Die Gartenlaube (1883)/Heft 9
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No. 9. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
Der Winter hielt diesmal frühzeitig seinen Einzug in die Berge. Er kam mit Sturm und Schneetreiben, mit jagenden Wolken und eisigen Nebeln, und Paul Werdenfels lernte zum ersten Male die ganze Rauhheit und Unwirthlichkeit dieser Natur kennen. Er kam sich in Felseneck wie ein Gefangener vor und wollte fast verzweifeln in der Oede und Einsamkeit, die ihn umgab; nicht einmal die Aussicht nach Rosenberg war ihm geblieben; denn er blickte von seinen Fenstern aus nur in ein wogendes Nebelmeer.
Ueberdies konnte der junge Mann sich nicht verhehlen, daß er bei seinem Onkel vollständig in Ungnade gefallen; er hatte diesen seit jener Unterredung noch nicht wiedergesehen; denn die kurzen, aber ziemlich regelmäßigen Besuche waren vollständig unterblieben; der Freiherr hatte ihn noch nicht wieder rufen lassen; er blieb in seinen Gemächern, unzugänglich für Jeden; schien er doch auch Paul vergessen zu haben.
Endlich begann das Wetter sich zu ändern; es hörte auf zu stürmen; die Nebel sanken, und die aufsteigende Sonne des nächsten Tages zeigte das ganze Gebirge mit all seinen Gipfeln und Wäldern in blendendem Schneegewande.
Paul war schon mit den ersten Sonnenstrahlen hinausgeeilt in das Freie und streifte jetzt mit Flinte und Jagdtasche durch die Forsten, aber die Jagd war ihm heute nur Vorwand. Er wollte vor allen Dingen hinweg aus den Mauern von Felseneck, wollte endlich etwas Anderes sehen, als diese prachtvollen, leeren Räume und diese schweigende, ehrfurchtsvolle Dienerschaft. Dort unten lag Werdenfels; dort waren Menschen; dort war Leben und Glück, aber was fragte Raimund von Werdenfels nach all diesen Dingen; er hatte nur den Haß mit sich hinaufgenommen in seine Einsamkeit, als er sich von der Welt und den Menschen abwandte. Es war wohl verzeihlich, wenn dem jungen Manne bittere Gedanken aufstiegen, als er sich ausmalte, wie er als Herr hier schalten und walten würde, sich und Anderen zur Freude und zum Segen. Was half es ihm, daß er der dereinstige Erbe der Güter war? Die Erbschaft lag noch in weiter Ferne, und wenn er bisher auf die Güte des Freiherrn angewiesen gewesen war, so fühlte er jetzt, was es hieß, von dessen Launen abhängig zu sein.
Der Wald war nicht so unwegsam, wie es den Anschein hatte; der Schnee lag nicht allzu hoch und war überall festgefroren, und der helle Sonnenschein lockte den jungen Mann immer weiter hinaus. Er war bereits über eine Stunde von Felseneck entfernt und erreichte jetzt einen Fahrweg, der, in steiler Windung aus dem Thale aufsteigend, nach der Försterei und von da weiter hinauf in die Berge führte. Paul überlegte eben, ob er den Weg verfolgen und der Försterei einen Besuch abstatten sollte, als er einen alten Bauer gewahrte, der soeben die Höhe erstiegen hatte.
Der Alte sprach beim Erblicken des Fremden das übliche „Grüß’ Gott!“, aber der frohe helle Gruß der Bergbewohner kam müde und gepreßt von seinen Lippen, während er selbst sich schwerathmend und erschöpft auf seinem Bergstock lehnte.
„Es will wohl mit dem Steigen nicht mehr recht gehen in Ihren Jahren?“ fragte Paul, indem er den Gruß erwiderte.
„Die Jahre sind ’s nicht,“ war die kurze, fast unfreundliche Antwort. „Mit denen nehm’ ich es schon noch auf. An dem Fuß da liegt es, daß ich nicht vorwärts kann.“
Paul sah erst jetzt, daß der Mann lahm war und daß ihm das Gehen sehr beschwerlich fiel. Es war eine kräftige, untersetzte Gestalt, aber gebeugt von Alter und Arbeit. Dichtes graues Haar kam unter dem Hute zum Vorschein, und in die braunen verwitterten Züge grub sich Furche an Furche. Es lag nicht die gleichgültige apathische Ruhe darin, die sich nur zu oft dort findet, wo schwere körperliche Arbeit das geistige Element ganz in den Hintergrund drängt; dieses Gesicht hatte etwas Hartes, Verschlossenes, aber zugleich auch Entschlossenes, und der Blick, der den jungen Fremden streifte, war finster und mißtrauisch.
„Sie sind lahm?“ fragte Paul mitleidig. „Da mag Ihnen der Weg schwer genug geworden sein. Sie wollen vermuthlich nach der Försterei?“
Der Alte schüttelte den Kopf und wies nach einem Gehöfte, das einsam hoch oben am Bergeshange lag.
„Nein, ich will weiter hinauf – nach dem Mattenhofe da oben.“
„So hoch hinauf? Das schaffen Sie ja gar nicht mit dem kranken Fuße.“
„Man schafft es schon, wenn man eine Tochter hat, die da oben auf den Tod liegt. Oft komm’ ich freilich nicht hinauf, und vielleicht ist es heute das letzte Mal; denn sie macht es nimmer lange, wie der Doctor sagt.“
Der gramvolle Ausdruck in den Zügen des alten Mannes erregte Paul’s Theilnahme. Er hatte zuerst nur flüchtig, wie im Vorbeigehen gesprochen; jetzt trat er näher heran.
„Die Matten-Bäuerin ist Ihre Tochter? Da begreife ich es allerdings, daß Sie den schweren Weg machen. Am Ende ist es gar Ihr einziges Kind?“
[138] „Das letzte von vieren! Die beiden Schwestern sind gestorben, und dann hatte ich noch einen Buben – einen einzigen – der ist umgekommen bei dem Brande von Werdenfels!“
Die Worte klangen dumpf und eintönig, aber die Spitze des Bergstockes bohrte sich tief in den Schnee; so schwer lehnte sich der Mann darauf, dessen Augen sich gleichfalls einzubohren schienen in die Erde.
„Dieser unglückselige Brand!“ rief Paul. „Ich habe erst kürzlich davon gehört und von all dem Elend, das er angerichtet hat. Also Sie haben Ihren Sohn dabei verloren?“
Der Bauer sah auf, wieder mit jenem finsteren argwöhnischen Blicke, welcher der Theilnahme eines Fremden mißtraut, die offenen freundlichen Züge desselben schienen ihm aber Vertrauen einzuflößen.
„Alles hab’ ich verloren!“ sagte er bitter. „Haus und Hof, Glück und Gesundheit und meinen Buben dazu, meinen Toni! – Er war fast so alt wie Sie, der bravste und stattlichste Bursche im ganzen Dorfe, und mir war er an’s Herz gewachsen, vielleicht zu sehr. Da kam das Feuer, und mein Hof brannte zuerst. Wir wollten wenigstens das Vieh retten; es brannte schon lichterloh über unseren Köpfen, aber wir versuchten es doch. Da schwankten mit einem Male die Balken – der Toni riß mich zu Boden, warf sich über mich, und um uns krachte alles zusammen. Ich kam mit dem gebrochenen Fuße davon, aber mein armer Bube, der mich mit seinem Leibe gedeckt hatte – den zogen sie mit zerschmettertem Kopfe hervor.“
Er nahm den Hut ab und fuhr mit der Hand durch das eisgraue Haar. Es lag etwas Wildes, Krampfhaftes in der Bewegung, und in den verwitterten Zügen zuckte es unheimlich, während er fortfuhr:
„Seit dem Tage war kein Segen mehr im Hause. Es war nur wenig versichert, und das reichte nicht hin, den Schaden zu bessern. Ich lag ein Jahr lang nieder an dem gebrochenen Fuße, und als ich wieder zu Kräften kam, war die Wirthschaft halb zu Grunde gegangen. Der Toni fehlte; ich konnte nicht zugreifen wie sonst; wie ich auch arbeitete und schaffte, es ging doch zurück. Der Hof wurde mir verkauft – dann starb mir mein Weib, dann die beiden Kinder und jetzt – verdien’ ich mein Brod im Tagelohn bei den Bauern, und es ist ein schweres Brod!“
Der Alte holte tief Athem und drückte den Hut wieder in die Stirn. Es lag etwas Ergreifendes in dieser schlichten Erzählung, die in wenigen Worten das zerstörte Leben einer ganzen Familie aufrollte, zerstört durch das Unglück eines einzigen Tages.
„Das ist allerdings eine traurige Geschichte,“ sagte Paul, der mit aufrichtiger Theilnahme zugehört hatte. „Ich glaubte, jenes Brandunglück sei im Laufe der Jahre vergessen und überwunden worden. Für Sie und die Ihrigen ist es aber doch eine allzu schwere Schickung gewesen.“
„Schickung?“ lachte der Bauer höhnisch auf. „Nun, unser Herrgott hat den Brand nicht geschickt – das wissen wir besser!“
Der junge Mann stutzte.
„Wie soll er denn sonst entstanden sein? Was meinen Sie?“
„Das können Sie freilich nicht wissen. Sie sind ja fremd hier – das sieht man. Sie gehören wohl in die Försterei?“
„Nein, ich gehöre anderswo hin,“ versetzte Paul, lächelnd über den Irrthum, den seine einfache Jagdkleidung hervorrief. Er faßte in seine Tasche, besann sich aber und hielt inne. Der Mann dort sah wohl dürftig aus, aber es lag etwas in seinem Wesen, was ein Almosen entschieden verbot, und dennoch hätte ihm Paul so gern eine Unterstützung zu Theil werden lassen, indessen er wußte sich zu helfen.
„Wenn Sie im Dorfe wohnen, so kann ich Ihnen vielleicht von Nutzen sein,“ sagte er freundlich. „Ich werde mit dem Castellan des Schlosses sprechen, damit er Ihnen leichtere und lohnendere Arbeit giebt, als Sie bei den Bauern finden. In den Schloßgärten werden ja immer Leute gebraucht. Berufen Sie sich nur auf den jungen Baron Werdenfels!“
Die Augen des alten Mannes öffneten sich plötzlich weit, und seine Hände umklammerten den Bergstock, als wollten sie ihn zerbrechen.
„Auf den jungen Baron?“ wiederholte er. „Sie gehören also zu ihm – zu dem Werdenfels?“
„Gewiß,“ entgegnete Paul unbefangen. „Ich führe den gleichen Namen: der Freiherr ist mein Verwandter – aber was ist Ihnen denn?“
„Fort!“ stieß der Bauer rauh und wild hervor. „Kommen Sie mir nicht nahe! Ich will nichts von ihm und seiner Sippschaft, und wenn ich am Verhungern wäre – ich nähme kein Stück Brod von Euch. Er ist auch bei mir gewesen, damals, als er Herr auf Werdenfels wurde, und hat mir Geld geboten – vor die Füße habe ich es ihm geworfen, und wenn er nicht zur rechten Zeit gegangen wäre, ich hätte ihn niedergeschlagen, sammt seinem verdammten Almosen!“
Dieser plötzliche, unbegreifliche Ausbruch und die wuthverzerrten Züge des Mannes brachten Paul zu dem Glauben, er habe es mit einem Irrsinnigen zu thun; er griff unwillkürlich zur Flinte, sagte aber zugleich in beschwichtigendem Tone:
„Es ist ja kein Almosen, was ich Ihnen biete, nur Arbeit und Verdienst. So besinnen Sie sich doch! Wir sind uns ja ganz fremd, und ich habe Ihnen nichts zu Leide gethan.“
„Sie sind ein Werdenfels – das ist genug!“ knirschte der Bauer, dessen Wuth sich nur noch zu steigern schien. „Sagen Sie ihm – dem Freiherrn – der Eckfried ließ ihn grüßen, und er soll sich wahren, daß ihm sein Schloß nicht auch einmal lichterloh über dem Kopf brennt, wie mir mein Hof! Er soll sich nicht herauswagen aus seinem Felseneck; sonst – sonst könnte es ihm gehen, wie meinem armen Buben!“
Er schüttelte drohend die Faust, wandte sich dann um und ging, so schnell der gelähmte Fuß es ihm gestattete. Paul stand regungslos und sah ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwand. So räthselhaft jene Worte auch klangen, sinnlos waren sie nicht. Der Mann war kein Irrsinniger; er wußte offenbar ganz genau, was er sprach. Paul dachte an den seltsamen Empfang, der ihm bei dem Pfarrer Vilmut zu Theil geworden war, an die Warnung seines Onkels, sich nicht im Dorfe zu zeigen, und der geheime, furchtbare Sinn jener Drohung begann ihm langsam aufzudämmern. Aber in demselben Augenblicke, wo er den Gedanken faßte, warf er ihn auch schon weit von sich.
„Sind die Leute denn toll da unten im Dorfe?“ rief er unmuthig. „Raimund von Werdenfels, der erste Grundherr der Provinz, der Freiherr aus dem ältesten Geschlecht – und solch ein hirnloser Verdacht! Aber das kommt von den Sonderlingslaunen; das kommt davon, wenn man förmlich etwas darin sucht, den Leuten unheimlich und unbegreiflich zu erscheinen! Er hat es mir ja selbst gesagt, daß sie ihn für eine Art Hexenmeister halten; jetzt bilden sie sich im vollen Ernste ein, er habe ihnen das Unglück herangehext, und Hochwürden der Herr Pfarrer duldet und nährt vielleicht noch gar diesen Aberglauben, anstatt ihn zu bekämpfen. Sollte man glauben, daß dergleichen in unserer Zeit und in unserem Lande noch möglich ist?“
Der junge Mann machte seinem Aerger über die mangelnde Volksaufklärung nachdrücklichst Luft, während er tiefer in den Wald hineinschritt. Da gewahrte er in einiger Entfernung einen Reiter und erkannte zu seiner Ueberraschung Raimund von Werdenfels. Er wußte, daß dieser überhaupt nur sehr selten das Schloß verließ, und hatte im Marstall mit heimlicher Verwunderung den Tigerschimmel gesehen, den man ihm als das Lieblingspferd des Freiherrn bezeichnete. Das schöne, aber sehr feurige und ungeduldige Thier erforderte unbedingt einen kraftvollen, unerschrockenen Reiter, und der krankhaft müde Raimund, mit seinen weißen durchsichtigen Händen, an denen die blauen Adern so scharf hervortraten, vermochte es doch sicher nicht, den wilden Emir zu bändigen.
Emir schien indessen an seinen Herrn gewöhnt zu sein, so selten er ihn auch trug; denn er trabte ruhig dahin. Der Freiherr hatte nicht einmal einen Reitknecht bei sich; er war ganz allein, aber er saß im Sattel mit derselben müden und theilnahmlosen Haltung, mit der er daheim in seinem Sessel lehnte, und hielt die Zügel so nachlässig in der Hand, als gelte es, das frömmste Thier zu leiten. Die prächtige Winterlandschaft schien ihn nicht im Geringsten zu fesseln; er warf keinen Blick darauf und war so tief in Gedanken versunken, daß er seinen jungen Verwandten erst bemerke, als dieser dicht vor ihm stand.
„Sieh da, Paul! Bist Du auch unterwegs?“ fragte er mit flüchtigem Gruße, aber das Zusammentreffen schien ihm nicht angenehm zu sein.
„Die Sonne hat mich herausgelockt,“ entgegnete Paul. „Man war ja in den letzten Tagen wie gefangen im Schlosse bei diesem Sturm und Schneetreiben – und Du zogst Dich auch so vollständig zurück.“
[139] „Ich bin nicht wohl gewesen, bin es noch nicht,“ erklärte Raimund, indem er sein Pferd zu langsamerer Gangart anhielt, sodaß Paul nebenher schreiten konnte.
Die Worte schienen kein bloßer Vorwand zu sein; denn Werdenfels hatte sich in den wenigen Tagen auffallend verändert. Die tiefen Linien auf der Stirn und in den Zügen traten schärfer hervor; die Augen, um welche sich dunkle Ringe zogen, sahen überwacht und fieberhaft aus, und um den Mund lag wieder jener Zug verbissenen Schmerzes, wie bei der letzten Zusammenkunft.
„Du bist krank gewesen?“ rief Paul, der jetzt in der That sah, daß nicht blos die vermeinte Ungnade ihn von den Gemächern des Onkels fern gehalten hatte. „Ich habe nicht das Geringste davon gehört; sonst hätte ich –“
„Es war nicht von Bedeutung,“ unterbrach ihn Raimund. „Mein altes Uebel, ein dumpfer Kopfschmerz, der mich oft wochenlang peinigt! Das muß ertragen werden.“
Paul fühlte die Kälte in dem Tone, der jedes Bedauern verbat. So sagte er nun auch seinerseits etwas kühl und gemessen:
„Du solltest Dir mehr Bewegung machen. Deine Gesundheit muß ja darunter leiden, wenn Du Dich so einschließest.“
Werdenfels erwiderte nichts, sondern ritt im Schritt weiter bis zum Ausgange des Waldes, den eine breite tiefe Schlucht begrenzte. Es war der Wildbach, der sich hier in das Thal hinabstürzte; jetzt war er freilich erstarrt, und dichter Schnee lag auf den Baumwurzeln und Felstrümmern, über die er sonst hinweg schäumte. Drüben auf der anderen Seite streckte sich, gleichfalls schneebedeckt, eine freie Bergwiese hin, und dort wurde auch wieder die Windung des Fahrwegs sichtbar, der weiter oberhalb durch den Wald führte.
Der Freiherr hielt sein Pferd an und blickte hinüber.
„Kennst Du den Punkt?“ fragte Paul, welcher der Richtung jenes Blickes folgte. „Man hat von dort die Aussicht über das ganze Thal; ich habe sie neulich entdeckt, aber ich kam von der anderen Seite. Schade, daß die Wiese von hier aus unzugänglich ist!“
„Unzugänglich – weshalb?“
„Nun, man müßte doch nothgedrungen in die Schlucht hinein- und auf der anderen Seite wieder hinaufklettern. Ich brächte das im Nothfall zu Stande, aber Du – oder willst Du vielleicht über das Hinderniß wegsetzen?“
Die Frage klang scherzhaft, aber es spielte doch ein leises Spottlächeln um die Lippen des jungen Mannes, als er sich seinen Onkel in dieser Situation vergegenwärtigte.
Werdenfels mußte das bemerkt haben; denn er richtete sich plötzlich empor. Der müde, halb gebrochene Mann saß auf einmal fest und sicher im Sattel, und seine Hand faßte energisch die Zügel. Dabei brach wieder jenes seltsame blitzähnliche Aufflammen aus seinen Augen, während er, ohne ein Wort zu sprechen, dem Pferde die Sporen in die Seiten setzte und im nächsten Augenblicke flogen Roß und Reiter in mächtigem Satze über die Schlucht, und drüben gruben sich die Hufe des Thieres tief in den Schnee ein.
Paul stand wie gelähmt vor Ueberraschung bei diesem Wagstück, das weder Roß noch Herrn besonders anzustrengen schien; denn Emir stand ganz ruhig auf der Wiese, und der Freiherr rief mit voller Gelassenheit hinüber:
„Nun, Paul, willst Du nicht auch herüberkommen?“
Der junge Mann gehorchte; er kletterte in die Schlucht und stieg auf der anderen Seite wieder empor, aber die Sache war doch schwieriger, als er geglaubt hatte, und er kam ganz erhitzt drüben an.
„Raimund, um Gottes willen, wie konntest Du meinen Scherz so ernst nehmen!“ rief er vorwurfsvoll. „Das war ja eine Tollkühnheit sonder Gleichen! Was veranlaßte Dich – – ?“
„Dein Lächeln!“ sagte Raimund scharf. „Du wußtest vielleicht selbst nicht, wie mitleidig es war. Du siehst – es giebt doch wenigstens einen Punkt, in dem ich es noch mit Dir aufnehme.“
„Nein, darin bist Du mir überlegen,“ versetzte Paul ehrlich. „Ich thue mir auf meine Reitkunst etwas zu Gute, aber diese Schlucht hätte ich denn doch nicht so ohne Weiteres genommen, und ein anderes Pferd als Emir hätte auch den Sprung versagt. Gott sei Dank, daß das Wagstück noch so glücklich ablief! Es hätte Dir das Leben kosten können.“
Raimund zuckte die Achseln.
„Vielleicht! Um so besser für Dich!“
„Wie meinst Du?“
„Ich meine, daß Du Dich über einen solchen Fall nicht gerade zu beklagen hättest – oder hast Du wirklich noch niemals daran gedacht, daß mein Tod Dich zum Herrn von Werdenfels macht?“
Der junge Mann erröthete heftig. Er hatte vorhin erst ein glänzendes Luftschloß gebaut, in dem er sich als Herr und Gebieter von Werdenfels erblickte, und das drückte ihn jetzt wie eine Schuld, obgleich er dabei mit keiner Silbe an den Tod seines Onkels gedacht hatte. Der Freiherr sah dieses Erröthen und lächelte, aber es war ein schlimmes Lächeln.
„Ich mache Dir durchaus keinen Vorwurf daraus,“ fuhr er fort. „Es ist das Schicksal jedes Erblassers, daß die Erben auf seinen Tod warten, und uns knüpfen ja nur rein äußerliche Verwandtschaftsbande an einander. Fasse Dich in Geduld! Vielleicht ist das Ziel Deiner Wünsche nicht mehr weit entfernt.“
Die herben Worte schienen eigens darauf berechnet zu sein, den jungen Mann zu stacheln und zu beleidigen, und sie erreichten das auch; er fuhr empört auf:
„Raimund, was denkst Du von mir! Womit habe ich es verdient, von Dir als ein Erbschleicher angesehen zu werden, der jeden Athemzug berechnet, der ihn noch von seinem Erbe trennt? Du weißt am besten, daß Du frei über Deine Besitzungen verfügst, daß ich keinen anderen Anspruch darauf habe, als den Du selbst mir zugestehst, und ich weiß es jetzt, daß das Geständniß meiner Liebe mir Dein Wohlwollen gekostet hat. Ich bin darauf gefaßt, die Folgen zu tragen.“
„Und wenn ich Dir nun in der That die Wahl stellte zwischen dieser Liebe und dem dereinstigen Besitz von Werdenfels,“ sagte Raimund langsam und jede Silbe betonend, „würdest Du trotz alledem an Deiner Neigung festhalten?“
Paul erbleichte und zögerte mit der Antwort; so schroff und rücksichtslos hatte er sich die Frage doch noch niemals gestellt, aber sein Schwanken dauerte nur einige Secunden; dann erwiderte er fest:
„Trotz alledem!“
„Wirklich? Ich hätte Dir diese Romantik gar nicht zugetraut. Die Augen, die Dir ‚wie glückverheißende Sterne aufgingen‘, scheinen ja im Handumdrehen aus dem Leichtsinn einen idealen Schwärmer gemacht zu haben.“
Paul hörte nicht die furchtbare, mühsam verhaltene Gereiztheit, die sich hinter den Worten barg; er hörte nur den Hohn darin, und das raubte ihm jede Ueberlegung, von der er ohnehin nicht allzuviel besaß.
„Ich hoffe Dir zu beweisen, daß ich noch mehr kann als nur schwärmen,“ brach er heftig aus. „Du magst meine Liebe mißbilligen – verspotten lasse ich sie nicht, auch von Dir nicht! Du begreifst es wohl, wenn ich Dich jetzt um die Erlaubniß bitte, Felseneck verlassen zu dürfen.“
Er hätte sich von dem Vorwurf, daß es ihm um die Erbschaft zu thun sei, nicht nachdrücklicher reinigen können, als durch dieses trotzige Aufflammen, das unfehlbar zu einem Bruche führen mußte, aber der Freiherr war nun einmal unberechenbar; anstatt in Zorn zu geraten, sah er den jungen Mann fest und prüfend an; dann sagte er mit vollkommener Ruhe:
„Willst Du jetzt schon nach Buchdorf übersiedeln? Ich rathe Dir nicht dazu; denn der Pächter hat es bis zum Frühjahr noch contractlich in Händen. Du würdest da als Gutsherr einstweilen noch eine unbequeme Stellung haben.“
„Ich als Gutsherr?“
„Nun, ich habe Dir Buchdorf doch als Eigenthum zugesagt. Denkst Du, ich werde mein Wort nicht halten? Justizrath Freising hat das Document bereits ausfertigen lassen, und ich habe es unterschrieben. Du wirst es zu Hause auf Deinem Schreibtische finden.“
Paul war so bestürzt über diesen jähen Wechsel von Ungerechtigkeit und Güte, daß er keine Worte fand. Die eiskalte Art freilich, in der das Geschenk geboten wurde, schien die Güte auszuschließen.
„Du willst ja keinen Dank,“ sagte er endlich. „Du hast ihn neulich so schroff zurückgewiesen, daß ich mich scheue, auch nur ein Wort davon zu sprechen. Raimund – warum nimmst Du mir denn jede Freude an Deinem überreichen Geschenk, indem Du es mir so bietest?“
Der Vorwurf blieb nicht ohne Wirkung; zwar wich der herbe Ausdruck nicht aus Raimund’s Zügen, aber seine Stimme klang doch milder, als er erwiderte:
[140] „Laß das, Paul! Vielleicht bin ich ungerecht gegen Dich – ich kann es nicht ändern. Du siehst wenigstens, daß ich Dich mit keinem Zwange binden will. Von heute an bist Du Dein eigener Herr und hast weder nach meinem Wohlwollen noch nach meinem Mißfallen mehr zu fragen.“
Er war während des Gesprächs langsam über die Bergwiese geritten, und sie erreichten soeben jenseits wieder den Saum des Waldes, als Emir sich plötzlich wild aufbäumte. Paul sah es nicht, daß der Reiter die Schuld trug, der auf einmal jäh und heftig in die Zügel griff; er glaubte, das Thier scheue vor der fremden Gestalt, die soeben zwischen den Bäumen hervortrat. In der nächsten Secunde erkannte er aber diese Gestalt und rief in lebhaftester Ueberraschung:
„Frau von Hertenstein!“
Es war in der That Anna von Hertenstein, die dort stand. Der Sprung des Pferdes mußte sie wohl erschreckt haben; denn sie war sehr bleich und ihre Augen hafteten starr und unverwandt auf Roß und Reiter, während sie zugleich eine Bewegung machte, als wolle sie wieder in den Wald zurückweichen, aber Paul war bereits an ihrer Seite.
„Fürchten Sie nichts, gnädige Frau!“ sagte er beruhigend. „Das Pferd scheute nur einen Augenblick; hat es Sie erschreckt?“
„Nein, ich bin nicht schreckhaft!“ erwiderte die junge Frau, aber ihre bebenden Lippen widerlegten die Worte. Sie mochte das fühlen; denn sie trat rasch aus den Bäumen hervor in das Freie; es lag etwas Entschiedenes, beinahe Trotziges in diesem Hervortreten, aber Paul glaubte sie noch nie so schön gesehen zu haben, wie jetzt, wo sie in dem hellen Sonnenschein dastand. Ihr Anzug zeigte auch heute tiefes Schwarz, aber die enganschließende pelzbesetzte Winterkleidung machte nicht mehr so ausschließlich den Eindruck der Trauer, und das kleine Pelzbarett ließ die ganze Fülle der schweren braunen Flechten sehen, die hier in der kalten Wintersonne des Hochgebirges ebenso warm und goldig schimmerten, wie dort im Lichte des Südens.
„Ich bin in Begleitung meines Onkels – der Freiherr von Werdenfels ist Ihnen bekannt, wie ich glaube,“ sagte Paul, nicht ohne Verlegenheit; denn er fühlte, daß bei der nun einmal herrschenden Feindschaft dieses Zusammentreffen ein peinliches sein müsse. Die Begrüßung entsprach denn auch seiner Erwartung; der Freiherr zog den Hut, und die Dame neigte das Haupt, Beide gleich fremd und eisig. Dann wandte sich Frau von Hertenstein ausschließlich zu dem jungen Manne.
„Sie sind sicher überrascht, Herr von Werdenfels, mich hier zu sehen.“
„Allerdings, gnädige Frau! Sie sind allein und zu Fuß, wie ich sehe –“
„Wir haben einen Unfall mit dem Schlitten gehabt,“ sagte Anna hastig, als gelte es, ihr Hiersein zu entschuldigen. „Unser Pferd stürzte auf der glatten Bahn und muß wohl ernstlich Schaden genommen haben; denn es war nicht wieder empor zu bringen. Mein Vetter Vilmut ist bei dem Gefährt zurückgeblieben, und ich will nach der Försterei, um dort Beistand zu erbitten. Hoffentlich bin ich auf dem rechten Wege; Gregor konnte mir nur die Richtung angeben.“
„Nein, der Weg führt dort oben durch den Wald, er ist aber ganz verschneit, Sie können ihn unmöglich zu Fuß zurücklegen. Ich stelle mich indessen ganz zu Ihrer Verfügung und will selbst nach der Försterei eilen, wenn Sie glauben, daß meine Hülfe nicht ausreicht.“
„Ich fürchte, sie wird nicht ausreichen – wir werden die Leute des Försters brauchen. Wenn Sie die Botschaft übernehmen wollen, Herr von Werdenfels, so werde ich Ihnen dankbar sein. Weisen Sie die Leute nur an, den Fahrweg thalabwärts zu verfolgen; ich kehre inzwischen zu meinem Vetter zurück.“
Paul wäre nun allerdings am liebsten mit umgekehrt, selbst auf die Gefahr hin, dem Herrn Pfarrer Vilmut Beistand leisten zu müssen. Sein Eifer, der jungen Frau einen Dienst zu leisten, war aber viel zu groß, als daß er ihrer Weisung nicht hätte folgen sollen, und überdies nahm er sich natürlich vor, die Hülfsmannschaften zu begleiten.
„Ich eile sogleich nach der Försterei,“ versicherte er. „Du entschuldigst mich mohl, Raimund. – Auf Wiedersehen, gnädige Frau!“
Er zog grüßend den Hut und eilte davon, und schon in der nächsten Minute entzogen ihn die Tannen den Blicken der Zurückbleibenden.
Werdenfels hielt noch immer auf seinem Roß, und Anna von Hertenstein stand noch auf derselben Stelle, wo Paul sie verlassen hatte, jetzt aber grüßte sie, ebenso fremd und kalt wie das erste Mal, und wandte sich zum Gehen.
„Anna!“ sagte der Freiherr leise.
Sie bebte zusammen bei dem Klange, der kaum vernehmbar zu ihr hinüberwehte, und blieb wie gefesselt stehen, aber ihre Stimme klang unbewegt.
„Herr von Werdenfels?“
„Willst Du mir nicht auch noch den Freiherrntitel geben ?“ fragte er bitter. „Anna, es ist das erste Mal seit Jahren, daß wir uns wiedersehen, und da glaubte ich doch nicht, daß Du so an mir vorübergehen würdest.“
Anna stand noch immer halb abgewendet, und sie hob den Blick nicht vom Boden empor, als sie antwortete:
„Wozu dieses Wiedersehen verlängern? Es ist uns Beiden peinlich – leben Sie wohl, Herr von Werdenfels.“
„Wenn Du wirklich gehen willst, ohne mir auch nur ein Wort zu gönnen – ich halte Sie nicht, gnädige Frau!“
Es lag ein ruhiger, aber schwerer Vorwurf in diesen Worten. Die junge Frau erwiderte nichts darauf, aber sie blieb. Raimund schwang sich aus dem Sattel und trat zu ihr, doch seine Nähe schien die alte Feindschaft wieder wach zu rufen. Anna richtete sich empor, und ihr ganzes Wesen war starre, eisige Abwehr, als sie sagte:
„Es ist ein Zufall, der mich heute in die Berge führt. Droben im Mattenhof liegt eine Schwerkranke; sie hat früher in Rosenberg im Dienst gestanden und verlangte mich noch einmal zu sehen. Deshalb entschloß ich mich, Gregor zu begleiten, sonst –“
„Hättest Du den Umkreis von Felseneck nicht betreten,“ ergänzte Raimund. „Ich weiß es, aber wir sind Beide unschuldig an dieser Begegnung. Du bist über eine Stunde von dem Schlosse entfernt, und ich bin seit Wochen zum ersten Male wieder im Freien.“
Anna sah auf, zum ersten Male während der ganzen Begegnung streifte ihr Blick die Züge des Freiherrn, und sie mußten ihr wohl anders erscheinen, als das Bild, das sie davon in der Erinnerung trug; denn sie fragte mit verhaltener Stimme:
„Bist Du – krank gewesen?“
„Nein! Du willst sagen, ich habe mich in den letzten sechs Jahren sehr verändert? Ich gebe Dir das zurück. Es ist auch nicht mehr Anna Vilmut, das eben erblühende Mädchen, das jetzt vor mir steht. Du freilich hast seitdem andere Tage und Stunden erlebt als ich; das sieht man – ich begreife vollkommen die Triumphe, welche Frau von Hertenstein in den Salons der Residenz gefeiert hat.“
Er hatte Recht, die Schönheit, die damals noch in der Knospe schlief, hatte sich jetzt zur vollsten Blüthe entfaltet; selbst der einfach dunkle Anzug vermochte nicht, sie zu beeinträchtigen; sie leuchtete nur sieghafter hervor aus der unscheinbaren Hülle. Die junge Frau stand wie die Verkörperung des reichen blühenden Lebens neben dem bleichen düsteren Manne, aber sie schien seine Worte wie einen Vorwurf zu empfinden.
„Der Präsident führte mich in die große Welt ein,“ erwiderte sie rasch. „Es war sein Wunsch, sein ausdrücklicher Wille, daß wir dort lebten, nicht meine eigene Wahl.“
„Der Präsident! Wie fremd das klingt! Er ist ja doch Dein Gatte gewesen, der Mann, dem Du am Altare die Hand reichtest. Freilich, das war Vilmut’s Werk! Es war ihm nicht genug, Dich von mir zu reißen; er wollte noch eine unübersteigliche Schranke zwischen uns aufrichten, und dazu war ihm jedes Mittel recht. Mich hat er ja von jeher gehaßt, und nach Deinem Glücke fragte er nicht, als er Dich in die Arme des Greises warf.“
Anna hatte ihrer jungen Schwester gegenüber geleugnet, daß bei ihrer Vermählung fremder Einfluß thätig gewesen war. Hier widersprach sie nicht. Sie ging schweigend über diesen Punkt hinweg und entgegnete nur:
„Du irrst. Ich bin an Hertenstein’s Seite nicht unglücklich gewesen und jetzt –“
„Bist Du Wittwe.“
„Ja!“
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Die wohlthätige Presse.
„Wie schön sind Freuden, die Betrübten frommen!
Wer ist so grämlich, eine Lust zu hindern,
Die darauf ausgeht, Andrer Leid zu mindern,
Und den erfreuen soll, der schwer beklommen?“
Dagegen laß! sich gewiß nichts einwenden, und die Abgabe vom eigenen Vergnügen an fremde Noth ist eine der gerechtesten und am willigsten gezahlten indirecten Steuern. Wenn es aber im Sonett weiter heißt, daß „jedwede Schönheit, die hier strahlt, mit ihren bloßen Armen die Armuth kleiden hilft“, so ist das nicht etwa als eine dichterische Verherrlichung werkthätiger Liebe und Barmherzigkeit aufzufassen. All diese Arme haben sich nur vertrauensvoll unter den Frackärmel opferfreudiger Männer zu schmiegen oder auf deren Schulter in wirbelnder Lust sich zu stützen, vielleicht nur aus der Ferne sich bewundern zu lassen, dann haben sie ihre Pflicht gethan und manchmal noch mehr. Jene Verse eröffnen das „Erinnerungsblatt an das Ballfest im Central-Hôtel am 10. Februar 1883 zu Gunsten der Ueberschwemmten Deutschlands“, veranstaltet vom Verein „Berliner Presse“, und dieses Blatt wurde im Ballsaale selbst gedruckt.
Welch ein Ballsaal, vielleicht einer der schönsten der Welt! Der Blick vermag die ganze Ausdehnung nicht zu erfassen, versucht es aber auch gar nicht, den gewaltigen Raum zu beherrschen oder die schwindelnde Höhe zu ermessen; überall stößt er auf Hindernisse, deren lieblicher Zauber ihn fesselt. Blumen schlingen sich von einer Seite des Saales zur andern, umwinden im Kranze die Säulen, verhüllen die beiden Springbrunnen, die an jedem Ende ihren kühlenden Strahl emporsprudeln und plätschernd zu labender Rast verlocken. Aus buntfarbiger Umhüllung verbreitet das elektrische Licht die milde Helle des scheidenden Hochsommertages, über welchen schon der Dämmerung duftiger Schleier sich breitet; leise Wehmuth beschleicht das Herz; mit glühendem Verlangen sucht das Auge so viel Schönheit, Glanz und Anmuth festzuhalten – bald wird Alles in Nacht versinken, und das Ganze ist ein schöner Traum gewesen!
Aber das Fest hat noch kaum begonnen, und Stunden vergehen, bis es, nach großstädtischer Sitte, den Höhepunkt erreicht. Mehr und mehr füllt sich die Halle; immer schwieriger wird der Kampf der Musik mit dem Gewirr der Menschenstimmen, das anschwillt wie des Meeres Brandung; stets wachsende, immer breiter sich ausdehnende Gruppen verengen in fortwährender Bewegung den Tanzenden das Feld. Ziellos läßt man sich treiben; man sucht nicht mehr, und die sich finden, preisen den glücklichen Zufall. Namen werden genannt, Personen gezeigt, Bekanntschaften gemacht und erneuert; anscheinend ohne Zusammenhang bewegt sich Alles neben einander, durch einander, und doch so einig und verbunden in der allgemeinen glücklichen und gehobenen Stimmung, der wahrhaft festlichen Laune, „Zwanglos!“ heißt die schon von der Nothwendigkeit ausgegebene Losung des Abends; keine gemeinschaftliche Tafel, die so häufig Widerwillige bei ihren zweifelhaften Genüssen festhält, freie genossenschaftliche Vereinigungen, keine heimtückischen Trinksprüche – unbeschränkte Mündlichkeit, aber mit Ausschluß der Öffentlichkeit, und die Beredsamkeit der Blicke stellt den gefeiertsten Toastredner in Schatten. Diese vollständige Freiheit der Bewegung ist der höchste Lobspruch für die Ordner des Festes, die in der That Mustergültiges geleistet und auf’s Neue bewiesen haben, daß die beste Regierung diejenige ist, welche man nicht sieht, noch merkt. Leicht und beweglich windet sie sich durch die dichtesten Reihen, die gedrungene, lebenskräftige Gestalt Hans Hopfen’s – meist führt er eine Dame am Arm; überall hin schüttelt er die Hände, tauscht er einen scherzhaften Gruß in treuherziger baierischer Mundart, sicher einer der vergnügtesten harmlosesten Festgenossen – weit gefehlt, er gerade ist die Seele dieser Regierung und in fortwährender Thätigkeit, ohne daß es ihm gelänge, einen einzigen Unzufriedenen zu entdecken, selbst dann nicht, wenn er mit polizeiwidriger Liebenswürdigkeit einer vordringlichen Cigarre das Lebenslicht ausbläst. Die übrigen Mitglieder des Comités unterstützen ihn ebenso geräuschlos und unmerklich. Hugo Bürger, der fortan auch auf dem Theaterzettel seinen bürgerlichen Namen Lubliner führen und darum nicht minder erfolgreich sein wird, Karl Frenzel, der feinsinnige Kritiker, Emil Jacobson, der im Verein mit Ernestine Wegner Berlin auch in der trübsten Stimmung zum ausgelassensten Gelächter zwingt, Alexander Meyer, der das Parlament nicht immer überzeugt, aber niemals langweilt, Richard Schmidt-Cabanis, ein glühender Freiheitskämpfer, auch dann, wenn er in der Kutte des Schalksnarren zu Felde zieht, Robert Schweichel, dessen Gedächtnißrede auf Gottfried Kinkel einen so weithin tönenden Widerhall gefunden, und die übrigen Mitarbeiter des Comités lassen die Früchte einer aufopfernden mühevollen Thätigkeit von Anderen ahnungslos genießen.
Jetzt ist es an der Zeit, von der nach den Nebensälen führenden Freitreppe einen Blick auf das lebensvolle Bild zu werfen, das sich inzwischen in ganzer Vollständigkeit und berauschender Schönheit entfaltet hat. Ganz Berlin ist zum Stelldichein eingetroffen, berückende Frauen und bedeutende Männer, strahlende Gewänder und glänzende Namen; eine unbeschreibliche Fülle von Pracht und Reiz wogt und fluthet einher; jedes Alter, jeder Stand ist vertreten, und doch nirgends ein Unterschied – eine Vereinigung, wie sie nur in einer wirklichen Großstadt möglich und doch in dieser Eigenart, solch blendender Vollendung selbst hier in Berlin neu und überraschend!
Die Presse hat, ihrer Aufgabe gemäß, einem allgemeinen Gedanken den Ausdruck, einem unbestimmten Gefühl die Anregung gegeben, damit aber ihren Beruf erfüllt; auch sie hat nur als Gast diese Schwelle überschritten und den Uebrigen sich zugesellt. Mit jener glücklichen Harmlosigkeit, der übersprudelnden Lust am Augenblicke, die der Grundzug seines Wesens und Schaffens, vergißt Paul Lindau alle Sorgen und Aufregung, die sein neues Stück „Mariannens Mutter“ ihm verursacht, und wendet seine Aufmerksamkeit hauptsächlich den Töchtern zu, während Julius Stettenheim auch hier den Verlust seines unersetzlichen Freundes Ernst Dohm nicht ganz verschmerzen kann. Plötzlich wird Emil Rittershaus sichtbar, auf dem Heimwege von einer Vortragsreise, die ihn bis nach Oesterreich geführt, gönnt er sich die nächtige Rast; zwischen zwei schönen Frauen, vor sich den funkelnden Römer, lacht dem Sänger so vieler Trink- und Liebeslieder die behaglichste Ruhe, während an demselben Tische Victor Blüthgen darüber zu sinnen scheint, wie all die Märchen um ihn her für Kinder zu erzählen seien.
Daß die parlamentarische Saison auf ihrer Höhe befindlich, wird hier nicht ganz erkennbar, Wähler und Abgeordnete vergessen so gern die Politik, die sie fast überall hin verfolgt, und das Incognito ist nicht mehr nur ein Bedürfniß der Fürsten. Lasker freilich kann sich nicht verbergen, und Jeder weiß, was der melancholische Zug bedeutet; in den Verein der Berliner Presse wurde vor einigen zwanzig Jahren der bis dahin ganz unbekannte Assessor eingeführt, und was Alles hat er, haben wir seitdem erfahren! Auch Hänel blickt nicht ganz heiter, der weltmännische Professor mit den überall gleich liebenswürdigen Umgangsformen, vergißt aber sehr bald den Staat und findet für seine unpolitischen Erörterungen hingebende Parteigängerinnen; er hat mehr Frauen für, als Männer gegen sich. Ludwig Loewe erweist sich auch hier als unverbesserlicher Freihändler, der sich durch keine Zollschranke an dem Exporte seiner Huldigungen behindern läßt; wer aber die stenographischen Berichte allzu wörtlich nimmt, der dürfte über den „ostpreußischen Bauern“ Dirichlet einigermaßen erstaunt sein.
Näher als die Politik steht an solchen Abenden das Theater der Presse, und auf den Brettern des Ballsaals erzielt die kleinste Soubrette durchschlagendere Wirkung, als der größte Volkstribun. Und fast vollzählig sind sie erschienen, die Künstler und Künstlerinnen, denen die Hauptstadt so gern huldigt und deren persönliche Bekanntschaft das Ziel so vieler Wünsche ist. Für die Künstlerinnen besonders entfaltet sich ein Feld lohnender Thätigkeit; in den stets dichtumdrängten Verkaufsbuden bieten sie die Loose einer Tombola aus, welche mit dem Feste verbunden ist.
Eine unwiderstehliche Anziehungskraft übt auch als Verkäuferin Lilli Lehmann, deren Baronin in Lortzing’s „Wildschütz“ jetzt Alles bezaubert. Nach langen Jahren hat die Hofbühne diese alte und doch ewig jugendfrische, echt deutsche Spieloper der Vergessenheit wieder entrissen, und die von so viel Lärm und Geschrei [143] aufgeregten und ermüdeten Hörer athmen entzückt auf bei diesen aus dem tiefsten Herzen quellenden, erheiternden und befreienden Naturlauten. Armer Lortzing! auch ihn hat die Sturmfluth eines feindlichen Geschickes hinweggespült, wer aber hat für ihn getanzt? Mitten auf dem Balle noch verbreitet sich die frohe Nachricht, daß alle 20,000 Loose abgesetzt, und mit doppeltem Interesse werden die in einem geschmackvollen Gabentempel aufgestellten Hauptgewinne besichtigt. Ein reichhaltiges Autographenalbum namhafter Dichter und Schriftsteller, Gemälde und Handzeichnungen von berühmten Malern, wie Anton von Werner und Paul Meyerheim, die beide anwesend, von Defregger, Ludwig Knaus, Paul Thumann, Gustav Richter, Gypsabgüsse von Begas, Schaper und Siemering und eine Fülle von Büchern und anderen Artikeln – es wird viel Erfreute geben nach der Ziehung, und der Leerausgegangene ermesse: „auch seine Nieten mildern hartes Loos.“
Bei wie Vielem, was geschieht, muß die Absicht entschuldigen, wie es geschieht, selten aber ist ein warmherziger Gedanke, ein edles Gefühl so glänzend ausgeführt und verwirklicht worden, wie durch dieses Fest der Berliner Presse. Wohlthätig und wohlthuend hat es in die Ferne wie in der Nähe gewirkt, und wenn die Unglücklichen es segnen, werden es die Glücklichen zu ihren ungetrübtesten Erinnerungen zählen.
Bilder aus Batavia.
Alle Reisenden, welche sich das an der Nordküste der schönen Tropeninsel Java gelegene Batavia als eine malerische Stadt dachten, in deren Hafen die großen Ostindienfahrer vor Anker lägen und an deren Quais ein buntes Leben und Treiben herrschte, werden etwas enttäuscht gewesen sein, wenn ihr Schiff auf einer offenen Rhede ankerte und die Stadt sich nur durch einen Leuchtthurm, einige Befestigungswerke und Regierungsgebäude ankündigte. Auch die langgezogene, mit üppiger Vegetation bedeckte Flachküste wird einem in der Phantasie entworfenen Gemälde von der Lage Batavias wenig entsprechen; die Einförmigkeit der Landschaft wird nur durch die am südlichen Horizont auftauchenden zarten Umrisse der „Blauen Berge“ etwas gemildert.
Jeder Passagierdampfer kündigt seine Ankunft durch zwei Kanonenschüsse an. Bald darauf erscheinen auf der Rhede mehrere Kähne und ein kleines Dampfboot, um Passagiere, Briefe und Frachtgüter abzuholen. Sind auf dem am Landungsplatze gelegenen Zollamt die nöthigen Formalitäten beendet, so kann der Reisende entweder die Eisenbahn oder eine der bereitstehenden Droschken benutzen, um nach einem der in den äußeren Stadttheilen gelegenen Hôtels zu fahren.
Ehe wir uns aber dorthin begeben, wollen wir einen Blick auf die Rhede werfen und der alten Stadt Batavia einen kurzen Besuch abstatten.
Batavia wurde im Jahre 1619 von den Holländern gegründet und lag damals unmittelbar am Meere; jetzt wird es vom Meere durch einen etwa 600 Meter breiten Streifen angeschwemmten Landes getrennt, welcher zu einem großen Theile durch die sehr bedeutenden und immer wachsenden Ablagerungen von Sinkstoffen aus den an jener Küste mündenden Flüssen, besonders aber durch die Wasser des Tji-Liwong (Tji d. h. Fluß) gebildet wurde. Beim Bohren artesischer Brunnen mußte man eine etwa achtzig Meter mächtige Schicht angeschwemmten Landes durchstechen, bevor man die älteren Gesteinschichten erreichte, und hat man berechnet, daß das Schwemmland seit der Niederlassung der Holländer jährlich um etwa sieben Meter gewachsen ist. Durch die vereinte Thätigkeit der Flüsse und des Meeres werden die Anschwemmungen auch gegenwärtig noch fortwährend vergrößert, wie denn die Uferbauten in Folge der fortschreitenden Versandung der Rhede immer weiter in’s Meer vorgeschoben werden mußten; so entstand der die Rhede mit der Stadt verbindende Canal. Um die Versandung desselben wenigstens zu verzögern, wurde ein Theil des Flußwassers bald nach dem Austritt des Tji-Liwong aus der Stadt in zwei besondere Betten geleitet. Diese Wasserbauten können jedoch nur für die nächste Zukunft einen ungestörten Schiffsverkehr sichern; denn in nicht allzu ferner Zeit wird die Bucht von Batavia in Folge der stetigen Anschwemmungen für Schiffe von bedeutendem Tiefgang wahrscheinlich unnahbar sein. An der Neubildung von Land haben auch die unablässig bauenden Korallenthiere einen nicht geringen Antheil, und es steht zu erwarten, daß die zahlreichen kleinen, vor der Bucht von Batavia liegenden Inseln mit der Küste von Java allmählich in feste Landverbindung treten werden.
Die Rhede von Batavia, welche von den früheren Seefahrern wegen ihrer günstigen Lage und ihrer beträchtlichen Tiefe gepriesen wurde, hat gegenwärtig eine Tiefe von höchstens fünf bis zwölf Faden, sodaß Schiffe, welche mit Ballast dort ankommen, denselben nur noch auf der Außenrhede abwerfen dürfen.
Wird der Verkehr zwischen der Stadt und den Schiffen dadurch sehr erschwert, daß die Ladung nur mit Booten gelöscht werden kann, so wird er oft durch die während der Regenzeit entstehende heftige Brandung geradezu unterbrochen, da die Boote leicht umschlagen und in den Canal nicht einlaufen können. Vor dieser Gefahr wird dann durch die auf dem Wachschiffe und auf dem Regierungsgebäude in Weltevreden, einer Vorstadt von Batavia, wehenden blauen Flaggen gewarnt.
Um nun die der Schifffahrt sich entgegenstellenden Hindernisse zu umgehen, den Verkehr zwischen den Schiffen und der Stadt von der Jahreszeit unabhängig zu machen und dem Handel Batavias einen neuen Aufschwung zu geben, hat die holländische Regierung beschlossen, östlich von der Mündung des Tji-Liwong bei Tandjong Priok einen großen künstlichen Hafen anzulegen. Die Hafenbauten haben bereits begonnen und werden wahrscheinlich bis zum Jahre 1884 beendet sein. Dieser neue Hafen, der aus einem Vor- und einem Binnenhafen besteht, ist mit Batavia durch eine beinahe acht Kilometer lange Eisenbahn mit doppeltem Schienengeleise, durch eine fünfzehn Meter breite Fahrstraße und einen Schiffscanal verbunden.
Betreten wir jetzt den Theil der alten Stadt, in welchem die Comptoire der europäischen Kaufleute und die Bureaus der Rechtsanwälte liegen, so könnten wir fast meinen, in eine holländische Stadt versetzt zu sein; denn das alte Batavia ist ganz nach dem Muster holländischer Städte erbaut. Die in geschlossenen Reihen stehenden Häuser wurden noch bis zum Jahre 1816 von holländischen Beamten und Kaufleuten bewohnt und zeigen noch heute die Spuren ihres ehemaligen Glanzes; denn nicht selten erblicken wir in denselben die kostbarsten Zimmerdecorationen, wie Stuckarbeiten und vergoldete Fensterrahmen, und in manchem sind die Hausflur und der Boden der Zimmer mit weißem Marmor belegt, der, wenn auch nur als Ballast, aus Italien eingeführt wurde.
Für ein tropisches Klima war aber die Anlage einer Stadt nach europäischem Muster ganz unzweckmäßig und das Wohnen in derselben sehr ungesund, da durch solche Bauart der Zutritt frischer Luft abgehalten wird, und so hat denn diese verkehrte Anlage von Batavia viel dazu beigetragen, daß dasselbe in Europa wegen seines ungesunden Klimas so verrufen war. Hat man doch diese Stadt oftmals wegen der großen Sterblichkeit in früherer Zeit geradezu als „das Grab der Europäer“ bezeichnet. Seitdem aber die Europäer ihre Wohnungen nach den südlich von der alten Stadt gelegenen höheren Punkten verlegten, haben sich die Gesundheitsverhältnisse wesentlich gebessert.
Wenn nämlich ein Europäer sich an eine dem tropischen Klima angepaßte Lebensweise gewöhnt, so ist er viel seltener Krankheiten ausgesetzt, als in unserem rauheren Klima; ja alle die leichteren Krankheiten, die wir Erkältungen zuschreiben, kennt man in Batavia kaum. In der ersten Zeit ihres dortigen Aufenthaltes werden freilich viele Europäer heftig vom Wechselfieber geplagt, doch treten diese Anfälle bei längerem Aufenthalte immer seltener auf, bis sie bei einer geregelten Diät gänzlich fortbleiben.
In der alten Stadt, die außer dem Stadthause, in welchem sich die Bureaux des Residenten befinden, kein einziges Gebäude von hervorragender architektonischer Schönheit aufweist, herrscht nur von früh acht Uhr bis Abends sechs Uhr ein reges Treiben; vor und nach dieser Zeit aber sind die Straßen wie ausgestorben, da dann die Europaer nach ihren schönen Landhäusern gefahren sind.
[144] Bevor auch wir die alte Stadt verlassen, wollen wir vorerst noch einen Blick in diesen ausschließlich von Malayen und Chinesen bewohnten Stadtteil werfen; denn hier haben wir Gelegenheit, ein Volksleben kennen zu lernen, wie es nur wenige andere Städte Ostasiens darbieten.
Betreten wir den seit 1740 entstandenen sogenannten „chinesischen Kamp“, der fast nur von Söhnen des himmlischen Reiches bewohnt wird, so kann unserer Aufmerksamkeit der chinesische Charakter desselben nicht entgehen; die niedrigen Häuser mit ihren gekrümmten Dächern und ihren vielen Verschnörkelungen stehen in dicht geschlossenen Reihen, und die Straßen sind meist sehr eng. Diese für ein tropisches Klima unzweckmäßige Bau-Art sowie der Umstand, daß die Chinesen in ihrer Lebensweise nicht sehr reinlich sind, mögen die Ursache sein, daß dieser Stadttheil sehr ungesund und die Sterblichkeit in demselben eine ungewöhnlich große ist.
Die chinesische Bevölkerung von Batavia beläuft sich auf etwa 20,000 Seelen; im Ganzen leben übrigens auf Java ungefähr 200,000 Chinesen, was sich erklärt, wenn man erwägt, daß die chinesischen Einwanderungen nach Java schon mit dem zweiten Jahrhundert nach Chr. Geb. begonnen haben. Diese Zahl vergrößert sich aber trotz der häufigen Einwanderungen aus China nur wenig, da viele Söhne des himmlischen Reiches mit ihren auf Java erworbenen Reichthümern wieder in ihre Heimath zurückkehren und überdies keine Frauen aus China auswandern dürfen. Die Chinesen verheirathen sich daher entweder mit Malayinnen oder mit Mädchen von malayisch-chinesischer Abstammung.
Die Söhne des heiligen Reiches der Mitte spielen insofern eine wichtige Rolle im Geschäftsleben Batavias wie auch in anderen ostindischen Städten, als der Kleinhandel fast ganz in ihren Händen liegt; sie sind also die Vermittler zwischen den europäischen Großhändlern und der einheimischen Bevölkerung. Auf den Comptoiren der europäischen Kaufleute besorgen sie in der Regel die Cassengeschäfte, oder sie werden als Aufseher über die malayischen Arbeiter gesetzt. Sie sind sehr geschickte Handwerker, und es giebt wohl kein Handwerk, das sie nicht betreiben.
In dem chinesischen Viertel haben wir so recht Gelegenheit, den sprüchwörtlich gewordenen Bienenfleiß der Chinesen zu bewundern, und wir können es wohl begreifen, wie Manche unter ihnen, die ohne Mittel nach Java kamen, durch Fleiß, Ausdauer und Intelligenz sich ein bedeutendes Vermögen erwerben konnten. In Batavia und auf Java überhaupt leben einige Chinesen, die mehrfache Millionäre sind.
Die malayische Bevölkerung der alten Stadt beschäftigt sich theils mit Fischfang, theils mit Obst- und Eßwaarenhandel oder auch mit irgend einem Handwerk; viele Malayen finden auch Beschäftigung in den europäischen Handelshäusern. Wir werden übrigens noch Gelegenheit haben, dieselben als Diener in europäischen Familien oder als Kellner in Hotels kennen zu lernen. Wenden wir uns also in eine der Vorstädte und betreten wir gleich ein dort gelegenes Hôtel.
Die Hôtels sind sehr comfortabel eingerichtet und bieten alle Bequemlichkeiten, die ein Gast in einem tropischen Lande nur erwarten kann. Jeder Gast erhält ein Wohn-, und Schlafzimmer, das sich auf eine Veranda öffnet, und in jedem Hôtel sind eine Anzahl von Badezimmern stets zum Gebrauche bereit; man bezahlt für Alles den sehr mäßigen Preis von 5 Gulden (8,50 Mark) pro Tag.
[145] Die meistens weiß getünchten Landhäuser der Europäer liegen alle in schönen, mit den herrlichsten tropischen Bäumen gezierten Gärten und sind fast ausnahmslos wie nach der Schablone gebaut; sie haben wegen der häufigen Erdbeben in der Regel keine Etagen und dehnen sich statt in die Höhe in die Breite und Länge aus. Jede Villa hat eine von weißen Säulen getragene mit Marmortischen und bequemen Rohrstühlen besetzte Veranda oder Vordergallerie, auf welcher Besuche empfangen und Soireen abgehalten werden; von hier führen mehrere Flügelthüren in die großen und luftigen Zimmer. Mitten durch das Haus zieht sich ein saalähnlicher, ebenfalls möblirter Gang, die sogenannte Mittelgallerie, während sich auf der dem Garten zugewandten Seite des Hauses die sehr große Hintergallerie, der eigentliche Wohnraum der Familie befindet, wo auch gegessen wird.
Zu beiden Seiten des Hauses liegen noch mehrere Nebengebäude, welche der Hauptsache nach als Vorrathskammern, Küche und Badestube, sowie als Pferdestall, Wagenremise und Kutscherwohnung benutzt werden. An diese Nebengebäude stoßen die für die Familien der malayischen Diener bestimmten Bambushütten.
Die Malayen, welche von ihrer Herrschaft außer freier Wohnung monatlich 10 bis 15 Gulden Lohn erhalten, sind als Diener in europäischen Familien sehr brauchbar. Man bedient sich mit Vorliebe solcher malayischer Dienstboten, da europäische Diener mit einem so geringen Lohne nicht auskommen könnten und außerdem die Verwendung von Europäern als Diener das Ansehen der Weißen in den Augen der Malayen herabdrücken mürde.
Die Dienerschaft in einer europäischen Familie ist in der Regel sehr zahlreich; fast jedes Familienmitglied hat seinen eigenen Diener und auch für jede regelmäßig wiederkehrende Arbeit sind besondere Leute angestellt.
Das häusliche Leben der Europäer in Batavia ist im Allgemeinen etwas einförmig und spielt sich fast Tag für Tag in derselben Weise ab: man steht in der Regel früh um sechs Uhr auf, badet und nimmt dann den aus Kaffee oder Thee, kaltem Fleisch, Eiern und Käse bestehenden Imbiß ein. Um zwölf Uhr wird das stereotype Reisfrühstück servirt, bei welchem mit Wasserdampf gekochter Reis, der mit einer aus verschiedenen tropischen Kräutern und Wurzeln bereiteten gelben bitteren Sauce (Kari) übergossen wird, das Hauptgericht bildet; als Zuspeisen zum Reis ißt man mehrere auf verschiedene Weise zubereitete Fleischsorten, mit Tamarinden gebratene Hühner, gesalzene rothe Fische, spanischen Pfeffer und gebratene Bananen. Bei diesem Frühstück trinkt man in der Regel keine geistigen Getränke, da dieselben in Folge des Klimas, auch in geringer Menge genossen, eher erschlaffend als belebend wirken. Nur Sonntags wird beim Frühstück ein Glas Bier oder Rothwein mit Wasser getrunken.
Die Hauptmahlzeit, das eigentliche Mittagessen, wird in allen europäischen Familien Batavias um 7 Uhr Abends eingenommen und auch bei dieser Mahlzeit nur Rothwein getrunken. Außerhalb der Mahlzeiten trinkt man nur Eiswasser, dem die Herren gewöhnlich etwas Cognac zusetzen. Das hierzu verwendete Eis wird in Batavia selbst künstlich hergestellt und in einem besonderen Eishause aufbewahrt.
Alle Mahlzeiten werden auf der luftigen Hintergallerie eingenommen, doch ist auch hier die Hitze mitunter sehr drückend. In vielen Häusern hängt daher über dem Eßtische ein an der [146] Decke der Hintergallerie befestigter großer Fächer, Punka genannt, den ein malayischer Diener mittelst eines langen Seiles fortwährend hin- und herzieht. Die Punka besteht aus mehreren, etwa meterbreiten, in zahlreiche Querfalten zusammengelegten und an einer langen schmalen Holzleiste befestigten Streifen von Shirting oder weißer Leinwand, Durch das Hin- und Herbewegen dieses Fächers wird ein angenehmer kühler Luftzug erzeugt, und werden auch die lästigen Mücken auf diese Weise am leichtesten verscheucht.
Da es in Batavia außer den Clubs keine für Europäer bestimmten Vergnügungslocale oder Wirthshäuser giebt, so ist man dort mehr auf den Familienverkehr angewiesen; derselbe wird denn auch in einer Weise gepflegt, daß jeder Europäer gern die Gelegenheit ergreift, diese Annehmlichkeiten im Leben Batavias mitzugenießen. Ganz besonders leben die Deutschen in Batavia sehr gesellig, und einige Familien veranstalten regelmäßige Empfangsabende, an welchen alle im Hause eingeführten deutschen Landsleute als Gäste willkommen sind. In der Regel trifft man in diesen Gesellschaften auch Vertreter anderer Nationen, und gerade dieses Gemisch der verschiedensten Nationalitäten verleiht dem Verkehr in solchen Gesellschaften einen ganz besonderen Reiz, der durch musikalische Vorträge wesentlich erhöht zu werden pflegt.
Ueberhaupt wird die Musik in Batavia eifrig gepflegt, und man hat, wenn auch nur selten, Gelegenheit, in Concerten die Vorträge tüchtiger Künstler zu hören und den Aufführungen größerer Chor- und Orchesterwerke beizuwohnen. Diese letzteren werden von einer 40 Mann starken Militärkapelle, der sogenannten Stabsmusik, vorgetragen, die bisher unter der Leitung eines kürzlich verstorbenen deutschen Capellmeisters stand.
Alle Kunstgenüsse sind in Batavia freilich sehr theuer; für ein Abonnementconcert im Opernhause werden 12 Gulden (etwa 20 Mark) und für eine Opernvorstellung, welche indessen nur dann stattfinden kann, wenn eine reisende Operngesellschaft die Stadt berührt, 5 Gulden (8,50 Mark) Eintrittsgeld bezahlt. Diesen hohen Eintrittspreisen entspricht auch das Honorar der Künstler.
Neben der heiteren Kunst finden aber auch die ernsten Wissenschaften dort eine eifrige Pflege, und wir können es den Holländern zum Ruhme nachsagen, daß sie sich die Erforschung ihrer schönen Colonien sehr angelegen sein lassen. Batavia ist der Sitz mehrerer gelehrten Gesellschaften, die alle auf die Colonien bezüglichen Untersuchungen in besonderen Zeitschriften veröffentlichen. Es verdient ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß viele von den in holländischer Sprache geschriebenen Aufsätzen deutsche, in holländischen Diensten stehende Gelehrte zu Verfassern haben. Ich erinnere nur an die Namen Junghuhn, Reinwardt, Salomon Müller, Haßkarl, Friederich, Mayer und Andere, wie wir denn auch mit Stolz sagen können, daß viele Deutsche im holländisch-ostindischen Dienst in den verschiedensten Zweigen der Verwaltung und des Militärdienstes sehr geachtete Stellungen einnehmen, und es kühn aussprechen dürfen, daß die Deutschen sich den Holländern im indischen Archipel geradezu unentbehrlich gemacht haben.
Auch im Geschäftsleben in Batavia spielen die Deutschen eine hervorragende Rolle, und viele der dortigen großen Export- und Importgeschäfte sind in den Händen deutscher Kaufleute. Wer einmal, wenn er auch nicht Kaufmann ist, einen Einblick in den Geschäftsgang eines der großen deutschen Häuser Batavias gethan hat, muß den Leitern dieser Geschäfte seine Anerkennung zollen. Es ist zu hoffen, daß dank diesen Anstrengungen die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Niederländisch-Indien sich günstiger entwickeln und dem deutschen Namen in Batavia mehr und mehr zu Ehren gereichen werden.
Die vierte deutsche Verbandskochkunst-Ausstellung zu Leipzig.
Was dieses von dem energischen Unternehmer, Herrn Berthold, gegründete und erst vor Jahrefrist eröffnete Etablissement für Leipzig bedeutet, das hat diese Gelegenheit gelehrt: die Stadt besitzt in dem Krystallpalaste nicht nur einen für Vergnügungen sehr geeigneten Raum, sondern auch ein für Ausstellungen verschiedenster Art passendes Gebäude. Die gemüthlichen Bürger der Pleißestadt blicken mit einem gewissen Stolz auf diese neue Schöpfung, die, von dem Schützenhausgarten aus gesehen, in der That einen äußerst gefälligen Anblick bietet. (Vergl. das Initial!)
In den hellen Räumen des Krystallpalastes also fand, wie gesagt, vom 1. bis 5. Februar die vierte deutsche Verbandskochkunst-Ausstellung statt, welche ihre drei Vorgängerinnen in ungeahnter Weise übertraf und für die betreffenden Fachkreise von weittragender Bedeutung wurde. Darum zögern wir auch nicht, ihr an dieser Stelle einen ehrenden Nachruf zu widmen und einen Abstrahl ihres kurzdauernden Glanzes unseren Lesern in Bild und Wort vor Augen zu führen.
Ein Gang durch die mit Erzeugnissen der Kochkunst überfüllten Ausstellungsräume ist indessen nicht so leicht ausgeführt, [147] wie man denken möchte. Kaum haben wir die Eingangspforte im Rücken, und schon stehen wir mitten in einem Gewirre von allerlei Hummerpyramiden, Pasteten, Hlrschrücken, Marcipanbildsäulen, Tafelservicen und Kochgeschirren. Wir sind in ein wahres Labyrinth gerathen, und wenn wir bei dem Besuche der Ausstellung nicht allein sehen, sondern auch lernen wollen, so müssen wir einen Ariadnefaden zur Hand haben, der uns vor Verirrungen schützt. Glücklicher Weise ist ein zuverlässiger Führer durch diese Schlaraffia nicht schwer zu finden. Vergegenwärtigen wir uns nur den Stand und die Aufgaben der modernen Kochkunst, und wir werden das Bedeutende von dem Gewöhnlichen sicher unterscheiden können.
Das zahlreiche Heer der Männer, deren Stand sich durch die weißen Mützen und Schürzen kennzeichnet, und das viel zahlreichere der Jungfrauen und Frauen, die den Quirl und Löffel als Küchenscepter schwingen, hat ihr Wirken und Streben in den Dienst einer und derselben Aufgabe gestellt: Was die Natur an verzehrungswerthen Gegenständen über Länder und Meere verstreut hat, das wissen die Köche und Köchinnen in menschenwürdige Kost zu verwandeln; sie Alle, ohne Ausnahme und ohne Unterschied, sind aufmerksame Diener des menschlichen Magens. Die Art und Weise jedoch, in welcher dieser zahlreichste unter allen Berufsständen für seinen Herrn und Gebieter Sorge trägt, ist von sehr verschiedenem Werth, wie überhaupt alle Dienstleistungen, die auf dieser Erde verrichtet werden.
Es giebt zunächst Meister und Meisterinnen der Kochkunst, die den Mantel auf zwei Schultern tragen und also zweien Herren dienen. Indem sie für den Magen arbeiten, berücksichtigen sie in entgegenkommendster Weise alle Wünsche seines Collegen, des Gaumens, der bekanntlich ein sehr launenhafter und wetterwendischer Gesell ist. Daß der Magen und mit ihm die Gesundheit dabei sehr oft schlecht fährt, ist allgemein bekannt. Und trotzdem ist die Zahl der Köche, die in solcher Weise handeln, die bei weitem größte, umfaßt sie doch namentlich alle höher Chargirten dieses Standes. An diesem Uebel, welches so alt ist wie die menschliche Cultur, tragen freilich die Köche selbst am wenigsten Schuld; denn immer gab es und immer wird es reiche Leute geben, welche an der einfachen spartanischen Kost kein Wohlgefallen finden. Ja, die Verbreitung dieser Feinschmecker ist so groß und ihr Beispiel so ansteckend, daß, wenn man überhaupt von der Kochkunst spricht, die Menschen nicht an die Herstellung der gewöhnlichen Hausmannskost denken, sondern darunter die Kunst, lucullische Mahlzeiten zu bereiten, verstehen. Diese Auffassung entsprach auch durchaus der Wahrheit, so lange die Köche nur Fürstendiener waren oder im alleinigen Sold des Reichthums standen.
Als aber in der Neuzeit Voksküchen entstanden, da feierte der spartanische Koch in neuer Gestalt seine Wiedergeburt, er, der weniger auf den Geschmack achtet und es sich vor Allem angelegen sein läßt, gesunde und kräftige Kost zu schaffen. Diese Art der Kochkunst war in früheren Zeiten unbekannt; sie ist ein Kind des modernen Fortschritts, der rastlos und unermüdlich daran arbeitet, die sociale Lage der untersten Schichten des Volkes günstiger zu gestalten.
Außerdem hat der Koch in Ausnahmefällen noch besondere Pflichten zu erfüllen, indem er nicht für den gesunden, sondern für den kranken Menschen arbeitet. Er ist alsdann kein selbstständiger Meister, sondern nur ein Handlanger des Arztes. Im grauen Alterthum war sein Ansehen in dieser Beziehung viel größer, als heutzutage; denn der Koch hatte auch die Arzneigetränke, die der Arzt verordnete, zu bereiten und zu verabreichen.
Der aufmerksame Leser weiß jetzt, wo hinaus wir wollen. Gemäß den verschiedenartigen Aufgaben der Kochkunst, gedenken wir die Ausstellung von den Gesichtspunkten der Luxusküche, der Volksküche und des Tisches für Kranke zu betrachten, und wir werden dabei keine Gefahr laufen, Unvergleichbares mit einander vergleichen zu wollen. Leider müssen wir im Voraus bemerken, daß der Tisch für Kranke sehr schwach beschickt wurde.
Wie man sich leicht denken kann, war die Luxus- oder die feine Küche auf der Leipziger Ausstellung am stärksten vertreten. Ihre Erzeugnisse eignen sich ja am besten zum Schaugepränge, und außerdem war ja die Ausstellung von den deutschen Gastwirthen in’s Leben gerufen worden, die bei ihren Table d’hôtes bekanntlich keine Volksnahrung auftischen. Alle diese Prachtstücke entzücken ohne Zweifel das Auge des Beschauers und schmecken vortrefflich, aber wir können sie in diesem Artikel nur flüchtig berühren.
Es liegt uns zwar durchaus fern, das hohe Verdienst, welches sich die Aussteller der fertigen Gerichte um die Ausstellung selbst erworben haben, in irgend welcher Welse schmälern zu wollen, aber eine Würdigung dieses Verdienstes kann hier nicht unsere Aufgabe sein; denn wie sollten wir unseren Lesern einen Begriff von der Pracht einer Hummerpyramide beibringen, die meterhoch auf dem Tische in die Höhe ragt, oder von dem gewaltigen Eindruck eines gebratenen Hirschrückens, der auf einem fußhohen Fettsockel ruht? Solche Kunstwerke kann man nur dann bewundern, wenn man sie mit eigenen Augen sieht, und nur dann würdigen, wenn man sie ißt. Nur einen flüchtigen Blick werfen wir daher auf die zahlreichen speisebeladenen Tische, die in dem großen Theatersaale des Krystallpalastes aufgestellt waren.
Schier gewaltig war das Frühstück, welches der „Verein Leipziger Gastwirthe“ servirte; fein säuberlich geputzt und geordnet standen da mehrere Hirschrücken, ein Wildschweinskopf, zwei große Rheinlachse, Truthähne, Birkwild, Fasanen, Salate, Hummerpyramiden, Pasteten u. dergl. m. Sehr gefällig präsentirte sich auch die Ausstellung des „Vereins der Hamburger Gastwirthe“, als deren Verfertiger Ph. Kern zu nennen ist; ein großes Schiff stand, mit dem Hamburger Wappen geziert, in der Mitte des Tisches; es barg einen mächtigen Lachs, der in Aspic, einer Art säuerlichen Gelées, eingebettet war. Ueberhaupt waren die Kunstwerke aus Gelée in den mannigfachsten Formen vertreten ; wir sahen zahlreiche Bassins, in denen Aspic die Stelle des klaren Wassers vertrat und in welche verschiedene Fische in schwimmender Stellung eingesetzt waren. Der „Verein Kieler Gastwirthe“ stellte sogar ein Aquarium mit verschiedenen Fischen in Aspic aus. Aber dieses Kunstwerk entstand keineswegs an dem bernsteinreichen Ostseestrande, sondern in der „Seestadt“ Leipzig; denn als Verfertiger desselben wurde uns der Leipziger Stadtkoch Karl Hoffmann genannt. Diese Aquariumfische waren selbstverständlich reine Zwerge im Vergleiche zu dem 37 Pfund schweren Hechte, mit welchem der „Verein der Gastwirthe von Frankfurt an der Oder und Umgebung“ die Ausstellung beschickte. So wechselte hier Großes mit Kleinem in mannigfachster Weise ab.
Nicht weniger zahlreich war auch die Verwendung der geflügelten Welt zum Aufputz der verschiedensten Aufsätze. Fasanen, Schnepfen, ja selbst Pfauen schmückten allerlei Pasteten, oft zu humoristischen Gruppen vereint, wie dies in der Schlußvignette zu diesem Artikel angedeutet ist.
Mit diesen Erzeugnissen der Kochkunst wetteiferten um die Siegespalme Producte der verschiedenartigen Conditoreien, und die Leipziger freuten sich ungemein, die Zierde ihres berühmten Augustusplatzes, das Neue Theater mit dem Schwanenteich in täuschender Aehnlichkeit auf einem Ausstellungstische zu sehen. Die gelungene Nachbildung des Hauses selbst bestand aus feinen Waffeln; das Wasser des Schwanenteiches war durch Aspic angedeutet, und in diesem Wasser sah man selbstverständlich Fische aller Art. Die letzteren waren leider viel zu groß für ihre Umgebung, und ein echtes Leipziger Kind hatte daran unendlich viel auszusetzen; das junge Dämchen betheuerte, solche Walfische gebe es gar nicht in dem herrlichen Schwanenteich, und der Verfertiger sollte statt der „Riesenfische“ doch lieber „Sardellen“ in Aspic gesetzt haben. Trotz des nicht unbegründeten Einwandes machte dieses Werk der Herren Uhlemann und Scheidhauer, welches aus der Kunstwerkstätte des Leipziger Theater-Restaurants hervorgegangen war, ein nicht geringes Aufsehen und zog viele Neugierige herbei.
Auch die Bildhauerkunst wurde der Kochkunst-Ausstellung dienstbar gemacht, aber wo sah man je Bildsäulen in solcher Größe und aus solchem Material gehauen? Wer sich schon beklagt über die kurze Dauer von Marmor und Erz, der würde ohne Zweifel mit Verachtung an dem Kunstwerke vorbeischreiten, das wir hier zu nennen haben. Aber wir sind nicht so wählerisch in Sachen des Ruhmes und zollen gern Lob und Anerkennung der Huster’schen Marcipanfabrik in Hannover, welche uns Siegfried den Drachentödter, ein aus freier Hand gearbeitetes Kunstwerk, vorführte. Das Pferd war aus Tragant und Zucker, und süß war auch der Körper des Reiters und der Leib des Drachen; denn sie bestanden ebenso wie der Sockel aus reinem Marcipan.
Doch wir hätten diesen reichbesetzten Speisesaal beinahe verlassen, ohne zwei Specialitäten zu erwähnen. Wir hätten euch beinahe [148] ganz vergessen: dich, du ausgestopfter, vielgepriesener Haidschnuck aus der Lüneburger Haide, und euch, ihr Schweinsknochen, die ihr als Leipziger Specialität neben dem Allerlei und den Producten des Schlachtfestes euch den Blicken der Beschauer darbotet.
Mit übersättigten Augen, mit schier von allerlei pikanten Gerüchen betäubten Geruchsnerven, aber mit leerem laut knurrendem Magen kehren wir endlich allen diesen Leckerbissen den Rücken, und wehmütig gedenken wir der Fleischtöpfe, die da am häuslichen Herde so schlicht und einfach, aber zur Sättigung bereit dampfen. Was wir bisher sahen, das war die feine Küche im letzten Stadium ihrer Vollendung; jetzt kommen die Rohmaterialien, welche sie verarbeitet, an die Reihe.
Da begegnen uns wieder Fische, wieder Lachse, Hechte und Karpfen; nur sind sie noch unberührt von der Kochcultur und schwimmen lustig in dem großen Aquarium oder lagern, grün und geräuchert, auf den daneben stehenden Tischen. Welche Anziehungskraft übt das Leben auf die Menschen aus! Zu diesem Aquarium, welches der Leipziger Fischhändler J. A. G. Händel ausstellte, drängte sich Alt und Jung, und es ist wirklich zu bedauern, daß dieser Theil der Ausstellung von auswärtigen Firmen nicht reichlicher beschickt wurde.
Vielseitiger war schon die Wild- und Geflügel-Ausstellung, deren geschmackvolles Arrangement eine unserer Abbildungen wiedergiebt. In der einen Ecke der oberen Colonnade des Krystallpalastes wurde ein künstlicher Wald aufgebaut, in dem allerlei eßbares Gethier und auch manches Raubwild ausgestopft figurirte. Da machte der arme Lampe ein zierliches Männchen, und gierig schaute ihn der Ränkeschmied Reinecke an, als ob er zu seiner Frau Hermelyn sagte:
„Komm nur … und essen wir schnell! Denn fett ist der Hase,
Guten Geschmackes. Er ist wahrhaftig zum ersten Mal etwas
Nütze, der alberne Geck.“
Hier war auch Humor mit im Spiele; denn in diesem Walde stand eine Warnungstafel mit der höflichen Inschrift: „Man bittet, die Thiere nicht zu reizen!“
Unterhalb dieser Scenerie haben die Wildpret- und Geflügelhändler ihre Lager aufgeschlagen. Rechts war die Firma Heynemann u. Comp. in Leipzig vertreten, links die von Ernst Krieger ebendaselbst. Die letztere brachte als Curiosum Bärentatzen und Bärenschinken, sowie frisches Renthierfleisch. Das letztere wird schon seit langer Zeit in gefrorenem Zustande aus Rußland importirt und dient vielfach als Ersatz des Hirschfleisches. Neben diesen Curiositäten lenkte die Ausstellung der Firma Ed. Nathan in Hamburg die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Im Februar stellte sie uns junge, im Zimmer gezüchtete Hühner und Gänse vor, und unter dem feingespickten Geflügel hatte sie auch „Kücken in Trauer und Halbtrauer“ vorgeführt. Die schwarze Farbe war hier durch Trüffeln vertreten, mit denen die fetten Vögel kunstvoll gespickt wurden.
In derselben oberen Colonnade befand sich auch die Ausstellung der Firma Taen Arr-Hee aus Nanking, vertreten durch Reichert und Richter in Leipzig. Originalchinesen verkauften hier alle Sorten des chinesischen Thees, und die leutseligen Mongolen trugen viel zur Belebung des Ausstellungsbildes bei; sie gaben ihm einen internationalen Anstrich.
Nicht weit von dem Tische der Chinesen erblickten wir auch unser täglich Brod, würdig vertreten durch ein vierzig Kilogramm wiegendes Laib aus der Brodfabrik Voigtländer und Kittler in Leipzig. Aber dieses tägliche Brod mahnt uns daran, daß wir noch andere Pflichten zu erfüllen haben. So nehmen wir denn Abschied von den verschiedenartigen hier aufgestapelten Rohmaterialien und wandern zurück in die Räume des Zwischensaales, in welchem wir über ernste Fragen unterrichtet werden.
Hier finden wir die Bestrebungen vertreten, welche darauf hinausgehen, dem Volke gesunde und billige Nahrung zu bieten. Leider war dieses Gebiet der Kochkunst, auf welchem in der Neuzeit so glänzende Fortschritte gemacht worden sind, so stiefmütterlich beschickt wvrden, daß die hier ausgestellten Gegenstände selbst nur wenig Belehrung boten. Umsomehr sind also die Verdienste Derjenigen anzuerkennen, welche hier erschienen und Mühe und Kosten nicht scheuten, um für die gute Sache zu werben.
Zwei Ausstellungen, einzig in ihrer Art, waren die des „Vereins der Berliner Volksküchen“ und die der Kochschule des „Berliner Hausfrauenvereins“, beide durch deren Vorsitzende, Frau Lina Morgenstern, vertreten. Diese war mit einer Vorstandsdame der Volksküchen, mit einer Schülerin der Kochschule, sowie der Küchenmeisterin der letzteren und einer Wirthschafterin und Köchin der Voksküchen nach Leipzig gekommen, um Propaganda für beide so glücklich ausgeführte Ideen zu machen, was wohl auch gelungen ist, da beide Abtheilungen eine so ununterbrochene Anziehungskraft auf das schaulustige Publicum ausübten.
Die Querwand des Zwischensaals im Krystallpalast nahm die Berliner Voksküche ein. Auf der mittleren Tafel standen die Portionsnäpfe,
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wie in Berlin üblich; sie enthielten 4/5 Liter Gemüse mit einem Stück Fleisch für 15 Pfennig, oder 1 Liter Gemüse mit drei Stück Fleisch für 25 Pfennig, und ein Anschlag an der Wand bekundete, daß außer diesen das ganze Jahr hindurch gereichten Mittagsspeisen im Winter des Abends 4/5 Liter Suppe à 6 Pfennig oder 1/2 Liter Thee mit Zucker, Milch und Brödchen für 6 Pfennig verabreicht würden. Auch die Brödchen à 2 Pfennig waren täglich frisch aus Berlin geschickt worden, und erregten deren Wohlgeschmack und Größe ebenso das stets wiederholte Erstaunen, wie die vortrefflichen Speisen: Schmorkohl, Brühkartoffeln, Erbsen mit Sauerkohl, Linsen und Bohnen in Fleischbrühe, Milchreis, Bouillonreis, Reis und Pflaumen. Alle diese Gerichte wurden in einer Küche des Krystallpalastes vorbereitet und auf fünf Gasapparaten, die links eine Tafel einnahmen, fertig gestellt und warm gehalten. Zu gleichem Zwecke diente ein Grude-Ofen.
Das warme Essen wurde von Tausenden geprobt und erfreute sich größter Anerkennung; die Größe der Portionen schien bei der Billigkeit des Preises voraussetzen zu lassen, daß der Verein materielle Unterstützung erhalte, doch besagte das auf dem Tische aufgelegte Buch „Die Volksküchen, culturhistorisch-statistische Darstellung“, daß die Berliner Volksküche auf Selbsterhaltung basire und diese auch ohne alle Beiträge glänzend erzielt habe. Auf den Tischen standen auch die Wasserkrüge, Essigflaschen, Salz- und Pfeffernäpfe und andere in den Berliner Anstalten zur Benutzung kommende Geräthe, wie die Ruder, das Essen zu rühren, die Maßkellen etc. An den Wänden sah man die Sentenzsprüche zur Ermuthigung der Arbeiter und anderer Speisenden, ferner die Verhaltungsmaßregeln, das Verzeichniß der vierzehn Volksküchen in Berlin und das Menu. Die zweiundfünfzig Kochrecepte der Berliner Volksküchen, welche hier à 25 Pfennig verkauft wurden, waren schnell vergriffen.
Vertrat die Volksküche die gesunde, schmackhafte und billigste Massenspeisung, so sah man rechts auf einer Tafel kleine culinarische Meisterwerke als Schülerinnen-Arbeiten der Kochschule des Berliner Hausfrauenvereins, deren praktische Lehrmeisterin bemüht war, dem Publicum durch Vertheilen der Speisen zu zeigen, daß dieselben keine Schaugerichte waren, sondern eine strenge Prüfung auch des feinsten Geschmacks vertragen können.
An der Wand hingen Karten, welche den Geld- und Nährwerth der Speisen und die chemischen Umwandlungen derselben durch das Kochen andeuteten. Außerdem zeigte ein Torso, dem die vordere Oberhülle abgenommen war, die Organe der Verdauung und der Athmung. Endlich lagen auf einem Tische die von Frau Lina Morgenstern verfaßten Lehrbücher der Kochschule: das „Universalkochbuch für Gesunde und Kranke“, „Die menschliche Ernährung und culturhistorische Entwickelung der Kochkunst“ und „Praktische Studien über Hauswirthschaft“.
Dem Vernehmen nach ist diese Kochschule die einzige in Deutschland, welche systematisch außer dem praktischen Unterricht im Kochen, Backen und Braten, – theoretische Lehrstunden giebt in der Lehre vom menschlichen Organismus und seiner Ernährung, in der Nahrungsmittellehre, der Theorie der Kochkunst und Haushaltungskunde. Die Anstalt besteht seit fünf Jahren und bildete über 680 Schülerinnen aus. Am Ende jedes Quartals findet eine öffentliche Prüfung statt. Ausbildung erhalten in derselben Privat- und Hôtelköchinnen, Wirthschafterinnen und Lehrerinnen der Kochkunst, sowie solche Frauen und Mädchen, welche nur dem häuslichen Beruf dienen wollen.
Der Leser ersieht aus dieser Schilderung zur Genüge, daß die beiden Institute auf sehr festen Füßen stehen, und daß ihre nutzbringende Thätigkeit unsere vollste Anerkennung verdient.
Neben der Berliner Volksküche befand sich die Ausstellung der Gesellschaft „Carne pura“, welche die weniger bemittelten Volksclassen mit billigen aus Südamerika stammenden Fleischpräparaten versorgen will. Wir werden bei einer anderen Gelegenheit das neue und wichtige Unternehmen unsern Lesern ausführlich schildern.
Es ist sehr zu bedauern, daß die Volksernährung auf der Leipziger Ausstellung so schwach vertreten war, und der Wunsch ist mehr als berechtigt, daß man in Zukunft auf dieselbe mehr Nachdruck legen möge. Die nächste Gelegenheit hierzu wird sich auf der in diesem Jahre stattfindenden hygienischen Ausstellung in Berlin bieten, und alle Interessenten sollten die Beschickung derselben mit voller Kraft anstreben. Dasselbe gilt von der Küche für Kranke, die, wie gesagt, in Leipzig fast gar nicht vertreten war.
Die unteren Räume des Krystallpalastes waren schließlich mit Kochmaschinen und Geräten förmlich überfüllt, und namentlich die Universalküchenmaschinen fesselten die Aufmerksamkeit des Publicums. W. Hilmer aus Berlin brachte sehr praktische Schälmesser, die von Damen und Herren vielfach gekauft wurden. Auch Kochtöpfe und Mikroskope, Eis-, und Geldschränke, Wiege- und Hackstöcke, Fleisch- und Kaffeemühlen, kurz Alles, was mit der Küche irgendwie zusammenhängt, war hier in buntem Wirrwar zu schauen. Ja selbst eine „Schwester der Nähmaschine“ hat sich in diesen Saal begeben und stellte sich uns bei näherer Betrachtung als eine höchst praktische Waschmaschine vor. Eine genaue Beschreibung aller dieser Maschinen erfordert jedoch so viel Raum, daß wir hierauf in diesem Artikel verzichten und die Leserinnen, die sich für Küchenneuheiten interessieren, auf die nächsten „Zwanglosen Blätter“, die neue Beilage zur „Gartenlaube“, verweisen müssen. In diesen Räumen fanden wir auch die verschiedenartigsten Kochherde für große und keine Wirthschaften, unter denen namentlich die Ausstellungsobjekte von Paul Kretschmann in Leipzig und Gebrüder Demmer in Eisenach hervorgehoben zu werden verdienen.
Daß auch Bacchus und Gambrinus auf einer Kochkunst-Ausstellung nicht fehlen durften, ist wohl selbstverständlich. Das stärkere Geschlecht fand an diesen Ausstellungsstücken seine besondere Freude, und namentlich von dem Freibier wurde ein ausgiebiger Gebrauch gemacht. Auch „Schnäpschen“ wurden tapfer probirt, und noch am letzten Tage der Ausstellung trug ein verspäteter Ausstellungsbesucher, ein ehrwürdiges bemoostes Haupt, eine Flasche Aepfelwein-Champagner zu 1,75 Mark von der bekannten Leipziger Firma C. W. Kämpf als Siegestrophäe langsamen Schrittes davon.
Nun aber bedeckte in Folge des durch die Besucher aufgewirbelten Staubes eine dicke schwarze Kruste alle die Küchenherrlichkeiten; die blumengezierten Blöcke des Kunsteises, welche Adolf Schütte-Felsche aus Leipzig, die Firma des bekannten Café Français, ausgestellt hatte, waren auf dem vollständigen Einschmelzungspunkte angelangt, und es war die höchste Zeit, die Ausstellung zu schließen.
Die Idee, solche Schaustellungen zu veranstalten, erwies sich in Leipzig wiederum zeitgemäß und lebenskräftig, und dem „Deutschen Gastwirthsverbande“ gebührt der Dank und Ruhm, sie angeregt zu haben. Das Gelingen und die glückliche Durchführung des Unternehmens verdanken wir aber der opferfreudigen und umsichtigen Thätigkeit des Leipziger Central-Comités; es darf mit Stolz auf sein Werk zurückblicken; denn es ist ihm gelungen, mehr als 50,000 Personen in vier Tagen die Herrlichkeiten der deutschen Küche vor Augen zu führen.
Blätter und Blüthen.
Mein alter Cantor. (Abbildung S. 141.) Der Anblick des alten Gesanglehrers, den unsere Illustration uns vorstellt, ruft mir eine liebe Erinnerung und damit das Bild eines Mannes in’s Gedächtniß zurück, die beide wohl verdienen der Vergessenheit entrissen zu werden. Er war Lehrer in einem großen Kirchdorfe, und gerade in der Stellung, wie unsere Abbildung sie zeigt, in der Singstunde, beobachtete ich ihn manchmal. Auch er half mit seiner Geige den Singenden gern pizzicando (die Saiten mit den Fingern schnippend) nach; wenn aber bei falschen Tönen dies und die Stimme nicht durchdrang, dann strich er mit dem Bogen, wie auch unser Gesanglehrer thun wird, wenn er dem d-Ton seiner Schüler, der ihm mißrathen erscheint, kräftiger nachhelfen will.
Ich lernte meinen alten Freund in seinem Dorfe zu Anfang der fünfziger Jahre kennen, wo er schon „der alte Herr Cantor“ hieß. Bekanntlich ist dies die höchste Ehrenstaffel, die ein Dorfschullehrer erreichen kann. Auf der untersten Staffel hieß er ehedem „Präceptor“: er versah als solcher die Lehrerstelle in einem kleinen oder armen Dorfe und genoß den Wandeltisch, das heißt er aß zu Mittag bei den Bauern Tag um Tag oder Woche um Woche die Reihe herum. Vom „Präceptor“ avancirte er zum „Lehrer“, früher „Schulmeister“, wenn er eine auf dem Lande immer mit dem Organisten- und Cantordienst verbundene Schulstelle erhielt, die auch eine Frau mit ernährte; dann heirathete er auch sogleich. Wenn er nun diese Aemter lange genug mit Auszeichnung versehen, meistens aber erst, wenn er sein fünfzigjähriges Lehrerjubiläum und damit ein Alter erreicht hatte, daß er kaum noch singen konnte, erhielt er den Titel „Cantor“. Letzteres ist wohl noch jetzt üblich.
Auch eine Art Classeneintheilung bestand in der Dorfschule, und zwar in der Weise, daß die einzelnen Classen nach dem jedesmaligen Hauptlesegegenstande bezeichnet wurden. Ich kenne sie genau, da ich selbst meine ersten Schülerjahre in einer noch dörflich eingerichteten Stadtschule zubrachte. Alle Kinder, Knaben und Mädchen in einem Raume, kamen erst in’s ABC-Buch, um das Lesen zu lernen, natürlich nach der Buchstabirmethode. Bankweise erscholl das a, b – ab, e, b – eb, i, b – ib, o, b – ob, u, b – ub, b, a – ba, b, e – be etc. Es war ein hartes Stück Arbeit; ich konnte im achten Jahre noch nicht lesen. – Aus dem ABC-Buch kam man in den Katechismus, aus diesem in die Psalmen, dann in’s neue, zuletzt in’s alte Testament, und dann – aus der Schule.
Mein alter Cantor hatte bereits die Lautirmethode eingeführt, und zwar nicht ohne schweren Kampf mit seinen Bauern, die daheim bei dem Ueben ihrer Kinder im Lesen die Hände über die Köpfe zusammenschlugen ob dem neumodischen Unsinn. Als sie aber doch gewahr wurden, in wie kurzer Zeit ihre Kinder besser lesen konnten, als sie, versöhnten sie sich mit dieser Neuerung ihres Herrn Cantors.
Einstmals traf ich denselben in einer an ihm ganz ungewohnten trüben Stimmung. Seine Schule machte ihm Sorgen, mehr um der Eltern als um der Kinder willen.
„In unserm Dorf,“ sagte er, „ist’s gut leben, aber für mich würde es der Himmel auf der Welt sein, wenn ich Eines erreichen könnte. Unsere Gemeinde ist wohlhabend, und unsere Bauern haben ihre Freude an der Lustbarkeit, wie sie sich ausdrücken. Dabei sind sie nicht etwa leichtsinnig; sie sind fleißig und tüchtige Haushalter, und weil sie ihr Zeug zusammenhalten, haben sie’s auch übrig, wenn sie einmal hinausschlagen wollen. Auch gutmüthig sind sie. Sehen Sie dorthin, da haben Sie gleich ein Beispiel!“ (Ein baumstarker Bauer tänzelte trällernd mit einem etwa einjährigen Kinde, das er zärtlich in den Armen hielt, die Straße hin.) „So sind sie Alle. So lange die Kinder klein und unbehülflich und noch wie ein Spielzeug für sie sind, möchten sie sie vor Liebe fressen. Aber kaum haben sie Mädel oder Buben – das ist einerlei – in die Schule geführt, so ist das wie mit einem Schnitt vorbei. Gerade als ob sie jetzt dem Schulmeister allein angehörten, wenden sie sich von ihnen ab, behandeln sie gleichgültig. Es ist kaum glaublich, so ein Wechsel. Die Mütter sind freilich anders, aber sie sind geplagt von früh bis Nacht, im Stall, in der Küche, auf dem Felde; sie können’s nicht ermachen. Und so kommen die Kinder oft ungewaschen und ungekämmt und so schmutzig in die Schule, wie sie sich auf der Gasse herumgebalgt haben. Soll ich die Kinder strafen für das, was sie nicht allein verschulden? Darum sage ich Ihnen, Herr Doctor, was ich meine: ich verlange mehr Achtung der Eltern vor den Kindern. Sie müssen allezeit eine Gottesgabe in ihnen sehen – sonst wird’s nicht besser in meiner Schule. Das ist’s, und nun denken Sie darüber nach, ob Sie mir helfen können!“
Mein Nachdenken allein hätte dem Mann schwerlich geholfen, aber das Glück war uns diesmal hold und that es. Kommt da, kurze Zeit nach jener Unterredung, der Buchhändler Conrad Glaser von Schleusingen, allen Liedertäflern Deutschlands als Verleger zahlreicher Männergesangsstücke bekannt, über den Berg herüber zu mir nach Hildburghausen, wo ich damals lebte, und macht mir den Antrag, für den Componisten Julius Otto in Dresden etwas Aehnliches, wie dessen „Gesellenfahrten“ und „Burschenfahrten“ – Declamation mit Gesang – für Kinderchöre zu liefern. Da stand im Geiste der alte Cantor vor mir – ich sagte zu und schrieb als erstes unserer „Kinderfeste“ das „Schulfest“. Text, Composition und Herstellung wurden in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit fertig – und das erste Exemplar von Text und Partitur adressirte ich, nur mit der Frage im Briefe: „Ist das vielleicht eine Hülfe?“, an meinen alten Cantor. – Ebenso lakonisch lautete seine umgehende Antwort: „Ja! Aber nun kommen Sie bald! Ich brauche mehr.“
Nach vierzehn Tagen kam ich. Ich hatte ihm die Zeit meiner Ankunft geschrieben, und er war mir ein großes Stück Weges entgegen gegangen, „um mir sein Herz auszuschütten“. Ich übergehe das freudvolle Uebermaß seines Lobes und Dankes: Beides verstand sich ja von selbst in diesem absonderlichen Falle. „Aber,“ fuhr er fort, „ich brauche noch mehr. Ich muß der Wirkung dieser ersten Aufführung sicher sein. Um die Weiber sorg’ ich mich nicht; die haben alle nahe an’s Wasser gebaut und werden bald genug mit dem Schürzenzipfel an die Augen fahren.“ (Der Schürzenzipfel vertritt bei den Frauen auf dem Lande oft die Stelle des Taschentuches.) „Aber unter den Mannsbildern habe ich harte Klötze, die schwer zu erweichen sind. Und da habe ich einen Plan: Sie dichten mir zwölf kurze Versle, die lasse ich vor der Aufführung von zwölf als Engel verkleideten Kindern declamiren, und dazu nehme ich gerade die Kinder der gröbsten Klötze. Reden Sie mir nichts drein! Sagen Sie ‚Ja!‘“
Ich schüttelte zwar den Kopf, aber ich sagte „Ja!“ Am Nachmittag (ich kam immer nur an Sonntagen in das Dorf) setzten wir uns zusammen unter die schöne Eiche im Pfarrgarten, um die „Versle“ herzustellen, und jetzt ging mir bald ein helleres Licht über seinen Plan auf. Er legte die Liste der zwölf Kinder vor sich hin und führte nun bei jedem Kinde ein Ereigniß in der Familie an, das in den Vers desselben eingewebt werden mußte. Dem Einen war ein Knabe, dem Andern ein Mädchen geboren; Der hatte einen Sohn verlobt, Jener eine Tochter glücklich verheirathet; Einem war der Vater, einem Andern ein Kind gestorben; Einer hatte eine Erbschaft gemacht und dadurch Gottes Segen erfahren, und so weiter. Wie ich ihm nun die Verschen, Blatt um Blatt mit Bleistift geschrieben, hinschob, leuchteten seine alten Augen immer prächtiger, und als das Dutzend voll war, umarmte er mich und eilte mit seinem Schatze fort, kehrte aber zurück, um mich himmelhoch zu bitten, ja gegen Jedermann von der Sache zu schweigen, auch im Pfarrhause, wo er selbst das Geheimniß verrathen werde; denn die Pfarrfamilie müsse ihm doch beim Einüben der Declamationen helfen.
Die Einübung eines solchen Feststückes, wenn es auch nur zehn Gesänge und dreizehn Declamationen umfaßt, nimmt bei Dorfschulkindern viel Zeit und noch mehr Eifer und Geduld in Anspruch, und wenn der kühne Unternehmer auch im Pfarrhause die trefflichste Unterstützung für die Declamationen gefunden hatte, so mußten doch vor Allem die Chöre und Soli beweisen, daß er den Cantortitel nicht blos als Ehre, sondern mit Recht trug. Der Tag der Aufführung konnte endlich, und zwar für die Zeit, wo die Ernte eingebracht war, fest bestimmt werden, und so fand ich mich denn pünktlich dazu ein.
Das ganze Dorf war in freudiger Erregung; nur mein alter Cantor war bedenklich: die groben Klötze hatten im Wirthshaus über die neue Neumodischkeit mit einer solchen Kindersingerei gespottet, und Niemand hatte einen Widerspruch dagegen gewagt. Indeß strömten die Erwachsenen von allen Seiten dem Wirthshaus zu, auch „Freundschaft“ von den Nachbardörfern dabei, und bald war der Saal des Wirthshauses gefüllt, und die Kinder harrten im Schulhause, um in festlichem Zuge an ihren Platz geführt zu werden.
Da fuhr plötzlich ein Schrecken durch die Versammlung und über die Gasse bis in die Schule. Der große Flügel aus dem Pfarrhause konnte auf der schmalen Treppe nicht in den Saal gebracht werden, und ohne dieses einzige Instrument im Dorf war die Aufführung unmöglich. Der alte Cantor stand wie vernichtet da, wahrend die schadenfrohen Klötze laut auflachten und sich die groben Fäuste rieben. Aber die energische Frau Wirthin hatte drei Kinder zum Singen und eins zum Declamiren dabei: das Fest mußte gefeiert werden. Rasch jagte sie ein paar Maurer und Zimmerleute aus der Gesellschaft heim, ihr Handwerkszeug zu holen, und bald sahen wir diese auf der Gartenseite des Saals die Wand des Hauses durchbrechen, bis das Loch groß genug war, um den Pfarrflügel auf Leitern glücklich in den Saal hinauf zu bringen. Ein Bretterverschlag deckte die Oeffnung; es war Alles gut; die Kinder standen an ihrem Platz, in vier Gruppen, die kleinen Mädchen und die kleinen Knaben rechts, die großen Mädchen und die großen Knaben links, der Flügel in der Mitte – und nun ein Schlag des Cantors auf die Tasten – und lautlose Stille.
Während der Cantor die Melodie von „Das ist der Tag des Herrn“ spielte, öffnete sich zur Linken eine Thür, und herein zogen langsam und feierlich die zwölf Kinder in weißen langen Gewändern (das heimliche Werk der verschwiegenen stolzen Mütter) und mit grünen Kränzen auf den Häuptern. Ein Ah! des höchsten Erstaunens durchhallte den Raum. Und wie nun Vers um Vers, jeder vom andern durch einen sanft angeschlagenen Accord getrennt, hell und frisch von den Kinderlippen floß, waren freilich alle Schürzenzipfel erhoben, aber auch „die Klötze“ saßen verändert da. Es war ein merkwürdiger Anblick. In den derben Gesichtern regte sich kein anderer Zug, als der des Trotzes, der die Rührung niederdrücken will, aber die unruhigen Hände, mit denen sie allerlei unnöthige Bewegungen machten, verriethen die innere Erregung.
Die Aufführung ging nun ihren Gang in ihrem Wechsel von Gesang und Declamation vorwärts, und zwar in jeder Hinsicht musterhaft. In der Declamation war keine Spur von dem gewohnten Herleiern der Gesangbuchsverse: das Pfarrhaus hatte hierin ebenso gut geschult, wie der Cantor im Gesang. Die allgemeine Rührung erreichte den höchsten Grad, als die Kinder nach einem Wechselgesang, der das Kinderglück im Elternhause preist, nach der ergreifenden Melodie „Christe, du Lamm Gottes“ ein Gebet für die armen Waisen sangen. Da weinten nicht blos alle Weiber, auch Männer fuhren sich mit der äußeren Handfläche über die Augen. Und als nun endlich der Schlußchoral gesungen war und der Cantor sich vom Flügel erhob, – da gab es eine Scene ohne Gleichen. Die Eltern eilten auf ihre Kinder zu und die Kinder flogen den Eltern entgegen, als gält’ es ein Wiedersehen nach langer Trennung. Und in der That war es ein solches bei vielen Vätern, die jetzt erst wieder die Gottesgabe in ihren größeren Kindern erkannten. Sie hoben sie auf die Arme, wie einst die keinen, setzten sie auf ihre Kniee und erneuten all die Liebkosungen, [152] die ihnen so fremd geworden waren. Und die Mütter, die waren vor Stolz auf ihre Lieblinge ganz aus dem Häuschen. Eine, deren kleiner Junge im Chor mitgesungen, behauptete steif und fest: „Ich hab’ jedes Tönle von meinem Hanjörgle gehört!“ Und alle stimmten ihr gern bei; es war ja ein Herz und eine Freude im Saal.
Die Eltern belohnten nun die Kinder mit aller möglichen und landüblichen „Lustbarkeit“: Bratwürste und Bier, Spiel und Tanz, alles war ihnen geboten. Auch der Cantor und ich ernteten nachträglich noch Lob und Dank in Fülle. Etwas Unerhörtes nannte es der Cantor, daß die Bauern, die für Bücher freiwillig selten einen Pfennig ausgaben, jetzt auch Textbücher des „Schulfestes“ kauften. Er sagte mir noch beim Scheiden:
„Gesiegt haben wir heute, ob’s aber ein wahrer Triumph ist, wird sich erst morgen zeigen.“
Diesmal kam ich schon nach acht Tagen wieder in’s Dorf. Ich mußte wissen, wie es mit dem „wahren Triumph“ stehe. Schon im Pfarrhaus erfuhr ich, daß der Cantor im Glück völlig schwimme, aber er wollte mir das selber sagen. So ging ich denn hinüber in’s Schulhaus und stieg in seine Wohnung hinauf. Freudestrahlend empfing mich der Alte, führte mich jedoch gleich die Treppe wieder herunter und in die Schulstube.
„Nur hier,“ begann er gleich, in dem Raume, wo ich jetzt so glücklich bin, kann ich Ihnen sagen, Herr Doctor: der Triumph ist ein wahrer und vollständiger geworden. Gleich am anderen Morgen kamen alle Kinder, vom kleinsten bis zum größten, sauber und reinlich, Gesichter und Hände wie aus dem Ei geschält, kein Kleidungsstück zerrissen oder beschmutzt, und die Kinder fühlten das neue Glück und sind seitdem die Artigkeit und Aufmerksamkeit selbst. Ich bin der glücklichste Schulmeister auf der ganzen Welt, weil wir’s so weit gebracht haben, daß die Eltern in ihren Kindern wieder eine Gottesgabe achten, kurz, daß sie Achtung vor ihren Kindern haben.“
Hier endet dieses Erlebniß von meinem alten Cantor. Das geschah vor etwa dreißig Jahren. Seit wohl zwanzig Jahren ist er todt, aber sein Andenken lebt noch in dem Dorfe, ebenso wie das des guten Pfarrherrn und seiner edlen Gattin, die nun auch im Grabe ruhen. Die Kinder, die damals sangen, sind längst selbst Väter und Mütter, ja vielleicht schon Großeltern geworden. Ob sie wohl jenes Fest ihrer Kindheit vergessen konnten? Fr. Hofmann.
Verdienstvolle Anerkennung. Das rücksichtslose und gewaltige Vorwärtsstürmen im amerikanischen Leben ist fast sprüchwörtlich geworden. In dem Eifer, es schnell „zu etwas zu bringen“, werden alle Kräfte angestrengt, mag auch vieles dabei zu Grunde gehen, was der Erhaltung werth wäre. Gefühlsschwärmerei und Sentimentalität liegen dem Durchschnitts-Amerikaner vollkommen fern. Anders ist dies mit den Deutschen, die sich jenseits des Oceans in der großen transatlantischen Republik niedergelassen haben; auch sie lassen es an Fleiß und Arbeitsamkeit selten fehlen, aber zugleich sind sie doch auch vielfach darauf bedacht, sich das Leben angenehm zu machen und zu schonen, was der Schonung werth ist. So dachte und denkt zum Beispiel auch eine Anzahl deutscher Ansiedler in Wyoming-County im Staate Pennsylvanien.
Dort, wo ein Flußarm des Susquehanna, der sogenannte North Branch, sich durch die Bergabhänge und das Plateau des Alleghany-Gebirges hindurchwindet, unweit des Ortes Bella Sylva, existirt eine Anzahl blühender deutscher Niederlassungen. Die Gegend ist reich an Flüssen und Bächen, und laubreiche, dichte Waldungen fehlen dort nicht. So liegt es denn nahe, daß unsere Landsleute in Wyoming-County, wenn die gewöhnlichen Tagesarbeiten es erlauben, sich gern nach der Sitte unserer Altvordern dem Vergnügen der Jagd und der Fischerei hingeben. Sie thun dies aber nicht, wie es sonst die Regel in Amerika ist, ohne alle Rücksichtnahme auf den Bestand des Wildes in den Wäldern und der Fische in den Seen, Flüssen und Bächen, sondern sie halten eine gewisse Schonzeit streng inne. Es hat sich nämlich vor nicht langer Zeit in dem genannten County eine von der Gesetzgebung des Staates Pennsylvanien anerkannte Jagdgesellschaft unter dem Namen „Loyal Sock Society“ gebildet, deren Aufgabe es ist, das Wild durch Beobachtung einer längeren Schonzeit zu schützen.
Der Verein besteht aus nahezu hundert Mitgliedern und hat seinen Hauptsitz in Bella Sylva; es gehören zu ihm Gelehrte, Kaufleute, Handwerker und Farmer. Die Dauer der regulären Jagdzeit ist eine verhältnißmäßig sehr kurze; sie währt nur vom 1. October bis zum 31. December jeden Jahres, und sogenannte Parforcejagden sind ganz verboten. Das Wild in Wyoming-County besteht, abgesehen vom Kleinwild, vorzugsweise aus Hirschen, doch finden sich auch nicht selten Bären und eine kleinere Art von Panthern. Der Fischfang ist etwas länger freigegeben, als die Jagd; er dauert vom 1. April bis 1. August. Unter den dortigen Fischen zeichnen sich namentlich die Forellen aus, die man mit besonderer Sorgsamkeit pflegt.
Als der in Rede stehende Verein sich unter der Autorität des Staates Pennsylvanien constituirt hatte, war er längere Zeit darüber in Zweifel, welches Symbol er sich für sein Vereinssiegel wählen sollte. Als aber die „Gartenlaube“ in Nr. 39, Jahrgang 1882, ein schönes, ergreifendes Jagdbild (eine Hirschkuh in der Schlinge mit zwei Hirschkälbern) von Guido Hammer brachte, da wurde dasselbe mit Freuden zu diesem Zwecke benutzt. Der genannte Thier- und Landschaftsmaler war durch seine trefflichen, in der „Gartenlaube“ von Zeit zu Zeit veröffentlichten „Wild-, Wald- und Waidmannsbilder“ schon längst unseren Landsleuten jenseits des Oceans ein alter, lieber Bekannter geworden, und so geschah es, daß Ende des letztvergangenen Jahres der Jagd- und Fischfangverein in Wyoming-County Herrn Guido Hammer in Dresden zu seinem „Ehrenmitgliede“ erwählte und das betreffende Diplom ihm durch die Redaction der „Gartenlaube“ zustellen ließ.
So wird das hier und da locker gewordene Band zwischen den ausgewanderten und den in der alten Heimath zurückgebliebenen Söhnen unseres deutschen Vaterlandes oft in sinniger Weise wieder angeknüpft. R. D.
Die Garibaldi-Feier in Asti. Am 18. März dieses Jahres wird zu Asti in Piemont eine solenne Feier zu Ehren Garibaldis stattfinden, nämlich die Enthüllung einer Marmortafel mit der Inschrift: „Hier forderte Garibaldi am 15. März 1867 die Italiener zur Befreiung Italiens auf und prophezeite ihnen den Einzug in Rom.“
Die Marmortafel wird über dem Balcon des Albergo Reale auf dem Alfieri-Platz angebracht werden, von welchem Balcon aus Garibaldi zu den Astigianern gesprochen.
Zu dieser Feier kommen nun aus ganz Italien die Verehrer Garibaldi’s, seine alten Kampfgenossen, Staatsmänner, Poeten etc. zusammen. Unter den sogenannten Portici Pogliani, einer gedeckten Straße in Asti, wird ein öffentliches Banket zu tausend Gedecken aufgeschlagen und von den Garibaldianern selbst, die in den bekannten rothen Hemden erscheinen werden, servirt. Vom Balcon des Albergo aus aber werden alle zu der Feier eingelaufenen Telegramme und Adressen verlesen werden.
Diese Mittheilung über das eigenartige Fest dürfte auch in Deutschland von Interesse sein.
Kleiner Briefkasten.
Emma. Sie haben Recht! Der Wellensittich ist der kleinste unter den sprechenden Papageien. Daraus dürfen Sie aber durchaus nicht folgern wollen, daß auch jeder Wellensittich sprechen lernt. Es werden in Deutschland Tausende von Wellensittichen gehalten, aber man hat nur von dreien oder vieren berichtet, die wirklich einige Worte nachzusagen verstanden. Wellensittiche als sprechende Papageien zu kaufen, ist allemal eine gründlich verfehlte Speculation. Näheres darüber finden Sie in dem Werke: „Die sprechenden Papageien“ von Karl Ruß (Berlin, Gerschel).
Ed. Str. in Constantinopel. Das Vermögen der Tiedge-Stiftung beträgt nach dem Schlusse der Jahresrechnung für 1881 die Summe von 639,528 Mark. – Der „Allgemeine deutsche Schriftsteller-Verband“ zählt augenblicklich etwa 312 Mitglieder.
Ein neugieriger Abonnent. Der Gebrauch des Löffels war schon den Römern bekannt: die Gabel tauchte dagegen als Tischgerät erst im sechszehnten Jahrhundert auf. Bis zu jener Zeit führte man überall die Bissen mit der bloßen Hand zum Munde. Die Kirche widersetzte sich dieser Neuerung, und die Geistlichkeit predigte gegen den Gebrauch der Gabel als gegen eine sündhafte Ueppigkeit. Doch es half alles nicht, wie Sie sehen. und die Gabel ist in überraschend kurzer Zeit zu dem unentbehrlichsten Hausgeräth des Culturmenschen geworden. Können Sie sich heute ein Hofdiner ohne Gabel vorstellen? Schwerlich! Und doch speisten unsere Altvordern Jahrtausende lang ohne dieses nützliche Geräth.
L. L. in New-York. Die Bezeichnung „Dame“ (lateinisch: domina = Herrin) wurde ursprünglich in Frankreich – mit dem Fürwort Ma (Madame) – angewandt, und zwar als Ehrentitel adeliger Frauen; auch war Madame der Titel der Töchter der französischen Könige von ihrer Geburt an. Nach Napoleon’s des Ersten Kaiserkrönung war es der Ehrentitel seiner Mutter, Lätitia, und unter Ludwig Philipp wurde allein dessen Schwester Adelaide mit diesem Titel bezeichnet. In Deutschland kommt „Dame“ seit der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts vor, zuerst in anrüchiger Bedeutung gebraucht. Heute ist das Wort, wie Sie wissen, durchaus salonfähig. So verleihen die Mode und die Laune des Zeitgeschmackes, die Landessitte und die Macht des Herrschergebotes den Wörtern eine beliebige Bedeutung. Im skandinavischen Norden ist noch heute ein „Frauenzimmer“ etwas viel Feineres als eine „Dame“.
L. M. in Mariba, Südafrika, sowie D. M. E. D. Nicht verwendbar! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!
B. K. in B. Schwindel!
H. M. in K. und C. H. Ap. Leider ungeeignet!
Mehrfach uns ausgesprochenen Wünschen entgegenkommend, haben wir uns entschlossen, die
der „Gartenlaube“ vorübergehend im Preise herabzusetzen.
Dieselben werden, so weit die geringen Vorräthe es gestatten, in tadellosen neuen Exemplaren zum billigen Preise von
abgelassen und können durch jede Buchhandlung bezogen werden.
Leipzig. Die Verlagshandlung von Ernst Keil.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ An der Tafel stehen die Noten des Loreley-Liedes mit Text von Heinrich Heine.