Die Gartenlaube (1883)/Heft 8
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No. 8. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Gebannt und erlöst.
Paul stutzte; es war nicht die plötzliche Aenderung des Tones, die ihn so überraschte, sondern die Aeußerung selbst. „Sterne versinken!“ Dieselben Worte, die er damals auf dem Meere von anderen Lippen vernommen hatte, und derselbe bittere herbe Ausdruck! Es konnte natürlich nur ein Zufall sein; es war ja Niemand Zeuge jenes Gespräches gewesen, aber der Zufall berührte den jungen Mann doch seltsam, fast wie die Ahnung irgend eines Unheils.
Raimund faßte sein Schweigen anders auf. Er glaubte offenbar, ihn mit jenen Worten gekränkt zu haben; denn nach einer kurzen Pause setzte er milder hinzu:
„Du freilich hast noch ganz andere Ansichten von dem Leben und der Liebe, und ich will Dir nicht vorzeitig Deine Illusionen rauben. Die Täuschung ist ja auch ein Glück, und es giebt Menschen, die zeitlebens nicht daraus erwachen. Du liebst also – und wirst vermuthlich wieder geliebt.“
Paul sah zu Boden.
„Ich weiß es nicht,“ entgegnete er leise, „weiß nicht einmal, ob ich Hoffnung hegen darf; denn ich habe noch keine Erklärung gewagt. Du begreifst, Raimund – ich kann einer Frau überhaupt nichts bieten; ich muß abwarten, wie Du meine Zukunft gestaltest.“
Der Blick des Freiherrn ruhte forschend auf dem jungen Manne, der seine Abhängigkeit vielleicht noch nie so bitter empfunden hatte, wie in dieser Minute.
„Daher also Deine plötzliche Neigung für das Landleben!“ sagte er. „Ich dachte es mir; aber Du sollst Dich nicht über mich zu beklagen haben, Paul, vorausgesetzt, daß Deine Wahl eine vernünftige, eines Werdenfels würdige ist.“
„Du wirst nicht das Geringste dagegen einzuwenden haben,“ rief Paul mit aufflammender Lebhaftigkeit. „Auch gegen die äußeren Verhältnisse nicht, und was nun vollends die Persönlichkeit betrifft –“
„So ist Deine Erwählte natürlich ein Ideal!“ ergänzte Raimund. „Die Geliebte ist das immer, bis man sich eines Tages enttäuscht sieht. Doch gleichviel – ich will Deinem vermeinten Glücke nicht im Wege stehen, und Du hast Recht: mit dieser demüthigenden Abhängigkeit kannst Du nicht um eine Frau werben; ich werde Dich davon befreien. Buchdorf wird im nächsten Frühjahre pachtfrei; Du magst das Gut einstweilen übernehmen und sehen, ob Dir das Landleben wirklich zusagt. Ist das der Fall, so trete ich Dir Buchdorf als Eigenthum ab; die Einkünfte sind nicht unbedeutend, und der Gutsherr von Buchdorf kann überall mit seinem Antrage hervortreten.“
Paul glaubte nicht recht gehört zu haben. Er kannte Buchdorf zwar noch nicht, war aber doch hinlänglich über die Werdenfels’schen Besitzungen orientirt, um zu wissen, daß er damit ein Rittergut von ganz bedeutendem Werthe empfing, und dies fürstliche Geschenk wurde ihm so ganz beiläufig zugesprochen, ohne daß der Geber irgend einen besonderen Werth darauf zu legen schien.
„Du willst mir Buchdorf abtreten?“ fragte er in freudiger Bestürzung, „ich soll es als Eigenthum besitzen? O Raimund, wie kann ich Dir jemals –“
„Nur keinen Dank!“ unterbrach ihn Werdenfels mit einer abwehrenden Bewegung. „Du weißt, ich liebe das nicht. Du bist mein Erbe und empfängst damit nur einen Theil Deines dereinstigen Erbtheils; es ist nicht nöthig, daß Du auf meinen Tod wartest; aber brechen wir ab!“
Paul kannte den Onkel bereits genug, um zu wissen, daß er jetzt kein Wort weiter äußern dürfte, aber ihm war zu Muthe, als hätte man ihm mit den Dankesworten, die sich so warm und herzlich auf seine Lippen drängten, auch jedes Dankgefühl genommen; er sah ja, wie lästig es dem Freiherrn war, der wie gewöhnlich mit vollen Händen gab und sich dann gleichgültig abwendete. Es verletzte den jungen Mann tief, daß Raimund nicht einmal nach dem Namen seiner Erwählten fragte, nicht einmal zu wissen verlangte, ob sie eine Italienerin oder eine Deutsche sei. Er hatte die Versicherung empfangen, daß die Partie eine vernünftige, das heißt standesmäßige war, und damit war sein Interesse an der Sache erschöpft – er schob sie weit von sich.
„Du hattest die Güte, meinen Arnold rufen zu lassen,“ unterbrach Paul endlich das eingetretene Schweigen. „Er wartet draußen im Vorzimmer.“
„Ah richtig!“ sagte der Freiherr, der sich jetzt erst der Sache zu erinnern schien. „Laß ihn eintreten!“
Paul öffnete die Thür des Nebenzimmers, wo sich der Kammerdiener Raimunds befand, und gab ihm die nöthige Weisung. Gleich darauf erschien Arnold und näherte sich mit unendlichem Selbstgefühl und unendlicher Neugierde dem „Chef der Familie“, dem er in Anbetracht dieser Eigenschaft eine wirklich tiefe und respectvolle Verbeugung machte.
Die Augen des Freiherrn glitten flüchtig und theilnahmlos über den alten Diener hin; selbst die eigenthümliche Art, mit der sich dieser brieflich bei ihm eingeführt hatte, vermochte es nicht, [122] sein Interesse zu erregen; er empfing ihn augenscheinlich nur aus Rücksicht für Paul.
„Herr von Werdenfels hat Sie mir als einen langjährigen und treuen Diener seiner Eltern geschildert,“ begann er. „Es freut mich, daß Sie auch ihm in dieser Eigenschaft zur Seite geblieben sind.“
Das klang ganz vernünftig, und der Mann, der da so ruhig und vornehm in seinem Sessel lehnte, sah auch keineswegs gefährlich aus. Arnold geruhte, von dem Empfange befriedigt zu sein, und erwiderte in würdevollster Haltung:
„Ich habe mich nach Kräften bemüht, die Pflicht zu erfüllen, welche die selige Frau Baronin mir auferlegte, als sie auf dem Sterbebette den jungen Herrn meiner Obhut übergab.“
Paul hob verstohlen die Augen gen Himmel. Er war nahe daran, seiner Mutter einen Vorwurf aus dieser Uebergabe zu machen, die er bei jeder Gelegenheit zu hören bekam. Werdenfels aber, der die Unerschöpflichkeit dieses Themas noch nicht kannte, schien den Stolz des alten Dieners auf seine Vertrauensstellung natürlich zu finden; er fragte weiter:
„Sie haben Ihren Herrn auf die Universität und später auch nach Italien begleitet?“
„Ja, auch nach Italien!“ bestätigte Arnold, der nichts Geringeres erwartete, als eine Lobrede für seine Fürsorge und Umsicht und eine nachträgliche Strafpredigt für seinen jungen Herrn.
Der Freiherr aber schien nicht gewillt, Paul durch eine Erwähnung jenes Briefes in Verlegenheit zu setzen; er sagte nur mit leichter Betonung:
„Herr von Werdenfels weiß Ihre Anhänglichkeit zu schätzen. Er hat hinreichende Proben davon, und auch ich lege Werth auf ein solches Verhältniß zwischen Herrn und Diener.“
Arnold sandte einen triumphirenden Blick zu seinem jungen Herrn hinüber, der sich ganz schweigsam verhielt und es wahrscheinlich nicht wagte, in Gegenwart seines Onkels irgend eine Aeußerung laut werden zu lassen. Der Blick sagte deutlich: „Gieb Acht! Jetzt werde ich Dir zeigen, wie man ihn behandeln muß,“ und dann richtete der alte Diener sich empor und begann feierlich:
„Gnädiger Herr!“
„Nun?“ fragte Werdenfels.
Paul, den die Scene unendlich amüsirte, enthielt sich jeder Einmischung; denn er sah, daß die Zuversicht seines alten Mentors und Kammerdieners bereits im Wanken begriffen war. Dieses einfache „Nun?“ des Freiherrn hatte sie zum Wanken gebracht.
Arnold fing an zu begreifen, daß die kühle Vornehmheit doch etwas ganz Anderes war, als die Intimität, in der er mit seinem Junker Paul lebte.
„Gnädiger Herr!“ begann er noch einmal. „Ich hatte mir eigentlich vorgenommen – das heißt, ich wollte mir unterthänigst erlauben –“
„Nun, so sprechen Sie doch!“ sagte Raimund mit einigem Befremden, als die Rede von Neuem stockte.
Der Blick, den Arnold diesmal zu seinem jungen Herrn hinübersandte, war etwas kläglicher Art und gab das dringende Verlangen nach einer Einmischung Paul’s zu erkennen, als er aber sah, daß Jener sich auf die Lippen biß, um das Lachen zu verbergen, raffte er seinen ganzen Muth zusammen und nahm einen letzten, verzweifelten Anlauf.
„Ich wollte dem gnädigen Herrn nur mein tiefstes Bedauern aussprechen, daß Sie ganz abseits von der Welt leben und Niemand –“
Weiter kam er überhaupt nicht; denn Raimund hatte sich emporgerichtet und sah ihn von oben bis unten an. Es war nur ein einziger Blick, und es lag nicht einmal Zorn darin, aber Arnold knickte förmlich zusammen und wünschte sich weit weg, nach Rom oder Venedig. Selbst das Gesicht des Signor Bernardo wäre ihm in diesem Moment lieber gewesen, als das Auge dieses Freiherrn von Werdenfels, dem er den Kopf zurechtsetzen wollte und der, ohne auch nur die Lippen zu öffnen, mit einem bloßen Blick ihm seine Stellung klar machte.
„Sie meinten?“ fragte Raimund, vollkommen ruhig, aber mit dem Ausdruck eines so unnahbaren Stolzes, daß der alte Diener noch mehr zusammensank und in seiner Verwirrung eine Verbeugung nach der andern machte.
„O nichts, durchaus nichts!“ stotterte er. „Ich wollte nur sagen, daß es mir hier in Felseneck außerordentlich gefällt – und meinem jungen Herrn gleichfalls – und daß wir Beide –“
„Schon gut!“ unterbrach ihn Raimund. „Es freut mich, wenn mein Neffe sich in meinem Hause wohl fühlt. Ihre Ansichten darüber theilen Sie der Dienerschaft mit!“
Eine kurze Handbewegung zeigte Arnold, daß er entlassen sei. Er machte eine tiefe Verbeugung vor dem Schreibtische, eine zweite in der Mitte des Zimmers, eine dritte auf der Schwelle und verschwand dann. Erst draußen im Vorzimmer besann er sich, daß ja eigentlich gar nichts geschehen sei, und daß der Freiherr nicht einmal ungnädig gewesen war, aber er hatte dem alten Diener in zwei Minuten beigebracht, was dieser sein Lebelang nicht gekannt hatte, den unbedingten Respect vor dem Auge und dem Worte des Herrn.
Paul hatte sich alle mögliche Mühe gegeben, ernsthaft zu bleiben, dieser klägliche Rückzug seines alten Vertrauten aber erschien ihm so komisch, daß er laut auflachte. Werdenfels theilte seine Heiterkeit nicht; er sagte nur:
„Du scheinst Deinen Diener sehr verwöhnt zu haben, Paul.“
„Er ist ein altes Erbstück von den Eltern her,“ entschuldigte der junge Mann. „Seine Vertraulichkeit ist mir oft unbequem, aber er hat mich als Kind auf den Armen getragen und macht das so nachdrücklich geltend, daß ich ihn beim besten Willen nicht in Respect halten kann. Es thut mir freilich sehr leid, daß er wagte, auch Dir gegenüber –“
Raimund machte eine ruhig abwehrende Bewegung.
„Laß das! Ich verstehe es schon, meine Untergebenen in den nöthigen Schranken zu halten, und Du wirst das auch lernen müssen, wenn Du erst Herr in Buchdorf bist.“
Damit stand er auf und verließ den Schreibtisch. Draußen dämmerte es bereits, und das hohe, düstere Gemach lag schon halb im Dunkel; nur das Kaminfeuer warf seinen Schein auf den Boden und auf die zunächst befindlichen Gegenstände. Der Freiherr war an den Kamin getreten und legte mit eigener Hand noch einige Holzscheite in das schon niedersinkende Feuer, das hell aufflackerte, als es die neue Nahrung empfing.
„Ich sandte vorhin zu Dir hinüber,“ sagte er, „und hörte, daß Du ausgeritten seiest. Bist Du auf der Jagd gewesen?“
„Nein, ich hatte einen ziemlich weiten Ausflug unternommen,“ entgegnete Paul, indem er gleichfalls an den Kamin trat. „Ich habe unserem Stammschlosse einen Besuch abgestattet.“
„Ah, Du bist in Werdenfels gewesen? Gefällt es Dir?“
„Ungemein! Ich habe selten einen schöneren Wohnsitz gesehen. Schade nur, daß das Schloß und die Gärten so ganz verödet sind.“
„Hast Du irgend eine Vernachlässigung gefunden?“ fragte Raimund. „Ich habe doch ausdrücklichen Befehl gegeben, alles im besten Stande zu erhalten, und empfange regelmäßig die Berichte darüber.“
„Du mißverstehst mich: ich meinte nur jene Oede, die aus der Einsamkeit entspringt. Man sieht es dem Schlosse an, daß es seit Jahren leer und verlassen steht. Du selbst hast es ja wohl niemals bewohnt, seit Du Herr in Werdenfels bist?“
„Nein – niemals!“
„Da haben wir einen ganz verschiedenen Geschmack. Ich ziehe es unbedingt Deinem romantischen, aber düsteren Felseneck vor, und selbst wenn ich die Bergeseinsamkeit so leidenschaftlich liebte wie Du, würde ich doch wenigstens einige Monate des Jahres in Werdenfels zubringen.“
Raimund gab keine Antwort. Er lehnte sich an den Kamin und sah schweigend zu, wie das Feuer die mächtigen Scheite verzehrte. Das sprühte und knisterte; das wand sich wie feurige Schlangen um das Holz, zuckte hier auf und sank dort zusammen und züngelte immer höher, immer gieriger empor, bis endlich all die Brände aufflammten in lodernder Gluth. Dieses Spiel der Flammen in dem halbdunklen Raume hatte etwas Unheimliches, Ruheloses, und der scharfe Luftzug im Kamin fachte es noch wilder an.
„Der Blick von der Terrasse aus über die Gärten ist wirklich einzig in seiner Art,“ fuhr Paul fort, „und auch die Lage des Dorfes ist höchst malerisch. Mir ist nur aufgefallen, daß es gar nicht den anderen Gebirgsdörfern gleicht, wo die uralten Häuser so eng an und durch einander gebaut sind, daß man sich oft in dem Gewirre gar nicht zurecht findet. In Werdenfels dagegen [123] ist Alles so weit ausgedehnt, so frei und licht. Der Castellan sagte mir freilich, daß der Ort vor einiger Zeit niedergebrannt und dann ganz neu wieder aufgebaut worden sei.“
„Ja, er brannte nieder – bis auf den Grund,“ sagte Raimund, der noch immer unverwandt in das Flammenspiel blickte. Er schien die seltsamen Gebilde zu verfolgen, die dort in einem Momente entstanden und verwehten, zuckend und flüchtig wie die Flammen selbst, und immer neue Bilder und Gestalten zeigten, wenn einer der glühenden Brände nach dem andern zusammenbrach.
„Ich erinnere mich,“ sagte Paul, dem in der That jetzt die Erinnerung an jene Katastrophe aufdämmerte, von der er als Knabe gehört hatte. „Es muß ein schreckliches Unglück gewesen sein. Die armen Leute haben wohl damals all ihr Hab’ und Gut verloren, und wenn ich nicht irre, hat es auch Menschenleben gekostet.“
„Mehr als eins – drei Menschen sind in den Flammen umgekommen.“
„Schrecklich!“ rief Paul, dem es unerklärlich war, wie man mit einer solchen Ruhe von einem derartigen Unglücke sprechen konnte. Die Worte des Freiherrn klangen in der That völlig ausdruckslos; er veränderte seine Stellung nicht, regte sich nicht, aber es war dem jungen Manne, als habe er das Antlitz des Onkels noch nie so starr, so todtenhaft gesehen, wie in dieser Minute, wo es grell und scharf von den Flammen beleuchtet wurde, und die Augen, die sich nicht losreißen zu können schienen von jener Gluth, waren dunkel wie die Nacht und unheimlich wie diese.
Da fuhr ein Windstoß in den Kamin nieder und mitten hinein in die Gluth. Die Flammen schlugen plötzlich mit voller Gewalt seitwärts; sie griffen mit ihren heißen Armen nach dem Manne, der so unbeweglich dort lehnte, nur einen Augenblick lang; dann sanken sie wieder zusammen, aber ihr versengender Athem mußte die Hand gestreift haben, die auf dem Flammengitter lag; denn der Freiherr fuhr mit einem dumpfen, halb gebrochenen Laute empor.
„Hat es Dich getroffen?“ fragte Paul, besorgt hinzutretend. „Das hätte ein Unglück geben können! Du bist doch nicht ernstlich verletzt?“
Statt aller Antwort wandte sich Raimund ab und drückte mit voller Heftigkeit auf die Klingel, deren Ton scharf und laut durch das Gemach schallte.
„Licht!“ herrschte er dem eintretenden Kammerdiener zu, in einem Tone, wie dieser ihn wohl selten von den Lippen seines Gebieters hören mochte: denn er verschwand in höchster Eile. Raimund aber trat mit einer ungestümen Bewegung an das Fenster, riß es auf und lehnte sich weit hinaus, als sei die Luft im Zimmer erstickend geworden.
Schon nach wenigen Minuten kehrte der Diener mit der Lampe zurück, und das Zimmer begann sich zu erhellen. Paul stand befremdet da; er begriff nicht, wie ein jedenfalls nur leichter körperlicher Schmerz Jemanden so erregen konnte; die Flamme konnte den Arm ja kaum gestreift haben. Die Verletzung mußte aber doch empfindlicher sein, als es den Anschein hatte; denn als Werdenfels endlich das Fenster schloß und in das Zimmer zurückkehrte, war er noch bleicher als sonst, und in seinem Gesichte stand ein Zug verbissenen Schmerzes, aber er wies die besorgten Fragen des jungen Mannes kurz, beinahe schroff zurück.
„Es ist nichts, es ist bereits vorüber! Kümmere Dich nicht weiter darum, laß uns von anderen Dingen sprechen!“
Er sprach indessen nicht, sondern begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Paul fühlte instinctmäßig, daß hier etwas vorlag, woran er nicht rühren dürfte, wenn ihm auch der Zusammenhang dunkel blieb. Er kannte bereits diese langen Pausen im Gespräche mit dem Onkel und pflegte sie sonst mit ziemlichem Gleichmuthe zu ertragen, heute aber hatte das immer wieder eintretende Schweigen etwas Bedrückendes für ihn, und er griff rasch zu einem anderen Thema.
„Ich habe Dir eigentlich noch eine Beichte abzulegen, Raimund,“ begann er wieder. „Ich fürchte, ich habe mich in meiner Unkenntniß der hiesigen Verhältnisse zu einem Schritte hinreißen lassen, den Du nicht billigen wirst. Ich bin bei dem Pfarrer von Werdenfels gewesen.“
Der Freiherr blieb stehen und blickte überrascht und finster zu dem jungen Manne hinüber.
„Bei Gregor Vilmut? Wie kamst Du dazu?“
„Es war ein bloßer Einfall. Ich meinte, es sei schicklich und freundlich, dem geistlichen Herrn einen Besuch abzustatten, da unser Stammschloß doch zu seinem Pfarrbezirk gehört. Ich ahnte nicht, daß hier ganz besondere Beziehungen existiren, die meinen Besuch befremdlich erscheinen ließen.“
„Hat man Dich bereits darüber aufgeklärt?“
„Nein, man wies mich wegen der Aufklärung an Dich.“
Raimund’s Stirn umwölkte sich noch finsterer, aber seine Stimme klang unbewegt, als er antwortete:
„Ich hätte Dich in diese Verhältnisse einweihen sollen, die Dir doch früher oder später nahe treten mußten. Es wäre auch geschehen, wenn Du jenen Ausflug gegen mich erwähnt hättest. Du darfst das Pfarrhaus nicht wieder betreten, und es ist am besten, wenn Du Dich überhaupt nicht im Dorfe zeigst.“
„Im Dorfe Werdenfels?“ wiederholte Paul auf’s Aeußerste erstaunt. „In Deinem Dorfe?“
„Ja! Du trägst meinen Namen, und der Name wird dort gehaßt. Wenn Du wieder nach dem Schlosse reitest, so wähle den directen Weg über den Schloßberg!“
Er nahm seinen Gang durch das Zimmer wieder auf und schien das Gespräch fallen lassen zu wollen, aber Paul, der sich nur neuen Räthseln gegenüber sah, wo er eine Aufklärung erwartet hatte, hielt diesmal den Gegenstand der Conversation fest.
„Verzeih, daß ich noch eine Frage an Dich richte! Es ist nicht Neugier, aber ich muß mich doch einigermaßen orientiren: Dieser Pfarrer Vilmut ist Dir feindlich gesinnt?“
„Ja!“ sagte Raimund kalt. „Wir sind Feinde.“
„Und er hat vermuthlich seine Stellung benutzt, um auch die Gemeinde gegen Dich aufzuhetzen?“
„Das war kaum mehr nöthig! Indessen er hat redlich das Seinige gethan, um einen Haß, der noch von alten Zeiten her bestand, unauslöschlich zu machen.“
„Aber mein Gott!“ rief Paul. „Was giebt denn diesem einfachen Dorfpfarrer das Recht, dem Freiherrn von Werdenfels in solcher Weise gegenüberzutreten?“
Raimund zuckte die Achseln.
„Was ist einem Priester der Freiherr von Werdenfels! Er hat sich unter der geistlichen Zuchtruthe zu beugen, wie jeder Andere, und thut er es nicht, so läßt man ihn diese Zuchtruthe fühlen. Du weißt nicht, was ein Priester sich hier zu Lande dünkt und welche Rolle er auch in Wirklichkeit bei dem Volke spielt. Vilmut’s Einfluß zumal ist ein unbeschränkter und reicht weit über seine Gemeinde hinaus. Wie hat er Dich empfangen?“
„Sehr kühl, aber doch mit allen Formen der Höflichkeit. Ich traf ihn allerdings nicht allein; er hatte Besuch von Verwandten aus der Nachbarschaft.“
Der Fuß des Freiherrn schien auf einmal am Boden zu wurzeln; so jäh hemmte er seinen Schritt.
„Von Verwandten – aus Rosenberg?“
„Ganz recht! Es waren zwei Damen, eine junge Frau mit ihrer Schwester.“
„Ich weiß – Anna Vilmut!“
„Anna von Hertenstein, meinst Du?“
„Ja so – die Frau Präsidentin von Hertenstein! Ich vergesse das immer wieder!“
Die Worte klangen eisig, aber es wehte wie Hohn daraus hervor. Paul erschrak; denn er sah seine Befürchtungen bestätigt: auch Frau von Hertenstein war in jene Feindschaft eingeschlossen, die sich auf die ganze Vilmut’sche Familie zu erstrecken schien.
„Ich glaubte nicht, daß Du so genau über die Verhältnisse der Nachbarschaft unterrichtet seist,“ sagte er mit einiger Befangenheit. „Du hast Dich ja schon seit Jahren von allem Verkehr zurückgezogen.“
Um Raimund’s Lippen zuckte ein Ausdruck unendlicher Bitterkeit.
„Gewiß, aber das habe ich doch noch erfahren! Die Heirath machte damals Aufsehen; ein achtzehnjähriges Mädchen, das einem Greise die Hand reicht, ist immerhin etwas Ungewöhnliches. Man verdachte es der jungen Dame doch einigermaßen, daß sie diese ‚glänzende Partie‘ machte.“
„Man thut ihr Unrecht!“ rief Paul in leidenschaftlicher Aufwallung. „Sie mag überredet, gezwungen worden sein; sie hat sich vielleicht für arme Eltern oder Geschwister aufgeopfert. Ich [124] kenne den Zusammenhang nicht, aber ich will mich dafür verbürgen, daß es keine niedrige Berechnung war, welche sie geleitet hat. Man braucht nur einmal in diese Augen zu blicken, um zu wissen, daß alles Niedrige und Gemeine ihnen unendlich fern liegt.“
Raimund hatte schon bei den ersten Worten langsam das Haupt gewendet und blickte mit einem seltsamen Ausdruck den jungen Mann an, der in seiner erregten Parteinahme alle Vorsicht und Zurückhaltung vergaß. Seine Stimme hatte nicht mehr die leidenschaftslose Ruhe von vorhin; sie klang dumpf und beinahe drohend, als er fragte:
„Hast Du so tief in diese Augen geschaut – tief genug, um schon bei der ersten Begegnung dergleichen darin lesen zu können? Was soll das heißen? Vor zehn Minuten sprichst Du mir von einer Liebe, die Dein ganzes Sinnen und Denken ausfüllt, und jetzt flammst Du auf in solcher Schwärmerei für eine Fremde? Du scheinst sehr schnell in Deinen Neigungen zu wechseln.“
Einen Moment schwankte Paul in der Furcht vor dem Onkel, der mit seiner Einwilligung vielleicht auch sein großmüthiges Geschenk zurücknahm, wenn er erfuhr, daß es sich um ein Glied der gehaßten Familie handele. Dann aber siegte die offene Natur des jungen Mannes, und er beschloß, seine Liebe nicht zu verleugnen, koste es was es wolle.
„Du bist im Irrthum,“ entgegnete er. „Anna von Hertenstein ist mir keine Fremde. Ich sah sie zum ersten Mal in Venedig und ich sprach von ihr, als ich Dir jenes Geständniß machte.“
Die Wirkung dieser Worte war noch schlimmer, als Paul fürchtete. Raimund schwieg, aber seine Augen flammten auf, diese träumerischen, räthselhaften Augen, die das Innere immer nur verschleierten, anstatt es zu enthüllen. In diesem Augenblick zerriß der Schleier, und aus der dunklen Tiefe zuckte ein Blitz auf, wie eine Flamme emporzuckt aus halb erloschenen Gluthen, aber es war ein Blick sprühenden Hasses, der den ahnungslosen Paul traf.
„Also auch Du bist dem Zauber erlegen!“ sagte Werdenfels endlich mit eigenthümlich vibrirender Stimme. „Nimm Dich in Acht, Paul, vor dieser Frau, die so berückend erscheint! Sie ist in der Schule Gregor Vilmut’s erzogen; die Beiden sind von einem Stamme, hart und erbarmungslos gegen Andere, wie gegen sich selbst. Wo Du ein warmes Menschenherz suchst, starrt Dir nur Eis entgegen – Du wirst es erfahren!“
Paul hörte betroffen zu; in seinem Inneren erhob sich etwas, was diesen Worten Recht gab. Er hatte ja selbst schon den eisigen Hauch empfunden, der von der schönen Frau ausging, aber eben weil er die Wahrheit des Vorwurfes fühlte, bekämpfte er ihn mit leidenschaftlicher Heftigkeit.
„Du kennst Anna von Hertenstein nicht; Du läßt Dich einzig von Deinem Vorurtheil leiten. Ich habe das gefürchtet, als ich die Feindschaft entdeckte, die Dich mit diesem Vilmut entzweit, aber was hat meine Liebe denn mit Eurer Feindseligkeit zu thun? Du liebst nicht, Raimund, hast vielleicht niemals geliebt, sonst –“
„Schweig!“ unterbrach ihn Werdenfels in ausbrechender Gereiztheit. „Wie kannst Du es wagen, mir von dieser unsinnigen, strafwürdigen Leidenschaft zu sprechen! Jene Frau ist vermählt.“
„Jetzt nicht mehr. Sie ist Wittwe, schon seit länger als einem Jahre.“
Raimund zuckte zusammen; seine drohend erhobene Hand sank nieder und griff nach der Lehne des Sessels, als suche sie dort eine Stütze.
„Wittwe – so?“
„Du wußtest das nicht?“
„Nein, ich habe seit Jahren nichts von – dem Präsidenten Hertenstein gehört.“
„Du zürnst mir?“ fragte Paul in einem Tone, der zwischen Trotz und Bitte schwankte. „Vielleicht hätte ich besser gethan, zu schweigen, aber ich glaubte Dir volle Offenheit schuldig zu sein.“
Raimund wandte sich ab.
„Laß mich allein!“ sagte er kurz und herrisch. „Es thut nicht gut, wenn wir heute noch länger bei einander sind. Geh!“
„Wie Du befiehlst!“ entgegnete Paul, tief verletzt durch den Ton, den er zum ersten Male hörte. „Ich bedaure es, wenn mein Geständniß Dich erzürnt, aber ich kann es nicht zurücknehmen. Gute Nacht!“
Er schritt nach der Thür; jetzt endlich schien das Gerechtigkeisgefühl des Freiherrn zu siegen; denn er rief ihn zurück:
„Paul!“
Der junge Mann blieb stehen und wandte sich um. Raimund hatte augenscheinlich eine mildere Aeußerung auf den Lippen, als er aber im vollen Lampenschein die schlanke Gestalt vor sich sah, das Antlitz, das seine Züge trug, aber so viel jugendlicher, so viel glücklicher erschien, die hellen blauen Augen, denen die leidenschaftliche Erregung einen erhöhten Ausdruck lieh, da sprühte wieder jener unbegreifliche Haß in seinem Blicke auf und statt des versöhnenden Wortes sprach er mit schneidendem Hohne:
„Ich wünsche Dir Glück zu Deiner Bewerbung um die Frau Präsidentin von Hertenstein!“
Paul erwiderte keine Silbe; er verneigte sich und ging, aber der Zorn über diese unverdiente Behandlung wallte heiß in ihm empor. Er hatte heute zum ersten Male etwas von jenem räthselhaften, unheimlichen Wesen gespürt, welches das Gerücht dem Freiherrn lieh und das sich bisher unter anscheinender Empfindungslosigkeit barg. Es gab also doch einen Punkt, wo die starre Ruhe, die todte Gleichgültigkeit dieses Mannes nicht Stand hielt, eine Regung, die ihn aus seiner Abgestorbenheit zurückriß in das Leben, und diese Regung war der Haß. Es mußte eine jahrelange, tiefgewurzelte Feindschaft zwischen ihm und Gregor Vilmut sein, der jetzt auch die Liebe des jungen Verwandten geopfert wurde, aber mit dem bitteren Gefühl seiner Abhängigkeit erwachte auch der Trotz Paul’s; er war entschlossen, den Kampf aufzunehmen.
Raimund war allein zurückgeblieben. Er hatte sich in den Sessel geworfen, der vor dem Kamin stand, und starrte wie vorhin in die Gluth. Die Erregung schien vorüber zu sein; es war wieder die gewohnte müde Haltung, der alte träumende und ausdruckslose Blick; nur um die Lippen zuckte noch etwas von jenem herben Ausdruck, mit dem die letzten Worte gesprochen wurden.
Das Feuer im Kamin war erstorben und mit ihm all die seltsamen Flammengebilde, welche dort aufzuckten und versanken. Die Brände waren zerfallen, und jetzt erlosch langsam auch die rothe Gluth. Eine Weile leuchtete sie noch; dann wurde ihr Schein matter und matter; endlich irrten nur noch einzelne Funken wie verloren auf und nieder, und zuletzt verschwanden auch sie – nur todte, dunkle Asche blieb zurück.
Die englische Seligmacher-Armee.
Die Trunksucht hat bekanntlich viel auf dem Gewissen, und man muß daher Allen, die auf deren Beseitigung in vernünftiger Weise hinarbeiten, Recht geben und beistimmen. Namentlich in England wird seit nahezu fünfzig Jahren auf dem Gebiete der Mäßigkeits- oder vielmehr Enthaltsamkeitsbewegung Großartiges geleistet. Die Schankwirthe fühlten sich durch diese Bestrebungen in ihren Interessen längst empfindlich bedroht, haben aber bisher nichts gethan, sich ihrer Haut zu wehren. Hierin jedoch ist seit einigen Wochen ein Umschlag eingetreten.
Als ich ganz kürzlich mit einem Ausländer, der nach London herübergekommen war, um die unerschöpflich anziehende „Stadt der Städte“ zu erforschen, in dem Armenviertel des Eastends umherwanderte, kam uns in der Whitechapelstraße eine Procession entgegen, deren Mitglieder ein gelbes Bändchen im Knopfloch trugen. Ich sagte meinem Freunde, er sehe da eine Abtheilung der „Yellow Ribbon Army“ („Gelbband-Armee“), die erst ganz kürzlich unter den Auspicien der Wirthschaftsinhaber begründet wurde, um der „Blue Ribbon Army“ („Blauband-Armee“) ein Paroli zu biegen. Die sonderbare Institution dieser blaubebänderten Heerschaaren wurde vor etwa einem Jahre aus dem an Temperenzvereinen so reichen Nordamerika hierher verpflanzt und hat den Zweck, der religiösen Gleichgültigkeit, sowie der Trunksucht zu steuern. Ihre
[125][126] Jünger müssen sich eidlich verpflichten, nie wieder geistige Getränke zu berühren, während die Mitglieder der Gelbband-Armee nur für eine gewisse Mäßigung im Genusse von Wein, Bier und Schnaps eintreten.
Nach Verlauf einer Stunde etwa stießen wir auf einen zweiten Umzug. Diesmal war es die neue „Skelet-Armee“, eine Gesindelbande, die von den Schankwirthen geradezu bezahlt wird, um mit Bannern, auf denen Todtenköpfe sichtbar sind, in den Straßen des Eastends – wo die Branntweinkneipen die besten Geschäfte machen – umherzuziehen und die „Seligmacher-Armee“, welche den Genuß alles Alkohols verpönt, anzufallen, in der Absicht, sie aus jenem Stadttheil zu vertreiben. Gewöhnlich schreiten diese besoldeten Hallunken ruhig einher; sobald sie aber auf ein Detachement der „Salvation Army“ stoßen, setzt es eine Rauferei ab.
Mein Begleiter bat mich, ihm Näheres über die „Seligmacher-Armee“ mitzutheilen. Ich nahm ihn unter den Arm, schlug eine westliche Richtung ein und sagte: „Du wirst bald selber sehen.“ Es dauerte in der That nicht lange, bis wir auf einen Trupp „Salvationists“ („Seligmacher“) stießen, der sich durch den lärmenden Klang von Blasinstrumenten schon von Weitem ankündigte. Als die Procession sich uns genähert hatte, bemerkten wir an ihrer Spitze einen uniformirten Jüngling, der eine Fahne trug und von einem jungen Weibe begleitet war, welches rückwärts ging und als Capellmeisterin fungirte. Zunächst folgten vier Bursche, die mit mehr Energie als Wohlklang verschiedene Blasinstrumente bearbeiteten, sodann mehrere Reihen von Männern, fünf bis sechs Mann stark, ferner ebenso viele fünf- bis sechsgliedrige Frauenreihen und endlich noch einige Reihen Männer. Alle sangen jubilirenden Tones eine christliche Hymne in Knittelversen und blickten ernst und zielbewußt drein; sie schritten rasch vorwärts und schienen gar nicht zu wissen, daß die Passanten ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit zusahen oder daß ihnen ein Troß Neugieriger folgte. Ein Theil des Publicums stimmte in den Gesang mit ein, während die Gassenjungen entweder recht profane Melodien pfiffen oder die harmlosen „Soldaten“ der Seligmacher-Armee mit allerlei unsauberen Gegenständen bewarfen.
Plötzlich löst sich die Procession auf; an einem Kreuzwege bilden ihre Mitglieder einen Kreis. Der Troß bleibt ebenfalls stehen und wächst alsbald beträchtlich an. Einer der „Officiere“ der Armee stellt sich inmitten des Kreises auf und beginnt, gravitätischen Antlitzes und heftig gesticulirend, in der volksthümlichen Manier der „Salvation Army“ zu predigen:
„Freunde! Gottlob bin ich auf der Reise gen Himmel begriffen. (Die „Soldaten“ singen hier: „Hallelujah!“) Aber es genügt mir nicht, allein dahin zu reisen; ich will, daß Ihr mich begleitet – jeder Einzelne von Euch! Wollt Ihr mitkommen? Ich frage Euch: wollt Ihr? Ihr könnt mitkommen – selbst der Aergste unter Euch kann in den Himmel gelangen. (Die „Soldaten“: „Ei freilich! Ihr könnt; gepriesen sei der Heer!“) Vor einem Jahre war ich ein ebenso schlimmer Lumpenkerl wie irgend Einer von Euch. Das Saufen brachte mich oft dem Wahnsinne nahe, aber Jesus zeigte mir den vor mir gähnenden Höllenschlund und, was noch besser war, er bewies mir seine Liebe; er reinigte mich in seinem Blute und erlöste mich („Amen! Hallelujah!“) O Freunde, lasset ihn dasselbe für Euch thun, heute, sofort! Er sehnt sich danach. Kommt mit uns zur Versammlung und höret dort von seiner Erlösung!“
Nach Hersagung eines kurzen Gebets formirt sich die Procession von Neuem, beginnt wieder eine Hymne zu singen, bewegt sich vorwärts und macht von Zeit zu Zeit an Straßenecken Halt, um abermals durch den Mund eines der „Officiere“ eine rednerische Leistung im Style der obigen vom Stapel zu lassen, bis sie schließlich vor einer der Versammlungshallen der Armee eintrifft, wohin ihr ein zahlreiches Publicum folgt. Während des Einzuges wird gewöhnlich eine Hymne gebrüllt, die etwa sagt:
„Wir wollen unser Banner hoch tragen, das Erlösungsbanner; wir werden für dasselbe kämpfen, bis wir sterben und unser Heim im Himmel beziehen.“
Die Halle, die ich, unserer Truppe folgend, mit meinem Freunde betrat, liegt in der bekannten Oxford Street und heißt „Regentenhalle“. Vor dem Eingange hängt eine Laterne, die genau den vor den Wirthshäusern befindlichen gleicht und die Inschrift trägt: „Kommet! Erlösung! Vollständige und unentgeltliche Erlösung!“ Ich theile meinem erwartungsvollen Begleiter mit, daß uns ein „Erlösungsmeeting“ bevorsteht. Ehe dieses beginnt, bleibt uns Zeit, Umschau zu halten. Der Saal ist sehr groß, schmucklos und von Bänken erfüllte die selbst an den Abenden der Wochentage – die Meetings finden gewöhnlich zwischen halb acht und neun Uhr statt – dicht mit verwahrlosten Männern und Weibern, besonders den ersteren, besetzt sind. An der einen Wand befindet sich eine Platform, auf welcher eine Anzahl „Soldaten“ beider Geschlechter Platz nimmt und in deren Mitte ein einfacher Tisch steht, auf dem wir einige Hymnenbücher und eine Bibel bemerken, sowie einen Wasserkrug, der Allen als gemeinsamer Erfrischungquell dient. Alle Anwesenden dürfen nach Belieben lachen und plaudern, bis der „Capitain“ durch das Erheben einer Hand den Beginn des Gottesdienstes andeutet. Der „Captain“ ist ebenso oft eine Frau wie ein Mann, wie auch die Fahne bei den Umzügen von Mädchen oder Frauen getragen werden kann.
Den Anfang des Gottesdienstes macht eine stehend und schleunig gesungene Hymne mit einem Brüllrefrain, der jedesmal mit der größten Begeisterung wiederholt wird. Während des letzten Verses knieen die „Soldaten“ nieder und legen einen erhöhten Andachtseifer an den Tag. Ein großer Theil der Zuhörer fühlt sich gleichsam moralisch verpflichtet, den Nacken ein wenig zu beugen, viele aber bleiben ostentativ aufrecht sitzen und lachen.
Zunächst wird zum Gebet aufgefordert; ein „Soldat“ betet nach dem andern, wobei er sich nach Art der orthodoxen Juden hin und her wiegt, die Fäuste ballt, sehr laut spricht und alles thut, um sich und die übrigen in Aufregung zu bringen. Die sehr kurzen Gebete folgen mit größter Schnelligkeit auf einander, und die anwesenden Seligmacher begleiten jeden Beter mit lebhaften Gesticulationen, lärmenden Hallelujahs und anderen Ausrufen. Alle diese Gebete ähneln sich gar sehr: hier ein Durchschnittsmuster:
„Herr! Wir wünschen, daß du mit uns seiest. Sei jetzt mit uns! Herr! Wir bedürfen der Stärke; schicke unserer Versammlung Stärke! Du siehst diese lieben Leute, die mitten in ihren Sünden zu Grunde gehen; Herr, hilf ihnen! Herr, rette sie! Erlöse sie gegenwärtig! Vor Mitternacht können sie in der Hölle sein; o Herr, komm herab und erlöse sie! Wir glauben, daß du das kannst; wir glauben, daß du es willst. Komm, Herr, komm jetzt; und du wirst den ganzen Ruhm haben. Amen!“
Sodann werden Hymnen sitzend gesungen und von einem „Officier“ erläutert. Ferner fordert der vorsitzende „Capitain“ Jene im Publicum, „die sich für Sünder halten“, auf, hervorzutreten, in der vorderen Bank niederzuknieen, die gepredigten Lehren Christi, sowie die Gesänge der Seligmacher auf ihr Gemüth einwirken zu lassen und, sobald sie fühlen, daß sie „erlöst“, das heißt: daß sie durch den Glauben an Christus von ihrer Sündenlast befreit seien, aufzustehen und – so heißt es in dem vom „General“ der Armee verfaßten „Instructionsbuch“ – „den Anwesenden zu sagen, was der Herr für sie, die ‚Geretteten‘, gethan“.
Jede Strophe der Hymne wird von der Armee und nach Belieben vom Publicum wiederholt, wobei die „Soldaten“ die größte Begeisterung an den Tag legen. Sodann wird ein Gebet gesprochen und eine weitere Strophe begonnen. Plötzlich erhebt sich einer der Zuhörer, geht nach vorne und kniet in der ersten Bank nieder, um zu verkünden, daß er fühle, Christus habe ihn selig gemacht. Einer der „Soldaten“ setzt sich neben ihn, ertheilt ihm gute Rathschläge, betet mit ihm und schärft ihm ein, daß er, wenn er sich der „Salvation Army“ anschließen wolle, dem Genuß aller geistigen Getränke und des Tabaks gänzlich entsagen müsse, sowie keinerlei Sünde mehr begehen dürfe. Allmählich wird die erste Bank – officiell „Bank der Reuigen“ genannt - von mehreren anderen „Büßern“ besetzt; ihre Zahl beläuft sich bei manchem Meeting auf Dutzende.
Sie knieen, weinen, beten und singen oder sprechen Hymnen nach dem folgenden Muster:
„Hier gebe ich mich dir hin, mich, meine Freunde, mein irdisches Sein, um mit Leib und Seele dir anzugehören, gänzlich dir auf immerdar. Lebet wohl, meine allen Cameraden! Ich will nicht mit euch zur Hölle fahren; ich will bei Jesus Christus weilen; lebet wohl, lebet wohl!“
Dies ist der Punkt, auf den die Leiter der „Armee“ hauptsächlich sehen. Der Neubekehrte muß sich nicht nur von seinen früheren Gewohnheiten, sondern auch von dem Umgange mit den Anhängern [127] des Alkohols, des Tabaks und der religiösen Gleichgültigkeit lossagen, und der General rechnet mit richtiger Menschenkenntniß darauf, daß die öffentliche, in Gegenwart der Cameraden der Proselyten abgegebene Erklärung der erfolgten Erlösung auf diese selbst eine günstige Einwirkung hervorbringen müsse. Es ist denn auch Thatsache, daß fast jedes Mal, wenn ein Mitglied einer Arbeitergruppe von den Salvationists bekehrt wird, bald mehrere andere, von seinem Beispiel angesteckt, „reuig“ werden.
Um den Neuling abzuhalten, eine vielleicht nur in momentaner Gefühlsanwandlung an den Tag gelegte Büßerstimmung rasch wieder verfliegen zu lassen, wird alles gethan, um ihn zur praktischen Bethätigung seines lauten Bekenntnisses zu bewegen. Er muß, ehe die Versammlung aus einander geht, eine die Buchstaben „S. S.“ („Sinner saved = Erlöster Sünder“) zeigende Medaille an seinen Rockkragen heften und bereit sein, schon Tags darauf an einem Straßenumzuge Theil zu nehmen, um dem Publicum zu sagen, was der Herr für seine Seele gethan. Auch hat er während der Versammlungen entweder als Thürsteher zu fungiren oder auf der Platform Platz zu nehmen; zur Abwechselung besorgt er den Straßenverkauf des Armee-Organs „War Cry“ („Kriegsgeschrei“), das wöchentlich zum Preise von 1 Halfpenny (41/4 Pfennig) erscheint und bereits in einer Auflage von 300,000 Exemplaren verbreitet ist.
Des Neubekehrten Name und Adresse werden in’s Recrutenbuch eingetragen, und er selbst wird unter die Ueberwachung eines „Sergeanten“ gestellt, der die Pflicht hat, darauf zu sehen, daß der Jünger seinen neuen Obliegenheiten gerecht wird; geschieht dies nicht, so beauftragt der Capitain der betreffenden Abtheilung den Sergeanten oder einen „Gemeinen“, den Säumigen in seiner Wohnung aufzusuchen. Die „Recruten“, die sich drei Monate lang tapfer halten und nicht in ihre alte Lebensweise zurückfallen, werden nach Ablauf dieser drei Probemonate „Soldaten“; als solche erhalten sie einen Schein, der von Vierteljahr zu Vierteljahr erneuert wird, so lange sie sich gut aufführen. Sie gehen des Tages über ihrem gewöhnlichen Berufe als Arbeiter etc. nach und widmen blos ihre freien Stunden dem Dienste in der Seligmacher-Armee. Erst wenn sie zu Officierem avanciren, treten sie gänzlich in die Dienste des Generals und erhalten eine mäßige Bezahlung. Natürlich werden nur die Bewährtesten Sergeants, Lieutenants, Capitains und Majore.
Aus unseren bisherigen Mittheilungen geht vor Allem zweierlei hervor: erstens, daß der in Rede stehende Verband in erster Linie Missionszwecke verfolgt; zweitens, daß seine Organisation eine rein militärische ist. Die Seligmacher unterscheiden sich von den sonstigen Missionsanstalten hauptsächlich dadurch, daß sie es nicht auf Atheisten, Juden, Heiden etc., sondern blos auf säumige Christen, lässige Bekenner aller christlichen Confessionen abgesehen haben und daß sie Niemanden zu einer bestimmten christlichen Secte bekehren wollen, sondern nur zu einem „christlichen, gottgefälligen“ Lebenswandel im Allgemeinen. Ihre Mitglieder gehören allen möglichen Secten an und dürfen glauben, was sie wollen, so lange sie Christus verehren und den vom General gegebenen Vorschriften nachkommen.
Was die Organisation betrifft, so verdankt sie ihr Entstehen dem Begründer der „Armee“, der jetzt ihr General ist: dem früheren Methodistenprediger William Booth. Dieser kam vor siebenzehn bis achtzehn Jahren nach London und war über das rohe Leben, das er im Eastend beobachtete, über die Trunksucht und Rauflust der Arbeiterbevölkerung und ihre Abneigung gegen den Kirchenbesuch so entsetzt, daß er beschloß, sein Leben der Rettung oder Seligmachung jener Unglücklichen zu widmen. Er richtete eine „Christliche Mission“ ein, der er anfangs einen patriarchalischen, später einen parlamentarischen Charakter verlieh. Bei dem unwissenden Publicum, an das er sich wandte, verfing all dies nur schwach, sodaß er sich vor sieben bis acht Jahren veranlaßt sah, den Verband auf militärischem Fuße umzugestalten. Der Erfolg war so riesig, daß er 1877 schon über 29 Armeecorps, 31 bezahlte Officiere, 625 geschulte Soldaten und ein Jahreseinkommen von 4200 Pfund verfügte; gegenwärtig bestehen 331 Corps, die Anzahl der Officiere beträgt 760 Männer und Weiber mit Wochengehältern von 15 bis 27 Schilling, die der Soldaten über 15,000, die der wöchentlichen Missionsversammlungen mehr als 6200, und das Einkommen der Armee – welches zumeist aus freiwilligen Spenden reicher Religions- und Mäßigkeitsfreunde, aus Sammlungen bei den Meetings und aus dem Erlös der Verbandschriften besteht – stellt sich für 1882 auf 70,000 bis 80,000 Pfund Sterling. Allmählich hat sich die Bewegung auf ganz London, seit zwei Jahren auf ganz England erstreckt, und seit einigen Wochen werden „Cadetten“ nach Schweden, Schottland, Irland, Holland, Australien und den Vereinigten Staaten geschickt, um die Fahne der Seligmacherei nach allen Weltgegenden zu tragen. In Ostindien haben sich einige Armeecorps schon vor drei Vierteljahren ansässig gemacht, und in Calcutta erscheint sogar schon ein „Indian War Cry“ als Zeitungsorgan der indischen Zweigniederlassung der Armee.
Bemerkenswerth ist, daß Booth, der seit siebenzehn oder achtzehn Jahren ausschließlich für seine Armee lebt, keinerlei Bezahlung annimmt, und er hat wahrlich keine Sinecure inne; denn jedes Detail der bereits so umfassenden Bewegung geht durch seine Hände. Er redigirt den „War Cry“ verfaßt die „Verordnungsbücher“, die „Weisungen“ u. dergl. m., kauft Grundstücke, miethet Versammlungslocale, leitet die Prüfungen der Cadetten – kurz, er ist der unumschränkte und allgegenwärtige Despot der Salvation Army; man ist daher auch vielfach der Ansicht, daß dieselbe nach seinem Tode zerfallen werde; denn man hält seinen Sohn für einen zu wenig bedeutenden Kopf und zu geringen Menschenkenner, als daß er im Stande wäre, seinen Vater zu ersetzen.
Das Verfahren der Armee beim Anlocken von „Büßern“ zeichnet sich vor allem durch eine erstaunliche „Volksthümlichkeit“ der Sprache aus, was bei dem Umstande, daß die Armee aus den niedrigsten Classen zusammengesetzt ist, nicht Wunder nehmen kann. Die Ausdrücke, die man auf den Erlösungsversammlungen stündlich hören und auf den vom „Hauptquartier“ ausgehenden Plakaten täglich lesen kann, sind so burschikos, daß ernste Religionsfreunde sich darob entsetzen. Die Plakate nennen Christus mitunter einen „gemüthlichen Jungen“, den Propheten Elia einen „lustigen alten Herrn“ und behaupten von Gott, er „balge sich fortwahrend herum“, und was dergleichen heitere Dinge mehr sind; das mißfällt natürlich der Geistlichkeit entschieden und hält sie zum großen Theil noch ab, die Seligmacher, deren Tendenzen sie im Allgemeinen billigt, offen zu unterstützen.
Aber Booth kann und darf dem Uebel nicht steuern; denn gerade diese Sprache ist es, die im Verein mit der lärmenden Musik das niedrige Publicum anzieht, welches die gewöhnlichen „würdevollen“ Missionen langweilig findet und daher verschmäht.
Ist schon die ganze Seligmacher-Bewegung, weil auf Sensation und Skandal berechnet, als ein socialer Auswuchs zu bezeichnen, so muß man insbesondere noch auf Eines tadelnd hinweisen: General Booth hat sich nämlich in neuerer Zeit auch der Kinder angenommen und einen „Kinderkrieg“ organisirt. So unsinnig dies auch sein mag, so hätte es an sich vielleicht nicht viel zu bedeuten, wenn die Art, wie dieser „Krieg“ geführt wird, nicht so lächerlich wäre und nicht so große Gefahren bärge. Vor etwa fünf Vierteljahren begründete Booth ein Seitenstück zum „War Cry“ den „Little Soldier“ („kleiner Soldat“), von dem schon jetzt wöchentlich über 60000 Exemplare abgesetzt werden. Nichts kann so sehr den allgemein anerkannten Grundsätzen einer guten Kindererziehung widersprechen als der seltsame Inhalt dieses Blättchens, dessen Spalten zumeist mit Briefen kleiner Kinder gefüllt sind, welche in endloser Wiederholung verkünden, daß sie „Gottlob erlöst sind“ und sich „auf dem glücklichen Wege zur Glorie befinden“. Wir hätten es nie für möglich gehalten, daß ein so kluger Kopf wie Booth Kinder durch Druckerschwärze ermuthigen kann, Briefe zu schreiben wie der folgende:
„Ich danke Gott, denn ich bin gerettet und auf dem Wege zum Himmel. Meine Brüder Georg und Teddy sind ebenfalls erlöst, desgleichen das Baby (!). Ich bedaure, daß weder Papa noch Mama bisher gerettet sind, hoffe aber, daß sie es bald sein werden. Mama liest dem Papa sehr gerne Abends im Bette Romane vor. Bitte, beten Sie für ihre baldige Rettung! Beten Sie auch für mich; denn ich bin ein ausgelassenes Mädchen und ärgere Mama zuweilen. Ida, zehn Jahre alt.“
Auch giebt es bereits eigene Kindercasernen und Kinderversammlungslocale, in denen die Kleinen „erlöst“ und „gedrillt“ werden. Sollten diese Narretheien überhand nehmen, so wird die Seligmacher-Armee wohl ein schnelles Ende nehmen – und das wäre ein Segen.
[128]Das Heidelberger Schloß.
„Alt Heidelberg, du feine,
Du Stadt an Ehren reich!“[WS 1]
„Deutsche Renaissance“ heißt heute das Schlagwort, wo immer von den Bestrebungen der Baukunst und des Kunstgewerbes die Rede ist. Die phantasievollen Schöpfungen jener Frühlingszeit deutschen Geistes, von der Ulrich von Hutten sagt: „O Jahrhundert, die Geister erwachen; die Studien blühen; es ist eine Lust zu leben!“[WS 2] – jener Zeit des Humanismus und der Reformation, welche zugleich die Zeit Dürer’s[WS 3] und Holbein’s[WS 4] war – sie sind den Künstlern unserer Tage wieder Vorbild und Leitstern geworden. Mit rastlosem Eifer wird aus den Bibliotheken hervorgesucht, was an künstlerischen Entwürfen jener Tage sich gerettet hat, werden die noch erhaltenen Baudenkmäler deutscher Renaissance aufgesucht, studirt, gemessen und gezeichnet. Und betrachtet man die Umwälzungen, die auf Grund dieser Bewegung in dem Aussehen unserer Städte, in unsern Wohnungen und an unserem Geräth sich bereits vollzogen, ermißt man den gewaltigen Fortschritt, den das Kunstvermögen unseres Volkes hierbei gemacht, so wird man nicht daran zweifeln können, daß die Kunst jener Zeit ein dem Genius der deutschen Nation besonders zusagendes Element enthalten muß und daß mit dem Wiederanknüpfen an dieselbe endlich die Grundlage für eine nationale Entwickelung unserer Kunst gefunden worden ist.
Es hat diese Erscheinung um so mehr etwas Wunderbares, als vor anderthalb Jahrzehnten von einer solchen Bewegung noch keineswegs die Rede war. Kaum von wenigen Künstlern und Kunstfreunden gewürdigt, von der großen Menge vergessen und übersehen, wurden die Denkmäler deutscher Renaissance, die heute unser Stolz und unsere Freude sind, fast ebenso gering geschätzt, wie man früher in dem dünkelhaften Bewußtsein, einen „gereinigten Stil“ zu besitzen, auch die erhabenen Schöpfungen mittelalterlicher Baukunst als „barbarisches Schnörkelwerk“ verachten zu können glaubte.
Nur ein Bauwerk jener Periode hat in dieser Beziehung eine Ausnahme gemacht; nur eines ist dem deutschen Volk von jeher theuer gewesen: das Schloß zu Heidelberg!
Freilich haben noch andere Ursachen mitgewirkt, um der ehemaligen Residenz der pfälzischen Kurfürsten eine derartige bevorzugte Stellung anzuweisen. Für Tausende von deutschen Männern aus allen Gauen des Vaterlandes war und ist das Bild des Schlosses unlöslich verknüpft mit der Erinnerung an das fröhliche Burschenleben, das ihnen einst in dem alten Musensitze am Neckar geblüht hat. Sie alle sind begeisterte Verkünder seines Ruhmes geworden, dem vor einigen Jahrzehnten in Victor Scheffel sogar ein eigener gottbegnadeter Sänger erstanden ist. Und seine wesentlichste Begründung findet dieser Ruhm des Heidelberger Schlosses in dem unvergleichlichen malerischen Reize der an hohem waldgeschmücktem Bergabhange belegenen Stätte.
Aber abgesehen hiervon und von dem imposanten Eindrucke, den das Ganze hervorruft, sind es in erster Linie doch die künstlerisch werthvollen Bautheile, die den eigenartigen Vorzug des Heidelberger Schlosses bilden und die ihm den Ruf der schönsten unter allen Ruinen verschafft haben. Wer empfänglichen Sinnes den Schloßhof betreten hat und sein Auge über [129] die in großartigen Verhältnissen aufragenden, das reichste plastische Leben athmenden Façaden des Otto-Heinrichs- und des Friedrichs-Baues schweifen ließ, er mußte unwillkürlich der weihevollen Empfindung sich hingeben, daß diese Leistungen zu den vornehmsten und besten gehören, die jemals von Menschenhand geschaffen wurden.
Natürlich hat sich diese künstlerische Bedeutung des Heidelberger Schlosses, der eine charakteristische Anerkennung namentlich durch die 1859 in Paris erschienene prächtige Publication R. Pfnor’s[WS 5] zu Theil geworden ist, noch mehr gesteigert, nachdem die Bauweise, zu deren classischen Beispielen es gehört, neues Leben gewonnen hat. Es ist seither das beliebteste Studienobject unserer Architekten und Architektur-Bildhauer geworden und wird für immer eine Fundgrube bleiben, aus der dieselben frische Anregung für ihr Schaffen und Streben schöpfen. Und mehr und mehr wächst auch im ganzen Volke das Bewußtsein, daß wir in diesem Denkmal deutscher Renaissance ein nationales Kleinod besitzen, dessen glückliche Rettung, wenn auch nur als Ruine, wir nicht dankbar genug preisen können.
Leider wird die Freude an unserem Kleinod durch die Sorge um seine Zukunft getrübt; denn seitdem feindliche Kugeln und Pulverminen und die zerstörende Macht des Feuers den herrlichen Fürstensitz in eine Trümmerstätte verwandelt, haben Sturm und Wetter, Regen und Frost, haben die Wurzeln des auf dem Gemäuer entsprossenen Pflanzenwuchses nicht umsonst an seinem Mark gezehrt.
Noch stehen die stolzen, des schützenden Daches beraubten Mauern, aber ihr festes Gefüge wird bereits bedenklich gelockert. Noch entzückt uns die Pracht der architektonischen Gliederung, des Ornaments und Figurenschmucks, aber langsam bröckelt der Stein an diesen plastisch vortretenden Theilen ab, und schon fängt so manche Form sich zu vermischen an. Derartige Zerstörungen schreiten bekanntlich oft in ungeahnt schneller Steigerung vorwärts. Wer kann es wissen, ob nicht schon unsere Enkel den völligen Untergang so mancher Theile des Baues zu beklagen haben werden!
Eine solche Gefahr ist zu ernst, als daß sie nicht schon längst die Gedanken der für das Schicksal des Heidelberger Schlosses zunächst besorgten Künstlerschaft erregt und dieselbe zur Erörterung der Frage veranlaßt haben sollte, ob und mit welchen Mitteln ihr am wirksamsten begegnet werden könne. Es ist jedoch klar und ist auch von jener Seite niemals verkannt worden, daß eine solche Frage, an welcher das gesammte deutsche Volk betheiligt ist, nicht anders als vor dem Forum eben des Volkes entschieden werden darf, weil die Nation als solche am ersten in der Lage ist, dem gefährdeten Bauwerke dauernden Schutz angedeihen zu lassen.
Vor einem weiteren Eingehen in jene Frage sei mir jedoch an der Hand der hier mitgetheilten Abbildungen ein Blick auf die Geschichte des Bauwerkes gestattet!
Der Ursprung der Stadt und des Schlosses Heidelberg reicht bis in das zwölfte Jahrhundert zurück und wird von dem Burgbaue abgeleitet, den Conrad von Hohenstaufen,[WS 7] Friedrich Barbarossa’s Bruder, im Jahre 1147 auf einer der höchsten Kuppen des am linken Neckarufer emporsteigenden Gebirgszuges errichtete. Den hohenstaufischen Pfalzgrafen folgten als Landesherren und Besitzer der Burg Fürsten aus dem Welfen-, dann aus dem Wittelsbacher Hause. Einer der Letzteren, Rudolph der Erste († 1319)[WS 8] fügte jenem ersten, später durch eine Pulverexplosion zerstörten Sitze eine Unterburg hinzu, für welche ein etwa in der Mitte der Berglehne vorspringender Hügel ausgewählt wurde.
Ein vermuthlich aus dieser ersten Anlage des gegenwärtigen Schlosses stammendes Gebäude, das jedoch möglicher Weise erst von Pfalzgraf Rudolph dem Zweiten († 1351)[WS 9] gegründet wurde, ist in dem auf der Westseite des Schlosses thurmartig aus dem [130] Walle aufragenden Rudolphs-Bau bis heute erhalten. Von verhaltnißmäßig schlichter architektonischer Fassung, enthielt derselbe – soweit sich dies bei dem zerstörten Zustande des Innern erkennen läßt – neben einem größeren Saale zumeist kleinere, offenbar zu Wohnzwecken dienende Räume.
Anspruchsvoller schon tritt der an die Südostecke des Rudolphs-Baues anstoßende Ruprechts-Bau auf, den Pfalzgraf Ruprecht, der zweite deutsche König aus dem Hause Wittelsbach († 1410),[WS 10] wahrscheinlich zu dem Zwecke errichtet hat, um für die gesteigerten Bedürfnisse seiner königlichen Hofhaltung Raum zu gewinnen. Prächtige Säle, darunter der hochgepriesene „Königssaal“, erfüllten das Innere. Von der zu einem kleinen Theile erhaltenen künstlerischen Ausstattung des Aeußeren hat die „Gartenlaube“ in einem früheren Jahrgange (1877, S. 451[WS 11]) ein anmuthiges Schlußsteinmotiv bildlich dargestellt.
In dem an die andere Ecke der Hoffront des Rudolphs-Baues sich lehnenden Gebäude, dem sogenannten „Bandhause“ (so benannt, weil es im vorigen Jahrhunderte eine Faßbinderwerkstatt enthielt), hat man früher mit Unrecht die Reste der mittelalterlichen Capelle erblicken wollen, die Pfalzgraf Ruprecht der Erste[WS 12] schon 1346 dem Schlosse hinzugefügt hatte – eine so wohl dotirte Stiftung, daß sie Papst Julius der Dritte für die reichste Capellmeisterei in ganz Deutschland erklären konnte. Diese Capelle dürfte in Wirklichkeit ebenso verschwunden sein, wie alle anderen Nebengebäude, mit denen jedenfalls schon im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert der ganze Schloßhof umbaut war und die demnächst allmählich der Baulust späterer Herrscher weichen mußten. Seine letzte Gestalt hatte das Bandhaus, das wie der Ruprechts-Bau hauptsächlich den Zwecken festlicher Repräsentation gedient haben dürfte, erst nach dem Dreißigjährigen Kriege erhalten.
Mittelalterlichen Ursprungs ist dagegen noch ein Theil der trotzigen Festungswerke, welche einst das Schloß vertheidigten. Kurfürst Friedrich der Siegreiche (1449 bis 1475),[WS 13] der die schöne und geistvolle Hofsängerin Clara Dettin von Augsburg[WS 14] sich zur Gemahlin erkoren hatte und seinen Kurhut gegen die Acht des Kaisers zu behaupten wußte, gilt für den Erbauer des mit sechs Meter starken Mauern aufgeführten mächtigen Südostthurms, der nunmehr schon seit zweihundert Jahren den Namen des „Gesprengten Thurms“ führt.
Der größere Theil der Festungswerke des Schlosses entstammt freilich erst der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts und der energischen Bauthätigkeit, durch welche die Kurfürsten Ludwig der Fünfte (1508 bis 1544)[WS 15] und sein Bruder Friedrich (1544 bis 1556)[WS 16] dem Sitze ihrer Väter eine neue Gestalt gaben.
Pfalzgraf Ludwig, aus den Fehden mit Franz von Sickingen[WS 17] und dem Bauernkriege bekannt, vervollständigte die Befestigungen der Südseite durch den großen Wartthurm, der mit dem Brückenhause den Haupteingang zum Schloßhofe sicherte, und durch den an der Südwestecke errichteten Ludwigs-Thurm. Er erbaute auch die mächtigen Batterien der Westseite, die an der Nordwestecke in dem dicken Thurm ihren Abschluß fanden.
Pfalzgraf Friedrich ergänzte in derselben Weise die Werke der Ostseite durch den Bibliothekthurm und den an der Nordwestecke liegenden achteckigen Thurm, dessen hoher die Gesammt-Silhouette dominirender Aufbau die Glocken des Schlosses enthielt.
Denselben Fürsten gehören überdies namhafte Theile der eigentlichen Schloßgebäude an: dem Pfalzgrafen Ludwig der vom Eingänge bis zum Bibliothekthurm sich erstreckende, allerdings vorwiegend für untergeordnete Zwecke bestimmte Ludwigs-Bau, dem Pfalzgrafen Friedrich der an den achteckigen Thurm sich anschließende, auf der Nordseite belegene Neue Hof. Beide Bauten waren verhältnißmäßig immer noch einfach gehalten – der Ludwigs-Bau im Wesentlichen noch gothisch, der Neue Hof mit seinen nach dem Schloßhofe geöffneten Arcaden bereits in den Formen der Renaissance.
Das reichere Leben der entwickelten Renaissance in den Schloßbau einzufügen und denselben damit zugleich in die Reihe der hervorragendsten Kunstbauten zu versetzen, war erst dem Nachfolger Friedrich’s des Zweiten, Pfalzgraf Otto Heinrich,[WS 18] vorbehalten. Der Otto-Heinrichs-Bau, die Perle unter den Gebäuden des Heidelberger Schlosses, füllte die Lücke zwischen dem Ludwigs-Bau und dem Neuen Hofe aus. Leider ist uns der Name des Architekten, der das Meisterwerk geschaffen, nicht überliefert worden. Dagegen ist durch einen glücklichen Zufall die Entdeckung gelungen, daß die herrlichen Bildhauerarbeiten des Baues von Alexander Colius aus Mecheln[WS 19] herrühren, der bekanntlich auch unter den Meistern des Maximilian-Denkmals in Innsbruck[WS 20] rühmlichst genannt wird.
War die erste Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts für das Schloß eine Zeit kräftigster Bauthätigkeit gewesen, so ruhte diese in den nächsten vierzig Jahren vollständig. Erst 1601 ließ Kurfürst Friedrich der Vierte,[WS 21] der Gründer der Stadt Mannheim, auf der Nordseite des Schloßflugels, im Anschluß an den Neuen Hof, einen zur Aufnahme der Schloßcapelle und der kurfürstlichen Wohnung bestimmten Palast, den Friedrichs-Bau, errichten, der bereits 1607 zur Vollendung kam und 1608 durch die Anlage des ihm vorgelegten großen Schloß-Altans eine stattliche Ergänzung erhielt. Dem Otto-Heinrichs-Bau an gothischem Reiz nachstehend, ist der Friedrichs-Bau, von dessen Baumeistern ebenfalls nur der Schöpfer des bildnerischen Schmucks, Sebastian Götz aus Chur, bekannt ist, gleichwohl eines der charaktervollsten und tüchtigsten Werke deutscher Renaissance, das auf die neue Entwickelung dieses Stils fast einen größeren Einfluß ausgeübt hat, als jener. Unter allen bisher besprochenen Bauten ist er in Verbindung mit dem Schloß-Altan zugleich diejenige Anlage, bei welcher auf die herrliche Umgebung des Bauwerks, wie es scheint, zuerst bewußte Rücksicht genommen wurde.
In noch höherem Grade geschah dies bei denjenigen Bauten, welche Pfalzgraf Friedrich der Fünfte, der „Winterkönig“,[WS 22] von 1612 bis 1618 seiner Gemahlin, Elisabeth von England,[WS 23] zu Liebe aufführen ließ. Durch den als Erfinder der Idee der Dampfmaschine bekannten normännischen Ingenieur Salomon de Caus[WS 24] wurden, mit Aufopferung eines Theils der Festungswerke, rings um das Schloß die prachtvollsten, mit allen Künsten eines raffinirten Geschmacks gezierten Gartenanlagen geschaffen. Auf dem am weitesten nach der Stadt vorspringenden Punkte des Schlosses, dem dicken Thurm, wurde ferner ein großartiger Festsaal errichtet und dieser durch einen neuen Flügel, den englischen oder Elisabeth-Bau, eine im Aeußeren einfache, im Inneren aber um so prunkendere Palastanlage, mit den übrigen Bauten in Verbindung gesetzt.
Die von Friedrich dem Fünften in’s Leben gerufenen Werke waren noch nicht ganz vollendet, als der Dreißigjährige Krieg ausbrach, der den unglücklichen Fürsten zunächst zu jenem kurzen Königstraum nach Böhmen, dann aber als landlosen Flüchtling in die Fremde trieb, aus der nach dem Westfälischen Frieden erst sein Sohn wiederum als Herrscher in die alten Stammlande und zum Sitz der Ahnen zurückkehrte.
Das Schloß war in den Stürmen des Krieges zwar zweimal vom Feinde heimgesucht und seiner kostbarsten Schätze – vor Allem der Bibliothek – beraubt, aber doch nicht so arg beschädigt worden, daß nicht eine Wiederherstellung möglich gewesen wäre, und so prangte die kurfürstliche Residenz bald wieder in ihrer allen Pracht als das reichste und schönste Fürstenschloß Deutschlands, mit dem selbst in ganz Europa nur wenige wetteifern konnten.
Es sind namentlich aus dieser letzten Glanzzeit des Heidelberger Schlosses mehrere Abbildungen erhalten, die uns im Verein mit dem von Salomon de Caus über den kurfürstlichen Garten herausgegebenen Werke und mehreren älteren Schriften eine anschauliche Vorstellung von der in ihrer Art einzigen Anlage gewähren: die bekanntesten in M. Merian’s illustrirter Beschreibung der Pfalz,[WS 25] die schönste die von Ulrich Kraus im Jahre 1683 herausgegebene Radirung, von welcher der beigefügte Holzschnitt ein verkleinertes Facsimile ist.
Sechs Jahre später, 1689, war all diese Herrlichkeit und mit ihr die Blüthe der gesegnetsten Gaue Deutschlands durch die Mordbrennerbanden vernichtet, die Ludwig der Vierzehnte[WS 26] von Frankreich ausgeschickt hatte, um die angeblichen Erbansprüche der an seinen Bruder vermählten pfälzischen Fürstentochter Elisabeth Charlotte[WS 27] geltend zu machen. Was der Verwüstung noch Widerstand geleistet hatte, fiel einer zweiten französischen Heimsuchung im Jahre 1693 zum Opfer; der furchtbaren Gewalt des Pulvers konnten selbst solche gewaltige Werke, wie die Festungsthürme Friedrich’s des Streitbaren und Ludwig’s des Fünften, nicht widerstehen.
Zum Glück war die Arbeit der Zerstörer hier wie anderwärts doch nicht so gründlich, daß nicht wenigstens einzelne Theile [131] der Bauten erhalten geblieben wären. Ja, es gelang sogar einige derselben – den Friedrichs-Bau mit dem Faßgebäude, den Neuen Hof, den Otto-Heinrichs-Bau und Theile des Ludwigs-Baues – zur Noth wiederum in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen, sodaß der Hof zeitweise nach Heidelberg zurückkehren konnte. Aber die Freude an ihrer alten Residenz war den pfälzischen Wittelsbachern verleidet, und 1721 erkor sich Kurfürst Karl Philipp[WS 28] Mannheim endgültig zur neuen Hauptstadt.
Kurze Zeit bevor der letzte Herrscher von Kurpfalz, Karl Theodor,[WS 29] die Erbschaft der ausgestorbenen älteren Linie seines Geschlechtes antrat und nach München übersiedelte, soll er die Absicht gehabt haben, seinen Sitz wiederum im Heidelberger Schlosse zu nehmen. Ein durch einen Blitzstrahl entzündeter Brand, der am 24. Juni 1764 den achteckigen Thurm, den Neuen Hof und den Otto-Heinrichs-Bau wiederum zu Ruinen machte, vereitelte diesen Plan und besiegelte das Schicksal des Schlosses auf lange Zeit.
Ueber ein Menschenalter hinaus war dasselbe nunmehr völliger Verwahrlosung preisgegeben. Zu den Elementen gesellte sich als Zerstörer noch der brutale Eigennutz Derer, welche die Schutzlosigkeit der Ruine dazu ausbeuteten, um hier in bequemer Weise Steinmaterial zu gewinnen. Wie zum Ersatze dafür nahm die Natur allmählich wieder Besitz von der verlassenen Stätte. Grüner Rasen, Büsche und Bäume entsproßten in den wüsten Gärten und Höfen wie innerhalb der dachlosen Paläste, und mitleidig deckte der Epheu die offenen Wunden des Mauerwerks mit seinem üppigen Laube. – Etwas bessere Ordnung wurde geschaffen, als im Jahre 1804 Heidelberg zu dem neu errichteten Großherzogthum Baden geschlagen wurde.
Im Schloßgarten wurde eine forst-botanische Anstalt für die Universität eingerichtet, das Schloß selbst wieder in Obhut genommen. Ja selbst an mehreren umfangreichen Reparaturen und Versuchen zur Wiederherstellung einzelner Theile hat es nicht gefehlt, seitdem der wachsende Ruhm der Ruine alljährlich viele Tausende von Reisenden gen Heidelberg führt, Wallfahrer, deren Beiträge zum Zweck der Herstellung der Ruine verwendet werden konnten. In Gemeinschaft mit den Organen der Regierung läßt sich außerdem der unterhalb der Bevölkerung Heidelbergs entstandene „Schloßverein“ die Sorge um das kostbarste Besitzthum des Ortes angelegen sein.
Aber so dankenswert diese dem Denkmal wiederum zugewendete Pflege auch ist, und wie viel des plötzlich drohenden Unheils durch sie bereits mag verhütet worden sein, so hat sich doch in technischen Kreisen die Ueberzeugung immer entschiedener Bahn gebrochen, daß es nur ein einziges Mittel giebt, um die künstlerisch werthvollen Theile des Heidelberger Schlosses vor dem Untergang zu retten: die Wiederherstellung derselben in ihrem ursprünglichen Zustande. Und für die Wahl dieses Mittels kann ich auch an dieser Stelle nur aus vollem Herzen werben.
Als vor geraumer Zeit der angesichts so manches anderen ähnlichen Unternehmens – vor Allem der Vollendung des Kölner Doms – jeweilig nahe liegende Gedanke einer Wiederherstellung des Heidelberger Schlosses zum ersten Male ausgesprochen wurde, hat er freilich nur geringe Sympathie gefunden. Das geistige Leben der Nation lag damals noch gar zu sehr im Banne der romantischen Strömung, die – aus dem ohnmächtigen Darniederliegen des Vaterlandes geboren – mit den Träumen von der Herrlichkeit alter Zeiten unwillkürlich die Resignation verband und in elegischen Empfindungen schwelgte. Man schwärmte noch immer für Ruinen, und den poetischen Zauber, der die Heidelberger Schloßruine umwebt, durch eine Restauration antasten zu wollen, mußte als ein geradezu barbarisches Verfahren erscheinen.
Dank den großen Ereignissen, welche mit dem Selbstbewußtsein unserer Nation ihre Thatkraft so mächtig erregt haben, ist jene kränkliche Stimmung heute schon stark geschwunden. Die Bestrebungen, das Heidelberger Schloß wieder herzustellen, haben seit Jahren nicht mehr geruht, und namentlich ist es Herr Bildhauer Anton Scholl in Mainz gewesen, der unermüdlich in diesem Sinne gewirkt hat. Der Heidelberger Schloßverein, die großherzogliche Regierung, vor Allem aber der Großherzog von Baden selbst, sind seinen Bestrebungen mit größtem Wohlwollen entgegen gekommen. Aber obgleich die Kosten eines derartigen Unternehmens in dem Umfange, der dafür angemessen erscheint, keineswegs allzu bedeutende – im Vergleiche zu den Baukosten des Kölner Domes sogar geringe – sein dürften, so kann dem kleinen badischen Lande doch unmöglich zugemuthet werden, dieselben allein zu tragen. Als die einzig mögliche und einzig würdevolle Lösung erscheint es vielmehr, daß die gesammte deutsche Nation das Werk auf sich nehme.
In dieser Auffassung hat im Herbst des vorigen Jahres die in Hannover tagende fünfte Generalversammlung des mehr als sechstausend Mitglieder umfassenden Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine einstimmig den Beschluß gefaßt, für die Wiederherstellung des Heidelberger Schlosses, als eine Ehrenpflicht des deutschen Volkes einzutreten. Der Aufruf schließt mit den Worten:
„Dieses Kleinod deutscher Baukunst zu retten und es in seiner Neugestaltung zu einem Denkmal der wieder gewonnenen Macht und Größe des Vaterlandes, des wieder erwachten Kunstsinns unserer Nation zu weihen, erscheint als eine Pflicht des gesammten deutschen Volkes, weil es eine dem gesammten Deutschland in der Zeit seiner tiefsten Ohnmacht zugefügte Schmach war, daß [132]
feindlicher Uebermuth den kunstgeschmückten Fürstensitz frevelhaft zerstören durfte.
Die fünfte Generalversammlung des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine glaubt zunächst ihre Aufgabe erfüllt zu haben, wenn sie auf’s eindringlichste an diese Ehrenpflicht erinnerte. In welcher Weise eine solche Wiederherstellung des Heidelberger Schlosses einzuleiten und wie die werkthätige Teilnahme des deutschen Volkes für dieselbe zu gewinnen sei, überläßt sie mit vollstem Vertrauen der Initiative der Großherzoglich badischen Regierung, deren treuer Fürsorge es allein zu danken ist, daß dem gänzlichen Verfall des Bauwerks bisher nach Möglichkeit gesteuert wurde.
Sie hat mit Freude von den Schritten Kenntniß genommen, welche bereits von anderer Seite in gleichem Sinne – vorläufig zur Herbeiführung einer gründlichen fachmännischen Untersuchung des Bauwerks und zur Aufstellung eines Restaurations-Entwurfs – geschehen sind, und sie ersucht den Vorstand des Verbandes, so weit es in seiner Macht steht, diese Schritte aus’s wärmste unterstützen zu wollen.“
Dieser von allen Seiten auf’s günstigste aufgenommene Aufruf, dem auch der Vorstand der „Deutschen Kunstgenossenschaft“ und die Generalversammlung des „Verbandes deutscher Geschichtsvereine“ zugestimmt haben, enthält in gedrängter Form alles, was sich zur Sache sagen läßt, und es scheint kaum notwendig, für ihn an dieser Stelle mit weiteren Gründen zu plaidiren.
Nur eines seltsamen Einwandes gegen die Wiederherstellung des Baues mag hier noch gedacht werden: man hat sich Skrupel darüber gemacht, was in Zukunft mit dem wieder hergestellten Schlosse angestellt werden solle. Darauf ist einfach zu entgegnen, daß man derartige Restaurationen in erster Linie als Selbstzweck ausführt. An einer würdigen Bestimmung des Schlosses wird es trotzdem nicht fehlen, ohne daß man es zu Fremdenzimmern für Touristen einzurichten braucht – sei es, daß man es nach dem Vorschlage, den Levin Schücking bereits beiläufig in der „Gartenlaube“ geäußert hat (vergl. die Erzählung „Recht und Liebe“, Jahrgang 1882, S. 252), dem deutschen Kaiser als Sommerresidenz anweist, sei es, daß es dem großherzoglich badischen Herrscherhause zu seiner Verfügung bleibt, sei es, daß man es zu einem Museum weiht.
Ich schließe mit dem lebhaften Wunsche, daß man vor allen Dingen eine Entscheidung über das Schicksal dieses Denkmals deutscher Baukunst recht bald herbeiführen möge. In drei Jahren wird man zu Heidelberg das 500-jährige Jubiläum der Universität feiern – in sechs Jahren kehrt der 200-jährige Jahrestag der Zerstörung des Baues durch die Franzosen wieder. Um wie viel glänzender würde jenes ausfallen, wenn die Festgenossen schon auf einen Anfang der Herstellungsarbeiten am Schlosse blicken könnten; um wie viel stolzer könnten wir an dem Tage der Schmach die Vergangenheit gegen die Gegenwart Deutschlands abwägen, wenn bereits einer der vor 200 Jahren verwüsteten Theile des Schlosses wieder in alter Herrlichkeit prangte! Mittel und Wege, um zu diesem Ziele zu gelangen, werden sich von selbst finden, wenn nur der Wunsch, es zu erreichen, allgemein lebendig geworden ist.
Mögen die Leser der „Gartenlaube“ dazu beitragen, daß es also geschehe! An sie Alle, Alle richte ich meine innige Fürbitte für das Kleinod deutscher Renaissance!
Deutschlands erster Kriegshafen.
Angesichts der hohen Bedeutung, welche unserer Seemacht für den Schutz der heimischen Küsten in Kriegsgefahr und das Ansehen der deutschen Handelsflagge in Friedenszeiten unstreitbar zugeschrieben werden muß, dürfte es nicht ohne Interesse sein, den Blick auf die Pflanzstätte und den Schutz- und Trutzort unserer jungen Seestreitmacht, auf einen unserer Kriegshäfen, zu werfen. Wenn wir zu solchem maritimen Ausflug nun unser nordisches Wilhelmshaven auswählen, so geschieht dies einerseits, weil seine Anlagen und Etablissements die großartigsten und merkwürdigsten sind, die wir zur Zeit besitzen, und ferner, weil seine abgeschiedene Lage gerade diesen Ort dem großen Publicum wenig hat bekannt werden lassen.
Von der freundlichen Residenz Oldenburg führt uns ein directer Bahnzug unserem Bestimmungsort entgegen. Und je näher wir ihm kommen inmitten der flachen Landschaft, die sich in ziemlich ermüdender Eintönigkeit zu beiden Seiten des Schienenweges hinzieht, desto verstärkter dringt ein seltsames, dem Binnenohr zuerst kaum verständliches Geräusch zu uns herüber. Geheimnißvoll tönt’s durch die reine, klare Luft, vibrirt es die Telegraphendrähte entlang und pfeift es in die offenen Fenster hinein. Das ist der ewige Wind von Wilhelmshaven, der uns sein „Willkommen!“ entgegensaust. Jetzt mischt sich noch ein greller Pfiff in sein stets wilder werdendes Lied; ein Ruck, und der Zug hält. Wir sind am Ziel. Schnell ausgestiegen und brav festgestanden! Der Jahde-Zephyr weht uns sonst noch um. – So! Und nun ohne weiteren Zeitverlust durchs Bahnhofsgebäude hindurch, dann links gewendet, an der stattlichen Kirche und dem großartigen Lazareth vorbei und hinauf auf den Deich, den ersten Wallfahrsort aller Neuankommenden.
Dieser grünbewachsene hohe Deich zieht sich in unabsehbarer Länge hin. Fest und mächtig ist er zusammengefügt, Gewaltiges aber hat er auch einzudämmen. Blickt man von seiner Höhe herab auf die anscheinend so harmlos seinen Saum umspielenden Meereswogen, dann kann man sich nur schwer vergegenwärtigen, welche Riesenmacht und arge Tücke sie zu entfesseln vermögen, und welch namenloses Elend sie in ihrem Schooße bergen.
Da, wo jetzt die Bucht der Jahde ihre gelben Wellen hinwälzt, war früher festes, reich gesegnetes Land. Große Dörfer und ansehnliche Bauernsitze lagen über der fruchtbaren Marsch zerstreut; glatte Rinder, schöne Pferde und zahllose Schafe tummelten sich auf den smaragdgrünen Weiden; Tausende von sorglosen Menschen freuten sich ihres Daseins im Sonnenschein und Licht. In einer einzigen, aber entsetzlichen Nacht im Jahre 1511 durchbrach eine Sturmfluth, mit schwerem Eisgang verbunden, den damals zu schwachen Deich und stürzte sich verheerend in die preisgegebene Ebene. Viele blühende Ortschaften mit allem Lebenden darin verschwanden von der Erdoberfläche. Nur ein uralter Kirchhof, dicht bei Wilhelmshaven, für dortige Bodenverhältnisse ungewöhnlich hochgelegen, hat die allgemeine Vernichtung überdauert und ragt, doppelt eindringlich vom Untergang alles Fleisches predigend, aus dem ungeheuren Massengrabe. Archäologische Forschungen haben aus seiner dunken Tiefe manch interessantes Stück zu Tage gefördert, und das Oldenburger Museum bewahrt mehrere dort aufgefundene sehr alte, steinerne Särge auf; ja, noch jetzt waschen die unermüdlich wühlenden Wogen ab und zu solch steinernes Ruhekämmerlein bloß. Daß man dort in stillen Nächten das Läuten der versunkenen Kirchenglocken hört, ist selbstverständlich. Dieses Stückchen naheliegender Romantik läßt sich selbst der sonst ziemlich realistisch veranlagte Eingeborene hier nicht nehmen.
Senken wir unseren Blick aber nicht zu tief in das trügerische Element! Heften wir ihn nicht zu lange auf jenes melancholische Friedhofsrestchen dort! Vorbei! Vorbei! Mögen die Todten ihre Todten begraben – wir wenden uns freundlicheren Bildern zu.
Da liegt zuvörderst zu unserer Linken das offene Land, das die neue Hafenstadt im Halbkreise umgiebt. Echt holländisch in seinem Charakter, mit den flachen Ebenen, den endlosen Wiesen, dem frei weidenden Vieh, vor Allem mit seinen allerorts sich hinschlängelnden Wasserarmen, breitet es sich vor uns aus. Eine gewisse anheimelnde Ruhe, ein behäbiger Reichthum liegt über der Landschaft ausgegossen, und kommt zu diesen ihren Vorzügen noch eine wirkungsvolle Beleuchtung und die an Seeküsten nicht seltene schöne Formation der tiefgehenden Wolken, dann kann man dem vor uns aufgerollten Bilde das anerkennende Kunstepitheton „stimmungsvoll“ nicht vorenthalten.
Ruhe und Wohlhabenheit ist der Grundzug der freundlichen Scenerie, Ruhe, die bis zur Indolenz geht, auch der Grundtypus des hiesigen Volkscharakters. Man täusche sich indessen nicht in dem scheinbar unerschütterlichen Phlegma und wähne nicht, daß unter der kalten Lavadecke kein heißer Funke zu glühen vermöge!
Der Friese hat nur zu oft gezeigt, daß er „eruptionsfähig“, und schon die unzähligen Einzelgehöfte, die wie ebenso viel befestigte Sitze im Lande sich erheben, deuten an, daß der Volkssinn
[133][134] von jeher ein wehrhafter gewesen. Man greift nicht fehl, wenn man annimmt, daß hart neben Sichel und Melkeimer auch Axt und Beil gelegen haben.
Auf diesem Grund und Boden entstand die neugeschaffene Welt, die wir von der Höhe des Deiches zu unseren Füßen erblicken. Unfertig noch, im steten Wachsen begriffen, wie ein einziger ungeheuerer Bauplatz erscheinend, ist sie nicht schön, noch weniger romantisch zu nennen; jedem Fußbreit ihrer Erde hat aber dahier der menschliche Genius seinen Stempel aufgedrückt. Die Natur ist in keiner Weise der Arbeit entgegen gekommen – im Gegentheil: das nötige Terrain hat ihr Schritt für Schritt abgekämpft werden müssen. Kein Gebäude vermochte sich ohne einen tragenden Rost von Rammpfählen auf dem morastigen Untergrund zu erheben, und nur unter unsäglichen Mühen und schweren Kosten konnte diese moderne Herculesarbeit zu Ende geführt werden. Wohin das staunende Auge blickt, nimmt es jetzt aber auch mit Bewunderung wahr, welche Riesenaufgabe Intelligenz im Bunde mit der Thatkraft zu lösen und zu bewältigen vermag.
Als König Friedrich Wilhelm der Vierte im Jahre 1848 die preußische Kriegsmarine in’s Leben rief und sie sich, glücklicher als ihre in demselben Jahre zu Frankfurt am Main vom damaligen Parlament geborene Schwester, die „deutsche Marine", welche nach rühmlichem Anfange unter dem Auctionshammer der Reaction endete – als lebensfähig erwies, da waren ihre ersten Regungen naturgemäß nur schwach und schüchtern. Am Dänholm zu Stralsund und in Stettin machte man die ersten bescheidenen Schwimmversuche. Später genügte das schöne Danzig mit seiner guten Rhede zu Neufahrwasser vollkommen den nur langsam sich entwickelnden Größeverhältnissen, und erst als das junge Institut allmählich erstarkte, die Zahl der Schiffe sich mehrte und das Verständniß für die Bedeutung einer wehrhaften Vertretung auch zur See sich mehr und mehr Bahn brach, erst da stellte sich das Bedürfniß nach einem zweiten großen Kriegshafen heraus. Schon lange erkannte der inzwischen zum Oberbefehlshaber ernannte Prinz Adalbert in richtiger Voraussicht, daß zur ferneren gedeihlichen Entwickelung der jungen Seestreitmacht noch ein an der Nordsee gelegener Hafen wünschenswert sei; er bot seinen Einfluß auf, dieser Ansicht Geltung zu verschaffen. Sein königlicher Vetter ging denn auch auf das Project ein. Bald begannen die Unterhandlungen mit Oldenburg wegen Abtretung des benöthigten kleinen Gebiets zwischen Rüstringersiel, Altheppens und dem Bant, das unmittelbar an der Jahde gelegen ist, und diese Unterhandlungen führten auch im Jahre 1855 zum erwünschten Resultate.
Zwei Jahre später wurde der erste Spatenstich gethan und damit der Anfang zu einer der schwierigsten Unternehmungen gemacht. Nicht nur die vorerwähnten Terrainverhältnisse und örtlichen Mißstände, auch Krankheiten, vor Allem das böse Marschfieber, das, durch die Erdaufwühlungen und die dadurch emporsteigenden Miasmen verstärkt, unter den Arbeitern hauste, namentlich aber auch der große Mangel an genügenden Arbeitskräften hinderten und verzögerten das Werk. Demungeachtet wurde unermüdlich fortgearbeitet. – Zuerst schoben sich die kolossalen, massiv geballten Molen in die Jahde hinein. Zu ihrer Linken hob sich das stark befestigte Fort Heppens, das mit seinen Batterien die Rhede bestreicht. Sodann schlossen sich am inneren Ende der Molen die Schleusen an, durch die hindurch die Schiffe in das erste ausgemauerte Bassin, den sogenannten „Vorhafen“, einlaufen sollten.
Von beträchtlicher Größe, vermag er auch ein gut Theil derselben aufzunehmen, bildet aber doch nur gewissermaßen und wie auch schon sein Name besagt, einen Vorhof, durch den hindurch – mittelst der nächstfolgenden, zweiten Schleusen und eines außerordentlich breiten, sehr lang sich hinziehenden Canals – die Schiffe in das innere, 370 Meter lange und 240 Meter breite Hauptbassin gelangen. In diesem Hauptbassin ist nun genügend Raum für eine mächtige Flotte, und in ihm überwintern und harren ihrer Ausrüstung die Panzerfahrzeuge, deren vornehmlichste Station die Nordsee ist, sowie zahlreiche andere Schiffe. An seinem Ende liegen auch die großen Docks und Hellinge, und um seine gemauerten Quais herum ziehen sich die gewaltigen Werkstätten und die zahlreichen Magazine. – Fuß für Fuß mußten alle diese durch ungeheuere Raumverhältnisse sich auszeichnenden Anlagen ausgegraben respective geräumt werden, und einen eigentümlichen Anblick gewährten die leeren, gähnenden Schlünde mit den in ihrer schwarzen Tiefe wimmelnden Arbeitergestalten. Nicht minder merkwürdig aber war das Bild, als man endlich die Schleusen mit äußerster Vorsicht und sehr allmählich öffnete, den damals die beiden Canalufer verbindenden Deich durchstach und nun die Jahdefluthen langsam ihren Einzug in das ihnen neubereitete Bett hielten.
Geraume Zeit war mittlerweile seit dem Beginne dieser Erdarbeiten verstrichen. Eine kleine Gemeinde, bestehend aus Beamten, Baumeistern, Arbeitern und durch die Aussicht auf lohnenden Erwerb angezogenen Handeltreibenden und Unternehmern, hatte sich gebildet und rüstig den Kampf mit dem Fieber und dem Mangel an fast jeder Lebensannehmlichkeit aufgenommen; noch immer aber war die Stätte, wo sie weilten, eine namenlose. Man mußte sich begnügen, den preußischen Erwerb, im Gegensatze zu dem nächstgelegenen Oldenburger Dorfe Heppens, als das „Stadtgebiet“ zu bezeichnen. Endlich verbreitete sich das Gerücht, an maßgebender Stelle sei der jungen Marinecolonie der Name „Zollern am Meere“ zugedacht, und man war es wohl zufrieden; denn der Name dünkte Jedem schau und gut. Es sollte indessen noch besser kommen! – Friedrich Wilhelm der Vierte ruhte schon manches Jahr in der stillen Friedenskirche zu Potsdam von seinem leidens- und schmerzensreichen Leben aus, und König Wilhelm hatte die schwierige Erbschaft angetreten. Schon schmückte unvergänglicher Lorbeer seine Siegerstirn, da begrüßte die inzwischen stark angewachsene Bevölkerung des Stadtgebiets mit Jubel die nunmehr sichere Kunde, daß ihr König, einer der Größten unter den Zollern, den eigenen Namen der neuen Schöpfung am Meere verleihen wolle. „Wilhelmshaven“ klang freilich am allerschönsten und glückverheißendsten.
Am 17. Juni 1869 kam der König denn auch in Person nach der Jahde, begleitet vom Prinz-Admiral Adalbert, den Großherzögen von Mecklenburg und Oldenburg, den Grafen Bismarck, Roon und Moltke und vielen anderen Würdenträgern, den Kriegshafen einzuweihen. Gleichzeitig legte er den Grundstein zur neuen Kirche. Mitten auf den Molen und umrauscht von den Nordseewogen, wurde der feierliche Art der Taufe „Wilhelmshavens“ von seinem erlauchten Pathen vollzogen. Von Nah und Fern waren das Landvolk und die Städtebewohner zusammengeströmt, und eine dichtgedrängte Menschenmenge sah in staunender Bewunderung auf die Reckengestalten des Preußenkönigs und seiner Paladine. König Wilhelm weilte damals zum ersten Male in Wilhelmshaven, und donnendere Hochs sind wohl selten von begeisterteren Lippen erklungen, als am Schlusse des Festes, welches man an jenem Junitage am öden, nordischen Strande beging. –
In dem nunmehr glücklich getauften Kriegshafen fanden die Arbeiten ihren stetigen Fortgang, wennschon der damaligen Oberleitung in Folge der mehr als knapp bewilligten Geldmittel die Hände sehr gebunden waren. Admiral Jachmann widmete Wilhelmshaven eine rege Theilnahme, und viele der Etablissements sind noch unter ihm entstanden. Auch eins der ersten im Inlande gebauten Panzerschiffe, der „Große Kurfürst“, wurde schon zu seiner Zeit auf den Stapel gelegt, und in Anbetracht der hemmenden Verhältnisse hat die damalige Verwaltung der Marine Anerkennens- und Dankenswerthes genug geschaffen. In ein ganz anderes Stadium trat freilich die Sache, als diese Verwaltung nach dem Kriege 1870 und 1871 in die des deutschen Reiches überging. Dank den nun ungleich reichlicher strömenden Geldern, dank dem regen Interesse, das von da an dem jungen Institute von allen Seiten entgegengetragen wurde, dank auch den mancherlei Erfahrungen, die man bisher gemacht und nun verwerthen konnte, kam von jenem Zeitpunkte an frisches Leben und neuer Impuls in das Ganze. Und zu den günstigeren Conjuncturen gesellte sich dann noch das große Verwaltungstalent und die außerordentliche Arbeitskraft des nunmehrigen Chefs der Marine, des Admirals von Stosch. So konnte es nicht fehlen, daß sich bald auf allen Gebieten ein reger Fortschritt geltend machte.
Nicht zuletzt wurde die erfrischende Wirkung des heilsamen Goldregens in Wilhelmshaven verspürt. Alles rührte sich mit regem Eifer, und die Arbeiten schritten rascher vorwärts.
Jetzt umgeben vier Forts, die von Heppens, Rüstringersiel, Schaar und Mariensiel das gesammte Jahdegebiet und sind bereit, es zu Wasser und zu Land zu verteidigen. Mächtige Casernen haben sich den schon vorhandenen zugesellt. Einem am Ort sehr fühlbaren Mangel, dem an gutem Trinkwasser, welchem man [135] schon im Jahre 1865 durch Anlegung eines artesischen Bohrbrunnens zu steuern versucht, ist nun durch den Bau eines kolossalen Wasserturms, in dessen Riesenreservoire das kostbare Wasser aus meilenweiter Ferne geleitet wird, vollkommen abgeholfen.
Die Werft ist, trotz häufiger Erweiterungen, vollendet. Innerhalb ihrer Mauern erheben sich unzählige Bauten, meist von gewaltigen Dimensionen, wie die großen Kesselschmieden, die Schlosserwerkstätte etc. Ebendaselbst befinden sich auch die vielen Ausrüstungsmagazine, die mit ihrem bunten Inhalt einen eigenthümlichen, selbst das Laienauge interessirenden Anblick bieten. Je eins zu je einem Schiffe gehörig und dessen Namen schon über der Eingangsthür tragend, sind sie bestimmt, alle zur Schiffsausrüstung benötigten Gegenstände, vom größten bis zum kleinsten, mit alleiniger Ausnahme der Geschütze, in sich zu bergen. Mit größter Accuratesse aufgespeichert, enthalten sie die verschiedenartigsten Dinge, bequem greifbar und übersichtlich geordnet, zur sofortigen Uebernahme bereit.
Imposant anzusehen ist auf der Werft auch noch der große Dampfkrahn, mit dessen Hülfe die schwersten Lasten spielend leicht gehoben und z. B. die Krupp’schen Monstrekanonen bequem an Bord der Schiffe befördert werden.
Hohes Interesse bieten dort ferner die mächtigen Trockendocks und die Hellinge. In ersteren, den Docks, werden jeweilige größere Beschädigungen der Schiffswände unterhalb der Wasserlinie, die nicht mehr von den Tauchern bewältigt werden können, nachgesehen und ausgebessert. Soll ein Fahrzeug zu diesem Behufe in das betreffende Dock gehen, so werden die trennenden Pontons geöffnet und mit dem einströmenden Wasser schwimmt das Fahrzeug in den mächtigen, sonst leeren Raum. Sodann werden die Pontons wieder geschlossen und das Wasser wieder abgelassen, bis das Schiff trocken liegt und die Arbeiter ungehindert unter seinen Boden gelangen können. Auf den Hellingen dagegen baut man die Schiffe und stellt sie dort bis auf Masten, Takelage und Maschine fertig. Zuerst im bloßen Gerippe, dann immer vollendeter in den kühn geschwungenen Linien, liegen sie, seitlich durch gewaltige Holzpfähle gestützt, ebendaselbst auf ihren Stapelklötzen, um dann am Tauftag, wenn eine Stütze nach der andern unter ihnen fortgeschlagen wird, langsam und majestätisch die sanft abschüssige Bahn des Hellings herab und in’s Wasser, mit einem Wort „vom Stapel“ zu gleiten.
Bemerkenswerth ist auf der Werft ferner der „Schnürboden“, ein saalartiger Raum von so bedeutender Ausdehnung, daß auf seinem glatten Holzfußboden die größten Panzerfahrzeuge in Originalgrößeverhältnissen aufgezeichnet werden können.
All diese und noch manche andere Baulichkeiten umgiebt eine hohe steinerne Umfassungsmauer, deren ohnehin sehr beträchtliche Ausdehnung man neuerdings beschäftigt ist noch bis zum Vorhafen hin zu verlängern. Nach der Stadtseite zu wird sie unterbrochen und zugleich abgeschlossen durch ein schönes, in Rothsteinen aufgeführtes Gebäude, dessen verschiedene Stockwerke die Bureaus und dessen Mitte das große Eingangsthor enthält.
Eins der umfangreichsten und wichtigsten Werke aber, das im letzten Jahrzehnt unter dem deutschen Reiche und seinem Marineminister von Stosch entstanden, dürfte jedenfalls die Ausgrabung einer neuen Hafeneinfahrt und die Anlage eines geeigneten Kauffahrteihafens sein. Diese zweite Hafeneinfahrt befindet sich in unmittelbarer Nähe der ersten und ist in denselben großen Verhältnissen gebaut, die Schleusen sind, um den Panzerkolossen das Einlaufen zu erleichtern, sogar noch um einige Fuß breiter veranlagt. Zum zweiten Mal hat also Wilhelmshaven den seltsamen Anblick rings gähnender, ungeheurer Abgründe, und wiederum wird es sehen können, wie die Jahde sich in sie hinein ergießt. Die Erd- und Mauerarbeiten an den neuen Werken sind bereits soweit vorgeschritten, daß man hoffen kann, sie binnen wenigen Jahren beendet zu sehen.
Und diesem bedeutenden Bau stellt sich ein kaum minder großer und wichtiger an die Seite: der des Ems-Jahde-Canals. Zwischen Stadt und Deich zieht sich diese jüngste aller Neuschaffungen hin, um zuletzt in den vorerwähnten Handelshafen zu münden. Durch sie ist die directe Verbindung der Ems mit der Nordsee hergestellt. Man verspricht sich viel von der damit verknüpften Verkehrserleichterung für die Hebung des Orts und erhofft namentlich Gutes für die Herabdrückung der immerhin recht teuren Lebensmittelpreise. Auch an diesem neuen Wasserwege ist so rührig geschafft worden, daß man ihn gleichzeitig mit der zweiten Einfahrt und dem Kauffahrteihafen dem öffentlichen Verkehr wird übergeben können.
Soweit die Marinebauten! Mit ihnen, mit der Werft und ihren Werkstätten und Magazinen, dem wie ein Römercastell sich emporhebenden Wasserthurm, dem innen wie außen mustergültigen Lazareth, dem schloßartigen Stationsgebäude, kurz, mit all den zum Theil schon beschriebenen maritimen Baulichkeiten um die Wette hob sich nun auch die in dieses Fach schlagende Privat- und Gemeindethätigkeit. Ganze Straßen mit stattlichen Häusern und leidlichen Läden wuchsen aus der Erde. Auch der Reichsfiscus begann sich zu regen, und ein ansehnliches Polizei- und Amtsgebäude sowie eine wirklich schöne, oder um modern zu sprechen, stilvolle Post zeugen davon.
Entsprechend der Vergrößerung Wilhelmshavens nahm aber auch seine Bevölkerung zu. Das weiland von wenigen hundert Menschen bewohnte „Stadtgebiet“ zählt jetzt eine Einwohnerzahl von 13,000 Köpfen, die Garnison nicht eingerechnet. Noch immer aber wächst diese Zahl, und das Gymnasium, die höhere Töchterschule, die Mittel- und Volksschulen bilden eine von Jahr zu Jahr wachsende Schaar junger Bürger und Bürgerinnen heran.
Der Ort selbst, von Anbeginn an auf eine bedeutende Ausdehnung veranlagt, zieht sich in großer Weitläufigkeit hin. Die eigentliche Geschäftsgegend mit ihrer Hauptader, der Roon-Straße, lehnt sich noch ziemlich eng an die Werft an. In schon etwas vornehmer Entfernung von ihr liegt die breite, von vier Reihen Bäumen bepflanzte Adalbert-Straße, eine ganz eigenartige Schöpfung, die bezeichnend für den Coloniecharaker des Ganzen ist, indem in ihr sich nur das Stationshaus, der Wohnsitz des jeweiligen Stationschefs, und die Hänser der Marine-Officiere, sowie einiger Beamten befinden.
Von beiden Stadtgegenden durch einen weiten Umkreis getrennt, dehnen sich dann die Vorstädte mit den nicht gerade geschmackvoll gewählten Namen „Belfort“, „Elsaß“, „Lothringen“, „Sedan“ aus. In ihnen sind die Wohnungen der Arbeiter zu suchen; namentlich ist Belfort eine vollkommene Arbeiterniederlassung. Straße bei Straße bedecken hier kleine, ganz gleichmäßig gebaute Häuschen, und meist nach ihrer Richtung hin lenkt sich allabendlich der unabsehbare Zug von Tausenden von Werkleuten, die, von dem Hafenbau oder der Werft kommend, ihre müden Schritte der Heimath zuwenden. Zwischen diesen verschiedenen, weit aus einander gelegenen Stadtteilen ziehen sich nun breite, sauber mit Klinkersteinen gepflasterte, aber fast noch völlig unangebaute Straßen hin, öde, unwirtliche Wege, die indessen allabendlich mit derselben Opulenz durch Gaslicht erleuchtet werden wie die bebauteren. Ein mächtiger Lichtstrom ergießt sich somit vom Bahnhof bis zum äußersten Ende der Molen, und ganz Unrecht mögen die losen Spötter nicht haben, die behaupten, Wilhelmshaven präsentire sich am besten bei Nacht.
Im hellen, Nichts verschleiernden Sonnenlichte gesehen, tragen diese leeren, kahlen Flächen wenigstens nicht sonderlich zur Verherrlichung des Ganzen bei, um so minder, als sie durch keinerlei landschaftlichen Reiz unterbrochen und verkleidet werden. Die Natur ist eben karg gegen die neue Schöpfung gewesen und giebt sich den Anschein, als wolle sie nun auch Alles, selbst das sonst in ihr Fach Schlagende, hier den unermüdlich schaffenden Menschenhänden überlassen. Diese Menschen, ihre hier so vernachlässigten Stiefkinder, haben auch wirklich den Kampf mit der ungütigen Mutter angenommen und nicht ohne Erfolg durchgeführt.
Der große Friedrich-Wilhelms-Platz, eine Sandwüste, die gleich vom Bahnhof aus dem Beschauer entgegengähnte, ist jetzt mit Grasplätzen und Gartenanlagen versehen worden. Die Königsstraße erfreut sich einer schon ziemlich schattigen Rüsterallee, und die Werft weist zwischen ihren Baulichkeiten hübsche Gärtchen mit Teppichbeeten und blühenden Sträuchern auf. Im Rücken der Adalbert-Straße aber breitet sich der weitläufige, der Benutzung des Publicums übergebene Stationspark mit seinen frischen, grünen Wiesen, seinem keinen hellen See, mit hübschen Springbrunnen und einem Musiktempel, vor Allem aber mit schattenspendenden Baumgruppen und Alleen aus. Diese freundlichen Schöpfungen sind die einzigen Brosämlein ersehnter Poesie, die sich hier, inmitten so vielen Realismus, dem lechzenden Auge darbieten.
[136] Das wäre in kurzen Grundrissen und in wenigen Zügen ein Bild unserer aufstrebenden Nordseestation, durch ihre Urgeschichte und die Hauptphasen ihrer Entwickelung hindurch bis auf den heutigen Tag. Jetzt stehen wir vor der Zukunft – sie zeigt uns ihr verschleiert Antlitz. Ist es zu kühn, wenn wir uns dieses Antlitz rosig und glückverheißend vorstellen, wenn wir annehmen, daß die Zukunft unter Kaiser Wilhelm und im geeinigten Vaterlande unserem Kriegshafen noch Herrlicheres vorbehält? Wir glauben daran und darum: es lebe die neue Aera!
Blätter und Blüthen.
Ein Helfer in der Noth. Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen. Dreizehnte verbesserte und vielfach vermehrte Auflage. Tagtäglich finden wir auf dem Redactionstische der „Gartenlaube“ einige Briefe aus Nah und Fern, in welchen wir ersucht werden, über Heilmittel, die in den Inseraten verschiedenster Blätter angepriesen, gewissenhafte Auskunft zu ertheilen. Tagtäglich müssen wir darauf nach allen Richtungen der Windrose an Abonnenten und Leser unseres Blattes die Warnung ergehen lassen: Hütet Euch vor den gewissenlosen Curschwindlern, die durch unwahre Vorspiegelungen Euren Beutel erleichtern möchten und, um diesen schnöden Zweck zu erreichen, kein Bedenken tragen, durch unwissende und falsche Behandlung Eurer Leiden Eure Gesmloheit tief zu schädigen!
Wer seit einer langen Reihe von Jahren in so innigem Verkehr steht mit den verschiedenartigsten Classen unseres Volkes und von Tausenden durch ein fast grenzenloses Vertrauen über ihre Bedürfnisse und Anschauungen so genau unterrichtet wird, wie dies gerade bei uns der Fall ist, dem ist es auch klar, warum dieses verdammungswürdige Treiben der Curpfuscher und Geheimmittelschwindler seine giftigen Blüthen immer wieder von Neuem zu treiben vermag. Wir können mit vollstem Recht behaupten: die Unkenntniß des Baues und der Verrichtungen des menschlichen Körpers, die völlige Unwissenheit des Volkes in allen Dingen, die sich auf Krankheiten und deren Behandlung beziehen, sie sind es, die den ehrlosen Geheimmittelfabrikanten und Curpfuschern den Erfolg sichern und jahraus, jahrein Tausende in ihr Garn treiben. Es giebt nur ein gründliches Mittel, welches diesem Uebel zu steuern vermag, und das ist: die Aufklärung des Volkes über die Grundsätze der Gesundheitslehre und das Wesen der Kranken.
Die volle Ueberzeugung von der Richtigkeit dieser Ansicht war es auch, die vor vielen Jahren einen der geschätztesten Mitarbeiter der „Gartenlaube“ bewog, ein Buch zu schreiben, welches in klarer und allgemein verständlicher Weise selbst den schlichtesten Mann aus dem Volke über den Bau und die Verrichtungen des gesunden menschlichen Körpers und seine vernunftgemäße Pflege, sowie über das Wesen der Krankheiten und ihre Verhütung unterrichten sollte. Dieser Mann war Dr. Carl Ernst Bock, weiland Professor der pathologischen Anatomie an der Universität zu Leipzig, und das Werk, welches er damals schrieb, ist heute Jedermann wenigstens dem Titel nach bekannt; es ist „Das Buch vom gesunden und kranken Menschen“.
Bock fand für sein Werk den geeignetsten Verleger in seinem Freunde, dem Begründer unseres Blattes, der, wie er stets seine volle Kraft für das Wohl des Volkes einsetzte, auch in diesem Falle mit begeistertem Eifer dieses volksthümliche und menschenfreundliche Unternehmen förderte. Kein Wunder, daß der Erfolg das edle Streben dieser ausgezeichneten Männer krönte! Bock’s Buch erlangte bald einen Ruf, wie kein zweites Werk dieser Art, und blieb selbst nach dem Tode seines Verfassers ein Meisterwerk ohne Concurrenz. Auch seine letzte zwölfte, 25,000 Exemplare starke Auflage wurde in überraschend kurzer Zeit vergriffen, und die Verlagshandlung von Ernst Keil sah sich genöthigt, zur dreizehnten Auflage zu schreiten. Bis jetzt kann sie mit Stolz auf ihre Thätigkeit auf diesem Gebiete zurückblicken: denn im Ganzen sind von Bock’s Buch 175,000 Exemplare verkauft worden, sodaß es als ein Familienbuch, als ein wahrer Hausfreund des deutschen Volkes betrachtet werden muß.
Ist es angesichts dieser überzeugenden Thatsachen und Zahlen überhaupt noch nöthig, das genante Buch besonders zu empfehlen? Wir würden dies wohl unterlassen haben, wenn die neue dreizehnte Auflage, von der bis jetzt zwei Lieferungen erschienen sind, sich nicht durch neue Vorzüge von ihren Vorgängerinnen unterscheiden würde. Sie ist thatsächlich eine vermehrte und verbesserte Auflage.
Auf keinem Gebiete hat sich bekanntlich ein rascherer und eingreifenderer Fortschritt geltend gemacht, als auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und der auf ihnen fußenden Medicin. Was hier der Fleiß der Forscher und der erfinderische Genius der Menschheit in letzter Zeit geleistet haben, ist geradezu staunenswerth. Um nun alle diese neuen Errungenschaften des ärztlichen Wissens und Könnens, soweit dieselben für die Volkskreise von Bedeutung sind, auch in der vorliegenden Auflage zu berücksichtigen, hat die Ernst Keil’sche Verlagshandlung die Herausgabe derselben einem Schüler Bock’s, dem bekannten populären Schriftsteller Dr. med. M. J. Zimmermann übertragen und der Ausstattung des Buches besondere Sorgfalt gewidmet. Es ziert nunmehr dasselbe außer dem Portrait des Verfassers und 150 feinen in den Text gedruckten Abbildungen noch eine anatomische in Buntdruck ausgeführte Tafel, welche den Kreislauf des Blutes veranschaulicht. Die Rücksicht auf die trans-atlantischen Landsleute und die so starke deutsche Auswanderung bewog ferner den Herausgeber, das vielseitige Werk noch durch die eingehendere Würdigung der tropischen Krankheiten zu bereichern. Schließlich erscheint auch der Abschnitt von der häuslichen Krankenpflege in durchaus neuer und erweiterter Form.
Das Werk wird in acht bis zehn Monaten in sechszehn Lieferungen vollständig erscheinen und ist durch jede Buchhandlung in Lieferungen, die je fünf bis sechs Bogen stark sind, zu dem überaus billigen Preise von fünfundsiebenzig Pfennig für die Lieferung zu beziehen. So sind selbst die weniger Bemittelten in den Stand gesetzt, sich diesen „Helfer in der Noth“ nach und nach anzuschaffen.
Kleiner Briefkasten.
Frl. Marie P. in München. Sie haben wohl daran gethan, uns erst zu fragen, ob Sie der lockenden Einladung zur Benutzung eines gewissen „Placirungs-Comptoirs“ in Budapest folgen sollen, um eine Stellung als Gouvernante oder Gesellschafterin in Ungarn zu erhalten. Sie haben sich dadurch die Erfahrungen erspart, welche Andere vor Ihnen mit diesen Anstalten gemacht haben. Ohne Zweifel würden Sie von jener Firma sofort die Nachricht erhalten haben, daß eine sehr passende Stelle, ganz nach Ihrem Wunsche, soeben offen werde, daß Sie einen Brief an die betreffende Herrschaft und fünf Mark für Spesen einsenden möchten etc. Senden Sie das Verlangte, so ist das Geschäft gemacht: die Stelle ist leider bereits besetzt etc. wenn Sie überhaupt noch einer weiteren Beachtung von Seiten eines solchen „Placirungs-Comptoirs“ gewürdigt werden. Das kaiserlich deutsche General-Consulat in Pest, das einer dieser Hineingefallenen zu dem größten Theile ihres eingezahlten Geldes wieder verholfen hat, ertheilte derselben folgende Warnung:
„Das Generalconsulat nimmt hierbei nochmals Gelegenheit, Ihnen anzurathen, vor Annahme einer Stellung hier im Lande zuvor genaue Erkundigungen einzuziehen, vor allen Dingen aber sich der Inanspruchnahme der hiesigen sogenannten Commissionsbureaus zu enthalten, da dieselben erfahrungsgemäß oft unreelle Zwecke verfolgen.“
B. K. in D. Es freut uns, Ihnen die gewünschte Auskunft ertheilen zu können. Ein Monument für Friedrich Koenig, den Erfinder der Schnellpresse, dessen Biographie wir in Nr. 2 dieses Jahrgangs mittheilten, soll zu Eisleben, der Geburtsstadt Koenig’s, errichtet werden. Es hat sich zu diesem Zwecke aus Mitgliedern des Gewerbevereins ein Comité gebildet, welches sofort nach der für den vierhundertjährigen Geburtstag des großen deutschen Reformators in Aussicht genommenen Enthüllung des Eislebener Luther-Denkmals an die Oeffentlichkeit zu treten gedenkt.
5. vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. 4 Mk. 50 Pf.
Das Publicum, welches die seiner Zeit in der „Gartenlaube“ mitgetheilten Proben dieser Sammlung – wir erinnern nur an die schönen Lieder:
„O könnte mir ein Lied gelingen, wie Gott es selbst in’s Herz mir schrieb etc.“ – „Wenn eine Mutter betet für ihr Kind etc.“ –
„Was ist das Herz – es ist ein Blumengarten etc.“
mit so großem Beifalle begrüßte, hat den „Palmen des Friedens“ längst einen Ehrenplatz auf dem Büchertische der Familie angewiesen. Das prachtvoll ausgestattete Werk darf namentlich als poetisches Festgeschenk der allgemeinen Beachtung empfohlen werden.
Leipzig. Die Verlagshandlung von Ernst Keil.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ aus „Alt-Heidelberg“, dem Studentenlied von Joseph Victor von Scheffel. Siehe Wikipedia
- ↑ aus einem Brief Ulrich von Huttens (lateinischer Dichter und Reichsritter, 1488-1523) an den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer (1470-1530) vom 25.10.1518
- ↑ Albrecht Dürer (1471-1528), deutscher Maler der Renaissance
- ↑ Hans Holbein der Jüngere (1497-1543), deutscher Maler der Renaissance
- ↑ Rudolf Pfnor (1824-1909), französischer Autor der mehrbändigen Reihe „Chateaux de La Renaissance“ („Schlösser der Renaissance“), darunter „Monographie du château de Heidelberg“ („Monographie über das Heidelberger Schloß“) von 1859. UB Heidelberg
- ↑ Karl Emil Otto Fritsch: Denkmäler deutscher Renaissance. 1882. Das Foto stammt von Römmler & Jonas
- ↑ Konrad der Staufer (1134-1195), Pfalzgraf bei Rhein
- ↑ Rudolf I. (1274-1319), Pfalzgraf bei Rhein
- ↑ Rudolf II., (1306-1353), Pfalzgraf bei Rhein
- ↑ Ruprecht (1352-1410), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Vorlage: S. 751
- ↑ Ruprecht I. (1309-1390), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Friedrich I. (1425-1476), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Clara Tott (1440-1520)
- ↑ Ludwig V. (1478-1544), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Friedrich II. (1482-1556), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Franz von Sickingen (1481-1523)
- ↑ Ottheinrich (1502-1559), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Alexander Colin (1527-1612), flämischer Bildhauer
- ↑ siehe Grabmal Kaiser Maximilians I.
- ↑ Friedrich IV. (1574-1610), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Friedrich V. (1596-1632), Kurfürst der Pfalz
- ↑ Elisabeth Stuart (1596-1662)
- ↑ Salomon de Caus (1576-1626), französischer Ingenieur
- ↑ Heydelberg, in Matthäus Merian: Topographia Palatinatus Rheni. 1645
- ↑ Ludwig XIV. (1638-1715), König von Frankreich
- ↑ Liselotte von der Pfalz (1652-1722)
- ↑ Karl III. Philipp (1661-1742), Kurfürst von der Pfalz
- ↑ Karl Theodor (1724-1799), Kurfürst von der Pfalz
- ↑ Vorlage: J. B. Wehle