerseits mochte auch von ihnen nichts mehr wissen.
Trotzdem hielt er länger daheim aus, als man erwartet hatte, wenn er auch von Zeit zu Zeit auf einige Wochen verschwand, ohne daß man von seinem Verbleiben etwas erfuhr. Er hatte sein gesammtes Eigenthum zu Gelde gemacht und ein neues stattliches Schiff auf den Stapel legen lassen, dessen Bau er voll Rastlosigkeit betrieb und überwachte. Und als das Fahrzeug endlich fertig geworden war – ich selbst war damals bereits zur Universität abgegangen – fuhr er eines schönen Tags mit großem Prangen davon und – ließ nichts mehr von sich vernehmen.
[10] Zehn bis zwölf Jahre später hatte ich mich in meinem jetzigen Wohnort, wo mir Verwandte lebten, als Arzt niedergelassen und ging eifrig auf Praxis aus, welche ich denn auch bald, wenn auch begreiflicherweise nicht bei „guten“, sondern unter den kleinen Leuten und besonders unter den Fischern und Bootsfährern, der Patientenzahl nach reichlich genug, fand.
Eines Tages im Herbst hatte ich mich tüchtig müde gelaufen und gedoktert: bei der abscheulichen diesjährigen Witterung standen Wechselfieber und Rheumatismen grade in diesem Quartier in voller Blüthe und selbst der Typhus begann schon zu spuken. Im Vorübergehen wurde ich in eine Schenke am Thor hereingerufen, wo ein Kind des Wirths plötzlich erkrankt war, und als ich fertig war und weiter wollte, regnete und wehte es dermaßen, daß ich von der Thür zurück und vorläufig in’s Gastzimmer trat. Ich bedurfte einer kleinen Stärkung und konnte dieselbe am Ende hier ebenso gut wie anderwärts zu mir nehmen, bis der Schauer vorbeigegangen wäre. Nur saß gerade eine Gesellschaft bei einander, die mir nicht allzu sehr behagte, und ich folgte daher dem äußerst höflichen Wirth ganz zufrieden in ein kleines Hinterzimmer, die „Staatskajüte“, wo ich nur einen Gast finden werde, der mich obendrein nicht belästigen dürfte.
Es war ein kleines, womöglich noch dunkleres Gemach als die Vorderstube; ein Fenster führte auf den engen, dunklen Hof hinaus, das andere auf die Straße, welche hier hart neben dem Hause von dem alten hohen Thore aus ihren Anfang nahm. In der tiefen Ecke zwischen den beiden Fenstern stand ein altes Sopha mit defektem Pferdehaarstoff bezogen, hinter einem schweren Tisch. Dort saß der angekündigte Gast, wirklich ohne anscheinend von mir Notiz zu nehmen. Es war dort übrigens so dämmerig, daß ich kaum mehr als die Masse seiner Gestalt unterscheiden konnte. Ich trat an einen anderen Tisch, der Wirth brachte mir ein Glas Grog und holte vom Sophatisch eine offene Cigarrenkiste herüber. Und dann blieb ich mit dem Stummen allein. Ich probirte den Grog und zündete eine Cigarre an – Beides war tadellos! – und nahm den „Hamburger Korrespondenten“ auf, der auf meinem Tische lag.
Nach einer Weile sagte plötzlich eine rauhe Stimme hinter mir: „Mit Erlaubniß, Sir, sind Sie der neue Doktor, der hier so viele Leute kurirt?“ – Ich erhob den Kopf rasch, denn es war in der Stimme für mich etwas Bekanntes. Er hatte sich aufgerichtet und vornüber gegen den Tisch gelegt, sodaß er mehr im Hellen saß. Allein auch so blieb der Schatten noch zu dicht, als daß von einem eigentlichen Erkennen hätte die Rede sein können. Nur sah ich, daß der größte Theil der linken Gesichtshälfte durch eine breite schwarze Binde verdeckt wurde. Das freie Auge blickte mich aber dafür desto schärfer an. – „Ja,“ versetzte ich, „der bin ich und habe hier leider viel zu thun.“ – „Es ist ungesunde Zeit,“ sagte er, die Achseln zuckend, und fuhr fort: „Ihr Gesicht, Sir, erinnert mich an einen Jungen – seine Eltern wohnten in G. und er hieß Alfred Schwarz –.“ – „Sie nennen meine Eltern und mich,“ sprach ich überrascht, und da kam er hinter dem Tisch hervor und rief: „Wirklich? Alfred Schwarz?“ – Der Arzt hatte in solchen Kreisen fast niemals einen Namen, sondern wurde kurzweg „der Doktor“ geheißen. – Und nun stand er vor mir, schaute mich fest an und hob langsam die Hand gegen mich. „Junge, kennst Du mich nicht mehr?“
Ich sah ihn aufmerksam an. Die Stimme klang, wie gesagt, bekannt, und in den Zügen war gleichfalls etwas, was mir nicht fremd erschien, aber an jemand Bestimmtes fand ich keine Erinnerung. Meine Hand lag in der seinen, aber ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht,“ sagte ich zögernd. – „Und haben doch so manches liebe Mal die Schlacht bei Navarin als getreue Maaten durchgefochten!“ – erwiderte er beinah vorwurfsvoll. Und da schoß es in mir auf – „Karsten Lehr?“ rief ich. – Hier, wo ich eben von ihm sprach, ist die Verbindung freilich eine nahe und natürliche, aber für mich und in Wirklichkeit war es doch anders: ich hatte seit Jahren an den alten Menschen mit keinem Gedanken mehr gedacht!
„Pst, mein Junge, man sagt das hier nicht so laut!“ versetzte er mit einer Art von Lachen, welches zu dem halben Gesicht, denn mehr sah man ja kaum, seltsam genug stand. „Der ist lange todt, meinen sie, und würden einen schönen Schreck kriegen, wollte er doch noch wieder kommen! Ich bin der Karsten Müller, der damals bei uns einwinterte – Du kennst ihn gut? – Komm’, setze Dich dort zu mir in den Schatten, das todte Auge thut mir weh – Gott verdamm’s!“
Solche Worte und Weise machten ihn mir glaubhafter, als sein Aeußeres, denn mit ihnen stand er leibhaftig vor mir, wie vor zehn Jahren, während das letztere mir zweifelhaft blieb. Wer nicht seinen Namen hörte oder von seiner Nähe wußte, hätte ihn, glaub’ ich, niemals wieder erkannt. Das lag aber nicht bloß in der großen Entstellung des Gesichts, sondern auch die gesunde Partie stimmte nirgends recht zu meinem Karsten Lehr. Und selbst wenn ich an die sicherlich nicht zahmen zehn Jahre dachte, um die er älter geworden war – er mußte jetzt über Sechzig zählen! – so kam der frühere Karsten dennoch nicht wieder hervor. Es war fast, als habe die Verwundung auch die andere Gesichtshälfte annähernd gelähmt, sodaß sie innere Regungen kaum noch widerzuspiegeln vermochte. Nur im Auge war noch volles, rasches Leben.
Er hatte sich in die Ecke gedrückt, aber sein Auge begegnete scharf dem meinen, mit einem Blick, als mache unser Zusammentreffen ihm wirklich Freude und stimme ihn fast weich. „Stoß an, Junge!“ sagte er und hielt sein Glas entgegen, „ich merk’s, Du traust mir noch immer nicht recht, aber ich bin’s! Stoß an! Mit Dir lebte sich’s gut, es war eine lustige Zeit! Und nun lasse mich von allem hören – es ist hinter mir alles aus und zu Ende.“ Und als eben der Wirth hereinkam und uns ganz verdutzt bei einander sah, fügte er hinzu: „Um den genir’ Dich nicht, Junge. Christopher ist einer von den Alten und weiß Bescheid. Bring’ uns noch ’n Glas, Alter! Den da habe ich vordem auf den Armen getragen.“
Ich zuckte die Achseln und fügte mich. Karsten lebte immer deutlicher vor mir auf: Plaudern ohne Trinken war nichts für ihn, und Widerspruch reizte ihn. Also saß ich und erzählte und that’s mit wachsender Lust, denn der Alte war voll reger Theilnahme, noch überall zu Haus und jetzt von bester Laune. Erst als ich auch nach seinen Schicksalen fragte, wurde er verdrießlich. Er sei immer der „wilde Racker“ geblieben, meinte er, und habe sich, als er das Leben satt gekriegt, hier eingethan, wo keiner von ihm und er von keinem etwas wolle. Als ich endlich aufbrach, redete er von baldigem Wiederkommen. „Der Name schreckt Dich doch nicht?“ fügte er hinzu. – „Was für ein Name?“ fragte ich verwundert. – „Ei nun, sie heißen das Nest hier den ,Schlagtodt‘, und die Hasenfüße laufen, wo sie’s nur von ferne sehen, davon, als führe ihnen schon ein Messer in die Rippen. Aber komm’ Du nur. Es geht hier bei mir ganz solide zu, und Christopher hat allerhand im Raum, wo selbst unsereiner alle zehn Finger ’nach leckt. Komm, Junge, wollen heut’ Abend ’mal hinten ausschlagen! Was sollt’ ich schlecht leben – ich habe ja doch nichts!“
Am andern Morgen sprach ich schon früh im Hause vor, um nach meiner Patientin zu sehen. Karsten war nicht da. „Der kommt nie vor zehn Uhr,“ meinte der Wirth, „dann aber sicher.“ – „Lebt er hier ganz allein und wie bringt er sich durch?“ fragte ich. – „Mutterseelenallein, Herr! Und mit dem Durchbringen; – na, viel wird nicht da sein, aber für ein paar Jahre reicht’s ja wohl noch. Und länger –,“ setzte er achselzuckend und abgebrochen hinzu – „na, Herr, ich traue ihm nicht recht. Es möchte ’mal fix mit ihm aus sein.“
Dergleichen hatte ich gestern gleichfalls schon für mich selber gedacht, und was ich in der nächstfolgenden Zeit an dem alten Menschen beobachtete, bestärkte mich in meiner Anschauung. Solche bärenhafte Naturen halten sich, zumal bei ihrer gewohnten Weise, lange; kommen sie aber einmal in’s Bröckeln und giebt’s obendrein noch gar eine Veränderung in ihrer Lebensweise, so geht es meistens auch desto rascher zu Ende. Und für Karsten war diese Veränderung leicht möglich in schroffester Weise und von heut zu morgen eingetreten, aus dem buntesten Leben zum allereinförmigsten, von der See zum Lande, von rastloser Geschäftigkeit bis zur vollsten Unthätigkeit – ein Wechsel, wie ihn niemand leicht überwindet, und der hier am allerwenigsten. Denn ich hatte genug gesehen, um zu erkennen, daß nicht bloß seine Konstitution ernstlich erschüttert war, sondern daß auch, um mich so auszudrücken, mit dem inneren Menschen etwas vorgegangen sein mußte und vielleicht noch immer vor sich ging, was ihn mehr und mehr aufrieb. Es schäumte und sprudelte zuweilen noch einmal in ihm auf, aber nur um ihn desto schneller in ein gewisses [11] finsteres Grübeln und eine Zerstreutheit zurücksinken zu lassen, welche manchmal eine verzweifelte Aehnlichkeit mit völliger Gedankenlosigkeit hatte. Ob dies mit früheren Erlebnissen zusammenhing, wurde nicht klar. Er redete, gegen früher, jetzt überhaupt auffällig wenig über sich und sein Treiben, und besonders über die letzten Jahre auf der See ersichtlich ungern, aber nicht etwa, weil ihm dabei das Eine oder das Andere unheimlich geworden, sondern augenscheinlich nur, weil es ihm langweilig war. Zuweilen erzählte er aber auch mit seiner ganzen alten Unbefangenheit und Naivetät. Er hatte auf einem englischen Kriegsschiff den Krieg gegen China mitgemacht und war auf einem andern um die Erde gefahren. Dabei hatte er in einem Gefecht mit malayischen Seeräubern das Auge verloren. Und so hörte ich noch dies und jenes, aber - es war sicher noch nicht das Rechte.
Eines Tages um Weihnachten, wo das Wetter so rauh und der Tag so grau waren, wie bei unserer ersten Begegnung, saß ich auch wieder bei ihm und plauderte, so gut es gehen wollte. Er war aufgeregt und hatte, auf meine Frage, über eine gewisse Steifheit oder Lahmheit geklagt, welche jede Bewegung erschwerte. Er lief trotzdem aber rastlos umher, fast als wolle er sich nur stets auf’s Neue von der fatalen Empfindung überzeugen, und verdammte voll Energie den „Rheumatismus“, das Leben am Lande, die Landratten, uns Aerzte und den nichtsnutzigen Rest des alten Karsten - es war alles keinen Schuß Pulver werth. Ich hatte mich mit meinem Glase an’s Straßenfenster gesetzt, wo sich alles beobachten ließ, was in’s Thor herein kam, während kleine Vorsetzer den Beobachter für die Passanten unsichthar machten. Heut, bei dem schmutzigen Wetter, war freilich wenig oder nichts zu sehen, denn jedermann blieb zu Hause.
Indem trat aber gleich eine ganze Gesellschaft aus dem Thore hervor - ein ältlicher Mann, der Kapitän eines größeren Handelsschiffs, voraus, achtbar von Kopf zu Füßen, groß, hager, ein wenig gebeugt, hinter ihm zwei flotte Matrosen mit Gepäck, und als vierter, gleichfalls beladen, ein schon grauköpfiger Neger. Sie waren augenscheinlich erst vor kurzem angelangt und suchten ein Unterkommen. Der Führer machte Halt und redete einen Vorübergehenden an, die Matrosen schauten sich neugierig um, und der Neger schüttelte sich vor Frost und schnitt ein Gesicht, daß ich lachen mußte.
„Der wundert sich, daß hier noch Menschen leben!“ sagte ich.
„Wird sich bald noch mehr wundern,“ meinte Christopher, der hereingekommen war und bei mir stand. „’s ist ein Amerikaner, hör’ ich, heut’ Morgen mit schwerer Havarie binnen gekommen; will nach Reval. Geht’s noch? Was meinst Du, Karsten?“
Ich hatte vor den Fremden nicht an den Alten gedacht, aber auch nichts von ihm gehört, und da ich jetzt nach ihm aufschaute, hockte er auf der Sophalehne, hart vor mir, die Hände zu Fäusten geballt und das Auge noch finster auf den Punkt geheftet, wo der Fremdling eben ein paar Sekunden lang Halt gemacht hatte. Auf Christopher’s Frage wandte er diesem grade langsam den Kopf zu, sah ihn zerstreut an und sagte dann in ebensolchem Ton: „Reval? Hm! - Amerikaner? Weißt Du mehr von ihm? - „Casper war draußen und hat ihn einlaufen sehen,“ lautete die Antwort. „‚Drei Brüder‘ von Baltimore, Kapitän Webster.“ - „Hm, so? Dachte zuerst, kenne ihn - Unsinn, ist lange todt! - Will mich ’mal nach dem Schiff umsehen.“ - Und nach diesen abgerissenen Worten rutschte er von seinem Sitz herunter, strich mit beiden Händen hart über den Rücken nieder und grollte. „Gott verdamme den infamen Rheumatismus! Christopher, ein neues Glas!“
Am nächsten Tage fehlte Carsten, ein unerhörter Fall, der selbst den Wirth verblüffte. Bleibe der Alte länger aus, wolle er nach ihm sehen lassen, meinte er, einstweilen werde es noch nichts zu sagen haben. Carsten habe gestern Abend nach einer schweren Sitzung mit ein paar Andern den „Rheumatismus“ nach seiner Behauptung „untergekriegt“ und möge sich heut, bei dem hellen Morgen, wohl einmal draußen nach dem „Amerikaner“ umsehen. „Der liegt ihm am Herzen, merkte ich!“ fügte Christopher kopfschüttelnd hinzu.
Der Zar Nikolai starb am 2. März von amtlichen Berichten zufolge stramm, wie er gelebt, ruhig und gefaßt dem Ende entgegensehend. Jedenfalls ist er gestorben als ein Mann von Ueberzeugung und Princip, vielleicht der letzte Despot, welcher an sich und an den Despotismus glaubte. In Russland wurde ihm diese Grabrede geschwiegen: „Gut, daß er todt! Länger hätte es so nicht weitergehen können.“
Wären die Zügel nicht dem starken Zügelhalter entglitten, würde es, allem liberalen Gezischel und revoluzischen Gemunkel zum Trotz, wohl noch länger so weitergegangen sein. Jetzt aber, als der konsequente und willenskräftige Selbstherrscher verschwunden, kam das ganze Gebäude des Despotismus ins Schwanken und Wanken. Es zeigte sich jetzt, wie tief dasselbe durch die verfemte Zeitströmung seit Jahren heimlich unterhöhlt worden war, und nun dieser Strömung plötzlich Licht und Luft gegönnt wurden, suchte sie sich mit derselben Gewaltsamkeit Bahn zu brechen, womit man sie so lange hintangehalten hatte.
Nicht als ob diese Gewaltsamkeit sofort mit dem Regierungantritt Alexanders des Zweiten ihre ganze Kraft, beziehungsweise ihre ganze Wuth entwickelt hätte. Nein! Es läßt sich ja die Regierungszeit dieses Zaren ziemlich scharf in zwei Perioden scheiden, deren erste, die 60ger Jahre umfassend, als die Zeit der reformistischen Strebungen, Versuche und Vollbringungen, deren zweite, die 70ger Jahre mit Einschluß der Märzkatastrophe von 1881 enthaltend, als die Zeit der revoluzischen Komplotte und Attentate gekennzeichnet werden kann.
Dem Glauben, daß mit der Throngelangung des neuen Zaren eine neue Epoche für Russland angebrochen sei, gab von London her Alexander Herzen kühnen Ausdruck. Er richtete an den zweiten Alexander ein Sendschreiben, in welchem das autokratische Regiment gebrandmarkt, ein offener und ehrlicher Bruch mit diesem System allgemeiner Vergewaltigung und Knechtung gefordert, die Aufnahme der zeitbewegenden Ideen in die russische Staatsverwaltung angerathen und als unbedingte Voraussetzung einer wirklichen Entwicklung Russlands die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft hingestellt wurde.
Kein Zweifel, Herzens Mahnruf hat nur in warmblütige und energische Worte gekleidet, was alle denkenden, unterrichteten, redlichen und unabhängigen Russen fühlten. Der beredsame Exulant formulirte nur, was die Besten der Nation im Stillen schon lange gewollt und gewünscht hatten. Daher die ungeheure Wirkung von Herzens offenem Brief. Der Schreiber desselben wurde mit einem Schlag eine Macht, wurde der anerkannte Prophet und Führer der öffentlichen Meinung, die sich, sobald Zungen und Federn einigermaßen sich regen und rühren durften, mit überraschender Schnelligkeit bildete. Mit nur allzu großer Schnellfertigkeit. Denn auch hier wieder trat das Unvermittelte, Sprunghafte, Voreilige, welches dem modernen Russenthum anhaftet, unliebsam, ja schädlich und gefährlich zu Tage. Die unflügge öffentliche Meinung wollte laufen, bevor sie kriechen konnte, wollte fliegen, bevor ihr die Schwingen gewachsen waren. Sie verlangte stürmisch, daß alles schon fertiggestellt sei, bevor noch etwas vorbereitet war. Ohne sich bei der Erwägung aufzuhalten, daß es wohl eine der schwierigsten Aufgaben der Staatskunst wäre, den Uebergang vom Nikolaismus zum Konstitutionalismus in wahrhaft gedeihlicher Weise zu bewerkstelligen, verlangte sie ungestüm alles auf einmal und überließ sich dem Wahnglauben, es bedürfte an höchster Stelle nur guten Willens, um die große Umgestaltung wie im Handumdrehen zu bewirken.
[12]
[13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] Als dann aber solche kindische Illusion die Enttäuschung erfuhr, welche sie naturnothwendig erfahren mußte, da warf sich ein nicht kleiner Theil der russischen Liberalen sofort in die äußerste Opposition. Ja, bald schon nach Alexanders des Zweiten Regierungsantritt begannen die Reihen der Reformer sich zu lichten und die der Revoluzer sich zu füllen. Der Leiter der Bewegung selbst, Herzen, hielt sich noch mehrere Jahre lang in den Schranken der Mäßigung. Der Mann hatte eben in Deutschland, Frankreich und England einsehen gelernt, daß man das verknechtete Zarenreich nicht von heute auf morgen zum Verfassungsstaat umzaubern könnte. Darum läutete er dazumal noch seine berühmte „Glocke“ (Kolokol) im Sinne der Reform. Wie willkommen ihre, obzwar amtlich verbotenen und verpönten, Klänge in Russland waren, was für einen mächtigen Widerhall sie in der russischen „Gesellschaft“ fanden, wird einleuchtend dadurch bezeugt, daß aus dieser Gesellschaft heraus eine Menge von Händen, darunter auch amtliche, höchstamtliche, unmittelbar oder mittelbar an Herzens Glockenstrang mitzogen.
Auch der neue Zar vernahm den Glockenruf und war keineswegs gewillt, selbigen zu mißachten.
Alexander der Zweite war ein fühlender Mensch. Geradezu der menschlichste Mensch, welcher jemalen auf dem Zarenthron gesessen. Er hatte unter dem Unfehlbarkeitshochmuth seines Vorgängers ebenfalls, wie jeder Russe, sein gut Theil zu leiden gehabt und besaß auch Geist genug, um einzusehen, wie thöricht das nikolaische Unterfangen, Russland gegen die Anschauungen und Forderungen des Jahrhunderts vermauern zu wollen. Die schreienden Lehren, welche der Krimkrieg gegeben, waren von ihm verstanden, die thönernen Füße, auf welchen der Koloß des Zarismus stand, waren für ihn sichtbar geworden. Er begriff die Nothwendigkeit einer durchgreifenden Reform des ganzen Staatswesens und mit dieser Einsicht verband sich in ihm ein hohes Maß von humanen Regungen. Alexander empfand warm für sein Volk und wollte aufrichtig das Gute und Rechte.
Aber der Zar-Befreier („Zar-Oswoboditel“), welcher ihm gegebene Ehrenname trotz alledem ein verdienter war, hätte zusammt seiner Einsicht, seinem Wohlmeinen und Wohlwollen die Stahlfaust Peters des Großen besitzen müssen, so er seine riesige Aufgabe mit Hoffnung auf Erfolg anpacken wollte. Nur ein Mann von Genie, unbeirrbarem Scharfblick und unbeugsamer Willenskraft vermochte ein wirklicher Reformator für Russland zu werden. Ein solcher Mann war der zweite Alexander so wenig, wie es der erste gewesen, mit welchem Oheim der Neffe ja manche Aehnlichkeit hatte. Auch diese, nicht erkennen zu können, daß selbst ein erleuchteter, wohlwollender und milder Despotismus in den Rahmen der Kultur des 19. Jahrhunderts nicht mehr passte und daß demnach der Wunsch und Wille, Russland aus einem halbasiatischen Sultanat zu einem ganzeuropäischem Rechtsstaat umzuformen, die Opferung der Autokratie nothwendig zur Folge, nein, zur Voraussetzung haben müßte. Der Regenerator Russlands zu sein und dennoch Zar im Vollsinn des Wortes zu bleiben, das konnte zu seiner Zeit Peter der Große wollen, planen und vollbringen. Wenn aber Alexander der Zweite zu seiner Zeit das wollte und versuchte, so verwickelte er sich von vornherein in das Netz eines jammersäligen Widerspruchs, aus dessen Maschen nicht mehr herauszukommen war.
Und dann, über was für taugliche Werkzeuge zur Wirkung seines großen Werkes hatte der Zar-Befreier zu verfügen? Ueber gar keine. Niemand in Russland war darauf vorbereitet und eingeschult, das, was noththat, zu verstehen und zu thun. Wie hätten sich denn unter dem nikolaischen Regiment einsichtige, maßvolle und praktisch-geschickte Reformer heranbilden können? Unmöglich das! Die schlimmsten Folgen jenes Regiments traten erst zu Tage, als der Zar Nikolai nicht mehr war. Das Extrem zeugte das Extrem. Man hatte nicht gelernt, zu gehen, und versuchte jetzt, zu fliegen. Man beschwindelte sich gegenseitig mit Allgemeinheiten und berauschte einander mit Phrasen. Man übersah die Entwickelungsstufen, welche die Kulturnationen Europas hatten heraufklimmen müssen, um zum verfassungsmäßigen Staatsleben zu gelangen, oder, wo man diese Stufen nicht übersah, war man thöricht-eitel genug, zu wähnen, sie überspringen zu können.
Da es ein besitzendes und gebildetes Bürgerthum in Russland nicht gab, so hatte man es nur mit dem Adel, mit der Beamtenschaft und mit dem „Volk“, d. h. mit den leibeigenen Bauern zu thun. In jeden dieser drei Stände phantasirte man nun Eigenschaften hinein, welche man als für die Reform förderlich ansah.
Aber keiner dieser Stände besaß je die vorausgesetzte Eigenschaften. Der Adel fand bald heraus, daß es ein Anderes, für die Emancipation der Bauern phraseologisch-liberal zu schwärmen, und ein Anderes, sehr ein Anderes, die Einbußen zu tragen, welche für die bisherigen Besitzer der Leiber aus der Befreiung der „Seelen“ sich ergaben. Die Bauern ihrerseits wußten sich in der wie im Schlafe über sie gekommenen „Freiheit“ gar nicht zurechtzufinden. Dann fanden sie: „Das schmeckt nach mehr“, nämlich zuerst nach mehr Branntwein, und endlich machten sie die sublime Entdeckung, der „Zar-Befreier“ hätte die Aufhebung der Leibeigenschaft eigentlich so verstanden, daß sie, die Bauern, die sämmtlichen Ländereien ihrer bisherigen Herren besitzen sollten, und diese wirkliche und wahrhafte „Emancipation“ würde wider den Willen des Zaren durch die Edelleute und die Beamten hintangehalten. Was den „Tschin“ angeht, so war in allen Graden desselben Korruption und Amt so ganz eins geworden, daß die reformistische Zumuthung, sich fürder nicht mehr bestechen zu lassen, nicht mehr zu betrügen und zu stehlen, sondern fortan nur nach Vorschrift von Recht und Gesetz zu amtiren, der ungeheuern Mehrheit der Tschinowniks vorkommen mußte, wie wenn man den Vögeln zumuthen wollte, nicht mehr zu fliegen, und den Fischen, nicht mehr zu schwimmen.
Man hatte also dem Adel dauerhafte Opferfähigkeit, dem Tschin pflichtbewußte Redlichkeit, der Bauerschaft verständige Selbstbescheidung zugetraut. Das stellte sich bald als eine schlimme Verrechnung heraus. Denn die Summe, welche das willkürliche Rechenexempel ergab, war nur eine allgemein und verstärkt gährende und schwärende Unzuriedenheit. Die Phantastik der Reformer fütterte den Wahnwitz der Revoluzer groß.
Alexanders des Zweiten Wesen und Walten ruft die Erinnerung an Josef den Zweiten wach. Beide waren sie gute Menschen und aufgeklärte, das Beste ihrer Völker redlich wollende und erstrebende Regenten. Beide traten sie auf ein unvorbereitetes Feld, beide waren sie gleich schlecht bedient und unterstützt, beide verfielen sie der Ueberstürzung, beide erfuhren sie den schnödesten Undank, beide endeten sie tragisch, - der eine verzehrt von der Verzweiflung an seinen Idealen, der andere unter brutalen Mörderfäusten. Wo blieb denn da wieder einmal die berühmte „sittliche Weltordnung“, allwovon leichtlebige Optimisten so viel zu sagen und zu singen wissen? Zeugte das etwa von der Wesenheit des genannten Phantoms, daß zwei Menschen, welche fraglos zu den besten gehörten, die jemals Kronen getragen, ein so qualvoller Ausgang beschieden war? Oder besteht die „sittliche Weltordnung“ nur in der Bethätigung der grausam-alttestamentlichen Anschauung, daß der Väter Missethaten an den Kindern und Enkelkindern gerächt werden müßten?
Immerhin waren die 26 Jahre Alexanders des Zweiten für Russland eine Periode großer Thätigkeit im Innern wie nach außen. Großer Erfolge auch, wenigstens nach außen. Denn der Zar erwies sich als ein rechter Mehrer des Reiches, dessen Flächenraum er 30,000 Quadratmeilen, dessen Bewohnerschaft er 30,000,000 neuer Unterthanen hinzufügte. Unter ihm wurde die Unterwerfung der Kaukasusvölker vollendet, das Schwarze Meer wieder zu einem russischen See gemacht, Bessarabien abermals erworben, als Absteigequartier auf dem Wege nach Konstantinopel der russische Vasallenstaat Bulgarien begründet und in Centralasien die Eroberungsfahne bis nahe zu den Thoren Indiens hingetragen.
Im Innern ging die Reform rüstig ins Zeug. Die Finanzen hoben sich dergestalt, daß die Staatseinnahme von 264 Millionen Rubel auf 625 Millionen stieg. Darum konnte für Erziehungs- und Kulturzwecke jetzt siebenmal, für die Rechtspflege fünfmal mehr verwendet werden als unter Nikolai. Zahlreich waren die Gründungen von Volksschulen, Mittelschulen und Hochschulen. Der neue Zar fand ein russisches Eisenbahnnetz von ungefähr 700 Kilometern vor, er dehnte dasselbe auf den Umfang von 22,643 Kilometern aus. Mittels der großen That seines Lebens, mittels der Beseitigung der Leibeigenschaft, wollte Alexander dem russischen Staatsbau das einzig gesunde und dauerhafte [15] Fundament geben, eine auf eigenem Grund und Boden arbeitende Bauernschaft. Sein milder Sinn suchte auch die Härte der soldatischen Sklaverei zu lindern. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde die Abkürzung der Dienstzeit und die Vermenschlichung der Mannszucht verbunden. Die Versteinerung der russischen Kirche sollte gebrochen werden durch die Abschaffung der Erblichkeit des geistlichen Standes. Die Rechtspflege wurde den Anforderungen des Jahrhunderts gemäß umgestaltet, die Knute beiseite gethan, die Wahrsprüchegebung an Geschworene überwiesen. Der Zar schrak auch nicht davor zurück, seine Russen es mit den Anfängen des Selfgovernments versuchen zu lassen: die Einführung von Kreis- und Provinzialstände-Versammlungen bewies das. Endlich verzichtete Alexander von Anfang darauf, die chinesisch-nikolaische Mauer der Absperrung Russlands von Europa fernerweit aufrecht zu erhalten, womit eine Menge theils lächerlicher theils schmerzlicher Plackereien aufhörte und es den Russen, namentlich den gebildeten Russen eigentlich erst ermöglicht wurde, sich als Europäer zu fühlen.
Wie kam es nun aber, daß Alexander der Zweite mit allen seinen wohlgemeinten Maßnahmen das russische Reich nur in einen nahezu chaotischen Zustand gestürzt hat, daß unter seiner Regierung Rechtsunsicherheit, Mißtrauen, Verarmung, Verstimmung und Verbitterung ungeheure Dimensionen annahmen? Daß der radikale Umsturzwunsch aus den engen Kreisen weniger Fanatiker allmälig in weite Kreise der Bevölkerung sich verbreitete? Daß auch die amtliche Welt, der Tschin, das Heer, die Flotte, ja sogar der Hof, mehr oder minder vom Revolutionsfieber ergriffen wurden?
Das kam so, weil das russische Volk nicht aus seiner Haut fahren und der Zarismus nicht über sich selbst hinauskommen konnte.
Die Kraft der alexandrischen Reform erlag der Bürde jenes unlösbaren Widerspruchs, welcher ihr von Anfang innewohnte und dessen schon gedacht worden. Daraus erklärt es sich, daß sie auch da, wo sie entschieden nach vorwärts ausschreiten wollte, zumeist nur Mißerfolge hatte. Beweise traurigster Art liefern der Verlauf der Kreis- und Provinzial-Versammlungen, sowie die Verdikte der Schwurgerichte. Wo man die landständischen Versammlungen gewähren ließ, gingen sie weit lieber rückwärts als vorwärts. Sie verbohrten sich in die jämmerlichsten Kirchthurmsinteressen, sahen nicht weiter, als der Horizont von Krähwinkel oder Kuhschnappel reichte, und haben die reformistischen Absichten der Regierung weit mehr gehindert als gefördert. Die plötzliche Einführung der Jury in den Strafproceß sodann war ein grober Fehlgriff. Auch im westlichen Europa hat sich bekanntlich die weiland heiße Schwärmerei für die Schwurgerichte bedeutend verkühlt; aber in Russland war die Einrichtung derselben schlankweg ein Sprung ins Dunkle, eine Satire auf die Rechtspflege, eine Aufmunterung für das Verbrechen. Was, Leute, welche durch die jahrhundertelange Verknechtung um Selbstbewußtheit, moralischen Muth, Rechtssinn und Pflichtgefühl gebracht worden waren, sollten von heute auf morgen dazu berufen sein, das Recht zu finden und Schuldfragen zu bejahen oder zu verneinen? Unsinn das! Und wie die Geschworenen, so auch gar nicht selten die Richter, Staatsanwälte und Advokaten. Man darf daher wohl aufstellen, daß viele der Scenen, welche während der Regierung Alexanders des Zweiten in russischen Gerichtssäälen abgespielt wurden, zu den tollsten, erschreckendsten, unglaublichsten Narretheien gehören, welche im 19. Jahrhundert geschehen sind.
Elfenbein und Palmöl.
An der langen Westküste von Afrika würde man vergeblich nach Ackerbau-Kolonien suchen, die in anderen Welttheilen den Grund zu der Macht der Weißen gelegt haben. Wohl sind hier und da, am Senegal und in Gabun, Versuche mit Plantagen gemacht worden, aber sie gleichen nur schwachen Pflänzchen, die um ihr kümmerliches Dasein hart ringen müssen, und die Zeit schwebt noch in weiter Ferne, in welcher westafrikanischer Kaffee den Weltmarkt überschwemmen oder von afrikanischen Baumwollenkönigen die Rede sein wird. Nur dem Händler gehört augenblicklich der westafrikanische Boden. Nur ihm blüht das Glück, und getrost segelt er mit europäischen Waaren an die fremde Küste, um mit schwerer Ladung afrikanischer Produkte in den heimischen Hafen zurückzukehren, denn Afrika ist noch reich an natürlichen Schätzen und bietet dem Kaufmann vor Allem zwei wichtige Handelsartikel: Elfenbein und Palmöl.
Daß das erstere eine werthvolle Waare bildet, wem wäre es nicht bekannt? Das Elfenbein findet stets seinen Käufer, denn es wird mit Vorliebe zu vielen Zwecken verwendet. Von dem elfenbeinernen Zahnring, den der Säugling in sein Mäulchen steckt, bis zu dem elfenbeinernen Griff des Stockes, auf den sich der Greis stützt, überall ist es zu finden, es schimmert als Schmuck auf dem Busen der Frauen, es hält als Knöpfe die Manschetten der Herren zusammen, es ziert die Griffe der Messer und Gabeln und rollt in Kugelgestalt auf der grünen Fläche des Billardtisches. Das Elfenbein wird so sehr begehrt, daß man selbst Stoffe aller Art, wie z. B. das Celluloid, erfunden hat, um seinen Mangel zu ersetzen. Die civilisirte Welt verbraucht nach annähernder Schätzung jährlich gegen 16 000 Centner Elfenbein und 51 000 Elefanten müssen jährlich ihr Leben lassen, um diesen Bedarf mit ihren Zähnen zu decken. Und Afrika ist der Hauptlieferant des Elfenbeins. Ostindien, das einst die Welt mit demselben versorgte, macht heute selbst in Sansibar starke Einkäufe an dieser werthvollen Waare, deren Preis je nach der Größe des Zahns schwankt, sodaß man Zähne von etwa 20 Kilogramm Gewicht mit 400 Mark und einen dreimal so schweren Zahn mit der zehnfachen Summe bezahlt.
Diese Ziffern dürften genügen, um die Bedeutung jener Waare verständlich zu machen, und diese Bedeutung erscheint um so wichtiger, als es feststeht, daß der Elfenbeinhandel noch viele Jahre mit großem Erfolg im Innern Afrikas betrieben werden kann. Denn dort, von den Grenzen der Sahara bis zum südlichen Kapland, sind noch die ganzen unermeßlichen Länderstrecken reich an Elefantenheerden, welche das Blei der weißen Jäger noch nicht gelichtet und die den Nachstellungen der Eingeborenen einen ziemlichen Widerstand entgegensetzen. Nur von den Küsten hat sich der kluge Dickhäuter zurückgezogen, aber im Innern des Welttheils fanden alle Reisenden überall, wo günstigere Bedingungen vorhanden waren, noch starke Bestände dieses afrikanischen Hochwilds. Namentlich das Hinterland jener Küste, von der jetzt die deutsche Flagge weht, das Hinterland von Kamerun, sowie von Batanga steht in dem Rufe eines besonderen Reichthums an Elfenbein. Nicht minder die Länder am Niger und Benuë, jenen wichtigen Flüssen, in deren Lauf sich in nächster Zeit der Strom des europäischen Handels ergießen wird. Hat doch Robert Flegel von dort eine große Anzahl von Elefantenzähnen [16] mitgebracht, für die er den Rest seiner Waaren eintauschte, als er gezwungen war nach Europa heimzukehren, und in demselben Sudan machte sich der Sultan von Keffi Rohlfs gegenüber anheischig, ihm binnen weniger Wochen 50 Centner der größten Elefantenzähne zu beschaffen, während Dr. Hutchinson, ein Mitglied der Baikie’schen Expedition, in Gandiko am Benuë an einem gewöhnlichen Markttage 620 Pfund Elefantenzähne kaufen konnte. Gerhard Rohlfs erzählt in seinem Werke „Quer durch Afrika“ eine Episode, die uns einen Einblick in die Einzelheiten des Elfenbeinhandels gestattet und aus der wir Folgendes hervorheben möchten.
Nachdem Rohlfs bis nach Keffi gekommen war, beschloß er in einem Canoe den Benuë hinabzufahren, und wollte seine drei Pferde bestmöglich verkaufen.
„Das war aber,“ erzählt er, „keine leichte, jedenfalls keine rasch zu erledigende Aufgabe. Geduldig mußte ich von Tag zu Tag auf ein annehmbares Gebot harren, um schließlich doch nicht mehr als 190 000 Muscheln (38 Thaler) für alle drei zu erzielen. Jetzt fragte es sich wieder: was mit den Muscheln anfangen? Da Keffi auch ein bedeutender Markt für Elfenbein ist, das von den Gegenden am Benuë in Masse hierher gebracht wird, kam ich auf die Idee, dieses überall verwerthbare Produkt gegen dieselben einzutauschen. Das lästige und zeitraubende Feilschen ging also von neuem los, und es dauerte wieder mehrere Tage, bis der Handel abgeschlossen war. Für 220 000 Muscheln (44 Thaler) erstand ich zwei Elefantenzähne von je 4 Ellen Länge und zusammen 140 Pfund Gewicht. Ein Händler würde 30, höchstens 35 Thaler dafür bezahlt haben, und in Europa wären sie, zum durchschnittlichen Marktpreise von 150 Thalern pro Centner gerechnet, 210 Thaler werth gewesen. Ich verkaufte sie später in Lokoja um 30 Pfund Sterl. (200 Thaler). Fünf kleine Zähne wurden mir für nur 60 000 Muscheln zugeschlagen.“
Entsprechend dem Werth der Waare, die sie mit sich führen, sind die Elfenbeinhändler die angesehensten Kaufleute im westlichen Sudan und oft so mächtig an Einfluß wie die Sklavenhändler in Ostafrika. Sie sind selbstverständlich geborene Feinde der europäischen Reisenden, und welche Schwierigkeiten sie Ed. Robert Flegel auf seinen Reisen in Haussa und Adamaua zu bereiten wußten, davon hat derselbe im vorigen Jahre (Nr. 43) selbst unsern Lesern berichtet. Dort sind auch die Verdienste der beiden Elfenbeinhändler gewürdigt, die jetzt in Berlin verweilen und denen die Afrikanische Gesellschaft den Dank für ihre Treue und Redlichkeit ausgesprochen hat. Eine Elfenbeinkaravane aus jenem Lande stellen auch unsere Illustrationen dar, die nach Angaben des genannten verdienstvollen Afrikaforschers für unser Blatt gezeichnet wurden. Der beim Sonnenaufgang betende Karavanenführer erinnert lebhaft an orientalische Bilder, und das darf uns nicht verwundern, denn im Sudan hat sich mit dem Vordringen des mohammedanischen Glaubens eine Art orientalischer Kultur eingebürgert, und in den Schilderungen, die uns von dort gegeben werden, finden wir viele Anklänge an Sitten und Gebräuche, deren Kenntniß uns längst geläufig ist.
Lebhaft wird der Elfenbeinhandel auch an der äquatorialen Westküste von Afrika betrieben, in deren Häfen und Flußmündungen die Eingeborenen mit der theuren Waare erscheinen. Hier, namentlich in Gabun, gilt ein gewisses Gewicht von Elfenbein als Wertheinheit, und man bezahlt die Zähne mit einer Kollektion europäischer Waaren, die das „Elfenbeinbündel“ genannt wird. Wie viel Steinschloßflinten, Pulverfässer, Messer, Stücke Zeug etc. in einem solchen Elfenbeinbündel enthalten sind, davon berichtete Hübbe-Schleiden ausführlich in seinem klassischen Werke „Aethiopien“. Dort ist auch die Summe an Zeit und Geduld angeführt, die dazu nöthig ist, einen einzigen Elefantenzahn von den listigen Negern einzuhandeln. Es ist nur allzuwahr, daß hier der Kaufmann nicht auf Rosen gebettet ist. Ueberall in Afrika finden die Worte Anwendung, die Flegel aus Ngaundere nach Europa schrieb: „Von meiner schwarzen Geliebten gilt dasselbe, was Mephisto vom blonden Gretchen sagt, Afrika läßt sich nicht im Sturm entschleiern, nur mit Geduld kommt man hier weiter.“
Die Blüthe des Elfenbeinhandels wird jedoch mit der Zeit schwinden, denn Hand in Hand mit dem wachsenden Export dieser Waare geht die Ausrottung der Elefanten, die sich bekanntlich sehr langsam vermehren und zu ihrem Wachsthum viel Zeit brauchen.
Das Erlöschen der Elefantengattung auf unserm Erdball wird beschleunigt durch die wilde Grausamkeit, mit welcher die Eingeborenen Innerafrikas diese Jagd betreiben. Die muthigsten und verwegensten unter den Elefantentödtern sind die Schwertjäger, die noch heute dasselbe Mittel benutzen, welches schon Strabo im Alterthum erwähnte, da er die „Elephantophagen“ schilderte, die den Dickhäutern die Achillessehne (an der Ferse) mit dem Schwerte zerhauen und die hierdurch gelähmten Thiere leicht in ihre Gewalt bekommen. Die Schwertjäger greifen mit seltener Tollkühnheit die Elefanten in offenem Felde an, und indem die einen das Thier von vorne bedrohen, fallen ihm die anderen in den Rücken, um den verhängnißvollen Schwertstreich zu führen.
Im Nilgebiete werden auf dem Wechsel der Heerden künstlich verdeckte Gruben gelegt, in welche die schweren Kolosse einbrechen.
Im Westen von Afrika überfallen die Neger in großen Massen die in künstliche Einzäunungen getriebenen Elefanten und schleudern gegen ein erwähltes Opfer Hunderte von Lanzen, bis dieses unter zahllosen Wunden zusammenbricht.
Die grausamste Art des Jagens ist jedoch die von den Niamniam ersonnene.
Sie schonen vor dem vernichtenden Feuer einige mit vier bis fünf Meter hohem Grase bewachsene Stellen der Steppe und treiben die Elefanten in das ihnen anscheinend sichern Schutz bietende Grasdickicht, das nunmehr in Brand gesteckt wird. Vergebens suchen die Thiere aus dem Flammenmeer zu fliehen. Eine Kette von zahllosen Jägern wehrt ihnen mit Feuerbränden und Lanzen den Durchbruch, und allmählich fallen die edlen Thiere unter der sengenden Gluth der Flammen oder den Lanzenstichen der Neger.
Das ist das Vorspiel des Elfenbeinhandels.
Es ist traurig, aber wahr: der Mensch hat die stolzen Thierkolosse des afrikanischen Urwaldes auf den Aussterbe-Etat gesetzt. An eine etwaige Elefantenzucht ist nicht zu denken, und so wird früher oder später die Zeit eintreten, in der das Elfenbein zu einer paläontologischen Seltenheit werden wird, ähnlich dem fossilen oder blauen Elfenbein, das namentlich in Sibirien gesammelt wird und aus den Stoßzähnen der vorsintfluthlichen Elefantenarten, des Mammuths und des Mastodons, besteht. Dieses gegrabene Elfenbein ist jedoch von geringem Werth, da der größte Theil dieser Zähne schlecht und unbrauchbar ist; auf die Entwickelung des Elfenbeinhandels wird es schwerlich jemals einen besonderen Einfluß ausüben.
* | * | |||
* |
Eine längere Lebensdauer kann ohne Zweifel dem Handel mit Palmöl vorhergesagt werden, da dasselbe das Produkt einer wenn auch primitiven Kultur bildet. Es gehört gleichfalls zu den vielbegehrten Handelsartikeln und [17] wird theils zu Maschinen- und Schmieröl, theils zur Fabrikation von Stearinkerzen und Seife verwandt. Wohl die wenigsten unserer Leser haben gedacht, daß ihr Haus, noch lange bevor die Kolonialfrage die Gemüther in Deutschland beschäftigte, Stoffe afrikanischen Ursprungs beherbergte, daß vielleicht in den Kerzen auf ihrem Nachttische sich Fettbestandtheile befanden, an deren Gewinnung ein Kamerunneger gearbeitet hatte, oder das Rohmaterial zu der weißen, nach Veilchen riechenden Seife einst auf einer Woermann’schen Hulk lagerte und die lange Reise über den Ocean durchgemacht hatte. Wer von uns denkt bei der Benutzung der verschiedensten Gegenstände an die Wanderungen und Irrfahrten, welchen sie in dem großen Getriebe des Welthandels unterworfen sind?
Der Baum, dessen Früchte das Palmöl liefern, ist an der westafrikanischen Küste von Sierra Leone bis tief nach Süden herab verbreitet, und nicht mit Unrecht hat ihm der Neger den Namen „der Vater der Palmen“ beigelegt. Die Oelpalme ist zwar nicht so stolz in der äußeren Erscheinung wie die schlanke Fächerpalme, ihr Haupt gleicht nicht den majestätischen Kronen der Kokospalmen, sie tritt so zu sagen bescheidener in der Vegetation des Urwaldes auf und gelangt nur in der Savanne, wo sie hoch „das Proletariat der Gräser“ überragt, zur vollen künstlerischen Wirkung in dem landschaftlichen Schmuck der Natur, – aber sie ist der nützlichste Baum, den der afrikanische Boden trägt.
Rauh und faserig ist ihr Stamm, mit den höckerigen Stümpfen abgestorbener Blattstiele besetzt. An seiner Spitze in einer Höhe von zwanzig bis dreißig Fuß streben schräg die einzelnen Blattwedel empor, eine Länge von zehn bis fünfzehn Fuß erreichend. Zwischen den Abzweigungen der untersten Blattstiele treibt der Baum seine Blüthe, hier hängt der mächtige Fruchtzapfen, der dreißig bis fünfunddreißig Kilogramm wiegt, einer riesengroßen Erdbeere gleicht und die Oelnüsse birgt. Viermal im Jahre blüht die Oelpalme, und viermal im Jahre hält der Neger die Ernte ab, um seinen eigenen Bedarf an Fett zu decken und für die europäischen Schiffe die willkommene Fracht zu sammeln.
Der „Vater der Palmen“ ist wohl der einzige Baum, dem der farbige Eingeborene einige Pflege angedeihen läßt. Freilich ist diese Kultur äußerst einfach, denn sie besteht nur in der Reinhaltung der Stämme von allen Blättern, welche zum Leben und Wachsen des Baumes nicht unbedingt nöthig sind, dann im Ausbrechen der männlichen Blüthenstände, sobald die Befruchtung vollzogen ist. Und diese geringe Mühe läßt sich der Neger nicht verdrießen. „Allüberall, wo sie ihr königliches Haupt erhebt, sucht der Neger“, wie Soyaux berichtet, „seinen Schritt hinzulenken. Zu jeder einzelnen Palme in der Savanne oder im Urwalde führen schmale Negerpfade, und der Boden um den Fuß des Baumes ist stets mit abgeschälten Blättern und männlichen Blüthenbestandtheilen bedeckt.“ Nur in vereinzelten Fällen findet sie der Reisende noch unberührt von des Menschen Händen.
Und wie lohnt die Oelpalme die geringe Mühe, die man ihr angedeihen läßt! Was braucht der Neger sich um Butter oder Talg zu sorgen! Er klettert einfach auf den Baum, schlägt den reifen Fruchtzapfen ab und trägt die schwere Last in seine Hütte, wo sie für Wochen allen seinen Bedarf an Fett befriedigt, ihm zur Bereitung der Speisen, als Haarbalsam und als einfache Salbe zum Einreiben des Körpers dient.
Ein solcher Fruchtzapfen giebt durchschnittlich ein Liter reines Oel, sodaß von einem Baum jährlich etwa vier Liter gesammelt werden. Die Gewinnungsmethoden der Fettmasse sind nicht in allen Gegenden gleich. In der Regel gräbt man die Früchte in die Erde ein und läßt sie etwa dreißig Tage liegen, damit sie einen Gährungsproceß durchmachen. Hierauf werden die Oelnüsse gestampft, das Fruchtfleisch von den wallnußgroßen harten Kernen getrennt und geschmolzen. Nachdem die Masse nothdürftig gereinigt worden, läßt man sie erkalten und bringt sie in die Faktoreien der Europäer. Das Fett hat jetzt die Dicke grüner oder schwarzer Seife, ist von trüb orangegelber Farbe und zeichnet sich durch einen schwachen veilchenartigen Geruch aus.
Schon in den Faktoreien pflegt man es in der Regel einer neuen Reinigung zu unterwerfen. Es wird in großen Kesseln nochmals geschmolzen und durch Ablaßhähne direkt in die großen Versandfässer geleitet. So wird das Oel am Congo, Ogowe und in Gabun bereitet.
An anderen Orten werden die Oelnüsse zunächst gekocht, dann in Mörsern zerstampft und wiederum in kochendes Wasser gelegt, von dem man das geschmolzene Fett abschöpft.
In Kamerun und an der Küste von Ober-Guinea wird das Oel in ähnlicher Weise gewonnen, ist aber flüssiger als das aus den südlicher gelegenen Faktoreien. Hier wird es in thönerne Kalebassen oder in hohle Kürbisse gefüllt und also zum Kauf angeboten. Ueber den Tauschhandel von Kamerun haben wir in einem früheren Artikel berichtet (vergl. „Gartenlaube“ 1884, Nr. 37) und möchten hier nur noch hinzufügen, daß ein Kru Palmöl (etwa vierzig Kilogramm) mit europäischen Waaren bezahlt wird, deren Werth etwa zwanzig Mark nach den dortigen Preisen beträgt und die in Europa wohl für fünf Mark zu kaufen wären. Die originelle Art und Weise, wie das Oel im Benuëgebiet zur Versendung bereitet wird, veranschaulicht die nebenstehende Illustration.
Nach Europa gelangt das Palmöl größtentheils in ranzigem Zustande und ist darum ungenießbar, als frische Waare soll es selbst von den Weißen, die sich bald an den eigenthümlichen Geschmack gewöhnen, gern genossen werden. So berichtet z. B. Dr. A. Reichenow in seiner vor Kurzem erschienenen trefflichen Schrift „Die deutsche Kolonie Kamerun“ (Berlin, Gustav Behrend): „Das frische Oel hat einen sehr angenehmen Geschmack, und Fische, in Palmöl gekocht, oder Palmölsuppe mit ‚Fufu‘ (aus geschlagenen Yams bereitete Schaumklöße) sind Gerichte, welche auch den verwöhnten Gaumen europäischer Feinschmecker angenehm zu reizen vermögen.“ Dies dürfte jedoch Geschmackssache sein, da andere afrikanische Reisende in ihren Berichten über das auf ihrem Tisch ewig wiederkehrende Palmöl klagen.
Die Palmkerne wurden früher als werthlos bei Seite geworfen, erst in der neuesten Zeit erkannte man ihren Werth und bringt sie in großen Massen nach Europa. Hier wird aus denselben auf hydraulischen Pressen etc. das Palmkernöl gewonnen und zu ähnlichen Zwecken wie das afrikanische Palmöl verwendet. –
Damit ist jedoch die Liste der Wohlthaten, welche die Oelpalme den Bewohnern Afrikas erweist, nicht erschöpft. Dort wo die Weinpalme (Raphia vinifera) fehlt, wird aus dem Safte der Oelpalme der erfrischende Palmwein gewonnen. Er ist in Afrika überall zu haben und wird in jedem Negerdorfe zu Spottpreisen feilgeboten.
Im Vergleich zu den Mühen und Sorgen unserer Weinbauer ist das Loos des afrikanischen Palmweinfabrikanten ein beneidenswerthes. Er schneidet einfach einige Blüthenstiele ab und sammelt den reichlich fließenden Saft des Baumes in eine Kürbisflasche. Wenn er nur die männlichen Blüthen nach der erfolgten Befruchtung der weiblichen abschneidet, so liefert ihm der geduldige Baum Wein und Oel in gleicher Fülle, und der Glückliche kann, wie oben angedeutet wurde, viermal im Jahre Wein- und Oelernte halten.
Allerdings hat der Palmwein mit seinem deutschen Namensvetter wohl nicht mehr als den letzten Theil des Namens und ein wenig Alkohol gemein. Er ist nicht klar, nicht golden, wie der Sohn der rheinischen Weinrebe, sondern molkig, wie Kuhmilch, die man stark mit Wasser verdünnt hat; er muß auch „frisch vom Baum“ getrunken werden und schmeckt dann süßsauer, ist also dem Most ähnlich. Er gährt schnell, schon nach einigen Stunden, und wem es gelingt, den unbändigen Gesellen, der alsdann alle Gefäße sprengt, in der Flasche festzuhalten, der kann sich den Genuß eines afrikanischen Champagners erlauben, der im Geschmack den europäischen Schaumweinen nahe kommt.
Der Palmwein hat schon manchen Reisenden, der im Dienste der Wissenschaft die weiten Gebiete Afrikas durchkreuzte, erfrischt und mit neuer Kraft belebt, er wird auch in Zukunft unsere deutschen Landsleute stärken, die in fernen Ländern arbeiten, um Deutschland die ihm gebührende Stellung im Welthandel zu erhalten.
Und so wollen wir am heimathlichen Herde bei der Jahreswende der Pioniere unsrer Kolonialmacht gedenken und mit goldenem Rheinwein in grünen Römern anstoßen: Auf ein gutes Glück der deutschen Kaufleute in Elfenbein- und Palmölgeschäften für das Jahr 1885!
Zum 100jährigen Geburtstag Jakob Grimm’s. Der 4. Januar d. J. ist der 100jährige Geburtstag Jakob Grimm’s. Da können wir nicht versäumen, das ehrwürdige Bild des herrlichen Mannes einmal wieder in unserer Erinnerung aufleben zu lassen und seiner Verdienste dankbar zu gedenken.
Wir bewundern in Jakob Grimm zunächst den großen Gelehrten, den Mitbegründer der deutschen Philologie als Wissenschaft, den „Sprachgewaltigen“, der von einer bis dahin ungeahnten Höhe des Standpunktes aus und mit einem bis an den Horizont dringenden Scharfblick das weite Gebiet unserer Muttersprache überschaute, derselben bis in ihre verborgensten Wurzeln nachspürte und sie dann wieder in ihrem ganzen Wachsthum bis zu den feinsten Verästelungen und Verzweigungen verfolgte; der, mit einer erstaunlichen Vielseitigkeit begabt, die von seinen Vorgängern willkürlich gezogenen Schranken kühn durchbrechend, eben so wohl die ältere Sprachstufe mit ihrer schönen Fülle der Formen, wie die neueren Phasen der Sprachentwickelung mit ihrer feineren geistigen Durchbildung in das Interesse der Forschung zog; der gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm in dem „Deutschen Wörterbuch“ den reichen Schatz der neuhochdeutschen Sprache von Luther bis Goethe und Schiller, ja darüber hinaus, aufzuspeichern unternahm, der endlich mit der Fackel der Sprachwissenschaft auch das Leben und die Gewohnheiten unserer Vorfahren erhellte, über Glauben, Rechtsverhältnisse, Sitten und Gebräuche derselben ein neues Licht verbreitete.
Wir schätzen in Jakob Grimm ferner den populären deutschen Schriftsteller, der im Verein mit seinem Bruder Wilhelm uns und unsern Kindern die lieblichen „Kinder- und Hausmärchen“ spendete. Diese freundlichen deutschen Sagen, deren Aufzeichnung und Herausgabe durch die verwandten Sammlungen und Dichtungen der Romantiker, namentlich durch „Des Knaben Wunderhorn“, veranlaßt wurde, bewahren noch heute eine ungeschwächte Anziehungskraft, weil uns aus ihnen die unverdorbene, unverfälschte Volksseele offen und unschuldig wie aus Kinderaugen anblickt, und auch die letzte Weihnacht hat wohl mancher Familienvater Grimm’s Märchen seinen Kindern unter den Christbaum gelegt.
Wir verehren sodann in Jakob Grimm wie in seinem Bruder Wilhelm den deutschen Mann – einen Stern in dem Göttinger Siebengestirne charaktervoller Professoren, welche im Jahre 1837, als Ernst August von Hannover die von seinem Vorgänger gegebene und unter demselben beschworene Verfassung durch einen Akt autokratischer Willkür über den Haufen stieß, gegenüber der allgemeinen Verzagtheit den Muth hatten, in einer feierlichen Protestation ihrem Unwillen Ausdruck zu geben, und dann, ohne Urtheil und Recht aus ihren Aemtern verjagt und verfolgt von dem schadenfrohen Hohngelächter der sogenannten „Klugen“, in eine ungewisse Zukunft hinaussteuerten – und das Alles nicht aus blinder Oppositionssucht, sondern aus strengem Pflichtgefühl, weil sie die geschworenen Eide nicht brechen wollten, und aus Liebe zum Vaterlande, weil sie der Ueberzeugung waren, daß die Zukunft des deutschen Volkes „auf einem Gemeingefühl seiner Ehre und Freiheit beruhe“.
Wir schätzen ferner in Jakob Grimm den treuen Bruder, der nicht nur immerwährend mit seinem Bruder Wilhelm durch die schönste und innigste Gemeinsamkeit des Lebens und der Studien verbunden blieb, sodaß man sich die beiden Brüder kaum getrennt vorzustellen vermag, sondern auch Jahre lang, wiederum in Gemeinschaft mit Wilhelm, für den Unterhalt von vier jüngeren Geschwistern mit opferfreudigster Hingebung sorgte.
Wir lieben endlich in Jakob Grimm, wie in seinem Bruder Wilhelm, den deutschen Patrioten, der, mochte er nun eine deutsche Grammatik schreiben oder Kindermärchen sammeln, oder der Vergewaltigung Trotz bieten, stets aus deutscher Gesinnung heraus und im Interesse des deutschen Vaterlandes gewirkt und gehandelt hat.
Bekanntlich schickt sich die Stadt Hanau an, ihren beiden großen Söhnen, den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm, ein würdiges Denkmal zu setzen. Möge ganz Deutschland die Ehrenpflicht der Stadt Hanau als die seinige betrachten![2]Otto Sievers.
- ↑ Aus der Handschrift eines Buches, welches im Frühjahr 1885 erscheinen wird. Die Noten, welche im Manuskript den Text begleiten (Quellenangaben, Belegstellen, kritische Erörterung u. s. w.), sind hier weggelassen.
- ↑ Das Komité für dieses Denkmal hat in Hanau seinen Sitz, während zahlreiche auswärtige Spezialkomités die Angelegenheit in ganz Deutschland zu fördern bemüht sind. Bis jetzt sind rund 37 000 Mark von den Schatzmeistern eingenommen, von welchen mehr als die Hälfte in der Stadt Hanau selbst gesammelt ist. Außerdem ergeben die Zeichnungen von Jahresbeiträgen für den in Hanau auf 5 Jahre gegründeten Grimm-Verein Verpflichtungen im Betrage von rund 6000 Mark. Von einer größeren Anzahl auswärts gebildeter Spezial-Komités ist bekannt, daß sie Sammlungen veranstaltet haben, deren Ertrag jedoch noch nicht eingelaufen ist. So dürften die bisherigen Zeichnungen an einmaligen und jährlichen Beiträgen sich bereits auf nahezu 50 000 Mark belaufen.Die Red.
Eine originelle Notenzeichnung. (Mit Abbildung.) Nur in dem Kopfe des geistreichen französischen Zeichners J. J. Grandville, der in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts namentlich durch seine satirischen Bilder Bedeutendes zu schaffen wußte, konnte die kecke Idee entstehen, durch Entwürfe, wie die untenstehenden „Noten“, zwei Künste, die Musik und die Zeichenkunst, zu verschmelzen. Wie sonderbar auch dieser Einfall bei näherer Prüfung erscheinen mag, dem genialen Zeichner ist es in der That gelungen, die Noten zu beleben und aus jenen für das Auge so langweiligen Zeichen ein Bild zu schaffen, das auf den ersten Blick den Inhalt des betreffenden Musikstückes errathen läßt oder wenigstens als stimmungsvolle Illustration desselben gelten darf. So bieten uns die Noten der kurzen Melodie der Barcarole, des weltbekannten Liedes der venetianischen Gondelführer, in der Grandville’schen Zeichnung eine vollständige Episode aus dem Fischerleben, in der es weder an Sturm und Unglück, noch an frohen Scenen der glücklichen Heimkehr fehlt. Die Grandville’schen Noten illustriren ungefähr folgende Geschichte: Die Fischer rüsten sich zur Abfahrt und nehmen Abschied von ihren Frauen, von denen eine ihren Knaben dem Vater in das Boot reicht. Sie rudern und segeln bei ruhigem Wetter fröhlich in gleichmäßigem Tempo auf den Wogen, bis die See unruhig wird, der Himmel sich mit zerrissenen Wolken bedeckt und die Boote derart schwanken, daß einer von den Fischern in’s Wasser fällt. Nach diesem kleinen Unfall tritt eine Pause ein, sodaß ein anderer Fischer auf einem Horn lustige Fanfaren erschallen läßt. Doch diese Ruhepause dauert nicht lange, die kleine Seemöve verkündet ein neues Anheben des Sturmes, der also wüthet, daß die Schiffer ihre Hände jammernd gegen den Himmel erheben und ein Boot mit sechs Mann von den Wogen umgeworfen wird. Der Sturm legt sich wieder, wohl treiben die Verunglückten in den Wellen, aber die Geretteten rudern emsig dem Hafen zu, in welchem die besorgte Mutter ihren Knaben wieder in Empfang nimmt.
Unsere musikalischen Leser werden die Bedeutung der einzelnen Striche
und Punkte in der Zeichnung sicher erkennen, und wir wollen dieselbe an
dieser Stelle nicht erklären, um ihnen die Freude des leichten Enträthselns
nicht zu rauben. – Grandville entwarf in ähnlicher Weise eine Reihe
von Notenzeichnungen, unter denen wir noch die „Ronde-Tarantelle“,
den „Masken-Galopp“ und den „Türkischen Kriegsmarsch“ hervorheben
möchten. – i.
Der Urlauber. (Mit Illustration S. 4 und 5.) Der Joseph ist heimgekommen! Ist das ein Freudentag, ihr lieben Leute! Nun, der Kaiser soll eben gesagt haben, die Steinbacherleute oben im Gebirge sollen auch was Liebes erleben zu diesen Weihnachten, ich schicke ihnen den Joseph.
So ist er denn ganz unerwartet gekommen, und just am heiligen Abend, wo die Einen noch beim Waschen und Scheuern, die Andern beim Holzspalten waren, und die Kinder beim Bravsein, denn es wird ja das Christkind kommen. Da springt auf einmal die Thür aus dem Schloß, wer sie nur so weit aufreißt, wo es draußen so kalt ist! Jesus Maria, der Joseph!
Sitzt er denn jetzt mitten unter seinen Leuten, und sie haben ihn wieder, um den die Mutter so oft geweint in stiller Nacht, denn er war in weiten Landen – „und jetzt wenn jählings Krieg wird!“ Einmal hatte sie ihn im Traum gesehen liegen auf dem Sand mit durchschossener Brust, und da hatte sie ihr Mann nicht genug ausschelten können über ihre Narrheit – und dabei war auch ihm weh um’s Herz gewesen.
Jetzt ist er da. Und wie prächtig er ausschaut! einen Stern hat er am Kragen. Da ist er etwa schon General? oder gar Korporal? Und was er für Sachen zu erzählen weiß! Die Jungen und die Alten, alle hören zu, und der Großmutter will vor lauter Verwunderung schier das Strickzeug aus dem Schoß fallen. Die Mutter aber, die hat jetzt keine Zeit, da mag’s in der Welt draußen hergehen wie es will, sie muß dem Joseph was zu essen kochen. Dem kleinsten Knäblein, dem ist aller Weltlauf und alles Essen nichts, dem geht’s nur nach dem funkelnden Knopf an der Brust des schönen Soldaten. Die übrigen Kinder möchten wohl von den Rössern und Reitern ein Näheres hören, deren auch so viele beim Soldatenleben sollen sein, getrauen sich aber nicht recht nachzufragen, er ist so viel fürnehm worden, der Joseph, aber lachen thut er just noch so, wie vor einem Jahr, da er mit dem Rekrutenstrauß auf dem Hut davongegangen ist. Nur nicht so traurig lacht er heute, als damals. Beim Vater ist mir nur bange, daß die Pfeife ausgeht, so fest hört er zu. „Na“, frägt er ungereimt drein, „und hast dich unten beim Kirchenwirth sehen lassen?“ Ernst und gesetzt muß er bleiben und innerlich zittert ihm jedes Aderlein vor lauter Stolz und Freude. Das große Mädel hinter [19] dem Lehnstuhl – erst noch die Frage, ob sie eine Schwester von ihm ist! – das kann sich mit seinen schalkhaft treuherzigen Augen nicht sattsehen an dem heimgekehrten Joseph und denkt: Na ich glaub’s, daß ihn der Kaiser hat haben müssen, der ist Herr über sein Land und sucht sich halt die schönsten und liebsten Leut’ aus!
Nun ist das Kaffeesüpplein fertig. Die „schöne Schalen“ steht schon auf dem Tisch, und jetzt erst hat die Mutter Zeit. Ihre Hand wischt sie an der Schürze glatt, dann greift sie glückselig und demüthig nach der seinen und sagt ganz leise: „Grüß dich Gott, Seppel! Weil du uns nur wieder daheim bist! Und jetzt schau, daß dir die Suppen bei uns noch mag schmecken.“ P. K. Rosegger.
Das neue Leipziger Gewandhaus. Wenn ein Wort eine, ob seinem Ursprung noch so fremde, aber von der ganzen gebildeten Welt anerkannte Bedeutung erworben hat, so ist es ein gerechter und dankbarer Stolz, der das alte Wort nicht der neuen Bedeutung aufopfert; mit Freude finden wir dies angewandt auf das alte Leipziger „Gewandhaus“, das ursprünglich die Räume für die Tuch- und Leinen-Waaren der Meßstadt enthielt. Kein Konzertsaal der Welt kann sich an Ansehen dem des „Gewandhauses“ gleichstellen, die größten Künstler erachteten es als ihre höchste Ehre, im „Gewandhaus“ anerkannt worden zu sein, Virtuosen und Tondichter fanden ihren Ruf erst vollkommen gesichert, wenn sie im „Gewandhaus“ geglänzt hatten. Eben darum erhob sich das in bescheidener Unterkunft im Hofe des Gewandhauses erblühte „Konservatorium der Musik“ zu einer Anstalt für die gebildeten Nationen der ganzen Erde, die ohne Ausnahme durch Kunstjünger daselbst vertreten sind.
Den Jahrgang 1881 der „Gartenlaube“ zeichnet in Nr. 47 ein Artikel „Zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhaus-Konzerte zu Leipzig“ von Hermann Kretzschmar aus, welchem eine Abbildung des alten Konzertsaals und die Bildnisse der Dirigenten der Leipziger Gewandhaus-Konzerte von 1781 bis 1881 (Hiller, Schicht, Schulz, Pohlenz, Mendelssohn-Bartholdy, Rietz und Reinecke) beigegeben sind. Diese Nummer unseres Blattes verdient heute, wo das alte Haus verlassen dasteht, aber der ganze Reichthum seiner Vergangenheit in das neue Gewandhaus mit einziehen muß, um den neuen Bau mit dem alten Geist zu erfüllen, von jedem Verehrer unsrer klassischen Tonkunst noch gelesen zu werden.
Das neue „Gewandhaus“ steht nun vollendet da und hat am 11. Dezember mit seinem ersten Konzerte den Tag seiner Einweihung gefeiert.
Der Gedanke an den Neubau war schon bei dem hundertjährigen Jubiläum gefaßt, die Ausführung desselben begann im Frühjahr 1882. Das prachtvolle Gebäude schmückt einen der schönsten Stadttheile neben dem ehemaligen botanischen Garten und zeigt auf den ersten Blick die Würde eines monumentalen Baues. Auch die Ausdehnung desselben, die ein ganzes Straßenviertel einnimmt, tritt mächtig vor das Auge, das Herz aber erfreut die Treue, mit welcher der alte Wahrspruch, das Wahrzeichen des alten Gewandhaussaals, hier zu Ehren gekommen ist; hoch im äußern Fries unter dem Giebel steht mit ehernen Buchstaben die Inschrift: „Res severa verum gaudium“ (Ernstes Thun schafft wahre Freude). Das ist ein Gelöbniß für den Kultus der Zukunft in diesem Tempel der Kunst.
Wir müssen zu seiner Ehre einige Zahlen sprechen lassen. Der ganze Bau vom Grund bis zum letzten Ornament und allem Inventar erforderte die Summe von 1 350 000 Mark. Dieselbe wurde größtentheils durch „Stiftungsantheile“ aufgebracht, 400 000 kamen aus der Stiftung eines Leipziger Bürgers, Grassi’s, hinzu und ein anderer Bürger dieser Stadt, Voigt, gab dazu den Bauplatz umsonst her. Es gehört gewiß zu den preiswürdigsten Vorzügen von Leipzig, daß es seine werthvollsten Bauwerke und Anstalten der Hochherzigkeit seiner Bürger verdankt: sein reiches Museum für bildende Kunst, sein neues Theater und nun sein Konzerthaus, das nach Geschmack und Zweckmäßigkeit der Ausstattung und Einrichtung als ein bis jetzt unerreichtes Muster zu gelten hat.
Die wichtigste Probe bei der Einweihungsfeier hatte der große Konzertsaal zu bestehen. Derselbe hat eine Länge von 42,5 Meter (ohne die von der Orgel eingenommene Nische), eine Breite von 19 und eine Höhe von 14,6 Meter. – Neben diesem großen Saal befindet sich, vorzugsweise für Kammermusik bestimmt, noch der sogenannte kleine Saal von 23 Meter Länge, 11,50 Meter Breite und 8 Meter Höhe, also genau die Größe des alten erprobten Gewandhaussaals. In beiden Sälen sind weder Orchester noch Sitze festgestellt, so daß durch deren Entfernung die Räume für die großartigsten Festlichkeiten eröffnet werden können. Auch Foyer und Garderoberäume zeichnen sich durch Zweckmäßigkeit, Ausdehnung und Schönheit aus. So war das neue Gewandhaus am 11. Dezember bereit zum Empfang seiner Gäste und seiner Weihe.
Der Abend kam, die Wagen rasselten, die Fußgänger strömten herbei, und Alle, die zum ersten Mal die neuen Räume betraten, ergriff die freudigste Ueberraschung über die hier dem Auge sich darbietenden Herrlichkeiten der Baukunst, und mit wahrhaft festlicher Gehobenheit betraten Alle den Konzertsaal. Es war gewiß für diese Weihe der Kunst in ihrer edelsten Gestaltung eine erhebende Huldigung, daß auch die landesherrliche Betheiligung ihr nicht fehlte, daß König Albert und Königin Carola von Sachsen das hohe Fest der Stadt Leipzig durch ihre Anwesenheit auszeichneten.
Das Programm begann mit Beethoven’s Ouverture „Zur Weihe des Hauses“. Ein Prolog von Rudolf von Gottschall, gesprochen von Frau Lewinsky-Precheisen, leitete, melodramatisch abgeschlossen, in die Entfaltung der Töne jener Orgelkunst über, in welcher Johann Sebastian Bach der unsterbliche Meister bleibt, und Mendelssohn’s 114. Psalm schloß den ersten Theil der Feier. Den zweiten füllte Beethoven’s „Neunte Symphonie“ allein aus, im Soloquartett vertreten durch Frau Otto-Alvsleben aus Dresden, und von Frau Metzler-Löwy und die Sänger Lederer und Schelper vom Stadttheater. Und als das Ende erreicht war, ernteten Alle, der Kapellmeister Reinecke, das Orchester, der Chor, die Solosänger den wärmsten Beifall des in Begeisterung aufjubelnden Hauses.
So ist der erste große Tag des neuen Gewandhauses ein neuer großer Sieg der Tonkunst in Leipzig gewesen.
Desdemona. (Mit Illustration S. 8.) Die Dichtungen Shakespeare’s sind überaus reich an herrlichen Frauengestalten; Desdemona, die edle Gattin Othello’s, des leidenschaftlichen „Mohren von Venedig“, ist durch ihre Liebe und ihr Schicksal von allen eine der anziehendsten. Die Dichtung Shakespeare’s ist bekannt. Welches aber ist der Moment, den
[20] der treffliche Künstler Alex. Cabanel für seine ergreifende Darstellung aus diesem Frauenleben gewählt hat? Es ist der Augenblick tiefsten Seelenschmerzes, denn eben war’s, als der Gemahl ihr ein Wort entgegenschleuderte, wie es für eine reine Frauenseele so hart, so tiefverletzend kein zweites giebt.
„Ist’s recht, ist’s billig, so mir zu begegnen?
Was that ich denn, daß ihm der kleinste Argwohn
Entstehen konnte dieser größten Schuld?“
so klagt die tief Gekränkte.
Gerecht und billig! O nein! Verleumdung war’s, die ihm das harte Wort entpreßt, Verleumdung auch, die ihn zum Mörder machte. –th.
Roland in der Schlacht zu Roncesvalles. (Mit Illustration S. 12 und 13.) Aus der Heldensage, die spätere Zeit um den Kriegszug Karl’s des Großen nach Spanien (777) gewoben, ragt die Gestalt Roland’s so mächtig hervor, daß sie ein Jahrtausend überlebt hat und noch den Dichtern und Künstlern unserer Tage stets anziehenden Stoff zu ihren Schöpfungen bietet. Olivant und Durendart, das Wunderhorn Roland’s und sein Wunderschwert, beschäftigen noch heute ebenso lebhaft die Phantasie der Jugend, die in die Sagen der Vorzeit eingeführt wird, wie sie einst das Staunen und die Verwunderung der Ritter und Frauen erregten, als das Chanson de Roland entstand und der „Pfaffe Konrad“ auf den Wunsch einer deutschen Fürstin daz Ruolandes Lied dichtete. Den Mittel- und Höhepunkt desselben bildet der Tod Roland’s in der Schlucht von Roncesvalles, in welcher die vom Kaiser Karl in Spanien zurückgelassenen Helden verrätherischer Weise von den Heiden überfallen und vernichtet wurden.
Wie das Lied berichtet, hatte Kaiser Karl das ganze feindliche Land bis auf Saragossa, den Thronsitz des Königs Marsilie, eingenommen. Dieser beschloß nun im Verein mit dem verrätherischen Stiefvater Roland’s, Genelun, sich scheinbar dem Kaiser zu unterwerfen, um dann die zurückbleibende Nachhut des Heeres zu vernichten. Die List gelang, trotz warnender Träume nahm Karl die Unterwerfung Marsilie’s an und ließ Roland, den er mit halb Spanien belehnte, in dem eroberten Lande zurück. Kaum war jedoch der Kaiser mit dem Hauptheer abgezogen, als Marsilie Roland und seine Getreuen in dem Thale Roncesvalles überfiel und die Helden nach tapferer Gegenwehr tödtete. Im Augenblick der höchsten Gefahr ergriff Roland sein Wunderhorn, den „guoten Olivanten“, das ihm einst die Engel gebracht hatten, und blies auf demselben, um Kaiser Karl von der Gefahr in Kenntniß zu setzen. Dieser hörte wirklich den Nothruf und eilte den Bedrängten zu Hilfe, erschien aber zu spät auf dem Schlachtfelde und konnte nur den Tod seiner Helden rächen.
Das Zippelhaus in Hamburg. Die Reisenden, welche unserer größten deutschen Seehandelsstadt einen Besuch abstatten und von Hannover aus dieselbe erreichen, erblicken einige Meilen vor den Thoren in dem Dorfe Bardowik die Thürme eines Domes. Sie zeugen von der „verschwundenen Pracht“ der einstigen Hansestadt, die Heinrich der Löwe 1189 bis auf jenen Dom zerstören ließ. Bardowik erholte sich von jenem Schlage nicht wieder. Die großen Granitquadern der Stadttrümmer verkauften die Bardowiker an das aufblühende Hamburg, das derselben bedurfte, um damit seine Molen längs der Norderelbe aufzuführen. Sie erhielten dafür 300 Mark Silber und ein Haus in der Nähe der Katharinen-Kirche, in dem niedrigsten, schon bei der geringsten Sturmfluth überschwemmten Stadttheil. Dieses Haus sollte ihnen auf „ewige“ Zeit gegen eine mäßige Miethe überlassen und von der Stadt erhalten werden. Noch heute ist das unschöne scheunenartige Gebäude in der belebten Handelsgegend der Stadt erhalten. Die „ewige“ Zeit ist jedoch bald vorüber. Auch diese letzte Erinnerung an Bardowik in Hamburg wird ein Opfer der großartigen Veränderungen, welche zum Zwecke des bis 1888 zu vollziehenden Zollanschlusses nothwendig sind. Fr.
Eine dramatisirte Tagesfrage. Die „Aktualität“ scheint von den Tages-, Wochen- und Monatsschriften bereits in das Gebiet der schönen Künste hinüberzugreifen, und bei der Wahl eines Stoffes für ein Gemälde, ein Drama, eine Skulptur wird künftig wahrscheinlich die Frage der Aktualität die des künstlerischen Prinzipes zurückdrängen. So berichtet man jetzt von einem kolonialpolitischen Drama, dessen Schauplatz zum Theil Angra Pequena, zum Theil Kamerun ist. Auch von einer melodienreichen Musik dazu weiß man zu erzählen, doch erfährt man nicht, ob sie dem Volksmelodienschatze der westafrikanischen Neger entnommen oder der zur Zeit tonangebenden europäischen Kunstrichtung folgt. Eine Hauptperson dieser dramatisirten Tagesfrage ist der König Brisso-Bell, und wir empfehlen dem betreffenden Schauspieler, der diese Rolle „kreirt“, eine „Maske“ zu machen, wie sie unsere Abbildung jenes Königs in Nummer 37 vorigen Jahres darbietet. Jedenfalls sehr geschmackvoll und sehr zeitgemäß!
Ein „Kindergarten“-Jubiläum. Ein Monatsblatt, das seit 1860 treu der Kindergartensache dient, hat soeben seinen fünfundzwanzigsten Jahrgang vollendet. Es ist die Zeitschrift „Kindergarten, Bewahranstalt und Elementarklasse“, Organ des „Allgemeinen Fröbel-Vereins“ (Sitz: Thüringen) und des „Deutschen Fröbel-Verbandes“. Gegründet wurde dieselbe von A. Köhler in Gotha, Fr. Schmidt und Fr. Seidel in Weimar. Letzterer, als der die Andern Ueberlebende, führt die Redaktion noch heute. Die bedeutendsten Vertreter der Fröbel’schen Erziehungsideen zählten und zählen zu den Mitarbeitern am „Kindergarten“. Der Verlag der Zeitschrift, in den ersten zwanzig Jahren von H. Böhlau in Weimar besorgt, ging seitdem in die Hand von A. Pichler’s Wittwe und Sohn in Wien über. Wir wünschen dem Blatte ein ferneres frohes Gedeihen! Im Schmucke des Silberkranzes wirke es menschen- und kinderfreundlich weiter – zunächst bis zum goldenen Jubiläum!
Kleiner Briefkasten.
P. B. in Paris. Die „Gartenlaube“ können Sie unmittelbar nach dem Jahresabschluß binden lassen. Der von Ihnen befürchtete Uebelstand, daß beim Einbinden der Druck der einen Seite auf die gegenüberliegende Seite übertragen wird, ist uns noch nicht vorgekommen, obwohl wir stets eine große Zahl unsrer Jahrgänge unmittelbar nach Jahresschluß binden lassen.
C. G. in Düsseldorf. Auch wir sind der Meinung, daß die von Ihnen erwähnten kosmetischen Mittel keine Schwindelprodukte sind. Ueber das betreffende Institut selbst können wir Ihnen jedoch hier eine bestimmte Antwort nicht ertheilen. Ihre Adresse ist unleserlich.
J. H. in Neugradiska. Garrick war Engländer, geb. am 20. Febr. 1716 zu Hereford.
Frau Gutsbesitzer A. in L. Wenden Sie sich an den nächsten Bezirksfeldwebel. Da Sie Ihre Adresse nicht angeben, so können wir Ihnen nähere Auskunft nicht ertheilen. Im Briefkasten fehlt uns der Raum dazu.
J. G. in N. Nein, wir können das von Ihnen genannte Buch nicht empfehlen.
F. Kr. in F. 162. H. London, St. J.: Nicht geeignet.
Inhalt: [ zu diesem Heft, hier nicht transkribiert. ]