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Die Gartenlaube (1883)/Heft 5

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[73]

No. 5.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Sie sind also ein Freund der Familie? Ist Frau von Hertenstein schon lange Wittwe?“ fragte Paul.

„Seit einem Jahre ungefähr,“ antwortete der Justizrath. „Präsident Hertenstein starb im vorletzten Sommer.“

„Präsident Hertenstein?“ wiederholte Paul befremdet. „Ich erinnere mich, die Anzeige seines Todes damals in den Zeitungen gelesen zu haben, aber – er starb ja wohl im dreiunddsiebenzigsten Lebensjahre?“

„Allerdings, der Altersunterschied zwischen ihm und seiner Frau war sehr bedeutend. Sie zählte kaum achtzehn Jahre, als sie ihm die Hand reichte.“

„Dem Greise? Aber mein Gott, was konnte sie denn zu einer derartigen Verbindung veranlassen?“

Freising lächelte mit überlegener Miene.

„Das ist nicht schwer zu errathen. Eine junge bürgerliche Waise, die mittellos ist und in abhängigen Verhältnissen lebt, schlägt selten eine derartige Partie aus. Der Präsident war von Adel; er galt für sehr reich und nahm eine hohe Lebensstellung ein. Er konnte seiner Gemahlin ein glänzendes Loos bieten.“

„So – also eine Convenienzheirath!“ sagte Paul langsam.

„Eine Vernunftheirath wenigstens! Die junge Dame ist eine nahe Verwandte des Pfarrers in Werdenfels, und dieser empfahl sie der damaligen Besitzerin von Rosenberg, einem Fräulein von Hertenstein. Der alten, sehr kränklichen Dame war ein Aufenthalt in Italien verordnet worden, und sie wünschte eine Begleiterin für die Reise. Als sie aus Venedig zurückkehrte, da machte ihr Bruder, der Präsident, der schon seit langen Jahren Wittwer war, einen mehrwöchentlichen Besuch auf dem Landgute. Er lernte dort die schöne Gesellschafterin kennen und wurde derartig von ihr gefesselt, daß er ihr seine Hand bot, die auch sofort angenommen wurde. Drei Monate später fand in Rosenberg die Vermählung statt.“

„Und diese ungleiche Ehe ist eine glückliche gewesen?“

„Eine sehr glückliche! Die junge Frau spielte eine äußerst glänzende Rolle in der Residenz, und ihr Gemahl, der ungemein stolz auf sie war, erfüllte mit verschwenderischer Freigebigkeit jeden ihrer Wünsche.“

„Freilich, was hätte sie in einer solchen Ehe denn auch anders wünschen sollen als Glanz und Reichthum!“ sagte Paul mit einem Anfluge von Bitterkeit. „Und seit dem Tode ihres Gemahls lebt sie wieder in Italien?“

„Nein, sie ist nach Rosenberg zurückgekehrt und war nur jetzt auf kurze Zeit abwesend. Sie wird übermorgen hier erwartet.“

„Dann werde ich meinen Besuch noch etwas aufschieben,“ erklärte der junge Mann, indem er sich erhob. „Doch ich habe Ihre Zeit schon allzu lange in Anspruch genommen.“

Der Justizrath lächelte.

„Bitte, Herr Baron! Ich freue mich sehr, einmal ein Mitglied des Hauses Werdenfels persönlich kennen zu lernen. Es ist das erste Mal, obgleich ich schon seit Jahren der juristische Beirath und Vertreter dieses Hauses bin.“

„Also auch Sie verkehren nicht persönlich mit meinem Onkel?“ fragte Paul, der wenigstens in diesem Falle eine Ausnahme vorausgesetzt hatte.

„Nein, ich habe noch nicht die Ehre gehabt, den Freiherrn von Angesicht zu sehen, obgleich er mir in allen geschäftlichen Angelegenheiten das unbedingteste Vertrauen schenkt. Er empfängt meine Berichte brieflich und läßt mir ebenso seine Weisungen zugehen. Ihr Herr Onkel ist etwas eigenthümlich in dieser Hinsicht.“

„Ja wohl, sehr eigenthümlich!“ stimmte der junge Mann mit einem Seufzer bei. „Was nun aber meine persönliche Angelegenheit betrifft –“

„So wird sie unverzüglich erledigt werden – verlassen Sie sich darauf, Herr Baron! In spätestens vierzehn Tagen lege ich Ihnen die Quittungen vor.“

Paul dankte und empfahl sich. Er hatte nun die so sehnlich gewünschte Auskunft erhalten und wollte es sich nicht eingestehen, daß sie ihn verstimmte; trotzdem konnte er dieser Verstimmung nicht Herr werden. Ein Mädchen von achtzehn Jahren, voll Schönheit und Anmuth, das freiwillig auf das schönste und heiligste Vorrecht der Jugend verzichtet, auf das Recht, zu lieben, um mit der Hand eines Greises Glanz und Reichthum zu erringen! Paul Werdenfels war leichtsinnig und ließ sich nur zu oft durch fremden Einfluß leiten, aber er trug doch ein jugendlich warmes Herz in der Brust und hätte sich für alle Güter seines Onkels nicht in dieser Weise verkauft. Er fühlte sich wieder so erkältend angeweht, wie damals auf dem Dampfer, als die schöne Frau so eisig die „Jugendträume“ verwarf. In seinen Ohren klang noch der unendlich herbe Ausdruck ihrer Worte: „Das Leben ist nicht zum Träumen geschaffen. Man muß ihm fest und klar in das Antlitz sehen und Niemand vertrauen als sich selbst.“




[74] Rosenberg gehörte nicht zu den eigentlichen Gütern der Umgegend, es war nur ein kleiner Landsitz, in reizender Lage, unmittelbar am Fuße des Gebirges, wie man ihn für einige Sommermonate auswählt. Die verstorbene Besitzerin freilich hatte jahraus jahrein dort gelebt, nach ihrem Tode stand das Haus einige Jahre lang unbewohnt, unter der Obhut der ehemaligen Gesellschafterin, die nach der Vermählung der Frau von Hertenstein deren Stelle eingenommen hatte und von der alten Dame testamentarisch mit einem Legat bedacht worden war. Der Präsident und seine Gemahlin, die in der Residenz lebten, kamen nie nach ihrem nunmehrigen Besitzthum – die junge Frau hatte sich erst, seit sie Wittwe war, wieder dorthin zurückgezogen.

Das einfache Landhaus, das inmitten eines ziemlich umfangreichen Gartens lag, konnte weder auf Vornehmheit noch auf Schönheit besonderen Anspruch erheben, aber es war freundlich, bequem und geräumig und machte mit seinen weißen Mauern und hellen Fenstern einen sehr anheimelnden Eindruck.

In dem keinen Salon, der wie die sämmtlichen Räume des Hauses, seine frühere, etwas alterthümliche, aber sehr behagliche Einrichtung behalten hatte, saß die jetzige Besitzerin von Rosenberg und hörte dem Justizrath Freising zu, der ihr gegenüber Platz genommen hatte. Vor ihm lagen mehrere Papiere, aus denen er etwas zu berichten schien, während em anderer Herr, in der Tracht eines Weltgeistlichen, einige Schritte entfernt am Fenster stand. Es war ein Mann von etwa vierzig Jahren mit scharfen ausdrucksvollen Zügen, die eine nicht gewöhnliche Intelligenz verriethen, aber es lag zugleich eine herbe Strenge darin. Das schlichte dunkle Haar umgab eine hohe Stirn, die schon einige Furchen zeigte, und die dunklen Augen hatten jenen durchdringenden Blick, der gewohnt ist, im Inneren der Menschen zu lesen, wie in einem Buche. Der Geistliche betheiligte sich nicht an der Unterhaltung, aber seine Spannung zeigte, daß er ihr mit der größten Aufmerksamkeit folgte und ebenso viel Interesse daran nahm, wie die Sprechenden selbst.

„Soweit also wäre alles geordnet,“ sagte der Justizrath, indem er die Papiere zusammenlegte. „Ich bin genau nach Ihren Anweisungen verfahren, gnädige Frau. und habe die sämmtlichen Posten gedeckt. Jetzt bleibt nur noch die eine größte Summe übrig. Ich bedaure sehr, daß es mir nicht möglich war, irgend eine gütliche Vereinbarung mit dem Gläubiger zu treffen. Sie haben in Folge dessen die Sache persönlich in die Hand genommen. Ist Ihre Reise von Erfolg gewesen?“

„Ja,“ antwortete Frau von Hertenstein, die dargebotenen Papiere an sich nehmend. „Ich traf allerdings den Gläubiger nicht in seinem Wohnorte und war genöthigt ihm nach Venedig zu folgen, dort aber habe ich in mündlicher Unterredung erreicht, was uns brieflich versagt wurde. Man wird sich einstweilen mit dem Pfandrecht auf Rosenberg begnügen und mir hinsichtlich der Zahlung Frist bis zum nächsten Jahre geben. Bis dahin wird es nur möglich sein, das Gut zu verkaufen.“

„Sie wollen Rosenberg verkaufen?“ fragte der Justizrath betroffen. „Es gehört ja nicht zum Nachlaß des Präsidenten, sondern ist Ihr persönliches Eigenthum. Fräulein von Hertenstein hat es Ihnen ausdrücklich im Testament vermacht, und Niemand hat das Recht, irgend einen Anspruch darauf zu erheben.“

„Das weiß ich,“ entgegnete die junge Frau, „aber ich fühle mich verpflichtet, mit allem, was ich besitze, für den Namen und für die Ehre meines Gatten einzutreten. Ich habe das Gut freiwillig angeboten.“

Freising schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau – das war unbedacht. Sie haben mich von Anfang an zum Vertrauten Ihrer Angelegenheit gemacht, also darf ich wohl offen sprechen und Ihnen sagen, daß Sie bereits Opfer genug gebracht haben, mehr als jede andere Frau in Ihrer Lage. Die Pension, die Sie vom Staate beziehen, ist so gering, daß sie kaum für die allereinfachsten Bedürfnisse ausreicht. Rosenberg ist Ihre letzte Zuflucht und Ihre letzte Hülfsquelle für die Zukunft.“

„Und ich decke damit die letzte Forderung. Ich will frei davon werden, koste es, was es wolle! Um unseren Namen rein zu erhalten, ist mir kein Opfer zu hoch.“

Der Justizrath wollte einen neuen Einwand erheben, als der Geistliche sich in das Gespräch einmischte.

„Meine Cousine hat Recht,“ sagte er in einem Tone, der keinen Widerspruch zuließ. „Sie thut nur ihre Pflicht, wenn sie voll und ganz für das Andenken ihres Gatten eintritt; wir haben hier einen anderen Standpunkt zu wahren als nur den geschäftlichen.“

„Ja, wenn Herr Pfarrer Vilmut auch noch gegen mich Partei nimmt, dann werde ich allerdings überstimmt,“ sagte Freising etwas empfindlich. „Ich kann trotzdem meine Rathschläge nicht zurücknehmen; sie haben einzig und allein das Wohl der gnädigen Frau im Auge.“

„Daran habe ich nie gezweifelt,“ erwiderte die junge Frau, indem sie ihm die Hand hinstreckte. „Ich habe ja von jeher einen treuen, zuverlässigen Freund in Ihnen gehabt.“

Der Justizrath führte ritterlich die schöne Hand an seine Lippen, und seine etwas trockenen pedantischen Züge erhielten dabei einen eigenthümlich belebten Ausdruck.

Um die schmalen Lippen des Pfarrers zuckte ein halb spöttisches, halb verächtliches Lächeln bei dieser Huldigung; er verließ seinen Platz und trat näher.

„Es handelt sich also darum, Rosenberg möglichst vortheilhaft zu verkaufen,“ nahm er den Faden des Gespräches wieder auf. „Wir rechnen auch in dieser Beziehung auf Ihren Beistand, und da die Frist bis zum nächsten Jahre währt, so wird der Verkauf hoffentlich keine Schwierigkeiten haben.“

„Ich werde thun, was in meinen Kräften steht – verlassen Sie sich darauf, Hochwürden,“ versicherte der Justizrath, indem er aufstand und seinen Hut nahm.

„Sie bleiben nicht zu Tische?“ fragte Frau von Hertenstein „Ich hatte wie gewöhnlich darauf gerechnet.“

„Für diesmal müssen Sie mich entschuldigen, gnädige Frau; ich habe dringende Geschäfte, die mich nach der Stadt zurückrufen,“ antwortete der Justizrath, dem es augenscheinlich schwer wurde, die Einladung auszuschlagen. Er schien geneigt zu sein, einen zweiten Handkuß zu probiren, aber die scharfen, spöttischen Augen des Geistlichen genirten ihn offenbar. Er begnügte sich daher mit einem bloßen Händedruck und empfahl sich dann.

Frau von Hertenstein hatte sich wieder niedergesetzt und blätterte schweigend in den zurückgelassenen Papieren; Vilmut war zu ihr getreten und nahm gleichfalls einige derselben auf.

„Das sind wahrlich nicht kleine Summen,“ bemerkte er nach einer Pause. „Ich begreife nicht, Alma, wie es Dir möglich gewesen ist, das Alles zu decken.“

„Mein Schmuck war sehr reich,“ entgegnete Anna ruhig, „und Brillanten behalten immer ihren Werth. Ich habe allerdings auch das letzte Stück hingegeben, aber es reichte doch wenigstens aus.“

„Jawohl, der Präsident überschüttete Dich ja mit dergleichen Kostbarkeiten, wie er sein Haus zu einem Tempel des Luxus für Dich machte. Er legte alles seiner vergötterten jungen Frau zu Füßen – mit fremdem Gelde! Und Du hast das ruhig hingenommen.“

Es lag ein herber Vorwurf in den letzten Worten, aber die junge Frau verteidigte sich mit ruhiger Gelassenheit.

„Ich habe Hertenstein’s Vermögensverhältnisse nie gekannt, und ich, die ich arm in sein Haus kam, konnte ihn auch füglich nicht darnach fragen. Er ließ mich stets in dem Glauben, daß er reich sei, und daß unsere Art zu leben seinen Mitteln entspräche. Ich ahnte nicht, daß das Vermögen, das er von seiner Schwester ererbte, seine einzige Hülfsquelle war. Aber dieses Vermögen hätte hingereicht, all jene Verpflichtungen zu decken; es war ein Unglück, daß er es verlor.“

„Durch Speculation! Freilich, das verschwendete Geld sollte ja wieder eingebracht werden, und da sank der Präsident von Hertenstein zum Speculanten herab, zum Börsenspieler!“

„Laß das Vergangene ruhen, Gregor!“ sagte Anna ernst. „Ich kann und will eine Anklage gegen den Mann hören, von dem ich fünf Jahre hindurch nur Güte empfangen habe. Wenn er schwach gewesen ist, so war er es um meinetwillen.“

„Vielleicht auch um seiner selbst willen,“ ergänzte Gregor. „Um seiner Eitelkeit zu genügen! Seine schöne Frau sollte überall die Erste, die Gefeiertste sein; er konnte sie nicht genug bewundern lassen. Du hast ein gefährliches Geschenk erhalten, Anna, in dieser Schönheit, die Alles zu Deinen Füßen führt. Sie konnte bisher nur Unheil stiften – glücklich hat sie noch Keinen gemacht.“

[75] „Hertenstein war glücklich!“ sagte Anna mit Nachdruck. „Und ich – habe mich wenigstens bemüht, es zu scheinen.“

„Ja, Ihr führtet eine Musterehe! Der Präsident konnte nicht genug sein Glück preisen, und Du wurdest allgemein bewundert – wegen Deiner Hingebung an den Greis. Vielleicht wäre die Welt weniger freigebig mit ihrem Lobe gewesen, wenn sie gewußt hätte, was Dich in seine Arme trieb.“

„Willst Du mir einen Vorwurf daraus machen?“ In der Stimme der jungen Frau klang eine leise Bitterkeit. „Du warst es ja, der mir rieth, den Antrag anzunehmen, der meinen wankenden Entschluß bestimmte.“

Gregor sah mit einem seltsamen Ausdruck aus sie nieder; es war ein Gemisch voll Düsterheit und stolzer, kalter Genugthuung.

„Ja, das that ich! Es galt, Dich schlimmeren Banden zu entreißen. Du glaubtest damals stark zu sein – Du warst es nicht; deshalb rieth ich Dir, eine Pflicht zwischen Dich und die Vergangenheit zu stellen. Ich wußte, Du würdest diese Pflicht ehren.“

Anna gab keine Antwort; sie stützte nur den Kopf in die Hand, während Vilmut fortfuhr:

„Ich glaubte Dich geborgen an der Seite des Mannes, dem sein Alter schon die ruhige Zurückgezogenheit zur Pflicht hätte machen sollen; statt dessen führte er Dich mitten hinein in den Strudel der großen Welt, mitten hinein in ihre Versuchungen und prahlte mit Deinen Triumphen in der Gesellschaft. Du bist auch nicht gleichgültig dagegen geblieben, oder wird es Dir leicht, von der früheren Höhe herabzusteigen in die Einfachheit beschränkter Verhältnisse?“

„Nein, denn jedes Herabsteigen schließt eine Demüthigung in sich. Aber ich werde mich in das Unvermeidliche fügen, ohne zu murren.“

„Ich dachte es mir! Euch Weltkindern wird Glanz und Pracht ja zu einem Lebensbedürfniß; Ihr könnt nicht wieder davon lassen. – Hast Du schon Deinen Zukunftsplan überlegt? Was wirst Du thun, wenn Rosenberg verkauft wird? Ich denke, Du überläßt es mir, Dir einen passenden Wohnort auszusuchen.“

„Ich danke Dir für das Anerbieten,“ sagte die junge Frau kühl, „aber es ist besser, ich bestimme das selbst. Wir könnten verschiedener Meinung sein, und Du forderst unbedingte Unterwerfung unter Deinen Willen; ich weiß das noch von der Zeit her, wo ich in Deinem Hause lebte.“

„Du hast gleichwohl diese Unterwerfung nie geübt,“ erwiderte Gregor scharf. „In Dir war immer ein Element des Widerstandes, das ich mit aller Strenge nicht brechen konnte, und was mir bei Anna Vilmut nicht gelang, werde ich bei der Präsidentin Hertenstein schwerlich erreichen. Du hast viel Selbstständigkeit gelernt bei dem Manne, der nur ein gehorsamer Diener Deiner Wünsche war. Doch gleichviel, wo Du Deinen künftigen Wohnort wählst! Du wirst es jedenfalls so einrichten, daß der Zufall keine unliebsame Begegnung herbeiführen kann, auf die Du hier in Rosenberg immer gefaßt sein mußtest. Die Nähe jenes –“

„Gregor!“

Es war ein halb zürnender, halb angstvoller Ausruf. Vilmut hielt inne, aber zwischen seinen Brauen erschien eine finstere Falte.

„Nun?“ fragte er nach einer Pause.

„Du hast es mir damals versprochen, daß der Punkt zwischen uns nie wieder berührt werden soll. Denke an Dein Versprechen!“

Die durchdringenden Augen des Priesters ruhten unverwandt auf dem schönen, tief erbleichten Antlitz; es war ein Blick, der bis in die innersten Tiefen der Seele zu dringen schien.

„Ist das noch nicht überwunden?“ fragte er endlich langsam. „Noch nicht?“

Ein tiefer Athemzug rang sich aus der Brust der jungen Frau empor. „Es ist zu Ende – Du weißt es ja! Ich habe mich Deinem Willen gebeugt, ich denke, Du kannst mit mir zufrieden sein.“

„Meinem Willen? Als ob Du Dich jemals einem fremden Willen gebeugt hättest! Du fügtest Dich einer unerbittlichen Wahrheit, die ich Dir enthüllte. Ich habe nichts weiter gethan, als Dir die Augen geöffnet, aber Du hast es dem Arzte nicht gedankt, der Dich rettete – Du wärst am liebsten blind geblieben.“

„Du irrst,“ sagte Anna tonlos. „Ich danke es Dir – noch heute.“

Vilmut wollte etwas erwidern, als die Thür ziemlich ungestüm geöffnet wurde und ein junges Mädchen hereinflog. Sie war in Hut und Mantel; ihre langen Flechten waren nicht aufgesteckt, sondern fielen lose herab, und das noch ganz kindliche Gesicht strahlte von Heiterkeit und Uebermuth.

„Da bin ich wieder!“ rief sie mit heller Stimme. „O, das war eine lustige Fahrt! Wir sind bis in das verzauberte Gebiet von Felseneck gerathen und hätten um ein Haar –" sie hielt, den Pfarrer gewahrend, plötzlich inne und fügte dann in einem ganz veränderten, ziemlich kleinlauten Tone hinzu: „Ah, Du bist hier, Vetter Gregor! Ich störe wohl?“

„Ja, Lily, Du störst!“ erwiderte er kalt. „Man stürmt überhaupt nicht so in’s Zimmer wie ein wilder Knabe. Wann endlich wirst Du lernen, Dich wie ein erwachsenes Mädchen zu benehmen?“

Lily hatte sich schleunigst an die Seite der jungen Frau geflüchtet und blickte von dort halb trotzig und halb scheu zu dem strengen Vetter hinüber, aber die Scheu behielt die Oberhand; denn sie wagte keine Erwiderung; statt ihrer nahm Anna das Wort.

„Lily ist ja kaum sechszehn Jahre alt. Laß ihr doch noch eine Weile den Frohsinn und den Uebermuth des Kindes! Der Ernst des Lebens wird früh genug an sie heran treten.“

„Du verwöhnst Deine Schwester,“ sagte Vilmut tadelnd. „Anstatt sie für diesen Lebensernst zu erziehen, duldest Du es, daß sie den ganzen Tag lang Kindereien treibt. Du solltest sie lieber unter meine Obhut geben – das würde ihr heilsam sein.“

Das junge Mädchen schrak förmlich zusammen bei den letzten Worten und blickte mit einer solchen Todesangst zu der Schwester empor, daß diese wie schützend den Arm um sie legte, während sie erwiderte:

„Nein, Gregor, ich trenne mich nicht von meiner kleinen Lily, wie die Verhältnisse sich auch gestalten mögen.“

Gregor zuckte die Achseln.

„Das wirst Du früher oder später doch thun müssen, wenn Rosenberg nicht ganz besonders günstig verkauft wird. Doch ich muß jetzt fort. Leb’ wohl, Anna!“

Er reichte ihr die Hand und ging, ohne anders als mit einem flüchtigen Kopfnicken von Lily Notiz zu nehmen. Diese schien sehr froh darüber zu sein, daß sie der ferneren Beachtung entging; sie legte sehr langsam und verständig Hut und Mantel ab. Kaum aber hatte sich die Thür hinter dem Gefürchteten geschlossen, so flog der Hut auf das Sopha, und Fräulein Lily nahm eine äußerst trotzige Miene an.

„Wenn ich gewußt hätte, daß Gregor bei Dir ist, wäre ich sicher nicht herein gekommen,“ versicherte sie. „Wenn ich ihn im Anzuge gegen Rosenberg sehe, ist es mir immer, als müsse ich bis auf die Geisterspitze hinauflaufen, um ihm nur zu entgehen.“

„Lily !“ mahnte die ältere Schwester in vorwurfsvollem Tone, aber die jüngere ließ sich dadurch keineswegs in ihrem zornigen Ausbruche stören; sie fuhr mit der gleichen Heftigkeit fort:

„Hast Du ihn denn etwa lieb? Du fürchtest ihn, wie alle Welt es thut, und doch bist Du die Einzige, der er überhaupt einen Willen und eine Meinung zugesteht. Er hat ja ganz Werdenfels unter seiner eisernen Zuchtruthe! Keiner von den Bauern wagt irgend etwas zu thun ohne seinen Beirath, und wenn er etwas befiehlt, so gehorchen sie blindlings. Wenn Du mich wirklich wieder unter seine Obhut geben wolltest – hu, schon bei dem bloßen Gedanken daran überläuft es mich eiskalt,“ sagte Lily schaudernd.

„Du bist ein thörichtes, undankbares Kind!“ verwies die junge Frau. „Hast Du vergessen, was Gregor für uns that, als wir verwaist dastanden und Niemand auf der Welt hatten, als ihn allein? Er besaß damals nur ein geringes Einkommen und hatte noch für seine Mutter zu sorgen, aber er zögerte nicht einen Augenblick, sich unser anzunehmen und uns eine Zuflucht in seinem Hause zu bieten. Du kanntest freilich damals die Verhältnisse noch nicht; Du zähltest ja erst sechs Jahre.“

„Deshalb habe ich es auch allein bei ihm ausgehalten,“ erklärte Lily. „Ich war ihm noch zu klein und unbedeutend, als daß er sich hätte mit mir abgeben sollen; er überließ mich ganz der Tante, und später, als diese starb und ich ein Erziehungsobject für ihn wurde, da vermähltest Du Dich glücklicher Weise und brachtest mich in das Institut. Aber Dich hat er von jeher [76] unter seine ganz besondere Obhut genommen. Wie Du das ausgehalten hast, begreife ich nicht – ich hätte es jedenfalls nicht gekonnt.“

„Nein, Du wärst zerbrochen unter dieser eisernen Hand,“ sagte Anna ernst. „Ich bin aus stärkerem Stoffe, und vielleicht hat auch diese Erziehung ihr Gutes gehabt; sie stählte mich für das Leben.“

„Ja, Du kannst auch bisweilen hart sein; das hast Du von Gregor gelernt, und am meisten warst Du es von jeher gegen Dich selbst.“

„Bin ich es gegen Dich?“

„Nein, meine Anna! O, so habe ich es nicht gemeint.“ rief das junge Mädchen, die Arme um den Hals der Schwester schlingend, die sie leise an sich zog.

Die beiden Schwestern glichen einander sehr und waren doch unendlich verschieden. Die kleine zierliche Lily reichte der hohen Gestalt der jungen Frau kaum bis zur Schulter; ihre weichen, braunen Flechten hatten dieselbe Farbe und Fülle, aber es fehlte ihnen jener wunderbare schimmernde Goldglanz, ebenso wie den Augen jener große, mächtige Aufschlag fehlte, der Anna’s Blick so schön machte. Lily’s braune Augen blickten schelmisch und kinderfroh in die Welt hinaus, und in ihrem rosigen Gesichtchen stand nichts von Energie und Willenskraft zu lesen. Die ältere Schwester war eine Schönheit, deren siegende Gewalt sich überall kundgab, die jüngere nur eine frische, anmuthige Mädchengestalt, sie glichen einander, wie sich Lilie und Jasmin gleichen.

„Was meinte denn Gregor, als er von dem Verkauf von Rosenberg sprach?“ begann Lily von Neuem. „Willst Du das Gut verkaufen? Ich glaubte, wir würden hier bleiben.“

„Das wäre auch mein Wunsch gewesen, aber es wird nicht möglich sein. Rosenberg erfordert einen herrschaftlichen Haushalt, und wir werden uns einfacher einrichten müssen.“

„Bist Du denn nicht reich?“ fragte das junge Mädchen mit naivem Erstaunen. „Ihr lebtet ja so prächtig in der Residenz.“

„Ich bin Wittwe,“ versetzte Anna ausweichend. „Hertenstein’s reiches Einkommen hörte mit seinem Tode auf, und wenn wir auch keine Armuth zu fürchten haben, so wird sich doch manches in unserem künftigen Leben anders gestalten.“

Lily nahm diese Eröffnung sehr gleichgültig hin. Ihr waren Reichthum und Armuth nach bloße Worte, deren eigentliche Bedeutung sie nie erfahren hatte. Für sie war von jeher gesorgt worden, und wenn ihr das Leben der Schwester, welche sie bisweilen in der Residenz besuchen durfte, wie ein prächtiges Feenmärchen erschien, so gefiel ihr die ungebundene Freiheit, die sie hier in Rosenberg genoß, nicht minder. Ein neuer Wechsel des Aufenthalts versprach ihr nur neues Vergnügen; sie war noch in dem Alter, wo man jede Veränderung willkommen heißt.

„Mir ist es gleich, wohin wir gehen, wenn es nur nicht zu Vetter Gregor ist,“ sagte sie unbestimmt. „Aber wann wirst Du endlich die tiefe Trauer ablegen, Anna? Du bist noch nicht vierundzwanzig Jahre alt und kannst doch nicht zeitlebens in schwarzem Flor und Krepp gehen, weil Du Wittwe bist. Im Sommer ist es ein volles Jahr gewesen, daß Dein Mann starb. Du kannst doch nicht ewig um ihn trauern, und er war auch schon so sehr alt, dreiundsiebenzig Jahre!“

„Man betrauert nicht das Alter, sondern den Verlust; glaubst Du, daß ich Hertenstein nicht lieb gehabt habe?“

„O ja,“ sagte die Kleine. „Man hat auch seinen Großvater lieb, und ich denke mir, so ungefähr von der Art muß Deine Liebe gewesen sein. Mir wenigstens ist der Präsident immer großväterlich erschienen und Dir wahrscheinlich auch – sonst hättest Du an Deinem Hochzeitstage nicht so verzweifelt geweint.“

„An meinem Hochzeitstage?“ fragte die junge Frau betreten. „Du irrst, Lily.“

„O, ich meine nicht vor dem Altar; da warst Du so ruhig und kalt wie ein Marmorbild, aber vorher, als Du Dich allein glaubtest. Der Präsident hatte mich schon am frühen Morgen in Dein Zimmer geschickt, damit ich Dir das prachtvolle Bouquet bringe, das er aus der Residenz hatte kommen lassen. Ich war sehr stolz auf meinen Auftrag und trat ganz leise ein, um Dich bei der Toilette zu überraschen, aber als ich die Thür öffnete, da lag das weiße Atlaskleid nach auf dem Sessel und darüber der Spitzenschleier, und daneben lagen die Brillanten, Du aber, Du lagst auf den Knieen und drücktest den Kopf in die Polster des Sophas und weintest, als ob Dir das Herz brechen sollte. Als ich Dich rief, da fuhrst Du freilich auf und trocknetest Deine Thränen und verbotest mir, darüber zu sprechen. Ich war noch sehr klein damals und sehr dumm, aber so viel wußte ich doch schon, daß man nicht so bitterlich weint, wenn man einen Mann heiraten soll, den man lieb hat. Ich weiß es recht gut, Gregor hat Dich gezwungen, diesen Schritt zu thun, und es hat ihm hernach selbst leid gethan; denn er war geisterbleich, als er Euch traute, und ich habe es ganz deutlich gesehen, daß seine Hand zitterte, als er sie zum Segen auf Dein Haupt legte.“

Das junge Mädchen sprudelte all diese Erinnerungen, die sie mit der scharfen Beobachtungsgabe des Kindes erfaßt und festgehalten hatte, unaufhaltsam hervor und hätte sich wahrscheinlich noch ausführlicher darüber verbreitet, wenn Anna sie jetzt nicht mit voller Entschiedenheit unterbrochen hätte.

„Schweig’ von Dingen, Lily, die Du noch gar nicht beurtheilen kannst. Du warst damals ein zehnjähriges Kind und hast Dir in Deiner kindischen Weise alles tägliche zusammengereimt, was nicht im Mindesten der Wahrheit entspricht. Gregor hat mich nicht gezwungen, und ich hatte mich auch nicht zwingen lassen; er rieth mir nur, wozu ich bereite entschlossen war. Ich habe freiwillig Hertenstein meine Hand gereicht und das nie auch nur einen Augenblick lang bereut. Ich verbiete Dir ein für alle Mal solche thörichten Voraussetzungen.“

Die Worte klangen streng, beinahe hart, und Lily, die ganz und gar nicht an eine derartige Strenge von Seiten der Schwester gewöhnt war und sich tief dadurch beleidigt fühlte, machte Miene zum Weinen, als die Thür von Neuem geöffnet wurde.

Die Dame, die jetzt eintrat, war älter als die beiden Schwestern; sie machte schon im Anfang der Dreißig stehen und war, ohne irgendwie auf Schönheit Anspruch machen zu können, doch eine ansprechende Erscheinung, eine kleine, etwas volle Gestalt, mit dunklen Haaren und lebhaften Augen. Sie trat mit freundlichem Gruße näher.

„Wir sind lange ausgeblieben, gnädige Frau, aber Lily hat Ihnen wohl schon gebeichtet, daß sie allein an der Verspätung schuld war.“

„Nein, ich habe noch nichts erfahren,“ sagte Anna, während ihre junge Schwester sich schmollend abwendete. „Aber ich glaubte, Fräulein Hofer, Sie hätten den Besuch bei Ihren Eltern etwas länger ausgedehnt.“

Fräulein Hofer, die ehemalige Gesellschafterin des Fräulein von Hertenstein, schüttelte den Kopf.

„Nein, wir haben die Försterei rechtzeitig verlassen, aber Fräulein Lily ruhte nicht, bis ich den Wagen vorausschickte und mit ihr den Waldweg einschlug, der bei Felseneck in die Bergstraße mündet. Es ist ein Umweg von einer Stunde.“

„O, ich wollte nur ein einziges Mal einen Blick auf das verwünschte Schloß werfen,“ rief Lily, die bei dem Worte Felseneck all ihr Schmollen vergaß. „Ich habe in den vier Wochen, daß ich hier bin, so viel davon gehört, und wenn auch kein Mensch hineindarf, sehen mußte ich es wenigstens! Es ist ein echtes Zauberschloß, so mächtig und prachtvoll wie in den Märchen, aber es herrscht eine Todtenstille ringsum, als wäre jedes Leben darin erstorben. Natürlich! Drinnen sitzt ja das verzauberte Ungeheuer, das Jedem den Hals umdreht, der unversehens hineingerät.“

„Nein, Lily, das ist Uebertreibung,“ sagte Fräulein Hofer in feierlichem Tone. „Was der Freiherr von Werdenfels auch da oben treiben mag – den Hals hat er noch Keinem umgedreht.“

„Nicht?“ fragte Lily mit offenbarer Enttäuschung. „Nun, ich war darauf gefaßt, wenn wir ihn wirklich zu Gesicht bekommen hätten. Ich erwartete jeden Augenblick, irgend etwas Entsetzliches aus dem dunklen Burgthor auftauchen zu sehen, aber merkwürdiger Weise erschien ein sehr hübscher junger Mann, der mit Flinte und Jagdtasche aus dem Schlosse kam und uns sehr artig grüßte. Wie mag der nur dorthin gerathen sein? Ich glaubte, ganz Felseneck sei nur mit Ungethümen bevölkert, da sein Herr sich ja doch mit Leib und Seele dem Gottseibeiuns verschrieben hat.“

[77]

„Hat ihm schon!“
Nach dem Oelgemälde von Sigmund Eggert.

[78]

Die Gothenburger Ausschank-Gesellschaft.

In Holland wirken zwei Mäßigkeitsgesellschaften neben einander: „Die niederländische Gesellschaft zur Abschaffung geistiger Getränke“, deren Wochenblatt „Volksfreund“ schon in seinem siebenunddreißigsten Jahrgange steht, und „Der Volksbund gegen den Mißbrauch berauschender Getränke“, 1875 durch den leider schon im Jahre darauf verstorbenen L. Philippona (mit dem Schriftstellernamen Multapatior) gestiftet. Die Entstehung und unzweifelhaft bedeutende Wirksamkeit des jüngeren Vereins ist an sich schon ein vollgültiger Beweis dafür, daß der ältere seiner großen Aufgabe nicht genügte. In dem jüngeren Verein lebt aber auch eine andere Auflassung von der Sache. Hierüber spricht der gegenwärtige Präsident des „Volksbundes“, Goeman-Borgesius, sich in einer Schrift über das neue niederländische Trunksuchtsgesetz von 1881 in folgender bemerkenswerter Weise aus:

„Man darf unsern ‚Volksbund‘ nicht mit der alten Abschaffungsgsellschaft zusammenwerfen. Wir haben alle Achtung vor der Ueberzeugungskraft der Männer, die auf ihre Fahne das kühne Wort ‚Abschaffung‘ geschrieben haben: wir bewundern den Muth und die Beharrlichkeit ihres Streitens. Aber unser Bund sieht seine Aufgabe anders an. Die alte Gesellschaft fordert von Allen, die ihr beitreten, daß sie keinerlei starke Getränke genießen oder ausschenken. Der ‚Volksbund‘ ist nicht so exclusiv; er öffnet seine Thüren weit für Alle, welche mit ihm kämpfen wollen gegen den gemeinschaftlichen Feind, d. h. den Mißbrauch berauschender Getränke.“

Ganz ähnlich wird wohl die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Trunksucht“, zu deren Gründung sich unlängst in Frankfurt am Main eine bedeutende Anzahl Volks- und Vaterlandsfreunde aus allen Theilen Deutschlands, aus den verschiedensten Ständen und Parteien verbunden hat, zu den hier und da noch vorhandenen alten Enthaltsamkeitsvereinen stehen. Sie will nicht ausrotten, sondern vernünftig beschränken. Sie steckt sich kein im Ganzen unerreichbares Ziel, braucht sich aber deshalb auch nicht zu begnügen, es nur bei verschwindend wenigen Individuen zu erreichen. Sie predigt Mäßigung in dem alltäglichen Genuß eines so starken Giftes, wie der Alkohol ist, nicht unbedingte Enthaltsamkeit. Darum wird sie schwerlich mit jenen Excessen des Temperanz-Fanatismus sympathisiren, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika von betenden und singenden Weibern gegen vielleicht sehr achtbare, ihrem Erwerb nachgehende Schenkwirthe verübt worden sind, oder welche sich gegen den gewohnten mäßigen Lagerbiergenuß und fröhlichen Liedergesang unserer ausgewanderten Landsleute richten; auf keinen Fall wird sie an die Uebertragung solcher Vorgänge auf unsern Boden denken. Aber was in europäischen Ländern anscheinend mit Erfolg neuerdings gegen das volksverderbliche Uebermaß des Trinkens unternommen worden ist, das wird sie zur öffentlichen Prüfung bringen; sie wird erwägen, ob und mit welchen Abänderungen oder unter welchen Bedingungen es sich auf unser deutsches Volksleben anwenden lasse.

Da steht nun neben anderem im Vordergrunde der Betrachtung das vielgenannte, aber noch wenig genau bekannte Gothenburger System. Unter diesem Titel geht jetzt durch die vorwärtsstrebende Welt von Mund zu Mund eine gewisse Regelung des Schänkenwesens. Seinen Ursprung hat das Gothenburger System in einer Untersuchung der Armuthsursachen, wie das Deutsche Reich sie im Herbst 1881 angestellt hat; sein Urheber war ein Zeitungsherausgeber.

Sven Adolf Hedlund, der Herausgeber jener Gothenburger Handels- und Schifffahrtszeitung, welche 1870 bis 1871 im skandinavischen Norden fast allein stand mit einer unbefangeneren Würdigung unseres Krieges gegen die Franzosen, beantragte am 31. Mai 1864 in der Stadtverordnetenversammlung zu Gothenburg, einen Ausschuß mit der Untersuchung der Gründe des wachsenden Elends in der Stadt und mit Vorschlägen zu der Hebung desselben zu beauftragen. Der Ausschuß, welchem Hedlund selbst angehörte, schlug zweierlei vor: eine neue Ordnung des Branntweinschanks und den Bau von Arbeiterwohnungen. In dem die erstere Maßregel begründenden Bericht vom April 1865 sagte der Ausschuß, der Branntwein sei ihm in den traurigen Zuständen, die er zu untersuchen gehabt habe, auf Schritt und Tritt entgegengetreten. Eine Menge Tatsachen, darunter viele von ergreifender Art, hätten ihm bis zum Ueberfluß die Wahrheit der alten Behauptung von Predigern, Aerzten, Richtern und Menschenfreunden bestätigt, daß die Trunksucht in ihrer schauerlichen Macht früher oder später unerbittlich ihre Opfer in’s Verderben führe, „indem sie die Seelenkräfte schwächt und das Rechtsgefühl abstumpft, die Gesundheit und Kraft des Körpers untergräbt, Gleichgültigkeit gegen die häuslichen Pflichten und die Interessen der Familie groß zieht und dadurch selbst in den sonst besten Häusern Kaltsinn und Unfrieden zwischen den Gatten, schlechte Kindererziehung, Unordnung, Verfall der Wirthschaft und zuletzt allgemeines Elend hervorbringt“.

Einen solchen Feind zu überwinden, der Armuth, Noth und Verbrechen zugleich im Gefolge habe, möge ein Gemeinwesen wohl alle seine Kräfte und Mittel aufbieten. Der Grund des Branntweingenusses sei ohne Zweifel nicht allein rohe, sinnliche Genußsucht, auch starke äußere Ursachen trieben zu ihm hin.

„Die gefährliche Eigenschaft des Branntweins, daß er, wenn auch nur für kurze Zeit, den frierenden und mangelhaft bekleideten Menschenkörper erwärmt, das quälende Hungergefühl stillt, die gesunkene Kraft zu neuen Leistungen aufstachelt, betrachtet der unter Entbehrungen und Anstrengungen lebende Arbeiter als Beweis seiner Nützlichkeit und Vortrefflichkeit, als Grund, ihn erst mäßig, dann vermöge einer verhängnißvollen inneren Nothwendigkeit immer unmäßiger zu verbrauchen.“

Was der Ausschuß der Stadtverordneten-Versammlung nun gegen dieses öffentliche Uebel vorschlug, stützte sich auf die schwedische Branntweingesetzgebung vom 15. Januar 1855. Durch diese wurde das Brennen zum Hausbedarf, das in Schweden während der ersten Hälfte des Jahrhunderts einen ungeheuren Umfang angenommen und das Trinken zum allgemeinen Volkslaster gemacht hatte, unterdrückt; nur Fabrik-Brennereien mit Dampfkraft blieben zugelassen, und diese wurden außerdem noch höher besteuert, sowie ihre Betriebe auf einen Theil des Jahres beschränkt. Während der Großhandel mit Branntwein frei blieb, wurde der Kleinhandel ganz abhängig gemacht von der Entscheidung der Communen, die ihn zulassen oder ganz verbieten, beschränken, regeln konnten, wie sie wollten, nur mit Vorbehalt der Genehmigung des sie beaufsichtigenden königlichen Beamten.

Diese durchgreifende Maßregel half auf dem Lande allem Unheil ab. Während sonst fast jedes einzeln belegene Gehöft zugleich ein Krug war, besaßen die schwedischen Landgemeinden im Jahre nach der neuen Gesetzgebung zusammen nur noch 64 Schnapsläden, 493 Schankberechtigungen für längere Zeit und 132 für weniger als ein Jahr. Man rechnet, daß gegenwärtig bei einer Durchschnittsbevölkerung von wenig über 500 Einwohner auf die Geviertmeile in Schweden nur noch auf je 10,500 Seelen eine Schänke und auf je 25,000 ein Schnapsladen kommt.

Aber was den Dörfern und Weilern geholfen hatte, mehrte zum Theil noch die Belastung der Städte; denn in ihre Mauern flüchteten die branntweingierigen Landbewohner und halfen ihre Kneipen füllen. So kamen in dem Jahre 1855/56 auf das in den Städten wohnende Achtel der Gesammtbevölkerung Schwedens nicht weniger als 1912 Schänken und Schnapsläden gegen die 689 des offenen Landes. Unter den bestraften Trunkenheitsfällen in Gothenburg befanden sich stets vergleichsweise viele Leute vom Lande.

Immerhin litt direct die unbemittelte städtische Bevölkerung, indirect auch die bemittelte bei weitem mehr von den fortbestehenden üblen Wirkungen des hergebrachten Schänkenwesens, als das Landvolk im Ganzen.

Um also dem Mechanismus erst rechte Triebkraft zu leihen, war hier noch ein Rad einzuschieben, und dieses wurde in Gothenburg erfunden. Es hieß „gemeinnützige Actiengesellschaft“ – ein uns zuerst etwas befremdender Name und Begriff, den wir aber bald verstehen und würdigen lernen, wenn wir uns seine Gothenburger Wirklichkeit näher ansehen.

Mit rund 60,000 Einwohnern besaß die Stadt damals 60 Schankstellen. 40 derselben waren theils nur auf Jahresfrist zugelassen; theils verfiel ihre Berechtigung im Herbste jenes Jahres 1865 und wäre dann neu zu versteigern gewesen. Diese zunächst verfügbaren 40 Schankberechtigungen empfahl der Ausschuß der Stadtverordneten-Versammlung einer Gesellschaft zu übertragen, welche sie nicht des Erwerbes halber, sondern aus Gemeinsinn an sich nehmen und benutzen würde. Sie sollte verpflichtet sein, für gesunde, helle und geräumige Locale zu sorgen, die geeignet wären, [79] Speisehäuser der lohnarbeitenden Classen zu werden, indem sie zu gewissen Stunden warme Speisen bereit halten würden. Innerhalb ihrer Locale hätte sie dauernd für Reinlichkeit und Ordnung aufzukommen; auf Borg oder gegen Pfand dürfte sie keine starken Getränke verabfolgen lassen.

Eine solche Gesellschaft forderte der Ausschuß aber nicht blos; er hielt sie für den Fall der Genehmigung seiner Vorschläge schon gleich bereit. Zwanzig der angesehensten Handelshäuser und Bürger erboten sich in einem Schreiben vom 7. April 1865 an den Magistrat, alle Schankberechtigungen zu übernehmen, welche sonst zur öffentlichen Versteigerung gelangen würden, die in der städtischen Branntweins-Ordnung dafür festgesetzten Mindestabgaben zu zahlen und den verbleibenden Reingewinn im Interesse der arbeitenden Classen gemeinnützig zu verwenden. Sie erhielten den Zuschlag und eröffneten ihr Geschäft am 1. October 1865. Einen Theil der Schänken ließen sie eingehen; die anderen statteten sie anständig aus und besetzten sie mit Wirthen, welche den Branntwein nur auf Rechnung der Gesellschaft unter Aufsicht eines Beamten derselben verabfolgten, dagegen Kaffee, ein dort „Drick“ genanntes schwaches Bier (ähnlich unserer Gose, Broihan, Weißbier u. dergl.), kohlensaures Wasser, Speisen aller Art, Zigarren etc. für ihre eigene Rechnung verkauften. Damit war den Schänken genommen, was sie namentlich bei großer Zahl und scharfer Concurrenz für viele ihrer Gäste so gefährlich macht, nämlich das Interesse des Wirthes am Vieltrinken.

Nach drei Jahren gab die Gesellschaft das Recht auf, über ihren Reingewinn nach eigenem Ermessen zum Wohle der arbeitenden Classen zu entscheiden, und wies denselben einfach der Communalcasse zu. Diese hatte davon sehr beträchtliche Einnahmen: 1866 zwar nur erst 53,946 Kronen (1 Krone gleich etwa 1,10 Mark unseres Geldes), 1868: 99,054 Kronen, aber 1872 schon 206,188 Kronen, und als 1874 sämmtliche Schankberechtigungen nebst dem ganzen Kleinverkauf von Branntwein in Läden an die Gesellschaft übergegangen waren, stieg die städtische Einnahme aus dieser Quelle von 254,393 Kronen im Jahre 1874 auf 665,512 im Jahre 1875 und 721,862 im Jahre 1876. Von da ab ist der Gewinn der Stadt wieder etwas gesunken und hält sich jetzt um 600,000 Kranen herum. Aber das ist kein Unglück, im Gegentheil! Denn diese Gewinnabnahme zeigt an, daß, seit die Gesellschaft das Geschäft völlig in der Hand hat, die Schraube nach Möglichkeit fester angezogen wird und die sociale Wirkung des Systems nun erst recht beginnt. Stände nicht eine gemeinnützige Actiengesellschaft zwischen der Gewohnheit des Trinkens und der städtischen Casse, so könnten die Vertreter der letzteren in Gefahr kommen, in ihrem Interesse die erstere bewußt oder unbewußt zu begünstigen, wenigstens nicht so entschlossen allmählich einzuschränken, wie die Rücksicht auf wahres Bedürfniß und wirklich dauerhaften Erfolg es gestattet.

Seit 1876 ist danach der Branntweinverkauf im Kleinen, aus dem Laden oder in der Schänke, zu Gothenburg in beständigem Sinken. Er betrug, das Jahr am 1. October anhebend gedacht:

Kannen = 26/10 Liter
1875/76 667,396
1876/77 651,220
1877/78 622,574
1878/79 559,459
1879/80 538,586
1880/81 523,536

Nicht ganz die Hälfte dieses Genußverbrauchs kommt auf die Wohnungen, wo er sogar noch etwas stärker abgenommen hat als in den Schänken, ein Zeichen, daß die neue Regelung dieser auch nicht etwa das Uebel in die Familie zurückgetrieben oder den sogenannten stillen Soff begünstigt hat.

Die besonderen Maßregeln, welche die Gothenburger Ausschank-Gesellschaft (Utskänknings Bolag) im Interesse ihres großen socialen Erziehungszweckes ergriffen hat, sind hauptsächlich die folgenden: Minderjährigen unter dem achtzehnten Jahre oder schon angetrunkenen Personen darf keinerlei berauschendes Getränk verabreicht werden: an Sonn- und Feiertagen wird nur zur Mahlzeit der sogenannte Appetitschnaps verabfolgt, sonst kein geistiges Getränk, ebenso am Sonnabend Abend von sechs, an den übrigen Abenden im Winter von sieben und im Sommer von acht Uhr an. Die Gesellschaft sorgt nicht nur in ihren Schänken für gute Speisen zum billigen Preise, sondern hat noch besondere Speisestellen (Volksküchen) für Arbeiter errichtet, in denen außer dem Appetitschnaps kein Branntwein verzapft wird. Ihr Branntwein ist der beste, welcher überhaupt zu haben, zehnfach gereinigter, wie er genannt wird, während der sonst gewöhnlich feilgehaltene Schnaps in allen Ländern vielfach ein hochgiftiger, rasch ruinirender Fusel ist. Von den Schwankungen der Großhandelspreise hat die Gesellschaft sich freizuhalten gestrebt, um nicht durch sinkende Preise zeitweilig zu stärkerem Verbrauch zu reizen, der dann leicht in Gewohnheit überginge.

Den Erfolg dieses Verfahrens und der ganzen neuen Ordnung des Kleinverkaufs von Gothenburg kann man, außer an der Abnahme der Zahl der ausgeschänkten und verkauften Kannen, auch noch an der Abnahme der Fälle von Säuferwahnsinn (delirium tremens) und der Bestrafungen wegen Trunkenheit messen.[1]

Nach dem Allem kann es nicht Wunder nehmen, wenn die übrigen schwedischen Städte sich beeilt haben, Gothenburgs Beispiel zu folgen. Von den Orten über 5000 Einwohner hat nur Lund sich bisher ausgeschlossen; ich weiß nicht, ob aus Rücksicht auf seine Studenten.

Auch die norwegischen Städte haben sich, sobald ein entsprechendes Staatsgesetz sie in den Stand setzte, die Gothenburger Erfindung zu Nutze gemacht. Außerdem erregte sie vor Allem in England Aufsehen: in den Parlaments-Actenstücken findet man wiederholt Correspondenzen über diesen Punkt mit dem Consul in Gothenburg und dem Gesandten in Stockholm abgedruckt, und der jetzige Handelsminister Chamberlain gilt für einen Freund der Einführung des Gothenburger Systems auf den britischen Inseln.

Sollen wir es denn nun nicht auch in unseren deutschen Städten einführen, d. h. vorerst die Hindernisse hinwegzuräumen suchen, welche unsere Reichs- und Landesgesetzgebung ihm entgegenstellt?

Einfach „Ja“ hierauf zu antworten bin ich noch nicht im Stande. Wir wollen doch lieber erst die Ergebnisse des Verfahrens mit eigenen, deutschen Augen und Ohren prüfen. Bis jetzt liegen nur ausländische Berichte und Urtheile vor. Es wäre töricht, das Gothenburger System seines fremden Ursprungs halber von vornherein für unanwendbar auf unsere vaterländischen Verhältnisse zu erklären, aber ganz sicher gehen wir auch nur, wenn zuverlässige Kenner unserer Verhältnisse einmal im skandinavischen Norden selbst untersuchen, was an sich und was für uns an der Sache ist.

Dies ist, wie ich annehme, eine der Aufgaben, für welche die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Trunksucht“ gegenwärtig in’s Leben gerufen wurde. Gewiß könnte auch die Reichsgewalt solche Untersuchungen anordnen. Aber wir wissen doch nicht, ob, wie bald und auf welche Art sie es thun wird. Ein Petitionssturm in diesem Sinne würde mindestens ebenso viel Agitationskraft erfordern, wie eine commissarische Prüfung der in der Bildung begriffenen Gesellschaft. Diese geht natürlich in solchen Vorstudien nicht auf, sondern hat gleichzeitig und nachher viel, unendlich viel andere Arbeit vor sich, sodaß jene Untersuchungsreisen ihr verhältnißmäßig nach am wenigsten Mühe bereiten werden, und da sie sich aus Männern aller Parteien, Richtungen und Berufsstände zusammensetzt, so wird es gerade ihr dabei an allseitiger Erwägung wie an sachgemäßer Unbefangenheit nicht fehlen.

A. Lammers.     
[80]

Gottfried Kinkel.

Von Ernst Ziel.

Eine Zeit, die alle Hände voll Arbeit hat, die ein Volk beruft, morsch gewordene Throne hinwegzufegen wie eitel Spreu von der Tenne, zugleich aber ein Kaiserreich aufzurichten mit Blut und Eisen und den neuen Staatsbau zu festigen in mühsamer Friedensarbeit – eine Zeit, wie die unsere, läßt uns Deutschen wenig Muße übrig, uns in die Geschichte voriger Tage zu vertiefen, seien sie auch die eigentlichste Wiege der Dinge von heute.

Fragen wir uns ehrlich: wer hat gegenwärtig in Deutschland noch ein Herz, wer noch den richtigen Maßstab für die Bewegungen der Vierziger Jahre, die in den Ereignissen des Sturmjahres 1848 ihren gewaltsamen Abschluß fanden? Außer den Alten, welche sie miterlebt, wohl nur noch Wenige. Und doch – ohne jene nationalen Frühlingsstürme müßten wir heute ein gut Theil jener politischen und socialen Errungenschaften entbehren, die den Stolz unserer Tage bilden; ein Strich durch jene Jahre – und wir wären in Deutschland bis zur Stunde höchst wahrscheinlich ohne eine gemeinsame Volksvertretung, ohne Freizügigkeit, ohne Preßfreiheit, ohne Schwurgerichte.

Das einmal wieder so recht zu beherzigen und unserer politischen Vergangenheit damit einen Zoll der Dankbarkeit zu zahlen, dazu giebt uns das noch frische Grab eines echtesten und edelsten Achtundvierzigers heute eine mahnende Gelegenheit, das Grab eines Mannes, den man in seiner Doppeleigenschaft als Dichter und Kämpfer nicht bester charakterisiren kann als mit Meister Uhland’s Wort: „Ein Sänger und zugleich ein Held“: Gottfried Kinkel ist am 14. November vorigen Jahres zu Zürich gestorben.

Der nun dahingegangen, war schon seit Jahren ein nahezu Vergessener; seine Rolle war längst ausgespielt; er war still geworden, der laute Rufer im Streit, still geworden, lange bevor der Tod ihn im eigentlichsten Sinne des Wortes zu einem stillen Manne gemacht. Aus seiner schweizerischen Professur-Verborgenheit tönte nur selten noch ein Wort von ihm zu uns herüber und in die Welt hinaus; ja selbst die großen Ereignisse von 1870 und 1871 lösten ihm nicht die stumm gewordene Dichterlippe. Wenn es nicht paradox wäre, würden wir sagen: sein Tod war das erste Lebenszeichen, das er der Welt nach Jahren des Schweigens gegeben.

Gottfried Kinkel zählt zu den im Revolutionsjahre so zahlreich auftauchenden Kämpfern, die, ursprünglich weichere Naturen, nur in der Zeiten Noth umgeschmiedet und gehärtet wurden zu wuchtig dreinschlagenden Männern der That, die, entzündet durch des Vaterlandes Schmach, den stillen Lehrkatheder mit der lauten Volkstribüne, die Leier mit dem Schwerte vertauschten. Er war zum Revolutionär geworden durch die Macht der Verhältnisse, nicht durch eine innere Nöthigung seiner Natur. Er hatte von Hause aus keinen Tropfen politischen Blutes in den Adern; nur sein warmer Idealismus, der die bedrohte Sache des Volkes als seine eigene Sache fühlte, riß ihn in den Wirbel der Revolution hinein und bis hart an die Pforten des Blutgerichts.

Das innere Werden Kinkel’s erhellt am besten, wenn wir einen Blick auf sein äußeres Leben werfen: Als Sohn eines strenggläubigen Pfarrers zu Oberkassel bei Bonn geboren (11. August 1815) und in pietistischen Grundsätzen erzogen, gehörte er während seiner Universitätsstudien und später als Licentiat in Bonn, als Hülfsprediger in Köln der orthodoxen Schule an und schöpfte aus den Quellen Hengstenberg’scher Weltanschauung volle Lebensbefriedigung. Aber seiner gesunden und nur irregeleiteten Natur mußte dieses Quellwasser der sogenannten Rechtgläubigkeit sehr bald fade und abgestanden erscheinen. Das mühsam aufgebaute Kartenhaus seiner nach der königlich preußischen Kirchenschablone zugeschnittenen Ueberzeugung warf ein kräftiger Sturm schnell genug über den Haufen. Bezeichnend für Kinkel’s Art und Charakter ist es, aus welcher Richtung dieser Sturm blies und an welcher Seite sie ihn packte: es war ein Sturm der Liebe. Es ist eine oft gemachte Erfahrung, daß geistig kräftige Frauen vor Andern dazu berufen erscheinen, gerade im Leben von Männern, die besonders nach der Seite des Gefühls hin beanlagt sind, die entscheidende Rolle eines Bekehrers zu spielen. So war es auch in Kinkel’s Leben eine Frau, die – umgekehrt wie bei dem Apostel – aus dem Paulus einen Saulus machte. Um den weich gestimmten und in Anbetracht des Gemüthslebens so zart organisirten Mann vom Dogma zur Freiheit zu bekehren, dazu bedurfte es eben der Berührung mit einer stark an’s Männliche streifenden, bedeutenden Frauennatur. Im Frühling 1839 lernte Kinkel die musikalisch hochbegabte Johanna geb. Mockel, die seit mehreren Jahren ihrem Gatten abtrünnige (seit 1840 geschiedene) Frau des Buchhändlers Mathieux in Köln kennen, eine Frau von hochfliegender Phantasie und großer Leidenschaft des Herzens. Sie war nicht eigentlich schön; Kinkel selbst charakterisirt sie in den „Elegien an Johanna“ folgendermaßen:

„Nicht wie ein liebliches Kind mit zärtlich schmachtendem Auge,
     Das mit des Schweigens Gewalt zaub’risch verwundet das Herz –
Nicht wie die träumende Blume, noch halb umhüllt von der Knospe,
     Nein, im vollesten Duft stehst Du, ein herrliches Weib!
Mag Dich die Masse verschmäh’n, weil Dir die schaffende Mutter
     Gab für die Farbe die Form, gab für die Fülle die Kraft:
Aber wem je sich entzündet der Sinn für Macht des Charakters,
     Der auf die leibliche Form prägt den gewaltigen Druck …
Diesem wendest das Herz Du im Busen …“

Es war eine wunderbare Ironie des Schicksals, die in dem sich schnell entspinnendem Verhältnisse des jungen orthodoxen Protestanten zu der um acht Jahre älteren katholischen Johanna die Würfel warf: der Theologe Kinkel hatte sich die Aufgabe gestellt, die mit sich selbst zerfallene geistreiche Frau zum Frieden des Christenthums zurückzuführen und dadurch mit sich selbst zu versöhnen, aber der Weg theologisch-philosophischer Untersuchungen, den sie in gemeinsamen Studien beschritten, löste sie Beide vom Glauben einer geoffenbarten Religion los und führte sie zuerst dem Zweifel, dann aber einer pantheistischen Weltanschauung in die Arme.

Es war ein vielseitig angeregtes geistiges Leben, das damals in Bonn herrschte. Um diese Zeit wurde auch durch Kinkel und seine Freundin „Der Maikäfer, Zeitschrift für Nicht-Philister“, begründet, ein belletristisches Blatt von stark humoristischem Gepräge, dem Kinkel damals seine ganze poetische Thätigkeit widmete und dem wir außer einer Reihe lyrischer Poesien unseres Dichters namentlich auch dessen formschönes und gefühlsfrisches Epos „Otto der Schütz“ verdanken. Um das eifrig gepflegte Blatt gruppirte sich der von frischem dichterischem Geiste getragene „Maikäferbund“, eine Gesellschaft, die alle poetischen Gemüther Bonns unter dem Präsidium von Johanna und Gottfried vereinigte und der unter Anderen Karl Simrock, Alexander Kaufmann, Arnold Schloenbach und Nicolaus Becker angehörten.

Nach mancherlei Kämpfen und nachdem Johanna öffentlich zum Protestantismus übergetreten, wurden die durch Geist und Herz längst Verbundenen nun am 22. Mai 1843 auch durch Priesterhand ehelich zusammengethan. Für Kinkel hebt hiermit eine neue Lebensperiode an; denn mit der Begründung seines eigenen Herdes vertiefte und festigte sich sein Wesen; er war im ganzen Umfange des Wortes Mann geworden. Der Befehdungen müde, welchen der Gemahl der geschiedenen Katholikin von Seiten der theologischen Professoren Bonns ausgesetzt war, entschloß sich Kinkel, aus der theologischen Facultät auszutreten; er ging in die philosophische über, hielt Vorlesungen über Kunstgeschichte und Literatur und ließ den ersten Band seines verdienstvollen Werkes „Geschichte der bildenden Künste bei den christlichen Völkern“ (1845) erscheinen, was seine Ernennung zum Professor der Kunst- und Literaturgeschichte an der Universität Bonn zur Folge hatte.

In die kaum befestigte Lehrtätigkeit des jungen akademischen Bürgers brach das Jahr 1848 herein. Er hatte schon seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s des Vierten an der nationalen Bewegung lebhaft Theil genommen – aber in durchweg maßvoller Weise, und auch seine politischen Forderungen beim ersten Auflodern der Revolutionsflamme waren noch durchaus gemäßigte: er wollte eine Bundesverfassung unter Aufrechterhaltung der Throne; erst die allgemeine Empörung über den Waffenstillstand von Malmö drängte seine gemäßigte Natur in das Lager der Demokratie. Nun erst bäumte sich der Zorn in ihm empor; nun erst wurde er der eigentliche Organisator der demokratischen Partei in den Kreisen Bonn und Sieg; entschlossenen Sinnes übernam er im Dienste der Sache die Leitung der „Bonner Zeitung“ und stiftete [81] einen Handwerkerbildungsverein; 1849 wurde er zum Abgeordneten der zweiten Kammer gewählt, und schon gleich hier, an der Schwelle seiner eigentlichen parlamentarischen Wirksamkeit, tritt Eines charakteristisch hervor: Der Gedanke, der ihn in seinem politischen Wirken leitete und begeisterte, war nach wie vor ein sittlicher, humaner: die Hebung des vierten Standes und dessen Befreiung vom materiellen und geistigen Drucke der Besitzenden.

Gottfried Kinkel.
Nach einer Photographie im Verlage von Louis Zipfel in Zürich auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

„Um der Armuth willen führen wir den Kampf,“ sagte er in seiner Abschiedsrede in Bonn, bevor er sich nach Berlin in die Kammer begab. „Jedes bleiche Antlitz, jedes in Unglück und Schande verkommene Geschöpf, jedes Verbrechen, aus Noth begangen, wird einen Sporn in unsere Flanke drücken, wenn wir einmal ermatten oder rasten könnten im heiligen Kampfe für die Menschheit. Die Grundsätze der Demokratie sind einfach, wie alles Göttliche und weltgeschichtlich Große: das Kind begreift sie, und der Mann denkt sie nicht aus. Die Demokratie ruht auf dem tiefen Gefühle der Liebe, das den Menschen an den Menschen bindet, als an seinen gleichberechtigten Nächsten.“

Kinkels Bonner Abschiedsrede enthält gewissermaßen sein politisches Programm. Am 24. Februar 1849 begab er sich nach Berlin, und nun beginnt und entscheidet sich schnell seine Rolle als Volksvertreter und Revolutionär. In der preußischen Hauptstadt entwickelte er von Anfang an als Abgeordneter der Kammer eine energische Thätigkeit für seine Partei. In seiner berühmten, plastisch-schönen Rede vom 23. März, gelegentlich der Beantwortung der Thronrede durch die Nationalversammlung, war er schon der ausgesprochene Redner der Revolution, der unter Berufung auf den Schatten Robert Blum’s der erschrockenen Rechten des Hauses mit flammenden Worten das Mene Tekel an die Wand schrieb:

„Wir werden für die Entscheidungsschlacht, welche kommen muß, den Geist, den Hunger, die Noth, das Proletariat und den Zorn des Volkes in den Kampf führen.“

Und am 26. April – also einen Tag, bevor die zweite Kammer aufgelöst wurde – war es dann wieder Kinkel, welcher es wagte, die Parole der Zukunft: „sociale, demokratische Republik“, von der Tribüne herab der Regierung entgegen zu schleudern.

[82] Nach Bonn zurückgekehrt, fand er am Rhein die Gemüther in höchster Erregung. Das Volk nahm den Gewaltthätigkeiten der Regierung gegenüber eine entschlossene Haltung an, und im übrigen Deutschland loderten bereits hier und da die Flammen der Revolution hell auf: in Dresden tobte der blutige Straßenkampf, und in der Pfalz begann der Aufstand sich zu organisiren. „Jetzt muß gehandelt werden oder nie“ war der Gedanke, der auch in Bonn die Geister durchzuckte. Da beschloß die dortige Demokratie den Sturm des Zeughauses zu Siegburg. Noch einmal erwachte bei dieser Gelegenheit Kinkel’s vorsichtig gemäßigte Natur: er rieth von dem gewaltthätigen Zuge nach Siegburg ab – vergebens! Erst als er sah, daß hier zum ersten Male seiner Beredsamkeit der Sieg versagt blieb, schloß er sich dem kühnen Zuge seiner Parteigenossen an, bereit mit ihnen zu kämpfen und zu sterben. Das war am 10. Mai 1849. Noch in derselben Nacht wurde der Plan ausgeführt. Kinkel nahm gefaßten Abschied von seiner heroischen Johanna und seinen schlafenden Kindern, und vorwärts über den Rhein wälzte sich die abenteuerliche Schaar der Empörer, Kinkel unter ihnen, nach Siegburg. Aber der verwegene Handstreich mißlang. Siegburg wurde den Aufständigen keine Burg des Sieges. Der bewaffnete Zug wurde zersprengt, und die Theilnehmer an demselben stoben nach allen Seiten hin aus einander. Kinkel wandte sich nach der Pfalz, wo der Aufstand seine höchsten Wellen schlug: er stellte sich der provisorischen Regierung zur Verfügung und wurde Fenner von Fenneberg als Adjutant beigeordnet.

„Wenige Tage nur währte es,“ berichtet die „Westdeutsche Zeitung“, „da redeten die Leute von ihm wie von einem Heilande. Wo er in ein Dorf kam, da drängte man sich an ihn, drückte ihm die Hand und bat ihn, zu sprechen, und dann horchten sie mit Andacht und versprachen, sie wollten Alles, Alles befolgen. ‚Das ist ein Mann!‘ riefen sie mit staunender Bewunderung, und er war es auch einzig werth, vom Volke geliebt zu werden, mit dieser Reinheit des Bewußtseins und des Willens, mit der hohen, heiteren Opferwilligkeit seiner Seele.“

Diese Opferwilligkeit war es auch, die ihn, als die Pfalz verloren, mit unwiderstehlicher Gewalt von dort fort nach Baden trieb – unter die Muskete. Dort trat er am 19. Juni als gemeiner Feldjäger in die Compagnie Besançon unter Hauptmann Willich.

„Die Männer riefen ihm ein dumpfes Willkommen zu,“ schreibt ein Augenzeuge, ein Freund Kinkel’s, „ich sah, wie er, angethan mit einer Ledertasche, die Muskete in der Hand, in’s Glied trat, nahe an den rechten Flügel, weil er unter den Männern einer der Größten und Stärksten war. Noch einmal, das letzte Mal, sah ich ihn am 21. Juni, zwei Tage vor dem Treffen bei Bruchsal. Ich ritt an die Front heran und reichte ihm die Hand; er drückte sie fest und lange; auf seiner Stirn lag finsterer Unmuth; Kampfbegierde in seinem dunklen Auge. Worte haben wir nicht gewechselt; er sprach aus Dienstbewußtsein im Gliede niemals.“

Dem Manne, der so selbstlos und tapfer für seines Herzens Meinung eingetreten, sollte der Kranz des Märtyrerthums nicht fehlen. Am 29. Juni nahm sein Schicksal plötzlich eine tragische Wendung; er wurde an jenem Tage an der Murg verwundet; in Begleitung einiger Schützen seiner Compagnie hatte er sich zu weit vorgewagt und stürzte, von einer preußischen Kugel an der rechten Schläfe getroffen, bewußtlos zu Boden. In einem Bauernhause, wo ihn die Genossen zurückgelassen, gerieth er alsdann in Gefangenschaft.

So endete seine Theilnahme am Badenschen Aufstande; sie hatte nur zehn Tage gedauert. In Karlsruhe, wohin man ihn zuerst brachte, traf er noch einmal mit seiner geliebten Johanna zusammen und wurde dann in Rastatt vor ein Kriegsgericht gestellt. Nachdem er am 4. August vor seinen Richtern gestanden, erwartete er für den nächsten Morgen mit Sicherheit seine standrechtliche Erschießung, und in dieser Stimmung dichtete er in seiner Zelle das tiefempfundene Lied:

 Mein Vermächtniß.
Das Beste, was das Leben giebt,
Das hab’ ich nun genossen;
Mich hat ein edles Weib geliebt
Und gab mir holde Sprossen.
Im Freundesreigen stand ich stark
Beim Becher und in Fehde.
Mein Leib war fest, gesund mein Mark,
Und golden floß die Rede.

Mir gab Natur ein fühlend Herz
Für Seligkeit und Wunden;
Des Gottes Lust, des Wurmes Schmerz –
Ich hab’ ihn mitempfunden.
Es lag der Zeiten großes Buch
Vor meinem Geiste offen,
Der Freiheit Glück, der Knechtschaft Fluch,
Der Völker Gram und Hoffen.

Den Feinden mild, den Freunden gut,
Die Hand noch rein vom Fluche,
Kein Blatt voll Haß, kein Blatt voll Blut
In meines Schicksals Buche:
So werf’ ich in den Opferbrand
Ein reichbekränztes Leben –
O Glück und Stolz, mein Vatertand,
Für dich es hinzugeben!

Der müden, schwielenharten Hand
Ein sanfter Loos zu werben,
Du vierter Stand, du treuer Stand,
Für dich geh’ ich zu sterben.
Euch Armen treu bis in den Tod,
Für Euch zur That entschlossen,
Fall’ ich um’s nächste Morgenroth,
Vom kalten Blei durchschossen.

So haftet mich in treuem Sinn,
O Meister und Geselle!
Gedenke mein, du Näherin
In deiner trüben Zelle;
Du Winzer, der am Fels der Ahr
Umsonst die Gluthen leidet,
Du arme Tagewerkerschaar,
Die fremde Garben schneidet!

Ich werde nicht vergessen sein;
Du Jugend wirst mich kennen
Und wirst an meines Geistes Schein
Zum Freiheitsdurst entbrennen.
Manch Frauenauge weint um mich,
Den Sänger süßer Lieder:
Als Gruß der Erde neigen sich
Viel Blumen zu mir nieder.

Den letzten Gruß dir überm Rhein,
Du edles Volk der Franken!
Die Völker sollen einig sein
In Herzen und Gedanken.
Stehn soll, so weit aus diesem Rund
Sich Aug’ in Auge spiegelt,
Der ew’ge Bund, der Bruderbund,
Den Euch mein Blut besiegelt.

Unter dem Eindrucke seiner imponirenden, edlen Persönlichkeit und in Folge seiner fulminanten Vertheidigungsrede verurtheilte ihn das Kriegsgericht indessen nicht, wie zu vermuthen stand, zum Tode, sondern zu lebenslänglicher Festungsstrafe. Die „Gnade“ des Königs aber „milderte“ diese Strafe, indem sie ihn auf Lebensdauer in’s Zuchthaus sandte. Der hochsinnige Dichter, der überzeugungstreue Kämpfer für die Rechte des Volkes wurde zur Züchtlingsjacke und zum Spulen von Wolle verurtheilt! Deutschland, Europa, die Welt staunte über diese königliche „Begnadigung“, und Zeichen des höchsten Unwillens wurden im Volke überall laut. In das Zuchthaus zu Naugard gebracht, mußte er sich im April 1850 noch einmal den Assisen zu Köln stellen, um sich wegen seiner Theilnahme an der Erstürmung des Zeughauses zu Siegburg zu verantworten. Er wurde freigesprochen, seitdem aber, nachdem er auf der Rückkehr von Köln einen vergeblichen Fluchtversuch gewagt, in Spandau in noch härterer Haft gehalten.

Spandau war die letzte Leidensstation Kinkel’s. In Folge einer planmäßig ersonnenen und scharfsinnig durchgeführten Verschwörung, deren durch ganz Norddeutschlaud geführte Fäden zu einem großen Theil die beherzte und kluge Johanna in der Hand hielt, wurde der edle Kämpfer im November 1850 durch den damaligen Studenten und früheren Schüler Kinkel’s, Karl Schurz, den nachmaligen amerikanischen Diplomaten, auf ebenso kühne wie abenteuerliche Weise aus dem Kerker befreit (vergleiche den Artikel von Moritz Wiggers, „Gartenlaube“ 1863, Nr. 7 bis 10). In Rostock wurde er im Hause eines demokratisch gesinnten Großhändlers – Ernst Brockelmann – Tage lang verborgen gehalten, während die klug irregeführten Häscher ihn auf ganz falscher Fährte suchten; von dort aus floh er auf einem von seinem Gastgeber eigens für ihn ausgerüsteten Kauffahrteischiffe nach England; er lebte alsdann – von einem kurzen Aufenthalte in Amerika abgesehen – [83] in Londoner Flüchtlingskreisen als Lehrer an verschiedenen dortigen Hochschulen, bis er im April 1866 einem Rufe als Professor der Archäologie und Kunstgeschichte an das eidgenössische Polytechnikum in Zürich folgte. In London hatte er das Unglück, seine Johanna durch einen Sturz aus dem Fenster (17. November 1858) zu verlieren, ein Ereigniß, welches die verschiedensten Deutungen gefunden und dessen Veranlassung bisher wohl noch unaufgeklärt geblieben.

Das ist in kurzen Zügen der Lebensweg Kinkel’s. Schicksale, welche den Dichter selbst zu einem dramatischen Heros der Freiheit stempeln, lassen natürlich vermuthen, auch aus seinen Werken ertöne auf jeder Seite die Alarmdrommete des Revolutionärs. Das trifft nicht ganz zu. Kinkel, der Redner und Kämpfer, ist ein Anderer als Kinkel, der Dichter. Wohl ist der Grundton seiner Dichtungen derselbe, wie der seines Ringens als Mensch: hier wie dort der gleich hohe Flug des Geistes, das gleich reine und edle Streben nach Freiheit in jedem Sinne. Aber gerade das eigentlich politische Pathos, das ihn als Menschen charakterisirt, klingt in seinen Dichtungen nicht so häufig durch, wie man erwarten sollte, und wo es ertönt (zumal in seiner ersten Sammlung – 1843 –), begegnet es uns meistens im Gewande einer verhältnißmäßig ruhigen Sprache. Nur selten ein stürmischer Drang der Freiheitsbegeisterung, an dem Kinkel’s Leben doch so reich – überall, wo es sich um politische Fragen handelt, die gebändigte Leidenschaft des classischen Princips in der Dichtung, und in der That, wenn man Kinkel den politischen Lyrikern des Revolutionsjahres einreihen will, so wird man sagen müssen: neben Georg Herwegh, dem feurigen Pathetiker, neben Ferdinand Freiligrath, dem farbenprächtigen Romantiker, neben Hoffmann von Fallersleben, dem burschikosen Volkssänger, ist Gottfried Kinkel der maßvolle Classiker der deutschen Demokratie. Seine Gedichte, in denen er sein ganzes Ringen und Streben, seine inneren Kämpfe niedergelegt hat, haben zu einem großen Theil den hohen und edlen Gang, den schönen und reinen Stil der Antike; seine meistens weich gestimmte Muse hat Seele, Adel und Anmuth und ist ebenso bestrickend, wenn sie in Oden, Hymnen oder Elegien sich auf idealen Gedankenpfaden bewegt, wie wenn sie im leichtgeschürzten Liede ein sanftes Gefühl zum Ausdruck bringt.

Aber das eigentliche und wahre Gebiet der Kinkel’schen Poesie ist doch das Epos. Das anmuthige, mittelalterliche Heldengedicht: „Otto der Schütz“ (1846), welches die Liebe Otto’s von Thüringen zu der schönen Elsbeth besingt, sowie die erzählende Dichtung: „Der Grobschmied von Antwerpen“, sind Perlen epischer Poesie von dauerndem Werthe. Namentlich das ersterwähnte Epos hat den Ruhm unseres Dichters begründet.

Endlich hat Kinkel das Gebiet des Dramas nicht ohne Glück betreten: sein von der deutschen Bühne viel zu wenig beachtetes, gedankenvolles Trauerspiel „Nimrod“ (1857) ist ein Culturgemälde großen Stils, das durch seine ausgesprochene demokratische Tendenz noch einen besonderen Reiz erhält.

So tritt uns aus den Werken Kinkel’s wie aus seinem Leben eine durch die Romantik ihrer persönlichen Schicksale ebenso interessante, wie durch die Größe ihres menschheitlichen Strebens imposante Mannesgestalt entgegen; er war kein Freiheitsapostel im eminenten Sinne des Wortes; er ist kein Dichter mit der Anwartschaft auf die Unsterblichkeit, aber was ihm nach beiden Seiten hin gebricht, das wird ausgeglichen durch den wechselseitigen Glanz, den der Kämpfer vom Sänger, der Sänger vom Kämpfer empfängt, und in diesem Sinne wird der Gefangene von Naugard und Spandau immer einer der leuchtendsten Vertreter der Freiheitsbewegung von 1848 und 1849 bleiben. Was man so treffend von Theodor Körner gesagt hat, das gilt vollauf auch von Gottfried Kinkel: er hat sich zum Helden gesungen und zum Sänger geschlagen.[2]




Um die Erde.

Von Rudolf Cronau.
Zwölfter Brief: Tchanopa-o-kä, das Heiligthum der rothen Rasse.

„Zu den Höhen der Prairien,
Zu dem Bruch der Pfeifensteine
Gitche Manitu, der Mächt’ge,
Er, des Lebens Herr, stieg nieder
Auf des Steinbruchs rothen Klippen
Stand er und berief die Völker,
Rief die Stamme all zusammen …
Von dem rothen Fels des Steinbruchs
Brach er mit der Hand ein Stück sich,
Welches, mit Gestalten schmückend,
Er zum Pfeifenkopfe formte;
Pflückte drauf zum Pfeifenstiele
An des Flusses Rand ein Schilfrohr,
Frisch, voll dunkelgrüner Blätter;
Füllte dann den Kopf der Pfeife
Mit dem Bast der rothen Weide.
In den nahen Wald nun blies er,
Daß sich seine Aeste rieben,
Bis sie gluthumflossen flammten.
Aufrecht auf der Höhe rauchte
Gitche Manitu, der Mächt’ge,
Calumet, die Friedenspfeife,
Als ein Zeichen allen Völkern....“
(Longfellow, „Hiawatha“.)

Der „ferne Westen“ der Vereinigten Staaten ist reich an romantischen, sagenumwobenen Plätzen. Unstreitig aber gebührt unter all diesen durch Gesänge und Traditionen berühmten Orten der erste Rang dem großen Pfeifensteinbruche, dessen Gebiet den kupferfarbenen Urbewohnern Nordamerikas lange Jahrhunderte hindurch als der heiligste aller heiligen Plätze gegolten. Ihre Legenden und Ueberlieferungen kommen darin überein, daß hier nicht allein der Gebrauch der Friedenspfeife, sondern auch die ganze rothe Rasse selbst ihren Ursprung genommen hat.

Es ist noch nicht lange her, daß die Bleichgesichter die erste Kunde von diesem indianischen Heiligthume erhielten. Capitain Carver, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Landschaften im Herzen Minnesotas durchstreifte, war der Erste, welcher unbestimmte Nachrichten über die im Südwesten gelegenen „rothen Berge“ brachte, aus deren Gestein die Indianer jene Pfeifen schnitzten, deren Darbietung als ein Zeichen der Freundschaft unter den Rothhäuten gang und gäbe war. Siebenzig Jahre noch blieb das Geheimniß, welches über diesen rothen Bergen ruhte, unentschleiert; Niemand wagte aus Furcht vor den Indianern, die jedem Bleichgesichte die Annäherung zu ihrem Heiligthume verwehrten, sich den rothen Bergen zu nähern.

Erst Georg Catlin, dem bekannten Indianerreisenden, gelang es im Jahre 1832 dieselben zu erreichen; sechs Jahre später kam der Ingenieur Nicolett ebenfalls zum Ziele, und Beide haben Schilderungen des Pfeifensteinbruches gegeben. Doch sind außer einer sehr schwachen und wenig getreuen, dilettantenhaften Abbildung des Bruches, die in Catlin’s Werken zu finden ist, der Welt keine weiteren Aufnahmen bekannt und dürfte die unseren Artikel begleitende Illustration als die erste zuverlässige zu betrachten sein. Noch in neuerer Zeit war der Besuch des seltsamen Gebietes mit großen Gefahren und Schwierigkeiten verknüpft; so wandten sich z. B. 1855 drei Reisende, die von Prairie de Chien gekommen, nicht fern vom Ziele aus Furcht vor den Indianern wieder rückwärts; ebenso eine zweite Partie in der Mitte der sechsziger Jahre.

Mitternacht war vorüber, als ich nach tagelanger harter Fahrt endlich bis zur äußersten Südwestecke des Staates Minnesota vorgedrungen und dem Ziele meiner Reise nahe war. Mit Spannung sah ich dem grauenden Morgen entgegen. Endlich brach dieser an, aber die Witterung hatte sich total geändert; trüb und schwer hingen die Wolken hernieder; ab und zu strichen mit Schnee untermischte Regenschauer über die endlose braune [84] Prairie, aus der sich in der Entfernung von einundeinhalb englischen Meilen eine von Norden nach Süden streichende fleischfarbene Klippenwand, ein senkrecht abfallender Wall in äußerst malerischer, wilder Zerklüftung bis zur Höhe von 25 oder 30 Fuß emporhob, eine Front von etwa zwei bis drei englische Meilen Länge bildend und an seinen Enden in den Boden der Prairie verschwindend. Ein kleiner Strom, der Pipestone Creek, welcher seinen Quell eine kurze Strecke östlich von den Felswänden hat, stürzt sich in verschiedenen Armen über die jähen Klippen herab und wendet sich dann westlich und südlich dem großen Siouxflusse zu, um mit diesem vereint dem Missouri zuzueilen.

Der Pfeifensteinbruch, das Heiligthum der rothen Rasse.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Parallel der Klippenwand, in der Entfernung einer halben Meile vor derselben, liegt der eigentliche Pfeifensteinbruch, eine Reihe von fünf bis zehn Fuß tiefen Gruben. welche zu beiden Seiten des Flusses sich auf eine Strecke von je dreiviertel Meilen hinziehen. Diese mit Felsbrocken und Bruchscherben umgebenen, zur Zeit meines Besuches drei bis vier Fuß hoch mit Wasser gefüllten Gruben sind der Fundort des seltsamen Steines.

Schon die Lage desselben ist interessant genug. Er liegt in einer Dicke von ungefähr elf Zoll zwischen zwei Schichten grauen, blaß- und tiefrothen Quarzes eingebettet, und man muß zuerst eine Lage von fünf bis acht Fuß mächtigen, äußerst festen Quarzes durchbrechen, ehe man zu dem heiligen Steine gelangen kann, von welchem wiederum nur eine zweieinhalb Zoll starke Schicht zur Herstellung der Pfeifen und anderer Ornamente taugt, während der übrige Theil zu splitterig und unrein ist. Der Stein, von Farbe eigenthümlich braunroth, ist es, welcher den Indianern diese Localität so heilig und werthvoll macht und sie veranlaßt, [85] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



alljährlich am Pfeifensteinbruche zu erscheinen und sich hier mit dem nöthigen Quantum für ihren Bedarf an Pfeifen zu versehen.

Die Gewinnung des Steines muß in früheren Jahrhunderten, als die Indianer eiserne Werkzeuge nicht kannten, mit schwerer Arbeit verbunden gewesen sein, und ich erhielt darüber von dem an die neunzig Jahre alten, schier erblindeten Oberhäuptling der Yanktonans, Padani-a-Papi, folgende Mittheilung:

„Als noch meine Väter lebten und ich ein Knabe war, besuchten wir den Pfeifensteinbruch alljährlich in den Monaten Juli und August, der einzigen Zeit, wo das Wasser in den Gruben ausgetrocknet und ein Arbeiten in denselben möglich war. Bevor wir uns dem heiligen Boden nahten, unterwarfen wir uns einer dreitägigen, mit Fasten, Opfern und Gebeten verbundenen Reinigung und flehten zum Großen Geiste, daß er eine recht baldige Sprengung der den heiligen Stein verdeckenden Felsen geschehen lassen möge. Am vierten Tage unserer Reinigung bemalten wir uns und schritten zum Werke. Jeder Krieger nahm einen Felsblock in beide Hände und schmetterte diesen mit aller Macht auf die Felsen, bis dieselben durchbrochen waren. Diese Arbeit währte, da die Felsen sehr hart und dick sind, manchmal Tage und Wochen lang, und gar häufig war das Gestein mit dem Blute unserer Hände und Füße geröthet.“

So der Alte!

Nähern wir uns dem oben erwähnten Klippenzuge, so gewahren wir, daß derselbe unstreitig durch äußere Einflüsse bloßgelegt worden ist und daß die Zerstörung desselben sich in stetigem Fortschreiten befindet. Namentlich wenn wir auf das eigenthümlich geformte Plateau des felsigen Zuges treten, blicken wir so recht [86] in die geheimsten Werkstätten der Natur. Die einzelnen Steinkuppen ragen bald gleich unregelmäßig neben einander gestellten Basaltsäulen empor; bald ähneln sie einem aus kleineren und größeren Platten zusammengesetzten riesigen Steinpflaster. In den Fugen und Spalten desselben rinnt und murmelt es überall; allerwegen blitzen uns kleinere und größere Wasserläufe, Adern und Aederchen, die sich langsam immer tiefer graben, hell entgegen. Das ist ein geheimnißvolles Schaffen und Weben; ein flüssiges, nachgiebiges Element überwindet hier den diamantharten, schier unbezwinglich scheinenden Riesen und zerbricht ihn nach Jahrhunderte langem Ringen zu furchtbar zerklüfteten Trümmern. Eine interessante Erscheinung, welche ich bisher niemals und nirgendwo beobachtet, ist die äußerst glatte Oberfläche der blaßrosa und fleischfarbenen Felsen, die uns überall wie polirt, wie mit einer Glasur übergossen gemahnen, und namentlich an den der Luft und Witterung zumeist ausgesetzten Kanten gleich geschmolzenem Glase erscheinen. Ich hatte während der feuchten Witterung große Vorsicht zu üben und manchmal auf Händen und Füßen zu kriechen, um nicht auszugleiten und an den scharfkantigen Klippen zu zerschellen.

Friedenspfeife.

Einige Schritte nördlich von der Stelle, wo der Pipestone Creek sich über die Klippen hinab in sein felsiges Bette stürzt, steht innerhalb eines furchtbaren Wirrsales eine einzelne Säule aufrecht, abgetrennt von der steinernen Mauer, fünfunddreißig Fuß hoch und sieben im Durchmesser breit, polirt an den Seiten wie auf dem Gipfel. Diese sieben Fuß von dem Walle entfernte Säule, in ihrem oberen Theile fast einem altmexicanischen Idole gleichend und von den Dacotahs Jyan atachakschi, Sprungstein, auch Medicinfelsen genannt, war in früheren Zeiten der Schauplatz seltsamer Bravourstücke.

Indianische Toteme.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

Es erforderte unbedingt außergewöhnliche Kraft und Geschicklichkeit, um von dem Rande der Klippenwand hinüber auf die kaum zweieinhalb Fuß im Quadrat haltende Oberfläche des einzeln stehenden Felsens zu springen, und noch größere, wieder auf den Wall zurück zu gelangen, da kein Anlauf genommen werden konnte.

Glückte dieses Wagstück, so war der Unternehmende hoher Ehren gewiß, und er durfte sich bis in sein hohes Alter dieser That als einer der hervorragendsten seines Lebens rühmen. Mißlang aber der Sprung, oder wußte sich der Kühne auf der glatten Fläche des Felsens nicht zu halten, so stürzte er in die Tiefe, um einen sicheren Tod auf den gräßlichen Klippen drunten zu finden. Angesichts dieser letzteren Möglichkeit war es darum bei den nach der seltsamen Ehre strebenden Kriegern Brauch, vor der Ausführung ihres Wagstückes all ihren Schmuck anzulegen, um im Falle des Mißlingens festlich geschmückt in das unbekannte Jenseits, in die glücklichen Jagdgründe, zu gehen. Gesicht und Arme prangten in bunten Farben; vom Haupte nickten die langen Adlerfedern; am Halse klirrten Bärenklauen; am Gürtel hingen die Scalpe der erschlagenen Feinde, im Köcher aber staken die schnellen Pfeile, die von dem kühnen Springer, wenn ihm das Wagniß gelungen, als Siegeszeichen in die Risse und Spalten auf der Oberfläche des Sprungsteines eingeklemmt wurden.

Auf der unserem Artikel beigegebenen Illustration (Seite 84 und 85) sehen wir links am Rande einen kleinen eingesunkenen Hügel, welcher auch auf Catlin’s Skizze, dort aber noch als wohlerhalten abgebildet ist. Er barg die Ueberreste eines ausgezeichneten jungen Kriegers, der zwei Jahre vor Catlin’s Besuche während des entscheidenden Sprunges ein jähes Ende fand. Ein wohlerhaltener Backenzahn, von einem Wolfe vor langer Zeit herausgescharrt, war die Reliquie, die ich zur Erinnerung an jenen Verunglückten mit mir nahm.

Von Interesse sind einige kolossale grobkörnige Wanderblöcke, [87] Tausende von Centnern schwer, die wohl in der frühesten Eisperiode hierher gelangt sein mögen. Auf den rothfarbigen Felsplatten, die in weitem Umkreise hier aus dem Boden zu Tage treten, befindet sich eine große Zahl in den Stein gegrabener Toteme und Symbole, die Namenszeichen der indianischen Besucher, also indianische Visitenkarten, Catlin versichert, daß die Zahl dieser Darstellungen an die Tausende gewesen sei, ich konnte indessen nur etwa vierzig bis fünfzig entdecken und lege die bemerkenswerthesten in beigegebenen Nachbildungen vor,

Haben wir so unsere Wanderung im heiligen Pfeifensteinbruch beendet, so bleibt uns noch übrig, auf die mannigfachen Ueberlieferungen und Mythen zurückzublicken, mit welchen der rothe Sohn der Wildniß diese Stätte umgeben hat.

Fast jeder Stamm hat seine eigenen Traditionen über die Theorie der Schöpfung, eine große Zahl derselben aber kommt darin überein, daß der Große Geist die ersten rothen Menschen direct aus dem rothen Pfeifensteine erschaffen habe. Eine Sage der Dacotahs lautet:

„Lange Zeit vor der Erschaffung der Menschen pflegte Wakantanka, der Große Geist,[3] dessen Fußspuren aus dem Felsen des Tchanopa-o-kä in Gestalt großer Vogeltritte noch zu sehen sind, die von ihm getödteten Büffel auf dem Gipfel der rothen Klippen zu verzehren. Das Blut rann über die Felsen und färbte sie roth. Eines Tages kroch eine große Schlange in das Nest des Kriegsadlers, um die Eier desselben zu verzehren. Eines der Eier öffnete sich unter dem Bisse der Schlange mit einem heftigen Donnerschlage, und der Große Geist, herbeikommend, zermalmte die Schlange mit einem Stein und verwandelte das Ei in einen Mann, dessen Füße gleich einem Baume in dem Grunde wurzelten. Dieser Mann stand so viele Jahre, und er ward älter als hundert Menschen der gegenwärtigen Tage. Zuletzt sproß ein Weib ihm zur Seite und ein großes Thier nagte Beider Wurzeln ab, und sie wanderten fort und bevölkerten die Erde.“

Eine andere Tradition erzählt: „In der Zeit der Großen Fluth, welche vor vielen, vielen Jahrhunderten stattfand und alle Nationen der Erde zerstörte, versammelten sich alle Stämme der rothen Menschen auf den Höhen der Prairie, um den Fluthen zu entgehen. Die Wasser aber wuchsen und wuchsen und verschlangen mit der Zeit auch Alle, die sich hierher geflüchtet. Ihr Fleisch wurde zum rothen Pfeifenstein. Nur eine Jungfrau, Kwap-tahw, ergriff während des Sinkens die Füße eines vorüberfliegenden großen Adlers, welcher sie auf den Gipfel einer hohen Klippe trug. Hier gebar sie Zwillinge; der Vater derselben war der Kriegsadler, und diese Kinder bevölkerten die Erde. Aus dem heiligen Pfeifensteine rauchen darum alle indianischen Nationen, diese Handlung als Symbol des Friedens deutend; denn er ist das Fleisch ihrer Vorfahren, und die Adlerfedern schmücken darum auch die Häupter ihrer Krieger. Der Steinbruch aber ist neutraler Grund: er gehört allen Stämmen, und Allen ist es erlaubt, ihn zu besuchen und aus ihm ihre Pfeifen zu brechen.“

Die dritte bemerkenswerthe Ueberlieferung ist endlich die, welche Longfellow in seinen „Hiawatha“ so meisterlich verwebt und welche wir zu Anfang unserer Schilderung bruchstückweise abgeführt haben. Die ursprüngliche Sage lautet:

„In alter Zeit rief der Große Geist hier all die indianischen Stämme zusammen. Auf dem Vorsprung eines Felsen stehend, brach er von der Wand ein Stück und formte es zum Pfeifenköpfe, aus welchem er über ihnen rauchte nach Norden, Süden, Osten und Westen. Er sprach zu den Versammelten, der Stein sei roth, weil er ihr Fleisch sei, darum sollten sie ihn gebrauchen zu ihren Friedenspfeifen. Er gehöre ihnen Allen: Scalpirmesser und Kriegsbeil dürften niemals erhoben werden auf diesem heiligen Grund, andernfalls würden diejenigen, welche hier den heiligen Frieden stören, untergehen. Bei dem letzten Zuge aus seiner Pfeife verschwand der Große Geist in einer Wolke, und die ganze Oberfläche der Felsen war geschmolzen und verglast auf viele Meilen hinaus. Zwei mächtige Feuerschlünde öffneten sich und zwei Frauen, Tso-mec-costee und Tso-mec-coste-wondee, die heiligen Wächterinnen des Platzes, traten in dieselben hinein, umstrahlt vom Lichtschein des Feuers. Und diese Wächterinnen werden noch heute gehört, da sie die Anrufungen der hohen Priester und Medicinmänner beantworten.“

Sämmtliche anderen Mythen und Nachrichten kommen darin überein, daß der Pfeifensteinbruch dereinst neutraler Grund gewesen sei, der allen Stämmen gemeinschaftlich zu eigen war. Von allen Nationen kamen daher die Krieger alljährlich, um Material für ihre Pfeifen zu brechen, während es keinem Weißen erlaubt war, weder den Bruch zu besuchen, noch gar ein Stückchen des Steines hinwegzunehmen. Geschähe das Letztere – so war der Glaube der Indianer – dann würde eine nie zu schließende Wunde in ihr Fleisch geschlagen werden, und alle Stämme müßten verderben und verbluten.

Heutzutage ist der Pfeifensteinbruch kein neutraler Grund mehr, und allem Anschein nach haben im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte fürchterliche Kämpfe um den Besitz desselben stattgefunden, Catlin erzählt, daß die Mandanen daselbst vor langen Jahren ihren Wohnsitz gehabt; noch später scheinen die Omahaws sich zu Eigenthümern des Landes gemacht zu haben, welchen der Bruch wiederum von den Sissetons entrissen wurde. Aus der Zeit jener Kämpfe stammt wohl noch der kreisrunde, mit einer Ausladung versehene, über 2000 Fuß im Umfange haltende Erdwall, dessen jetzt fast gänzlich verwaschene Spuren noch östlich auf dem Plateau sichtbar sind. In unseren Tagen verkauften die Sissetons den Bruch mit einer Menge anderen Landes an die amerikanische Regierung, gegen welchen Act die Yanktonans aber Protest einlegten, da, wie sie behaupteten, der Pfeifensteinbruch nicht den Sissetons allein, sondern der ganzen Nation gehöre, erstere also keine Rechte hätten, den Bruch zu verkaufen. Die zur Ordnung dieser Angelegenheit im Jahre 1858 nach Washington gesandte Delegation der Yanktonans unter Führung ihres Häuptlings Padani-a-Papi erreichte es denn auch, daß der Bruch den Indianern zurückgegeben und die Yanktonans als Eigenthümer rechtmäßig anerkannt wurden. Die Reservation, welche diesen hier eingeräumt ist und den ganzen heiligen Grund umschließt, hält 640 Acres, eine Quadratmeile, und alljährlich erscheinen die rothen Söhne der Wildniß an dieser Stelle, um Steine zu brechen, die sie als hochbezahlte Tauschobjecte auch ferner entlegenen Stämmen mittheilen.

Wenn der Steinbruch auch aufgehört hat, neutraler Grund zu sein, so dauert der Brauch der Friedenspfeife doch noch fort: tritt ein Fremdling in das Wigwam eines Indianers und raucht dieser die Pfeife mit ihm, so ist der Fremde sein Gast, während die prächtig geschmückte Friedenspfeife, vor dem Beginn einer feierlichen Berathung oder eines Friedensschlusses von Mund zu Mund gehend, die freundschaftlichen Gesinnungen der Anwesenden gegen einander besiegelt.




Blätter und Blüthen.

Wie kamen die Bonapartes auf den Thron? Am Morgen des 16. Januar dieses Jahres wurde durch Maueranschläge und die Zeitung „Figaro“ ganz Paris und ein großer Theil von Frankreich mit einem „Manifest“ überrascht, in welchem der als „Plon-Plon“ bekannte Prinz Napoleon den Staat als der Zerrüttung entgegengehend schildert und auf sein erbliches Anrecht hinweist, sich der Nation als Retter desselben anzubieten. Dieser Anlauf zu einem dritten Napoleonischen Kaiserthume veranlaßt uns zur Aufstellung und Beantwortung der Frage, welche die Ueberschrift dieses Artikels bildet.

Am 20. Juni 1792 rotteten Pariser Pöbelmassen sich vor den Tuilerien zusammen, um in der Demüthigung des Königthums einen gewaltsamen Schritt weiter zu gehen. Als Zuschauer folgte der tobenden Menge mit einigen Kameraden ein französischer Oberlieutenant. Im Garten der Tuilerien nahm er einen Stuhl, und unter dem Schatten eines Baumes sah er finsteren Blicks, wie Haufen um Haufen sich zum Schlosse heranwälzten und endlich in dasselbe einbrachen. Da erschien auf dem Altan, dem Geschrei des „Volkes“ nachgebend, der König, und in demselben Augenblicke setzte eine rohe Faust ihm eine blutrothe Jacobinermütze auf das Haupt. Dieser Anblick riß den Officier blitzschnell empor; wüthend zerschmetterte er seinen Stuhl und rief:

„Wie konnte man diese Canaillen hereinlassen! Fegte man ihrer vier- bis fünfhundert mit Kartätschen hinaus, die anderen liefen nach. Ein Königshaupt, das sich so gebeugt, kann sich nie wieder erheben.“

Drei Jahre später, am 4. October 1795, saß in der Nachtsitzung des Convents auf einer Tribüne mitten zwischen lärmendem Volke ein bleicher, abgezehrter, schlecht gekleideter und schlecht gepuderter junger Mensch, ein abgesetzter Brigadegeneral. Plötzlich hört er seinen Namen nennen. Er ist zum Führer der Truppen im Innern von Paris im Kampfe gegen die drohende aristokratische Gegenrevolution ausersehen – und schon am Abend des nächsten Tages hatte er seinen „13. Vendemiaire“, den Sieg des Convents, vollendet, wurde im Conventssaale als „Retter der Versammlung, der Republik und des Vaterlands“ begrüßt und zum



Hierzu eine Beilage „Zwanglose Blätter“ Nr. 3.

[88] Divisionsgeneral erhoben. Das Pariser Volk aber nannte ihn den kleinen Kartätschengeneral.

Zwei Jahre später finden wir denselben Mann als Obergeneral in Italien wieder. Er hat Oesterreich besiegt, und nun umgiebt ihn in Mailand die dreifache Pracht eines Hauptquartiers, einer Regierung und eines Congresses. Bonaparte und Josephine sind die Sterne des „Hofes von Mailand“, wie die Soldaten voll Stolz die Umgebung ihres Feldherrn nannten.

Aber noch war die Zeit des Usurpators nicht gekommen. Die Machthaber in Paris erkannten die Gefährlichkeit des ruhmgekrönten Triumphators und gestatteten ihm deshalb gern die Romantik eines Kriegszuges nach Aegypten. Während dieses Jahres 1798 und Anfang 1799 geriethen die inneren und äußeren Verhältnisse Frankreichs in die äußerste Zerfahrenheit und Verwirrung, sodaß das französische Volk selbst den vom ägyptischen Kriegszuge als Flüchtling heimkehrenden General als „des Vaterlandes Retter und Befreier“ begrüßte.

Und fest stand nun sein Plan, aber nicht der der Erlösung des Volkes, sondern seiner eigenen persönlichen Erhebung. Längst hatte sein Scharfblick die Männer ausgewählt, welche entweder als Hinderniß drohend beseitigt, oder als gefügige Werkzeuge an sein Schicksal gefesselt werden mußten, und nachdem er so das fünfköpfige Directorium zum Fall reif gemacht und das Schicksal des Raths der Alten und der Fünfhundert genau bestimmt, wagte er seinen 18. und 19. Brumaire. Sein Bruder Lucian, der Präsident des Raths der Fünfhundert, war sein treuer Helfer in List und Gewalt. Das Directorium ward zersprengt; im Rath der Alten siegten die mit Bonaparte Verschworenen; den Rath der Fünfhundert, vor dessen Volksmajestät der General doch gezittert hatte, als er ihm als Redner zu imponiren gedachte, und aus dem nur seine Grenadiere ihn retteten, stürmte er mit seinen Soldaten und „reinigte“ ihn so, daß derselbe noch am Abend des 19. Brumaire eine Dankadresse für Bonaparte und seine Truppen beschloß. Ein 10. November war’s, wo um Mitternacht unter Verrath und Gewalt die französische Republik geknebelt worden war. Von da an sind alle Schritte Bonaparte’s, vom „Ersten Consul“ und „Consul auf Lebenszeit“ bis zum Kaiserthron, nur Komödienspiel gewesen, befohlene Wünsche, die seine Creaturen gehorsam ausführten, bis er an einem zweiten December (1804) mit seiner Krönung in Notre-Dame durch den greisen Pius den siebenten die Spitze des furchtbaren Gewaltbaues erreichte.

Immer aber bleibt das Geschichtsbild dieses Bonaparte ein so großartiges, daß es selbst durch die emsigsten Enthüllungen der gemeinen menschlichen Gebrechen dieses Heros nicht verkleinert werden kann. Ein Riesengeist, gleich groß im Schaffen und Verwüsten, ist mit ihm über die Erde gegangen, wie die Weltgeschichte keinen zweiten aufweist – und darum konnte es auch keinen zweiten Napoleon geben.

Der sogenannte Napoleon der Zweite, sein Sohn, hat unter der Sorge von Metternich’s Jesuiten seinen kurzen Lebensgang bis in die Kaisergruft zu Wien schon 1832 vollendet.

Dieser Mangel an legitimer Weiterführung des Regentengeschlechts veranlaßte eine zweite Thronbesteigung der Bonaparte auf gleichem Wege; auch hier ist uns ein romantischer Eingang der Darstellung erlaubt.

Gegen Ende Februar 1831 reiste eine vornehme Dame mit mehreren Dienern von Ancona ab, das soeben, von den italienischen Aufständischen verlassen, sich den Oesterreichern übergeben hatte. Als einer der Diener hatte sich der Sohn der Dame verkleidet. Als Mitglied des Carbonaribundes am Kampfe betheiligt, konnte er nur durch den Muth und die Klugheit seiner Mutter vor österreichischer Gefangenschaft gerettet werden. Dieser Sohn war Prinz Louis Napoleon und diese Mutter Hortensia (Beauharnais), die Gattin des ehemaligen Königs Ludwig von Holland, der, von ihr getrennt, als Graf von St. Leu 1846 in Livorno gestorben ist.

Neues ist auch bei dieser Prätendentengeschichte nicht zu erzählen, aber das Ereigniß, welches diesen Artikel veranlaßte, zeigt so manche Parallelzüge mit jener, daß wir doch darauf hinweisen möchten. Dies bezieht sich vor Allem auf den Fluch der Lächerlichkeit, welchen Louis Napoleon vor seiner Wahl zum Präsidenten der Republik von 1848 in noch höherem Maße zu tragen hatte, als Prinz Plon-Plon seit dem Krimfeldzuge. Die beiden Narrenstreiche zu Straßburg (am 30. October 1836) und Boulogne (am 6. August 1840) waren geeignet, in dem auf den Namen „Napoleon“ noch so stolzen französischen Volke nachhaltiger zu wirken, als Alles, was man dem Sohne Jérôme’s nachsagen konnte. Seine fleißige Feder war zwar bemüht, sein politisches Streben im schönsten Lichte darzustellen, aber sein Leben – selbst nach seiner Flucht von Ham nach London – war so wenig musterhaft, daß ihm der Schuldthurm drohte. Und trotz alledem fallen bei den Wahlen zur Nationalversammlung auf diesen Helden von Straßburg und Boulogne so viele Stimmen, daß er nach Frankreich zurückkehren muß, daß er als Mitbewerber um die Präsidentschaft auftreten und schließlich mit fast 51/2 Millionen Stimmen gewählt werden kann. Vor dieser einen Thatsache schwinden alle Unmöglichkeiten in Frankreich.

Kaum fest auf dem Präsidentenstuhl, sinnt er nur darauf, denselben in einen Kaiserthron zu verwandeln. Das Gesetz bot ihm dazu nicht eine lange Frist; denn in der zweiten Woche des Mai 1852 ging seine Präsidentschaft, und zwar ohne die Möglichkeit einer Wiederwahl, zu Ende. Da galt es, rasch zu handeln. Seine Staatskunst bestand jetzt darin, möglichst viele feile und gefügige Werkzeuge für verfassungswidrige Pläne an sich zu ketten und dabei immer noch die anständigen Leute und angesehenen Männer zu schonen bis zum letzten Augenblick des Staatsstreichs. So saßen seine Creaturen im Ministerium und in der Nationalversammlung; sie standen an der Spitze der Truppen und bewachten Paris und die Provinzen, und nachdem ihm die Abänderung des Wahlgesetzes nach seinem Plane gelungen, war zum Staatsstreich alles vorbereitet. So sicher war man seiner Sache, daß am Abend des 1. December 1851, während beim Präsidenten großer Empfang war, der Minister des Innern, Morny, die Provinzen benachrichtigte, Paris begrüße die staatsrettende That des Präsidenten mit jubelnder Begeisterung.

Diese That begann erst am Morgen des „2. December“, welcher seitdem strafgeschichtlicher Titel Louis Napoleon’s geblieben ist. Die hervorragendsten Männer der Nationalversammlung und der Armee wurden verhaftet, Nationalversammlung und oberster Gerichtshof außer Thätigkeit gesetzt und, als endlich am 3. und 4. December das Volk sich zur Wehr gegen die Staatsverbrecher setzte, jener scheußliche Straßenkampf, jene Metzelei gegen Unbewehrte und Waffenlose ausgeführt, die den Sieg vollendete. Auch diesmal war die Kaiser-Ernennung nur ein elendes Spiel der bezahlten Gemeinheit, die nun den neuen Thron umgab. Noch im Frühjahr 1854 konnte der damals mit dem Herzog Ernst von Coburg als Gast in den Tuilerien weilende Gustav von Meyern seine Meinung über den kaiserlichen Hofhalt in die Worte zusammenfassen: „Hoheit, ich glaube, ich bin noch nie in schlechterer Gesellschaft gewesen.“

Auch dieses Trauerspiel ist aus, und wie einst Napoleon dem ersten kein Napoleon der Zweite folgte, so hat nach Napoleon dem Dritten kein Napoleon der Vierte den Thron bestiegen. Was Wunder, daß nun ein dritter Prätendentenact gewagt und abermals versucht wird, über den vierten hinweg einen Napoleon den Fünften auf den Thron zu bringen? Wird die französische Nation sich heute mehr als 1848 an dem sogenannten „Fluch der Lächerlichkeit“ stoßen? Das Stück spielt in Frankreich, wo unsere Begriffe von Unmöglichkeiten kein Maßstab sind.

Prinz Napoleon, dessen Vater Jérôme von Napoleon dem Dritten durch Decret vom 24. December 1852 zum eventuellen Thronfolger ernannt worden war, hat in seinem „Manifest“ sich der Nation als Erben von Napoleon dem Ersten und Napoleon dem Dritten vorgestellt und auf das Plebiscit als einzig gesetzlichen Ausdruck des Volkswillens über das ihm genehme Staatsoberhaupt hingewiesen, indem er zugleich für die Zukunft der Kirche die freundlichsten Aussichten eröffnete. – Die Aufnahme des Wagestücks war im ersten Augenblick keine für den Prätendenten günstige: ohne öffentliche Erregung hervorzurufen, konnte der Justizminister ihn verhaften lassen, und die Nationalversammlung genehmigte diesen Rechtsact. – Schon am 20. Januar wurde in der Kammer der Antrag zu zwei Gesetzentwürfen gestellt. Der eine ermächtigt den Präsidenten der Republik zur sofortigen Ausweisung jedes Kronprätendenten; der andere verschärft das Preßgesetz gegen Schmähungen der republkanischen Staatseinrichtungen. Ein dritter Antrag fordert die sofortige Entfernung der Prinzen von Orleans aus der Armee. Nach solchen Vorgängen hat es den Anschein, als ob die geplante Erschütterung diesmal zur Befestigung der Republik dienen solle – ein Erfolg, dem wir nur unseren Beifall zu zollen haben.


Kleiner Briefkasten.

V. K. in St. Hans Hopfen’s „Gedichte“, auf die wir noch eingehend zurückzukommen gedenken, sind – was wir neulich mitzutheilen unterließen – bei A. Hofmann u. Comp. in Berlin erschienen.




Wir eröffnen eine neue Subscription auf die

dritte (letzte) Folge
von
Herman Schmid’s gesammelten Schriften.


Volks- und Familienausgabe

manicula0 in vierwöchentlich erscheinenden 12 bis 16 Bogen starken Bänden à 75 Pfennig.0 manicula

(Die Ausgabe in Heften à 30 Pfennig besteht daneben fort.)

Herman Schmid’s Erzählungen erfreuen sich einer so allgemeinen Beliebtheit, daß wir dieselben unseren Lesern nicht besonders zu empfehlen brauchen. – Die dritte (letzte) Folge der gesammelten Schriften enthält die nachstehenden Erzählungen:

Der Bauernrebell. – Die Geschichte vom Spötterl. – Im Himmelmoos. – Mütze und Krone. – Hund und Katz’. – Concordia. – Aufg’setzt. – Ledige Kinder. – Die Türken in München.

manicula 0 Bestellungen auf die Bandausgabe der dritten (letzten) Folge werden von allen Buchhandlungen entgegen genommen. Der erste Band der dritten Folge (der 33. der ganzen Reihe) ist bereits erschienen und kann auf Verlangen sofort zur Ansicht geliefert werden.

Leipzig. Die Verlagshandlung von Ernst Keil. 



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Was zunächst die Bestrafungen angeht, so charakterisiren den früheren Zustand die Jahre 1855 und 1856, wo solcher Bestrafungen 3431 und 2658 vorkamen, bei 33,000 Einwohnern. Wenn 1876 fast ebenso viel Betrunkene bestraft wurden wie 1856, nämlich 2542, so hatte sich inzwischen die Bevölkerung mehr als verdoppelt, auf rund 70,000, und thatsächlich kam damals also nicht halb soviel straffällige Trunkenheit mehr vor, wie zwanzig Jahre früher. Man kann an diesen Jahressummen aber auch den Einfluß der Ausschank-Gesellschaft deutlich wahrnehmen. Sie trat im Herbste 1865 in die Sache ein: 1865 wurden 2070 Trunkene bestraft und 1866 nur 1412. Von diesem Stande stieg die Zahl wieder von 1871 an aufwärts, aber nur etwa gleichmäßig mit der Zunahme der Einwohnermenge, auf welche sie sich vertheilt, bis dann nach 1877 ein neues Sinken eintrat, also nicht gar lange nach der völligen Beherrschung des Branntweinangebots durch die gemeinnützige Actiengesellschaft. Noch augenfälliger hoben sich die traurigen Fälle des Säuferwahnsinns vermindert. Es waren ihrer nach den Zusammenstellungen des Gothenburger Aerztlichen Vereines 1865 118, 1870 90, 1875 80, 1878 64, 1879 42, 1880 44.
  2. Wir ergreifen die sich hier bietende Gelegenheit, um unseren Lesern mitzutheilen, daß Freunde und Verehrer Kinkels beabsichtigen, den Todten durch die Errichtung eines Denksteines auf dessen Grabe zu ehren. Beiträge nimmt die Appenzeller’sche Kunsthandlung in Zürich gern entgegen.
    D. Red.
  3. Derselbe ist hier in Gestalt des Kriegsadlers gedacht.