Die Gartenlaube (1882)/Heft 50
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No. 50. | 1882. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Im Banne der Musen.
„Am andern Tage war es, als sei niemalen so Sonderbares geschehen. Conradus küßte demüthig den Eltern die Hand, da er zum Morgenimbiß kam; er war ruhig, obgleich er blaß aussah, und bläuliche Ringel lagen um seine Augen. Still ging der Tag herum, so der letzte war in dieser Vacanz, und früh am andern Morgen mit dem ersten Hahnenschrei wanderten die Brüder noch einmal selbander zur Schulen nach Halberstadt – das letzte Mal; denn zu kommendem October wollte Conradus die Hochschule zu Helmstädt beziehen, Walther aber sollte als Lehrling in unseres durchlauchtigsten Herrn Oberförsterei hieselbsten eintreten. Und so schieden sie, Walther voller Lachen, Conradus ernst und schweigend wie immer.
Weiß nicht wie es kam, daß meines ältesten Bruders Bild mir seit obgemeldeter Nacht nicht mehr aus der Seele wich; immer stand sein blaß Gesicht vor meinen Augen, und wie er so bitterlich geweinet. Zuweilen drängte es mich, die Mutter zu fragen, was für ein Herzeleid ihn damals gedrücket, aber ich schwieg aus Scheu, denn für naseweis Fragen hat sie nimmer gut Bescheid gehabt, und was ich wissen sollt‘, erzählte sie mir wohl freiwillig.
Und so vergingen zwo Jahre, ohne daß Sonderliches passirte. Unterweilen kam Conradus anmarschiret, und immer dünkte er mich blasser und stiller denn sonsten und dennoch mannhafter und stattlicher jedesmal. Ich konnt‘ mich nimmer satt an ihm sehen, und wenn er vor dem Vater stund und ihm berichtete von den neuesten Streitfragen, so die hochgelehrten Herren zu Helmstädt mit einander disputireten, mit leiser Stimme redend, kalt und schier gleichgültig, dann erbarmte er mich, und ich wußte dennoch nicht, warum? Dem Vater aber gefiel sein still Wesen und sein ruhig Gebahren.
‚Es wird ihm würdig anstehen, so er also auf die Kanzel tritt,‘ hörete ich ihn sagen zu meiner Mutter. Base Wieschen aber bemerkte, als der Vater gegangen:
,Dem läßt’s wie Eis,
Wo es kocht siedeheiß.‘
Am fünften Mai folgenden Jahres – den Tag zuvor hatten siebenzehn Kerzlein auf meinem Geburtstagsweck gebrennet – geschah das Unglück, daß meinen Vater ein böser Zufall traf, der ihm für kurze Zeit die Sprache raubte und seine linke Seite also lähmete, daß er nicht mehr gehen konnt noch die Arme bewegen. Es war groß Trauern in unserem Hause; Walther kam nicht herbei, und wir saßen an der Bettstatt und weineten: denn wir dachten nicht anders, als er müsse von hinnen, der gute Vater. Base Wieschen aber hatte ihre Fläschlein und Büchslein mit kräftigen Kräuteressenzen und flüchtigem Salzgeist gar hurtig bei der Hand, und als der fürstliche Herr Leibmedicus in das Krankengemach trat, hatte der Vater die Augen allbereits wieder aufgeschlagen, und sie suchten meine Mutter und dann das Bild des Gekreuzigten, so ihm zur Seiten hing.
Der Herr Medicus aber getröstete uns und sagte, ein Aderlaß würd’ ihm bald Linderung schaffen. Wir entferneten uns, und als nach einer Weile Doctor Grundmannus in die Wohnstube kam, sprach er zu meiner Mutter also:
,Hofpredigerin, sterben wird er nicht, aber das Amt kann er nimmer verwalten, denn er wird gelähmet bleiben sein Lebtag.‘
Solches machte uns große Betrübniß: denn der Vater war annoch jung und kräftig, kaum sechsundfünfzig Jahre alt, und hätte gern noch der Kirche gedienet.
Nachmittags aber schon kam ein Handschreiben Serenissimi, des Inhaltes, daß ihm ein Stellvertreter sollte gehalten werden, bis Conradus ausstudiret habe, damit er sich nicht ängstige um seine Gemeinde. Und Prinzeß Liselotte schickte täglich Hochderselben Läufer, fragen zu lassen nach des Vaters Ergehen, und auf dem Tischlein am Bette standen ohn’ Unterlaß die leckersten Dinge von der fürstlichen Tafel. Nicht viel Tage später war es, daß Conradus an mich schrieb, ich solle mich vernehmen lassen über des Vaters Krankheit. Es war das erste Brieflein, so ich von ihm erhielt, und ich las es ungezählte Male, und ob es mir schier unverständlich, hätt ich doch weinen können.
‚Es jammert mich um den Vater,‘ hieß es darinnen, ,denn es muß schwer sein mit gelähmten Gliedmaßen darnieder zu liegen, da man doch hinaus möchte in die frische Maienluft, wiewohl es nicht härter sein mag, als wenn die Seele festgehalten wird, die sich doch frei aufzuschwingen begehret, der drückenden Fesseln ledig, so ihr – –. Doch das wirst Du nimmer verstehen, herzliebes Schwesterlein, und es ist besser, diese Sehnsucht bleibet Dir fremde.‘
Es war Abend, als ich solches las in meinem Kämmerlein, das auf den Garten siehet, saß am offnen Fenster und es berührete mich seltsam, also daß ich den Kopf in die Hand stützte und hinaus starrete in die flüsternden Lindenzweige, durch die das Abendroth verglühete.
Was machte ihm sein Herze schwer, da es doch jung war und fröhlich sein durfte? Warum hatte er dazumalen gebeten, Anderes erwählen zu dürfen, denn Gottes Wort zu verkündigen? Ist’s nicht ein hoch und heilig Amt, und ist’s nicht friedlich und schön in unserer Heimath, in dem festen Hause und dem stillen [822] Gärtlein dahinter? Hatten wir ihn nicht Alle gar so lieb, und bracht’s ihm nicht Ehr’ und Ansehen, da man ihn, so jung noch, geküret zu des Vaters Amt? Was mag es sein? Was mag es sein? wiederholete ich die Frage laut, just als Base Wieschen schier geräuschlos über die Schwelle trat.
Das alte Weiblein setzete sich in den hochlehnigen Stuhl, den ich verlassen, ich aber schwang mich auf die breite Fensterbank und schlug die Arme in einander. Sie gab sich ein Ansehen, als habe sie meine Frage nicht gehöret, und ich sagte auch nichts mehr.
,Du bist nun siebenzehn Jahr alt,‘ begann sie nach langem Schweigen, ‚alt genung, um das Ding zu wissen; haben Andere doch schon Mann und Kind in Deinem Alter. Aber versprechen mußt Du mir, es Niemanden nicht zu verrathen, noch zu thun als wissest Du, was ich Dir itzt erzählen will; sonsten kann sich gar Schlimmes ereignen. Willst Du das geloben, so sag zwomal „Wahrhaftiglich!“ und reich mir die Hand zum Verspruch!‘
‚Wahrhaftiglich!‘ sagte ich zwomal.
,Hörest Du, da singt eine Nachtigall,‘ wisperte die Alte, ‚wie das süße schallt! In meiner Jugend, ei, da klang’s süßer noch und schöner – kennst Du das Lied von der Nachtigall – sag’ an! – kennst Du’s?
Es stund eine Lind’ in der Maiennacht.
Die Luft ward weich und trübe;
Die Beiden haben geküßt und gelacht;
Die Nachtigall sang von Liebe.
Sie haben sich ewiger Treu’ geweiht;
Sie sprachen von bangem Sehnen,
Doch trug ein falsches Herz die Maid –
Die Nachtigall sang von Thränen.
O Minne falsch, o Minne traut;
Sie koseten unter der Linde.
Die Nachtigall sang bang und laut
Ein Lied von Schuld und Sünde.
Er ist nicht Dein Bruder, Kind,‘ raunete sie und bog sich vor. ‚Ei, was thust Du so erschreckt? Bist noch niemalen darauf gekommen?‘
Und dann faßte sie meine Hände; denn ich war von der Fensterbank geglitten und stund bebend vor ihr, und schier mit Gewalt drückete sie mich auf das Bänklein zu ihren Füßen.
‚Brauchst Dich nimmer zu entsetzen; der Conradus ist ein ehrlicher Gesell, was kann er davor, daß seine Mutter ein ehrvergessen untreu Weib war? Ist ein lang Capitel, das sich melden ließe über Geschichten, so anfangen mit Jugend und Schönheit, mit Rosen und Nachtigallen und aufhören mit viel Reue und groß Herzeleid. – Dem Conradus sein Vater ist lange todt – Gott hab ihn selig! seine Mutter aber, lieb Mägdelein, seine Mutter, die lebet in Glanz und Pracht und allen Ehren; lachen thut sie annoch immer so fröhlich, wie dazumalen, und schön ist sie blieben bis auf diesen Tag: nur mannigmal wird ihr’s wohl um’s Herze zucken, wenn sie sein jung blaß Antlitz geschauet hat. Darum ist er so traurig, der Conradus: es kreiset Blut in seinen Adern, rascher denn Euer; es empöret sich gegen das Joch, darein er gezwungen, gegen das karge Loos, das seiner wartet. Er möchte hinaus in das bunte, frische Leben, und die, so ihn geboren, sie leidet das nimmer; er soll Deines Vaters Nachfolger werden; er soll seine Augen nicht dahinauf wenden, allwo seine Mutter stehet. – Da hast Du nun seinen Kummer. Gott geb’, daß es eine gute Endschaft nehme! Ein Blumenstock in zu enger Scherben zersprenget den Topf, verwelket und gehet ein; ist ein gefährlich Spiel, so man treibet mit dem armen Burschen.‘
,Um Gott, Base,‘ drängete ich, ‚wer ist seine Mutter – wer?‘
Das Blut saß mir heiß im Kopfe, und das Herz klopfte mir schier ungestüm.
‚Red’ leise!‘ flüsterte die Alte. ‚Bist Du unvernünftig, Christiane? Hab’ gemeinet, Du seist ein verständig Mägdlein. Wer sie ist? Daß ich es sagen dürft’ – aber Dein Vater thät mich steinigen und aus dem Hause weisen, käm’ ihr Name über meine Lippen. Wart’ – will Dir etwas zeigen; errathest’s vielleicht.‘
Und sie erhob sich eilfertig und ging an das Ende des Gemaches; dort stund aber eine Truhe, wunderlich bemalet mit rothen Tulipanen und Rosen. Die schloß sie auf und hockte davor nieder, und im festen purpurnen Abendschein nahm sie ein Bündelchen heraus, und als sie es aufknüpfete, waren kleine Sächlein darinnen, wunderfein und spitzenduftig, aber arg vergilbt. Die Base aber steckte mir ein Tuch in die Hand, so mit Brabanter Spitzen umsäumet und zierlich ausgenähet war; in der Ecken stund ein Wappen mit goldenen Fäden gesticket, und da ich es näher besah, erkennete ich den springenden Hirsch, so das Wappenthier unseres fürstlichen Hauses.
‚Darinnen lag er den Tag, da man ihn Deinen Eltern gebracht. Ein gar feines Windelchen nicht wahr? Sie mochten’s – ihm in der Eile umgethan haben. Hab das Ding wohl aufgehoben, und nimmer ohne Absicht – kannst es glauben, Christel; zeig’s ihm auch noch einmal, später, später dann, wenn er hinaus ist über seine heiße Jugendsehnsucht, wenn’s ihm einsten nutzen kann. Aber sag’s Deinem Vater nimmer nicht, Kind – beileibe nicht!‘
Ich hielt noch immer das feine Sacktuch in der Hand und starrete auf das goldgestickte Wappen, und allgemach entwirreten sich die sonderbar verschnörkelten Buchstaben, so darunter stunden, vor meinen Augen. L. C. Louise Charlotte, ging es mir erschreckend hell durch den Kopf, und ,Liselotte!‘ schrie ich auf, daß es gar gellend durch die Kammer hallete.
Die alte Frau aber riß mir das Tüchlein aus den Händen und warf es hastiglich in die Truhe. ,Hast Du Tollkraut getrunken?‘ flüsterte sie; ‚soll die Mutter kommen oder der Vater fragen, was Du also zu schreien habest? Geh her, setz Dich an’s Fenster!‘
Und sie zog mich empor und drückete mich kräftiglich in den Lehnstuhl und nahm ihr duftig Riechfläschlein aus der Tasche und ließ mich den flüchtigen Geist einathmen; denn ich vermocht des Bebens schier nicht Herr zu werden.
‚Ei, wer wird gar so zimperlich thun!‘ schalt sie. ‚Aendert’s was an der Sach’, daß seine Mutter ein fürnehm Weib? Es bleibet beim Alten, und ist er Dir kein Bruder anmehro, kann er Dir halt was Anderes werden, so noch lieber und schöner ist. War schon längst mein Plänlein, das ich geheget. Du bist ein fein hübsch Dirnlein worden, Christel; Deine Zöpfe leuchten prächtiglich wie Gold, und eine Haut hast Du wie Kirschenbluhst, und verständig und ernst bist Du auch. Hab Acht, Lammelein! Und wann es kommt, dann denk’ an mich, wann ich etwa nicht mehr leben sollt – weißt Du, Christel, auf Eurem Hochzeitstag!‘
Und sie streichelte mich gar zärtlich und wollt’ mir zureden, und ich that ruhig, damit sie gehen sollt. Und sie ging nach einem Weilchen. Dann schob ich den Riegel für und verbarg mein glühend Gesicht in die Kissen des Lehnsessels und weinete, wie wohl kaum je in meinem Leben, daß mir schier der Athem stockte. Stunden waren vergangen; als ich aber den Kopf wieder hob, da war es Nacht worden, dunkle, warme Maiennacht; schwül wehete sie in’s Fensterlein, und die Nachtigall, die sang lauter noch in der Linde. Das klang mir viel anders denn zuvor – viel anders! Und nun auf einmal kunnt’ ich Conradus verstehen, mich selbsten aber verstund ich nicht mehr.
Es war ein Träumen über mich kommen, das mich lähmete in meinem sonst frischen Thun und mir manch hart Scheltwort eintrug von der Mutter. Sie fragte auch den medicum; der sprach, ich sei zu einsam unter viel älteren Leuten; ich solle mir halt eine Gespielin suchen und lachen und derb fröhlich sein, wie es meiner Jugend wohl geziemete. Mochte aber von keiner nicht wissen und saß am liebsten ganz allein unter der Linde im Garten. und hörete die Nachtigall singen und dacht’ an Prinzeß Liselotte und dacht’ an Conradus und dacht’ an alle Dinge und doch schier an nichts. Und als die Nachtigall dann verstummet war und auf ihrem Nestlein saß in dem Gestrüpp der Hollunderbüsche, da dacht’ ich immer noch an ihr süß Singen und an das Lied, das Lied von Schuld und Sünde.
Im Julimond, da kam eines Morgens ein arm Weib in das Haus und bracht ein Brieflein; das war aber von meines Vaters einzig Geschwister, die in Harzgerode an einen Förster verheirathet gewesen. Sie schrieb, es gehe mit ihr zum Sterben, und heischte von dem Bruder, daß er sich ihres einzigen Töchterleins solle erbarmen. Die Frau, so die Kunde brachte, meldete aber auch schon den Tod von meines Vaters Schwester und daß das Mägdlein verzweifelt über der Verstorbenen liege und Niemand da sei, sie zu getrösten. Da wurden die Pferde flugs angespannt, [823] und nun setzte sich Base Wieschen rasch in das Wäglein und fuhr hinauf nach Harzgerode; denn der Vater lag noch immer auf seinem Schmerzenslager und die Mutter begehrete ihn nicht zu verlassen.
Ich aber mußt’ oben in dem Zimmer ein Bette herrichten, und die Mutter befahl, da es ein großes Gemach und ein Alkoven daneben, ich sollte mit der jungen Muhme dorten wohnen. Weigerte mich aber, mein Kämmerlein zu lassen, vor dessen Fenster die Linden rauscheten, und wollt’ nicht die Aussicht haben nach dem Schloß – nie und nimmermehr! Und weil ich darum zu weinen begunnete, that die Mutter nach meinem Willen, und Base Wieschen’s Bettstatt ward nunmehro mit in das große Gemach getragen; das war mir gerade recht.
Gegen Abend selbigen Tages aber ging ich in den Garten mit meinem Nähgeräth und setzete mich in die Buchenlaube. Niemand war dorten denn ein harthörig Weib; das gätete Unkraut in den jungen Mohrrüben und Zwiebeln weit dort hinten; ich legte meine Nähterei in den Schooß und vergaß über vielem schweren Sinnen gar die schwarze Florhaube zu fertigen, so meine Mutter auf dem morgenden Kirchgange tragen wollt, zu Ehren der verblichenen Schwägerin.
Es war ein warmer Tag gewesen; die Mücken tanzeten vor der Laube und am Himmel stund schon blaß der halbe Mond. Vom Wald her aber ging ein frischer Hauch von harzigen Tannen, und jenseits der Hecke sang eine Frauenstimme ein altes Liedlein in eintöniger Melodei.
Die Dämmerung stieg leise hernieder, und endlich ward es ganz still umher. Da hörete ich deutlich durch das Schweigen des Abends meinen Namen ,Christel! Christel!‘ nicht gar laut, aber auch nicht gar leise, gleich wie von Conradus’ Stimme, daß ich jach emporschreckte und meinte, es narre mich ein Spuk. Ein Schauer fuhr mir durch die Glieder, als melde sich ein Unglück an. Ich horchte ängstlich auf mit allen Sinnen, und da kam es noch einmal an mein Ohr: ‚Christel, Christel, Schwesterlein, mach’ die Pforten auf!‘ Ich eilte aus der Laube, und da stand er leibhaftig vor dem Thürlein, so nach der Landstraße hinaus führet, und sein Gesicht sah so weiß aus, gleich wie das eines Todten.
‚Ich kann nicht hinüberspringen, wie sonsten,‘ sprach er, und nun gewahrte ich erst das weiße Tuch, so um seine Stirn geschlungen, und ich hakete eilig die Pforte auf und zog ihn entsetzt in den Garten herein:
,Conrade, was hast Du gethan? Wo kommst Du her?‘
Er aber war so schwach, daß er kaum zu stehen vermochte und sich gar fest auf mich stützete, als ich ihn in die Laube führte. Da er sich nun ein Weilchen erholet, verlangte er Wein, aber ich solle im Hause nimmer sagen, daß er hier sei, bis er mir fein heimlich Alles werde erzählet haben. Kam auch ungesehen mit dem Becher wieder zu ihm, und da er nun getrunken – ach, da ward er glühend heiß im Antlitze, und es schüttelte ihn wie im Fieber, daß ich bat:
,Conrade, komm’ und lege Dich nieder! Du bist krank.‘ Er sei in einem Zweikampfe verwundet, berichtete er stockend, und als könne er sich schier nicht besinnen, legte er zu öftern die Hand an die Stirn, und Sehnsucht, die habe er auch gehabt, und krank fühle er sich, so krank, als müsse er gar sterben. Aber der Vater, der Vater solle es nimmer erfahren; darum wolle er hier geduldiglich warten, bis es ganz finster sei. Da setzte ich mich zu ihm in großer Herzensangst, und legte meine Hände auf seine Stirn; die glühte wie grimmig Feuer, und sein Haupt sank schwer auf meine Schulter. Und so saßen wir, bis hier und da schon ein Sternlein aufblitzete und der Mutter Stimme mahnend durch den stillen Garten scholl:
,Christiane, was träumest Du schon wieder!‘
‚Komm!‘ sagte ich zu ihm, und leise stöhnend erhob er sich und wankte dem Hause zu. Kamen auch unbemerkt die Stiegen hinauf, und weil kein Lager für ihn bereitet, führete ich ihn in mein eigen Kämmerlein, und dorten sank er auf das Bette, und seine Glieder flogen wie im heftigen Froste. Dann kündete ich eilends der Mutter, daß er gekommen sei; die ward blaß bis in die Lippen und gebot, ich solle beim Vater bleiben. Und sie hastete hinauf, und dieweil ich unten am Krankenbette saß und mit dem Vater redete, waren meine Gedanken oben bei Conradus, meinem herzlieben Bruder, den ich mir dennoch nicht mehr als Bruder zu denken vermochte.
Dann aber hörte ich leise die Hausthür klinken, und als ich spähend an das Fenster trat, sah ich unsere Jungemagd; die lief eilends über den Platz nach der Wohnung des fürstlichen Arztes, und balde kam sie mit ihm zurück in unser Haus. Mein Vater aber fragte ärgerlich, was das für ein Gelaufe sei am Samstag Abend, und ob sich das für ein geistlich Haus gezieme? Ich solle allsogleich nachsehen, was es bedeute?
Ich ging flugs hinaus und kam athemlos zur Treppe hinauf. Da hörte ich, wie der Medicus sprach:
,Oberpredigerin, es stehet schlimm mit ihm, aber saget Eurem Manne nimmer Etwas! Er muß behütet sein vor jeglicher Irritation.‘
Meine Mutter begunnte zu jammern; die Base sei nicht daheim; wer ihn nur pflegen solle; sie könne doch anitzt nicht fort von dem Vater?
Da trat ich leise hinzu; ich würde es thun, sagte ich, und ging stracks in die Kammer und setzte mich allda an sein Bett. Er lag mit schier fieberglühenden Wangen; die blauen Augen leuchteten in irrem Glanze, und sein viel lieber Mund redete immerfort. Bald haderte er mit Einem und schalt ihn arg; dann wieder schrie er jach auf:
‚Meine Mutter, Mutter! Ich will sie nicht; laßt mir meine alte Mutter! Es ist ja nimmer wahr, daß dem so ist.‘ Und gleich darauf hub er zu singen an:
Zu Helmstädt beim Bieren,
Da thät ich studiren!
Bibe, bibe, bibe, bibe,
Tu quis satis, bibe, bibe,
Tum Lyæus imperat!
Io! Io!
Entsetzt starrte ich auf ihn hernieder.
‚Conrade,‘ flüsterte ich, ‚herzlieber Bruder!‘
Da ward er stille einen Augenblick.
,Christel, Christel, mein blondes Schwesterlein, hübsch bist Du geworden und fein – Ach, wenn Du wüßtest, wie es mir ergangen, wie sie mich gehöhnet und mir wehe gethan, die Menschen da draußen! Was kann ich davor, daß meine Mutter –‘ Er lachte bitter auf. ‚Aber siehst Du, Bube, es ist Dir schlimm bekommen, schlimmer denn mir. – Eins, zwei, drei – los!‘ Und wild saß er auf im Bette, ach, nur sein schmerzend Haupt machte, daß er oftmalen stöhnend wieder zurücksank.
Was Menschenhilfe nur vermochte, geschah nunmehr; der Medicus kehrte noch zwomal wieder in selbiger Nacht und wies mich an, wie ich die kühlenden Tücher auf sein Haupt zu legen hätt’, wie den säuerlichen Trank zu reichen, und gegen Morgen ward er mählich stiller und fand Schlummer. Da sank auch mein armer Kopf gegen des Stuhles Lehne, und ich schlief ein, schreckte aber empor im ersten Morgengrauen; denn es war todtenhaft Schweigen im Gemach, also daß ich kaum den Athem des Kranken hörte; wie ich mich aber über ihn beugte, da stöhnete er leise, als läg’ er in großen Schmerzen.
,Conrade,‘ forschte ich, ‚Du leidest schwer?‘
‚Es brennet,‘ klagte er, ‚es brennet mir im Kopf gleichwie höllisch Feuer – aber ungleich schlimmer im Herzen.‘
Und da er die Augen hob, sahe ich, daß er bei Besinnung, und kniete nieder an der Bettstatt.
,Conrade, viel lieber Bruder,‘ bat ich, ‚was macht Dir das Herz all so schwer?‘
Und er schlang den Arm inniglich um meinen Nacken und zog mein Antlitz gegen seines.
,Christiane,‘ flüsterte er, ‚wir haben uns immer herzlich geliebet; hilf mir jetzt, daß ich nicht untergehe; hilf mir, daß ich nicht verkomme in meines Herzens Undankbarkeit und Unrast! Bleib bei mir, Christel! Du bist gut und fromm, und ich weiß nimmer, wie es werden soll mit mir.‘
,Gut wird es werden, Conrade, gut!‘ getröstete ich, ‚Du wirst gesunden, und wirst hinfüro hier bei uns wohnen in Frieden und Liebe, wie in alter glückseliger Zeit, da wir Kinder waren. – Verzage nicht, Conrade, gedenke aber des Sprüchleins, so über unseres Hauses Pfordten stehet, das Du mir einst selbsten verdeutschet: „Du Herr bist mein Heil, was können die Menschen mir thun ?“‘
,Meinst Du?‘ höhnete er.
,Conrade!‘ rief ich, ‚Gott vergeb’ Dir Dein sündig Sprechen!‘
[824] Er zog den Arm zurück, und bog das Haupt von mir hinweg, also daß er an die Wand schaute:
‚Ich merke wohl, Niemand vermag’s zu begreifen, auch Du nicht – wie solltest Du auch?‘ sagte er bitter. Und er antwortete ferner nicht, soviel ich ihn bat; und weigerte Speis und Trank, aber sein Athem ging schneller, und als es Abend ward, da tobete er schon wieder in heißen Fieberreden. Der Arzt aber verkündete, er werde noch heftiger rasen in deliriis, auch gäbe er wenig Hoffnung, so das Fieber nicht balde anstehe.
Da war groß Leid in unserem Hause, und Base Wieschen, die bei Dunkelwerden mit der jungen Muhme zurückgekehret, rang die Hände stetiglich in einander und jammerte, er werde sterben; denn das Leichhuhn habe so schaurig gerufen, da sie durch den Schloßgarten gefahren. Und nun meinte sie, der Vater aber müsse es wissen; sie sagte ihm alles und berichtete dann, er liege ganz still und spreche kein Wort. Mir war dumpf und trauervoll zu Sinne, aber dessen ungeachtet war eine stumme Herzbefriedigung über mich gekommen, und da man mich fort schicken wollt’ von seinem Lager, auf daß ich mich ruhen möchte, da weigerte ich mich heftiglich – es war mir, als gehöre ich zu ihm in alle Ewigkeit und dürfe niemalen von ihm lassen.
Die Krankheit nahm stetig zu; die Base saß mit treuer Sorgniß an dem Siechbette, und mein Herz dacht’ an Prinzeß Liselotte, und dacht’, ob sie nicht ein Bangen spüren möge um diesen, der so hart litt. Dort oben aber war Niemand daheim, der hierher denken mocht; nur vom Thurm flatterte das roth-weiße Banner, ein stumm Jubelzeichen; denn Serenissimus hatt’ endlich dem Drängen des Landes nachgegeben und eine Braut erwählet, und Prinzeß Liselotte hatt’ ihn begleitet auf seiner Brautfahrt, und viel prächtige Festlichkeiten und Kurzweil hielten die Herrschaften am Hofe der zukünftigen Gemahlin zurücke, hochwelche eines französischen Herzogs Tochter war und gar nahe verwandt mit dem Königshause.
Und in dem finsteren Krankenstüblein, da lag Einer, der doch – ich wagete nicht, es auszudenken und warf nur einen scheuen Blick auf das fieberglühende Antlitz in den Kissen. Und eben fuhr er wiederum empor; schier aufrecht saß er und streckte die Hand aus, als stünde dorten Jemand an dem Fußende seines Lagers, und mit lauter Stimme, sodaß es mir gleich wie Funken in die Seele flog, rief er:
‚Ich schwöre es Dir bei meiner Wunde Brennen, bei Allem so mir auf Erden heilig, bei meiner Mutter Ehre – –‘
Dann verzerrte sich sein begeistert Antlitz, und mit schneidender Stimme schrie er:
‚Ich habe keine Mutter. Was begehrest Du? Fort! Ich will mich rächen. O, mein vergiftet Dasein! Wär ich todt!‘
Ich faßte nach seiner Hand, Base Wieschen aber starrete entsetzt auf den nun erschöpft Daliegenden.
,Der Väter Sünden –‘ raunte sie und trocknete ihm die feuchte Stirn und horchte auf sein hastig Flüstern, das sich wieder steigerte zum wahnwitzigen Schreien, also daß es grauenhaft durch das stille Gemach scholl. Die Base öffnete ein Fenster, auf daß die kühle Luft beruhigend in den schwülen Raum dringe; der letzte Abendschein brach vergoldend herein und mit ihm zog eine Frauenstimme durch das Fensterlein, tief und stark und voll süßen Wohllautes, daß ich schier verwundert aufhorchte.
Da sagte die Base, das sei des Vaters junges Schwesterkind; das trage wohl wenig Herzeleid um die todte Mutter. Und sie bog sich fürsichtiglich zum Fenster hinaus und rief halblaut:
‚Hedwige, laß ab mit dem Singen, dem Conradus dient es nimmer.‘
Da scholl die Stimme trutziglich wieder herauf:
‚Ei Base, grad umgekehrt! Mein Mutterlein ward ruhiger, je mehr ich sang,‘ und gleich hub sie wieder die alte Volksweis’ vom jungen Reitersmann an, der keine Heimath hat:
‚In’s Städtlein zieht wieder Reiter und Roß,
Mit Jubel begrüßt man den muthigen Troß;
Viel Kränzlein die flocht man zum Siegeslohn.
Ei, schenket kein Mägdlein mir einen davon?
Mein Vater ist todt, meine Mutter mir fremd,
Mein Mädel hat Andern sich zugewendt. –
Ach besser, geblieben im blutigen Feld,
Als so allein auf mich selbsten gestellt!
Falber, was schaust du so traurig mich an?
Uns Beide will Niemand zum Festschmause han;
Du brav alter Klepper, arg mager und krumm,
Und ich selber zerfetzet – mich wundert’s nicht drum.
Was schiert uns das Volk denn? Falber, was macht’s?
Reiten wir weiter! Niemand beklagt’s.
Giebt auf der Welt noch viel blutigen Streit
Und manch grünen Hügel auf blumiger Haid;
Ranken wohl lustig wild Röslein um’s Grab;
Vöglein singt Lieder vom Zweige herab. –
Wir Beide, Falber, wir schlafen selban,
Ein Roß und sein einsamer Reitersmann.‘
Da ward er stracks ruhiger, der Conradus, als legten sich die viel süßen Töne gleichwie beschwichtigend auf seine gar heiße Stirn. Aber als sie geendet, begunnete er aufs Neue zu fabeln, und schier heftiger denn zuvor.
,Laß sie doch weiter singen, Base!‘ heischte ich. Aber es kam mir schwer an darum zu bitten; was hätt ich gegeben, so ich hätt singen können in dieser Stunde, – so süße und tief, wie sie. Ich kennte meine Muhme nicht, maßen mein Vater nicht sonderlich mit seiner Schwester harmonirete; ihr Mann soll ein gar wilder Christ gewesen sein, der allerlei Zauberkunst verstanden, niemalen sein Ziel gefehlet und vielen Wildschützen das Lebenslicht ausgeblasen. Ob solches wahr, vermag ich nicht zu sagen: mein Vater hatt’ geringe Liebe zu ihm, weil stetiglich irgend ein vermessener Fluch aus seinem Munde ging, und da er ihm einstmals solches heftig verwiesen, war das Band zerrissen zwischen den Schwägern, und niemalen schickte die Frau Försterin wieder ein feist Reh oder einen Frischling in unsere Küchen; bis zu ihrem Todesstündlein hatt’ sie des Bruders vergessen. Die Base erhob sich auf mein Begehr, und schauete in den Garten hinunter.
‚Hedwige, Hedwige!‘ rief sie halblaut, aber es blieb stumm. ,Sie ist tiefer in den Garten gegangen,‘ sagte sie, ‚willst sie nicht suchen, Christel? Ich bin müd, und mein Rücken schmerzet mich arg. Du hast junge Füße; ich setze mich derweilen an Deinen Platz.‘
Ich stieg hinunter und durchsuchte die dunklen Gänge, fund aber nicht, die ich suchte; wollte schon zurückkehren, vermeinend, sie sei in’s Haus gegangen; da erblickte ich sie nahebei; sie saß in der Linde vor meinem Fensterlein; sie hatt’ sich von der steinernen Bank auf den untersten Ast geschwungen; dorten hockte sie und starrete in das Grün der Blätter, und auf ihrem braunen Haar spielete das Abendgold und warf schimmernde Lichter darein. Die Arme hielt sie gar nachlässig in einander geschlungen, und vom Fuß war ihr ein Schuh entglitten, der lag an der Erde, schmal und klein, wie der eines Kindes.
‚Hedwige!‘ rief ich leise; da sah sie hernieder, und als sie mich gewahrete, glitt sie von dem luftigen Sitz, und stund nun vor mir. Ein wunderbar fein Gebilde, zierlich wie das Reh in unseren Wäldern und rehgleich die großen, scheuen lichtbraunen Augensterne unter den langen Wimpern. Um den Mund hatt’ sich ein eigen finsterer Zug gelegt, der von Einsamkeit und stummem Selbstgenügen redete. Die feinen Nasenflügel aber bebten, als wie zuweilen bei Conradus, und die Base hatt’ mir gesagt, das sei ein Zeichen von schier ungestümer Leidenschaft und tiefem Empfinden.
Ich bot ihr die Hand: ‚Gott zum Gruße, Hedwige! Du kommst zu trauriger Stund’ in unser Haus; laß es Dich nicht verdrießen, wenn ich nicht so oft bei Dir kann weilen, als die Gastlichkeit heischet. Es wird wohl Alles anders. So ich Dich aber bitten darf, singe noch ein Liedlein, oder mehr; denn unserem Conradus thuet es wohl.‘
Sie hatt’ die Augen gesenket, und ohne diese Strahlen erschien das Gesicht fast unschön. War aber gleich bereit mir zu folgen und stieg hinter mir die Treppe empor, so leise, daß ich zwomalen mich umsah, vermeinend, sie sei nicht mehr hinter mir. Und so schritt sie auch an Conradus Bette und beugete sich über ihn, und dann setzte sie sich an meinen Platz und fing an leise zu singen; und Conradus lag ruhig, und Base Wieschen schlief allgemach ein im Lehnstuhl am Fenster. Hatt’ mich auf die Truhe gesetzet, so das Tuch von Prinzeß Liselotte barg, und starrete mit brennenden Augen in die Dämmerung und lauschete auf den Sang. Ein finster böses Wesen war über mich kommen, daß es mich dünkte, als müßt’ ich das Mädchen dorten hinwegstoßen von dem
[825][826] Bette und hinausweisen aus dem Hause, auf daß sie nimmer wiederkehre.
Und sie sang weiter, so ruhig und so leise, so süß und so traurig; von des Jägers Liebchen sang sie, das im Wald begraben liegt, vom Ritter Ewald und seiner Lina, die vor viel großem Gram gestorben, da er hinweg zog. Mitunter aber klang ein heller Ton hindurch, gleich wie Sonnengold durch dunkle Tannen bricht, doch immer ward es wieder traurig und trüb. Ich kannt sie alle, die Liedlein; man sang sie hierorts allenthalben, doch trieben sie mir heut brennend heiß die Thränen in die Augen.
So lag er wochenlang, der Conradus; unterweilen bei Besinnung, meistens in dumpfem Sinniren; Hedwige aber weilete an seinem Bette, beruhigend mit dem bloßen Klang ihrer Stimme, geduldig und unermüdlich, schier regungslos mitunter. Und draußen zog mählich der Herbst über die Wälder, und droben auf dem Schlosse war viel buntes Leben eingekehret; Hundeblaff und Jagdruf scholl bis in unser stilles Haus; Prinzeß Liselotte aber wiegte sich holdseliger denn jemalen auf ihrem hellbraun Pferdlein, wenn sie zu Walde zog, und die fremden Cavaliere ritten ihr zur Seiten in rothem Jagdhabit.
Ob sie unser still Häuslein mit ihren blauen Augen angesehen, mit den Augen, die so lebenslustig unter dem federgeschmückten Hütlein hervorblickten, ob sie ahnete, er sei krank und siech – ich weiß es nicht; denn ich wendete mich ab vom Fenster, so sie vorbeizogen, und ging zu Conradus in das stille Stüblein, allwo nimmer ein Ton von außen hineinklang. Dem Vater aber mußt ich jetzt viel Gesellschaft leisten: denn er verfassete ein Hochzeitscarmen für Serenissimum, und da ihm schwer ward zu schreiben, so saß ich manch Stündlein an seinem Krankenstuhl, und er dictirete mir die Worte.
Das waren harte Stunden; blieb doch mein Herze oben bei unserem Kranken, und zuweilen, wenn der Vater eifrig die Verssilben zählete, legte ich die Feder hin und sprang jählings vom Tische empor. Dann schalt der Vater:
,Was sorgst Du Dich doch? Ist nicht Hedwige bei ihm, und gehen nicht die Base und die Mutter ab und zu, ihm das Trünklein zu reichen?‘
Und ich senkte den Kopf, und bitterheiße Scham stieg in mir auf, und dennoch vermocht’ ich mich einer brennenden Angst nicht zu erwehren.
Allgemach aber ward es besser mit Conradus, und die Mutter richtete ihm ein ander Gemach her, so größer war und paßlicher, und der Knecht trug ihn hinüber; denn gehen konnt er nicht ob großer Schwäche. Von Helmstädt war auch ein Kistlein angekommen mit vielen Büchern, die mußt ich auspacken und sie alle auf das Tischlein am Bette legen, und da flog das erste Lächeln wieder um seine Lippen, als er solche erblickte.
Hedwige und ich aber konnten nimmer vertraut werden; sie war gar scheu und von lässigem Wesen, hatte weder Lust zum Spinnen, noch zur Wirthschaft in Küche und Keller, und unterweilen, wenn an warmen Herbstestagen die Sonne goldig auf dem gelb- und purpurrothen Laube der Wälder ruhete, war sie stundenlang verschwunden, kam erst gen Abend heim, und in den dunklen Haaren hing verrätherisch ein gelb Blättlein oder etwas Moos; dann hatt’ sie im Walde gelegen und geträumet.
Wann wir aber an langen regnerischen Octoberabenden in des Conradus Stübchen saßen, die Lampe allda noch nicht brannte und nur das Buchenholz im Ofen einen flackernden Schein in das Gemach warf, dann konnte sie gar wunders viel erzählen von alten, längst verklungenen Geschichten; aus der Zeit des großen Krieges, wie Tilly dazumal durch den Harz gezogen, wie er oben in den Bergen gehauset und wie sich der Förster in Harzgerade sonderbarlich gerettet, indem er mit verhexter Büchse blindlings aus dem Fenster schoß, und daß er dann jedesmal ’nen Feind niedergestrecket. Es seien aber auch Freikugeln gewesen, so niemalen fehlen, und da müsse man beim Kugelgießen fein in der Stille ein Spänlein nehmen von einer Eiche, in die der Blitz geschlagen, und es hinzuthuen zu dem feurigen Brei; um Mitternacht müßten die Kugeln gegossen sein in einer der zwölf Nächte zwischen Christnacht und dem Drei-Königstag.
Sie sagte das Alles so lebendig; sie vermocht die Stimme schier so plötzlich zu ändern, daß man gar meinete, den Schrei eines geängsteten Weibes zu hören, das Röcheln Eines, so die Freikugel getroffen, oder das trostlose Weinen des Mägdeleins, von dem der Liebste Abschied nimmt, um in den Kampf zu ziehen. Dazwischen wob sie unterweilen ein Liedlein ein, traurig, wie sie es liebte, und wie’s nicht anders passen mocht für den jungen Mund unter den scheuen Augen, und dazu bewegte sie gar anmuthig die Hände beim Erzählen. Conradus aber hörte nicht minder andächtig zu wie ich, und als einmal Walther, der kommen war, nach des Bruders Ergehen zu forschen, laut lachte über Freikugeln und dergleichen Fabeleien, da fuhr er heftig auf:
‚So laß sie doch erzählen, Walther, und freue Dich, so Du keine Freikugeln brauchest und ohne solche treffen magst!‘
Vater und Mutter waren wenig erbauet von der neuen Hausgenossin, und der Vater klagete, sie habe den Kopf voll von Romanticis und Allotriis, und nimmer werde eine ehrsame Hausfrau aus ihr werden. Aber es kümmerte sie nicht viel, so man sie tadelte; sie stund geduldig da, mit gesenkter Stirn, darum die krausen, braunen Haare in leichten Wellen schatteten, und hörte die längste Strafrede gleichgültig an.
Zu Ende Octobers war es, da Conradus zum ersten Male wieder durch das Gemach schritt.
‚Ei, was bauet man dorten?‘ fragte er, am Fenster stehen bleibend, und wies auf ein Gemäuer, das, fremdartig anzuschauen, genüber in die Höhe stieg, allwo der Kegel des Schloßberges sich zu höhen beginnet.
‚Was gebet Ihr mir, Conrade, so ich es Euch verrathe?‘ fragte Hedwige scherzhaft.
Er wendete sich lächelnd um.
‚Was begehret Ihr denn, Hedwige?‘ neckte er.
‚Möcht wissen, was es für ein Büchlein ist, drinnen Ihr gar so eifrig leset. Merke, es ist kein geistlich gelahrtes Werk: denn dazu harmoniren die Bilder nimmer, so darinnen.‘ Und sie wies auf ein Buch, das er aufgeschlagen in den Händen hielt.
Er erröthete jach.
‚Also Zug um Zug,‘ scherzte er, ‚was bauet man drüben?‘
‚Was lieset man hier?‘ lachte sie.
Und so ward ein kurzweilig Spielen zwischen ihnen, da keines zuerst sein Geheimniß kund thun wollt. Dann gab er nach.
‚Eines griechischen Dichters Comoediae,‘ sagte er. Da begann sie zu lachen, daß es silbern von den Wänden zurückscholl und die Base im Vorbeigehen die Thür öffnete, zu sehen, was da vorging.
‚Schauet, Conrade, wie es sich wundersam trifft!‘ fuhr Hedwige fort. ‚Dort bauen sie ein Haus, darinnen des griechischen Dichters Comoediae aufgeführet werden sollen.‘
Conradus lachte nicht mit; er wendete sich wieder zum Fenster und schauete auf das Getriebe der Bauleute, wie sie eben einen Marmorblock von dem Wagen schaffeten, der ihn von Rübeland geholet.
Es war still geworden im Gemach; auch Hedwige schwieg.
‚Wer verrieth Euch Solches, Hedwige?‘ forschte Conradus endlich.
‚Die Silberschließerin des Fürsten,‘ erwiderte sie, und ihr Zünglein ging wie ein Mühlrad. ‚Kann Euch das ganze Märlein herbeten, wie sie es mir erzählet, da ich auf ein Stündlein bei ihr weilte gestern Abend. Sehet, unseres Fürsten künftig Gemahl kommt aus Frankreich von einem lustigen Hofe. Dorten spielet man gar oft Comoediam, und die junge Prinzessin soll keine Kurzweil höher stellen als dieses. Nun bauet der Fürst ihr zur Verehrung jenes Haus, soll auch schon eine Bande Comoedianten geworben haben, so darinnen agiren werden für vieles Geld. Die Alte sagte, er habe seine Kammerjunker sogar nach Dresden gesendet, dieweil alldort die feinsten acteurs ausgebildet würden: einen Baumeister habe er auch daher verschrieben. Wisset, der Churfürst von Sachsen hat vor etlichen Jahren ein Comoedien-Haus errichtet, und nach solchem Muster bauet man nunmehro dieses: habt Acht, es wird prächtiglich werden!‘
‚Habet Ihr noch kein Comoedien-Spiel gesehen?‘ fragte Conradus nach einer Weile, ‚auch Du nicht, Christel? Wisset auch nicht, wie man spricht und redet in solchem? – Gefällt es Euch, so kommt herauf heut Abend, ich will Euch vorlesen.‘
‚Wird es dem Vater recht sein?‘ gegenredete ich.
Er sah mich an; es war, als ob Etwas wie Zorn in seinen Augen blitzete.
‚Wenn Dir bange ist, Christel, nun so laß es,‘ sagte er dann ruhig, und kehrete mir den Rücken.
[827] ‚Vergieb mir, Conrade,‘ bat ich, ‚ich komme.‘
Und ich kam. – Hedwige war schon vor mir oben; die Base hatt’ rothbäckige Aepfel in die Röhre gelegt, die Oellampe angezündet und den Docht fein säuberlich geputzet; so saßen wir Drei um das Tischlein am Ofen, traulich und warm; draußen aber fegte ein kalter Herbstwind die Blätter von den Bäumen.
Von einem Engländer, Namens Shakespeare, sei die Komodie ersonnen, begann Conradus; ein wundersam Liebesgedicht, so kein schöneres erfunden werden könne, ‚Romeo und Julietta‘, verdeutschet vom Durchlauchtigsten Herrn Landgrafen Georg dem Dritten von Hessen-Darmstadt, zubenannt: der Gelehrte.“
Schule und Gesundheitspflege.
In den Händen der Jugend liegt die Zukunft des Vaterlandes: was zu deren Erziehung und Heranbildung gethan wird, dient nicht blos ihr selbst, den einzelnen Individuen, es gewährleistet auch den geistigen und sittlichen Zusammenhang der zukünftigen Gesammtheit mit der gegenwärtigen, den ideellen Fortschritt. Und darum hat an der Jugenderziehung der Staat ein ebenso großes Interesse, wie der Einzelne selbst; darum ist dieselbe zu allen Zeiten und in allen civilisirten Nationen ganz vorzugsweise ein Gegenstand besonderer staatlicher Fürsorge gewesen. Auf diesem Gebiete blos den Wetteifer der Einzelnen walten zu lassen, das würde auf eine Verkennung aller realen und idealen Grundlagen des staatlichen Seins schließen lassen.
Das griechische Gesetz befreite denjenigen, dem von seinem Vater nicht die genügende geistige und körperliche Ausbildung zu Theil geworden war, von der Pflicht, den Vater im Falle der Erwerbsunfähigkeit zu unterstützen. Zu der Idee des allgemeinen Schulzwanges sich emporzuarbeiten, ist erst der neuesten Entwickelung und hier wieder zuerst unserem eigenen Vaterlande vorbehalten geblieben.
Wit Stolz dürfen wir sagen, daß wir in Bezug auf allgemeine Verbreitung eines gewissen Maßes geistiger Bildung unter allen Classen der Bevölkerung den übrigen Culturnationen ein gutes Stück vorangeeilt sind. Wir haben uns in Folge dessen daran gewöhnt, unsere Methode der Schulerziehung für so unbedingt vortrefflich zu halten, daß die Mehrzahl unserer Mitbürger kaum wagt, an irgend einem pädagogischen Institute ernstlich zu rütteln. Und wenn nicht die Regierung selbst hier und da noch durchgreifende Reformen auf dem Gebiete des Schulwesens zur Durchführung brächte, wie dies noch neuerdings durch die theilweise Aenderung des Lehrplans der Gymnasien und Realschulen in dankenswerthester Weise geschehen ist: wir würden uns längst an den Gedanken gewöhnt haben, daß hier Verbesserungen überhaupt unnöthig, wenn nicht unmöglich seien. Und doch sind Reformen auf diesem Gebiete so sehr nöthig. Daß aber das Gefühl dieser Nothwendigkeit heutigen Tages ungemein rege ist, das beweist unter Anderem der Umstand, daß erst in jüngster Zeit, angeregt durch eine Brochüre des Amtsrichters Hartwich zu Düsseldorf[1], in den Rheinlanden eine Bewegung erwachsen ist, welche weit über den eigentlichen Sitz ihrer Thätigkeit hinaus allgemeine Beachtung verdient und dieselbe selbst im Auslande schon gefunden hat. Der Verfasser jener Broschüre wirft mit voller Klarheit und Energie die Frage auf, ob wir nicht, hingerissen von dem Streben nach allgemeiner Verbreitung geistiger Bildung, in ein Extrem des Zuviellernens gerathen sind, welches für unsere nationale Entwickelung verhängnißvoll werden kann.
Während man sich bisher mit allgemeinen Klagen begnügt hat über den in erschreckendem Maße zunehmenden Procentsatz von Kurzsichtigen, über die Masse von zum Militärdienst Untauglichen, über die Zunahme des Procentsatzes der Irren, wird hier zum ersten Male auf den Kern der Frage eingegangen, eine offene Antwort mit dem Muthe der Ueberzeugung gegeben, zugleich aber auch ein Versuch zur praktischen Lösung der Frage gewagt.
Der von Hartwich begründete und gleich näher zu charakterisirende Verein zählt schon nach Tausenden von Mitgliedern und hat von seinem Centralsitz Düsseldorf aus schon eine ganze Reihe von Zweigvereinen begründet, sodaß ihm für die Dauer eine praktische Bedeutung und weitgreifende Wirksamkeit nicht fehlen wird. Es dürfte daher der Mühe verlohnen, die allgemeine Aufmerksamkeit einmal auf die Bewegung zu lenken, die, man mag sie billigen oder nicht, jedenfalls von der einschneidendsten Tragweite für unser gesammtes sociales und culturelles Leben zu werden verspricht.
Die ganze Bewegung steht und fällt mit der Frage: kann es auf dem Gebiete der Erziehung in der Schule ein „Zu viel“ der eingeprägten Kenntnisse geben? Hartwich – und mit ihm die Anhänger seiner Anschauungen – trägt kein Bedenken, auf diese Frage mit einem überzeugten „Ja“ zu antworten, dem wir nicht umhin können, uns anzuschließen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der That die Anforderungen, welche an das noch junge und der Entwickelung bedürftige Gehirn unserer Schuljugend gestellt werden, erheblich verringert werden können, ohne daß wir von der Höhe unserer wissenschaftlichen Bildung auch nur um eine Stufe herunterzusteigen brauchen. Schreiber dieser Zeilen hat das vor einiger Zeit in der „Gegenwart“ an einem speciellen Beispiel, an dem geographischen Unterricht auf den deutschen Gymnasien, zu erweisen versucht, und die Unterrichtsverwaltung selbst hat es, wenn auch nur indirect, durch die Veränderungen zugestanden, welche sie in dem reformirten Lehrplane, namentlich bei dem Unterricht in den alten Sprachen, getroffen hat. Aber es kann und muß noch viel mehr geschehen, wenn wir nicht schließlich dahin kommen wollen, daß die Mehrzahl unserer Mitbürger zwar ein beträchtliches Maß aller möglichen brauchbaren und unbrauchbaren, verdauten und unverdauten Kenntnisse besitzt, dafür aber physisch verkommt und die Geschmeidigkeit und Elasticität des Körpers verliert, ohne die jede, auch die geistige, Thätigkeit für die Dauer unmöglich ist.
Bevor wir die Möglichkeit einer solchen Reduction der Anforderungen erweisen, wollen wir zunächst feststellen, ob und warum eine solche nothwendig ist: denn jede Aenderung einer Einrichtung, deren Vorzüge im Großen und Ganzen unbestritten sind, bedarf der Begründung ihrer inneren Nothwendigkeit. Wir dürfen hier unsere Leser im Allgemeinen auf die Ausführungen Hartwich’s verweisen, deren weite Verbreitung trotz aller Mängel, welche dieselben im Einzelnen enthalten, nicht genug empfohlen werden kann, und können uns hier mit der Anführung der Hauptgesichtspunkte und einiger Ergänzungen zu den Darlegungen desselben begnügen.
Man wird im Allgemeinen annehmen dürfen, daß geistige Arbeit im von der freien Luft abgeschlossenen Raume die körperlichen Organe wenigstens ebenso sehr anstrengt und ebenso viel Lebenskraft absorbirt, wie körperliche. Ja, das von der ersteren hauptsächlich in Anspruch genommene Organ, das Gehirn, wird wahrscheinlich, weil eben die Thätigkeit eine organisch concentrirtere ist, noch in erheblich höherem Maße mitgenommen, als die Gesammtheit der Muskelkraft, welche bei körperlicher Arbeit zur Verwendung kommt. Bei normal entwickelten Naturen wird daher eine tägliche geistige Arbeitszeit von acht bis zehn Stunden für den Erwachsenen als durchschnittliches Maximum gelten können. Es liegt auf der Hand, daß für das noch nicht entwickelte Gehirn des Kindes eine erhebliche Abminderung dieser Stundenzahl Platz greifen muß, wenn nicht eine Ueberanstrengung des Gehirns befürchtet werden soll. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß bei dem Durchschnitt unserer Schulkinder, wenigstens derer in den höheren Schulen, die geistige Thätigkeit die oben genannte Stundenzahl erreicht, oft sogar überschreitet. Bei fünf bis sechs Stunden täglichen Schulunterrichts muß man bei dem gegenwärtigen Modus mindestens noch zwei bis drei Stunden auf die Vorbereitung im Hause in Anschlag bringen. Demnach kann es, schon rein äußerlich betrachtet, nicht Wunder nehmen, wenn bei minder kräftigen Kindern Ueberreiztheit des Gehirns, in der wir sehr häufig auch die Veranlassung zu Krankheiten der Augen zu erkennen haben, eintritt.
[828] Die statistischen Zahlen, deren Ergebnisse schon traurig genug sind, treffen hier noch nicht einmal das wahre Verhältniß, indem sie nur die direct und klar hervortretenden Krankheitserscheinungen, nicht aber die weniger an die Oberfläche tretenden, aber um so bedenklicheren allgemeinen Störungen des Organismus registriren. Dazu kommt, daß das junge Hirn auch bei dem Verständniß der Erscheinungen der Außenwelt noch weit mehr angestrengt wird, als der erfahrene und erwachsene Mensch. Abgesehen von der physischen Schädigung, wird daher oft auch eine geistige Ueberreizung eintreten; die Ueberfülle der geistigen Nahrung kann nicht verdaut werden: die Weisheit des Lehrers „geht zu einem Ohre des Schülers hinein, zum andern wieder heraus“. Man frage jeden jungen Mann, der das Gymnasium mit dem Zeugniß der Reife verläßt, wie viel er von dem, was er gelernt haben sollte, wieder vergessen hat, und man wird erstaunliche Resultate zu hören bekommen. Sollte es da nicht im Interesse des Erziehungszweckes geboten sein, die Fülle des Einzuprägenden von vornherein auf dasjenige Maß zu beschränken, welches der Lernende dauernd in sich aufzunehmen vermag?
Das ist aber nur die eine Seite der Sache: das Einprägen von „Dingen, die man doch wieder vergißt“, das „Zu viel“ für den Geist. Wir kommen hierauf noch näher zurück. Die Sache hat aber noch eine andere Seite: die durch dieses „Zu viel“ herbeigeführte Unmöglichkeit, auch dem Körper diejenige Sorgfalt zuzuwenden, die ihm gebührt und die man ihm nicht ungestraft entziehen darf. Diese Seite ist es vornehmlich, welche die Hartwich’sche Broschüre und die dadurch veranlaßte populäre Bewegung in’s Auge gefaßt hat.
Ganz abgesehen von dieser Bewegung[2] ist die Tragweite und Bedeutung dieser Frage auch von einer Seite anerkannt worden, welche einen praktischen Erfolg derartiger Bestrebungen in etwas nähere Aussicht stellt. Der preußische Cultusminister von Goßler hat nämlich unterm 27. October dieses Jahres einen Erlaß an sämmtliche königlichen Provinzial-Schulcollegien und die Regierungen gerichtet, in welchem er mit Nachdruck die ethische und physische Bedeutung eines einsichtig geleiteten Turnunterrichts, welcher mit Bewegungsspielen aller Art verbunden sein müsse, hervorhebt. Dazu genüge, so erklärt der Minister ausdrücklich, ein geschlossener Turnraum noch nicht, da gewisse Uebungen und Spiele in einem solchen gar nicht zur Ausführung kommen könnten: vielmehr müsse überall das Augenmerk darauf gerichtet sein, daß auch ein freier Turnplatz für die Schuljugend vorhanden sei. Ausführlich wird dann die erneute Anregung dieser Seite des Schulunterrichts von dem Minister motivirt. Er sagt hierüber:
„Die Ansprüche der Erwerbung von Kenntnissen und Fertigkeiten sind für fast alle Berufsarten gewachsen, und je beschränkter damit die Zeit, welche sonst für die Erholung verfügbar war, geworden ist, und je mehr im Hause Sinn und Sitte und leider oft auch die Möglichkeit schwindet, mit der Jugend zu leben und ihr Zeit und Raum zum Spielen zu geben, um so mehr ist Antrieb und Pflicht vorhanden, daß die Schule thue, was sonst erziehlich nicht gethan wird und oft auch nicht gethan werden kann. Die Schule muß das Spiel als eine für Körper und Geist, für Herz und Gemüth gleich heilsame Lebensäußerung der Jugend mit dem Zuwachs an leiblicher Kraft und Gewandtheit und mit den ethischen Wirkungen, die es in seinem Gefolge hat, in ihre Pflege nehmen, und zwar nicht blos gelegentlich, sondern grundsätzlich und in geordneter Weise.“
Auch auf den Nutzen und die Zweckmäßigkeit von gemeinsamen Schulspaziergängen, Turnfahrten u. dergl. hat der Minister wiederholt und nachdrücklich hingewiesen.
Mit je aufrichtigerer Freude und Genugthuung wir diese Meinungsäußerung des Herrn Ministers begrüßen, um so schmerzlicher empfinden wir doch in seinen Ausführungen eine unzweifelhafte Lücke: so energisch derselbe nämlich den Nutzen und die Nothwendigkeit der erwähnten Maßregeln betont, so hat er es doch vermieden, darauf einzugehen, wie die Durchführung derselben mit dem bestehenden Lehrplane zu vereinigen sei. Er hat die Nothwendigkeit der von ihm besprochenen Einrichtungen mit scharfer Präcision erwiesen, ohne doch die Möglichkeit derselben eingehender zu erörtern. Und es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß eine zweckentsprechende Reform auf diesem Gebiete undurchführbar ist, wenn nicht für die Ausbildung des Körpers durch eine entsprechende Aenderung des Lehrplanes Zeit gewonnen wird: mit den ein bis zwei Stunden wöchentlich, die bei dem bisherigen Unterrichtsplan Alles in Allem auf die körperliche Ausbildung entfallen, ist eine durchgreifende Reform nicht möglich.
So erblicken wir in dem Erlasse des Ministers zwar ein erfreuliches Zeichen dafür, daß man auf Seiten der Regierung dem Princip der von Hartwich in Fluß gebrachten Bewegung freundlich gegenübersteht. Aber für erreicht halten wir den Zweck der letzteren doch noch keineswegs; denn eben auf die organische Reform des Unterrichts überhaupt legt Hartwich mit vollem Recht den größten Nachdruck, und wir wollen nicht versäumen, ihm gerade hierin theils durch Darstellung seiner eigenen Pläne, theils durch einige neue Ergänzungen seiner Ansicht zu Hülfe zu kommen.
„Wo bleibt,“ so fragt Hartwich mit Recht, „bei einer acht- bis zehnstündigen Arbeitszeit, welche unseren Kindern zugemuthet wird, die Möglichkeit körperlicher Erholung in Spaziergängen und Spielen in Gottes freier Luft, wo die unbefangene Freude an der Natur und ihren Reizen? Ist es nicht bereits so weit gekommen, daß mancher Zögling unserer höheren Lehranstalten das Jünglings- respective Jungfrauenalter erreicht hat, ohne jemals einen Wald oder ein blühendes Kornfeld gesehen zu haben? Wer wollte sich darüber wundern, daß die Unfähigkeit, sich an der Natur zu erfreuen, immer mehr bei unserer Jugend um sich greift, daß die Gesichter unserer Knaben und Mädchen so altklug und erschrecklich ernst auszusehen anfangen? Ist es nicht eine furchtbare und zu ernstestem Nachdenken herausfordernde Thatsache, daß zu den Selbstmorden, welche sich in unserer Zeit in so trauriger Masse vermehrt haben, Kinder bis zu zwölf Jahren hinab ein erhebliches Contingent stellen? Das muß anders werden, wenn wir nicht in demselben Maße körperlich zurückgehen wollen, wie wir uns geistig rapid entwickelt haben. Und es kann anders werden, ohne daß wir von der erreichten geistigen Höhe auch nur einen Schritt zurückzuweichen brauchen.
Ahmen wir doch auch in dieser Beziehung das classische Alterthum nach, auf das wir in unserem geistigen Bildungsgrade mit Recht ein so großes Gewicht legen!
Greifen wir doch ja nicht auf den thörichten Grundsatz einer verkehrten asketischen Richtung unseres Mittelalters zurück, die den Körper nur als eine lästige und störende Fessel des Geistes und seine Venachlässigung [sic! Vernachlässigung] und Abstumpfung als ein sittliches Verdienst betrachtet! Die Natur läßt sich nicht ungestraft verhöhnen: sie rächt sich bis in die spätesten Generationen hinein. Der Discus, das Cricket, der Wettlauf, die Bewegung in freier Luft muß wieder gleichberechtigt neben die Pflege des Verstandes und Gedächtnisses treten. Unsere Jugend wird williger und besser lernen, wenn sie wieder spielen und sich der Alles belebenden freien Natur erfreuen darf; die Zeit, welche systematisch und verständig auf diese Dinge verwandt wird, sie wird durch die größere geistige Frische und Regsamkeit mehr als eingebracht werden.“
Dies zu erreichen ist der Zweck, den sich der von Hartwich zu begründende „Central-Verein für Körperpflege“ gestellt hat. Als nächstes anzustrebendes Ziel und als die Grundbedingung für die Erreichung desselben stellt er die gesetzlich zu fixirende gänzliche Abschaffung des Nachmittagsunterrichtes hin. Der Verein besitzt in Düsseldorf bereits ein nicht unbedeutendes Wiesenterrain, welches der Jugend im Sommer als Spielplatz dient, im Winter zu einer künstlichen Eisbahn umgeschaffen wird. Die helle Begeisterung und Freude, mit welcher die Schuljugend die ihr hier gebotene Gelegenheit zu fröhlichem Spiel in freier Luft ergriffen hat und die aus allen Gesichtern wiederstrahlt, ist der beste Beweis dafür, wie segensreich solche Maßregeln sind. Und dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzendes rein ethisches Moment: der Lehrer tritt – was ja bei unserer gegenwärtigen Lehrmethode zur Unmöglichkeit geworden ist – dem Schüler menschlich näher; er wird statt [829] des mehr gefürchteten als geliebten Lehrmeisters der Freund und Beschützer der Jugend, wenn er derselben nicht stets von dem erhabenen Standpunkte des Katheders gegenübertritt, sondern in freierem, ungebundenerem Verkehre mit seinen Schülern fröhlich ist und den heiteren Genuß an den einfachen Reizen der Natur mit ihr theilt. Und auch die Lehrer haben ihren großen Vortheil davon: sie zumeist lernen an einem einzigen solchen Tage Sinnesart und Charakter ihrer Pflegebefohlenen besser kennen, als wenn sie dieselben Jahre lang auf den Schulbänken noch so genau beobachten.
Der „Verein für Körperpflege“ hat sich in verschiedene Unterabtheilungen gegliedert, welche alle mit vereinten Kräften dem gleichen Ziele zustreben. Vor Allem soll der edlen Turnkunst wieder mehr Spielraum gegeben werden: die Turnabtheilung des Vereins steht unter der Aufsicht von Volksschullehrern und unter Direction des städtischen Turnlehrers.
Neben der Abtheilung für Spiele und Eislauf besteht dann
noch eine Abtheilung für Baden, Schwimmen und Rudern. Vor
Allem aber soll die Möglichkeit der Bewegung in freier Luft
allen Kindern, armen wie reichen, verschafft werden, und dazu ist
in erster Linie erforderlich, daß in allen größeren Städten Terrains
für die Spiele der Schuljugend erworben werden, wie der Düsseldorfer
„Central-Verein“ hierin mit gutem Beispiele vorangegangen
ist. Unsere Lehrer müssen mit ihren Zöglingen den Weg aus der
dumpfen Schulstube in die freie Luft wieder finden, den sie fast
völlig verloren zu haben scheinen. Dann wird auch unsere Jugend
ihre kindliche Unbefangenheit und Frische wiedererlangen, die ihr
in der engen Schulstube so vielfach verloren gegangen ist.
Zweierlei aber ist hierzu nöthig: Geldmittel und die zur systematischen Körperpflege erforderliche Zeit durch Beschränkung der Anforderungen – nicht an den Geist; denn diese dürfen nicht beschränkt werden – sondern an das Gedächtniß. Beides ist unschwer zu erreichen und erfordert keine oder doch verschwindend geringe Opfer, die im Verhältniß zu der Idealität des Zweckes kaum in Betracht kommen. Auch hier hat der Düsseldorfer Central-Verein die Bahn bereits gebrochen. Indem er seine pädagogische Aufgabe erweitert und nicht blos auf die Jugend, sondern auf das ganze Volk als solches ausdehnt, wird es ihm leicht, durch einen sehr geringen Mitgliedsbeitrag – eine Mark pro Quartal – die erforderlichen bescheidenen Geldmittel flüssig zu machen.
In jeder einzelnen Abtheilung des Vereins besteht neben der Jugendabtheilung auch eine solche für Erwachsene, die sich zum Theil in Anlehnung an bereits vorhandene Vereine verwandter Richtung – Turnvereine, Fechtclubs, Ruder- und Schwimmvereine etc. – gebildet hat. Daneben giebt es dann noch inactive, d. h. nur zahlende Mitglieder, und durch die Beiträge derselben werden die dem Vereine erwachsenden Kosten gedeckt. Ueberall herrscht reges Leben und frische Begeisterung in diesen Abtheilungen, in denen das Bewußtsein, einem gemeinsamen großen Zwecke zu dienen, alle Theilnehmer vereint. Was in seiner Vereinzelung nur wenig zu wirken vermochte – durch systematische Behandlung und Vereinigung gewinnt es neues, frischeres Leben.
Ebenso leicht aber ist auch das andere Erforderniß zu erreichen. Das Aufgeben des Nachmittagsunterrichtes bedingt, wenn am Vormittag vier bis fünf Stunden unterrichtet wird, eine Beschränkung [830] der Unterrichtszeit um drei bis vier Stunden per Woche. Und diese können mit Leichtigkeit erspart werden, wenn man den bloßen Gedächtnißkram auf das nothwendigste Maß beschränkt, wenn man das Hauptgewicht mehr auf Anregung, auf geistige Durchdringung des Gebotenen, als auf Fülle der Einzelheiten legt. Einzelne Schritte sind auch hier schon in dem reformirten Lehrplan geschehen, aber es muß noch mehr gethan werden. In fast allen Lehrgegenständen kann hier eine Beschränkung eintreten. Die Unterrichtsverwaltung hat z. B. schon in dem Lehrplan für die Gymnasien den Unterricht im Lateinischen und im Griechischen wesentlich reducirt. Dies kann natürlich nur durch eine Aenderung in der Methode erreicht werden.
Das sinnlose Eindrillen lateinischer Phrasen in Extemporalien und Aufsätzen kann sehr wesentlich beschränkt werden; wir meinen sogar, daß die Aufsätze ohne jeden Schaden völlig fortbleiben können, und dadurch würde ein wesentlicher Theil der häuslichen Arbeitszeit in den höheren Classen fortfallen. Aufgabe der Schule ist es, die Jugend in den ewig erfrischenden und erhebenden Geist des klassischen Alterthums einzuführen, durch Lectüre und geistige Durchdringung der klassischen Meisterwerke unserer Jugend Sinn für Ideales und Erhabenes einzuflößen: in dieser Hinsicht kann der Nutzen des Unterrichts in den classischen Sprachen gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Dieses Ziel aber wird nicht erreicht, wenn man die großartigen Werke eines Plato, Thucydides, Xenophon, eines Livius, Horaz, Virgil fast ausschließlich zum Einpauken grammatischer Regeln benutzt. Und wozu in aller Welt ist es nöthig, in einer todten Sprache Aufsätze anfertigen zu lassen, bei deren Lectüre sich doch ein Cicero im Grabe herumdrehen würde? Es ist einzig und allein das Element der angelernten Phrase, dem man dadurch zur Herrschaft verhilft, ganz abgesehen davon, daß man durch diese trockene Art dem Schüler den Geschmack an den großen classischen Autoren gründlich verdirbt. Die Grammatik ist nur ein Mittel; sie zum Selbstzwecke zu erheben, wie das leider nur allzu oft geschieht, ist der Gipfel der Verkehrtheit.
Aehnliches gilt von dem geographischen und historischen Unterricht. Auf den Gedächtnißkram hier gänzlich zu verzichten, ist ja ohne Zweifel unmöglich. Aber das Uebel wird viel leichter überwunden, wenn die zu ertheilenden Anleitungen mit einem anschaulichen und anregenden Unterricht über die großen Gesetze, denen das Leben der Erde unterworfen ist, verbunden werden, als wenn der Gedächtnißkram zum fast ausschließlichen Object des Unterrichts gemacht wird.
Weiß der Schüler über die wunderbare Gestaltung der Erdoberfläche, über die Gesetze der Bildung und Entwickelung derselben, über alle die großen Resultate, welche namentlich die vergleichende Erdkunde in neuerer Zeit errungen hat, Bescheid, dann wird er in diesem gewaltigen Bilde auch leichter die Lage und Richtung der einzelnen Linien und Punkte im Gedächtnisse behalten, als wenn man ihm die letzteren einzuprägen sucht, ohne ihm den Anblick des herrlichen Gemäldes selbst zu zeigen. Versteht der Lehrer, den Schüler „in den Geist der Zeiten zu versetzen“, ihm den großen Entwickelungsgang der Geschichte klar zu machen, so wird dieser auch die einzelnen Erscheinungen leichter im Kopfe festhalten. In der Einprägung der letzteren kann ohnehin gerade im historischen Unterricht ein erhebliches Minus eintreten.
Es wird hier noch immer viel zu viel Gewicht auf das Auswendiglernen einzelner Daten und Jahreszahlen gelegt: ja wir kennen Lehranstalten, wo dies den ausschließlichen Gegenstand des historischen Unterrichts bildete – und bildet. Das ist grundfalsch: denn das Ganze ist eben nicht blos die arithmetische Summe seiner Theile: es steht über den Theilen. Man kann alle einzelnen Theile im Gedächtniß haben und doch das Ganze nicht verstehen. Es ist, als ob die moderne Entwickelung der historischen Wissenschaft an dem geschichtlichen Unterrichte spurlos vorübergegangen Wäre. Während die historische Wissenschaft mit Recht immer mehr ihre Aufgabe darin erblickt, dem Culturfortschritt der Menschheit in seinen einzelnen Phasen nachzugehen und die diplomatische und Kriegsgeschichte als das zu betrachten, was sie thatsächlich ist, – als Nebensache, wird diese Nebensache im historischen Unterrichte noch immer in ganz ungebührlicher Weise bevorzugt, Auswendiglernen von Schlachtendaten, genaueste Kenntniß aller feindlichen Berührungen der Völker unter einander bildet in den Geschichtsstunden unserer Lehranstalten noch immer den Hauptgegenstand; der große Fortschritt, den die Menschheit durch die friedlichen Berührungen der Völker unter einander, durch den Austausch ihrer geistigen und culturellen Erzeugnisse gemacht hat, bleibt fast unberührt.
Und doch hat dieses Letztere gerade den nicht zu unterschätzenden Vortheil, daß es dem Schüler Interesse einflößt, während ihn die mechanische Einprägung jener Aeußerlichkeiten langweilt. Und Langeweile ist der Tod aller Pädagogik.
Was würde man wohl von einem Naturforscher sagen, der die Wirkungen der Elektricität nur nach den zerstörenden Wirkungen des Blitzes beurtheilen wollte? Und in der Geschichte will man das Wesen der großen Entwickelung der Menschheit aus den krampfhaften Evolutionen, wie sie in den Kriegen zu Tage treten, erkennen?
Wir können uns mit diesen flüchtigen Andeutungen begnügen, denn wir wollen kein System, sondern Aphorismen geben, die ein Jeder mit Leichtigkeit aus seiner eigenen Erfahrung ergänzen und erweitern mag. Für unsern Zweck genügt das Gesagte. Tritt eine Aenderung der Methode in der angegebenen Richtung ein, so kann nicht nur die Anzahl der Unterrichtsstunden vermindert, sondern auch der auf häusliche Arbeiten zu verwendende Zeitaufwand erheblich reducirt werden. Der Geist wird dadurch nicht benachtheiligt, sondern frischer und zu selbstständigem Denken geeigneter werden: und darauf kommt es an. Dem Körper aber wird auf diese Weise das ihm gebührende Recht werden.
Und Gesundheit ist nächst der Mannesehre das höchste aller Güter und die Vorbedingung alles Glücks. Sorgen wir dafür, daß diese unsern Kindern erhalten werde! Wir sind in Gefahr, sie ihnen zu rauben. „Die Hälfte aller zukünftigen Aerzte und Strafrichter, Kranken- und Gefangenwärter,“ sagt Hartwich, „muß umgeturnt und umgesprungen, umgelaufen, umgerungen, ummarschirt und umgesungen werden, und die Hälfte der sich dann entvölkernden Hospitäler, Gefängnisse, Augenkliniken und Irrenhäuser muß umgestaltet werden zu ‚Hochschulen für Volksgesundheitslehre‘ und zu ‚gymnastischen Seminarien‘, in denen unsere ‚Jugendbildner‘ einen Cursus durchzumachen und ein theoretisches und praktisches Examen abzulegen haben.“
Wer aus dem deutschen Mutterlande in die fernab liegende baltische Colonie geräth, hat auf die Dauer damit zu thun, sich in dem Kunterbunt der Farbenmischung der dort wohnenden Völkerstämme zurecht zu finden. Viel Stammverwandtes heimelt ihn auf den ersten Blick an, und die Summe der unverkennbaren Familienzüge hilft ihm hinweg über manche unschöne querläufige Linie, die von Zeit zu Zeit das anmuthende Gesicht zur Fratze zu verzerren droht. Je eingehender er in der Folge Notiz nimmt von dem Dutzend heterogener Elemente, aus denen sich das baltische Leben zusammensetzt, je eifriger er dem Werdegange baltischer Cultur nachspürt – um so leichter verwindet er die unliebsamen Schrecknisse, um so ausgesprochener wächst ihm mit zunehmendem Verständniß auch der Geschmack an der Eigenart landesüblicher Lebensweise.
Die wechselvollen Geschicke der Ostsee-Provinzen, welche dem Heimbürtigen ein interessantes Capitel europäischer Universalgeschichte sind, weisen zu wenig großartige, bedeutende Züge auf, als daß sie, gegenüber erhebenderen Episoden, dem Fernerstehenden nicht wie in Nebel zerrinnen sollten. Nicht darauf einzugehen, nur auf sie hinzuweisen gestattet mir der Raum dieser flüchtigen Skizze. Die Geschichte der baltischen Provinzen erklärt einmal das bunte Gemisch, dann auch das bescheidene Niveau colonialer Culturentwickelung. So folgten hier in bunter Reihenfolge auf einander: Zank und Hader zwischen Episcopat und Orden, blutige [831] Aufstände der Letten und Esthen, der „Undeutschen“, die nach jeder Erhebung um so tiefer in die Knechtschaft sanken, Kriegsstürme, verheerende Invasionen zu allen Zeiten und von allen Seiten her, von Litthauern, Polen, Schweden, Dänen und Moskowitern, Pest und Seuchen.
Wie auf den kurzen nordischen Sommer unerbittlich die Unholden, die Reifriesen Niflheims, folgen und oft über Nacht alles Leben zu Eis und Tod erstarren machen, so erhebt Jahrhunderte hindurch die Saat germanischer Cultur ihre Halme und Gräser in der Nordmark nur zu halber Höhe, um alsbald wieder von sengenden Horden der Nachbarvölker vernichtet und zertreten zu werden.
Mit 1710 erlischt endlich die Brandfackel blutiger Kriege. Unter russischem Scepter athmet das Land allgemach auf; das Blut pulst wieder in den Adern – doch noch lastet während der größeren Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine eisenharte Leibeigenschaft wie ein böser, erdrückender Alp auf dem kranken Organismus. Aber von der Wende des Jahrhunderts ab bis auf unsern Tag, zunächst langsam, dann in immer rascherem, stetigerem Tempo setzen die Enkel jener starren Ritter und Herren ihre besten Kräfte dafür ein, die alte Schuld zu sühnen, indem sie selbstisches Standesinteresse mit warmem Eintreten für das Wohl des Landes vertauschen. Durch Kirche, Schule und Landverkauf heben sie den gedrückten Bauernstand in immer reicherem materiellen und geistigen Aufschwung zu der respektablen Höhe, von der herab die Agrarfrage, die erste und bedeutendste des Landes, wenngleich nicht als abgeschlossen, so doch als in den wichtigsten und schwierigsten Punkten glücklich gelöst erscheint. Daran noch zu zweifeln bleibt denen überlassen, die aus nationaler Ränkesucht oder sonst unlauteren Motiven jenen „Rest, der noch geblieben“, zu einem baltischen Irland aufzubauschen bemüht sind.
Leider sind in allerletzter Zeit jene unlauteren Elemente in stetigem Wachsen begriffen, und so drängen sich noch zur Stunde von einander wesentlich verschiedene Culturmächte nachhaltig und zäh hervor, einander anfeindend und mit einander um die Herrschaft ringend.[3]
Wir wenden uns nunmehr zu Einzelbetrachtungen der Städte und Ortschaften der Ostseeprovinzen, und da ist es der Vorort baltischen Culturlebens, Riga, welcher zuerst unser Interesse in Anspruch nimmt: Riga der Bischofssitz, Riga die blühende Hansastadt, Riga die Centrale der Provinz. Die drei weit in’s Land und bis an die Mündung der Düna schauenden Thürme der Stadt können als Wahrzeichen dieser dreifachen Bedeutung gelten. Der Dom, dieses älteste von allen monumentalen Bauwerken der Stadt, nach Anlage und Bau-Art zugleich das imposanteste unter ihnen, zeugt noch heute in seiner räumlichen Ausdehnung, seinen Hallen und Kreuzgewölben für die Bedeutung jener bischöflichen Macht, die in der Gründung Rigas durch Albrecht von Buxhövden 1202 die Grundveste schuf für die bleibende Colonisation des Küstenlandes. Die Petri-Kirche mit dem schlanken, hochaufstrebenden Thurme, in welcher zuerst und mit nachhaltiger Wucht die Lehren der Reformation ertönten, gleicht einem Siegesdenkmal des Protestantismus, welcher, abgesehen von einer kurzen Gegenreformation in polnischer Zeit, bleibend das Land eroberte. Endlich die Jacobi-Kirche, gegenüber dem Ritterhause, unweit des Schlosses, noch heute die Kirche der Beamten, des Landadels, in der die feierliche Kanzelrede des Generalsuperintendenten vor Eröffnung des Landtages den Segen des Himmels erbittet für die Berathungen und Beschlüsse der versammelten „Ritter und Landschaft“; sie bildet gleichsam ein Symbol der durch die Selbstverwaltung aufblühenden Macht des Landes.
Außer diesen drei bedeutsamen Baudenkmälern der Vorzeit ist die Auslese klein. Der Pulverthurm, heute nur noch ein monumentaler historischer Schmuck, und das Haus der „Schwarzen Häupter“ am alten Marktplatze ragen als Reste frühester Zeiten charakteristisch aus der Masse der stillosen Bauten des älteren Riga hervor. Erwähnenswerth ist auch das alte Schloß, früher Residenz der Großmeister in Livland, jetzt Sitz des Generalgouverneurs. Was die engere Stadt sonst an bemerkenswerthen Gebäuden aufweist – die Zahl derselben ist nicht gering – gehört der neueren Zeit an, so die im gothischen Stile erbaute anglikanische Kirche, die Häuser der großen und kleinen Gilde, die Börse im Geschmacke der Frührenaissance und das Ritterhaus im florentinischen Palaststile.
Zwischen Stadt und Vorstädten, auf dem Boden der früheren Wälle und Festungsglacis ist in dem letzten Vierteljahrhundert Neu-Riga erstanden. Von dem Basteiberge aus, diesem letzten Ueberbleibsel des niedergelegten Festungsgürtels, übersieht man die stolzen Reihen geschmackvoller, stilvoller Privathäuser, die mit dem Theater, dem Polytechnikum, der Gasanstalt, dem Realgymnasium und anderen stattlichen, dem Gemeinwesen dienstbaren Bauten, durchzogen von dem malerischen Grün parkartiger Anlagen, eine Stadt für sich zu bilden scheinen. Sie reden laut von dem mächtigen Aufschwunge, den Riga genommen, seit die Wälle fielen: sie lassen es begreifen, wie die Einwohnerzahl von 70,000 in circa dreißig Jahren auf rund 170,000 anwachsen konnte. Gleichwohl hat man der hohen Ziffer gegenüber bezüglich des öffentlichen und geistigen Lebens seine Anforderungen und Erwartungen auf ein bescheidenes Maß herabzustimmen. Ein unverhältnißmäßig großer Bruchtheil zählt hier nicht mit, wo es gilt, für geistige Interessen, für Fragen der Kunst und der Wissenschaft ein Publicum zu finden. Ja selbst das bescheidenere Niveau der Durchschnittsbildung des Kleinbürgers wird hier in der zahlreichen russischen und lettischen Bevölkerung wohl nur von einem geringen Procentsatz erreicht. Man findet in jenen außerdeutschen Bevölkerungsgruppen meistens im specifisch russischen und lettischen Vereinsleben volles Genüge und steht allem sonst Gebotenen kühl, wo nicht gar oppositionell gegenüber.
Charakteristisch ist überdies die Vorliebe der bessern Gesellschaft Rigas für lebhaften Verkehr in Familienkreisen, ja eine gewisse Scheu vor dem Besuch öffentlicher Vergnügungslocale überhaupt, und zum Theil wohl hieraus resultirend das überaus rege Vereinsleben, das, theils dilettantisch-künstlerische, theils gesellige Unterhaltung, theils humanitäre Zwecke fördernd, allabendlich den Vereinsgenossen gastfrei Thür und Thor offen hält. In Familie und Vereinen pflegt man vor Allem die Musik; dagegen gelingt es oft selbst Künstlern bedeutenden Ranges nicht, vor gefülltem Saal aufzutreten, und regelmäßig wiederkehrende Symphonie-Abende haben sich noch immer nicht als ein Bedürfniß für die Gesellschaft Rigas herausstellen wollen.
Bei alledem zeigt die Kunstliebe, wo sie einmal über den Dilettanteneifer hinausgeht, eine Intensität, die betont werden muß. Kaum irgendwo ist das Theater – freilich das einzige am Ort – so ausgesprochener Liebling des Publicums wie in Riga. Nicht bittrer konnte darum letzteres betroffen werden, als durch den Brand des Kunsttempels im vorigen Sommer.
Nicht unerwähnt will ich lassen, daß das musikliebende Publicum Rigas am Vorabende eines Ereignisses steht, welches dasselbe mit Recht als ein hocherfreuliches und bedeutsames feiert: Demnächst soll in der Domkirche an Stelle der früheren eine Riesenorgel prangen, die, von vorzüglichster Construction, zugleich wohl die größte der Welt sein wird, da sie, wie verlautet, selbst der hochberühmten Freiburger Orgelschwester noch um einige Register „über“ ist.
Für andere Künste steht der Sinn – unter dem Gefrierpunkt. Insbesondere gilt von der Malerei im Großen und Ganzen noch heute, was jener Beobachter livländischer Sitten und Bräuche vor langen Jahren meinen durfte: es stehe schlimm um die Kunst in einem Lande, in dem man den „Maler“ meistens mit dem Anstreicher verwechsele.
Kommen so die Musen nur gerade auf ihr tägliches Brod, so weist das communale Leben einen ungleich reicheren Haushalt auf. Die bedeutsame Rolle, die Riga in der Geschichte des Landes gespielt, und ihre selbstständige, in sich geschlossene Entwickelung – sie haben in langjähriger Schule ständischen Selfgovernments ein Bürgerthum großgezogen, das sich thurmhoch erhebt über das Niveau gleichartiger Elemente in der Provinz, im benachbarten Polen und im weiten russischen Reiche. Von Alters her und zu allen Zeiten hat sich Riga hervorgethan durch reges Interesse für das Gemeinwohl, durch einen gefesteten gesunden Bürgersinn. Ihm dankt das Gemeinwesen die Stiftungen und Anstalten, deren Zahl Legion ist, ihm die Wittwen- und Waisenasyle, die Menge öffentlicher Bildungs- und Erziehungsstätten – und noch letzthin, beim Zusammenbruch der alten Verfassung und Einführung der neuen Städte-Ordnung nach Muster der in Rußland geltenden Normen, hat dieser Bürgersinn sich glänzend bewährt
[832][833] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [834] und inmitten der Katastrophe das Steuer in fester Hand gehalten, sodaß, statt eines Niederganges oder doch einer zeitweilig unheilvollen Verwirrung, die man für den Verwaltungsapparat befürchtete, dieser vielmehr mit neuer Mannschaft, neuen Mitteln ausgestattet gleichen Zwecken und Zielen dienstbar, geblieben ist wie früher und für segensreiche Förderung des Gemeinwohls nur immer reichern Impuls findet.
Wie Handel und Gewerbe Tag um Tag durch die engen Straßen wogt und lärmt, so hämmert hinter Thür und Wänden stetig und beharrlich das Räderwerk ausdauernder Berufsarbeit, aufopfernder communaler Thätigkeit durch Herbst und Winter und Frühling fort bis zu jenen gesegneten Tagen, da die beliebten „sauren Gurken“ ihr mildes Regiment antreten. Kaum irgendwo aber wird wohl die Sommererholung so heilig gehalten wie hier. Als ein Attentat auf sein innerstes Seelenleben sieht es Jeder an, verlangt man im Sommer mehr von ihm. als daß er zu seinem Theile die Staatsmaschine nur gerade nothdürftig in Gang hält, damit sie bis zu jenem langen Winterbetrieb nicht völlig einroste. Nicht nur von den Lasten des Berufes, auch von Geselligkeit und Vergnügungen nimmt man bei Beginn des Sommers Abschied – man hat, wenn die Mittel es irgend erlauben, nur Sinn für das dolce far niente auf der Villa, vornehmlich am Rigaschen Strande, in den Badeorten Dubbeln, Majorenhof, Bilderlingshof etc., die sich meilenlang an dem hügeligen, bewaldeten Meeresufer hinziehen und in unzähligen, mitten im Kiefernwalde gelegenen „Höfchen“, theils eleganten Villen, theils bescheidenen Miethwohnungen, gegen 40,000 geplagten Städtern, Rigensern und Provinzlern, ein trauliches Sommerheim gewähren. Den Uebergang zu dem „freien Leben, das wir führen“, bildet das Frühlingstreiben im Kaiserlichen Garten, vor Allem in dem mitten zwischen Stadt und Vorstädten belegenen „Wöhrmann’schen Park“. Allabendlich ist hier der Sammelplatz von Hunderten, ja von Tausenden, die sich nach frischer Luft und freier Bewegung sehnen und sich, so gut es geht, mit endlosem Gedränge und unerträglichem Staube abfinden.
Kunterbunt mischt sich das Publicum aus allen Nationalitäten, aus allen Berufs- und Altersclassen. Bei einem Rundgang kann es passiren und passirt nicht selten, daß man Conversationen in acht Sprachen mit anhört: Deutsch, Jüdisch-deutsch, Russisch, Polnisch, Lettisch und Esthnisch, daneben Englisch und Französisch. An drei Abenden in den Spätsommermonaten wird hier der „Hungerkummer“ gefeiert, ein specifisch rigisches Erinnerungsfest an vor grauen Zeiten glücklich überstandene Belagerungs- und Hungersnoth, das sich jedoch durch nichts Charakteristisches auszeichnet. Militärmusik, illuminirter Garten und ein unentwirrbarer Menschenknäuel, mit obstgefüllten Taschen, bilden die ganze Ausstattung des Festes.
Für die entlegenen Theile der Vorstädte respective deren Bewohner sind diese Festtage die regelmäßig wiederkehrenden Rendezvous, an denen sich gute Bekannte alle Jahr einmal wiedersehen. Die Arbeiterbevölkerung waltet in großer Menge vor – von den Holmen, den kleinen in der Düna gelegenen Inseln, wie aus der entfernt gelegenen Moskauer Vorstadt strömen oft wunderliche Gestalten zusammen, die sich sonst nur in den entlegensten Winkeln Rigas auffinden lassen.
Die ausgedehnte Moskauer Vorstadt gewährt überhaupt ein eigenartiges Bild, Vom übrigen Riga räumlich getrennt, erweckt sie in uns die Vorstellung, wir befänden uns in einer mittelgroßen russischen Provinzialstadt, die zufällig die Düna hinabgeschwommen und vor Rigas Mauern haften geblieben. Ueberall erblickt man hier kleine, in bunten Farben gestrichene Holzbauten, von denen jedes dritte oder vierte eine Schenke beherbergt.
Hier finden wir die Siedelungen jener zu der Raskolsecte gehörigen Flüchtlinge, die in den ersten Decennien des Jahrhunderts vor den Verfolgungen im Reiche in Riga ein erwünschtes Asyl fanden: hier halten in überfüllten Schenken und Spelunken alljährlich, sobald die Frühlingswasser stromabwärts treiben, die Strusenschiffer Einkehr, die auf ihren ursprünglichen Fahrzeugen, welche riesenhaften Butten nicht unähnlich sind, an der Dünafloßbrücke ankern, um, nachdem sie ihre Kornschätze vergeben, zu Schaaren in die Waggons dritter Classe gepfercht, den Heimweg anzutreten. Die Dünabrücke, stromaufwärts mit zahllosen Strusen, stromabwärts mit Dreimastern und Schraubendampfern aus aller Herren Ländern umsäumt, gewährt den eigenartigen Anblick grellster Contraste, wie denn in Summa das Leben und Treiben auf dem mächtigen Dünastrome, im Sommer wie im Winter, der nordischen Handelsstadt das charakteristischste Gepräge verleiht: im Winter die Menge flüchtiger Schlitten, die Eisbahnen, auf denen die Stuhlschlitten hin- und herschwirren – im Sommer das belebte Hafenbild. Die meisten Schiffe löschen und laden an den neu ausgebauten, ausgedehnten Kais bei Riga oder in dem zu diesem Zwecke angelegten Vorhafen bei Mühlgraben, etwa auf halbem Wege zwischen Riga und Dünamünde. Und indem wir an den Kais auf- und abwandern, steigt dort die Rauchsäule des Dampfers „Fellin“ auf, der uns zu einer flüchtigen Tour einladet. Wir sagen Riga Valet, und durcheilen im Fluge die kleinen Städte Livlands.
Zunächst erreichen wir Pernau, die an der gleichnamigen Bucht gelegene Handelsstadt mit 13,000 Einwohnern, kaufmännischen Kreisen durch den Export von Flachs und Leinsaat wohlbekannt. Pernau weist mehrere altbewährte Handelsfirmen auf, deren Chefs neben solider Geschäftsführung auch hanseatischem Wohlleben ein respectables Conto frei halten. Die unscheinbare freundliche Stadt hat sich bislang das Gepräge behaglicher Wohlhabenheit bewahrt: ihre Tage dürften indeß gezählt sein, wenn der langersehnte Schienenstrang, der das Hinterland Fellin und in weiterer Folge über Pleskau das russische Kornland mit der Hafenstadt verbinden soll, noch für die nächsten Jahre hinaus nur ein frommer Wunsch bleibt. Das ganze Land krankt an der Unterbindung der modernen Verkehrsadern, die, Esthland und Curland durchströmend, im Norden nach Reval und Baltischport, im Süden nach Riga und Libau ausmünden, das dazwischen liegende Livland aber unberührt lassen.
Fellin im Norden Livlands, an dem Hügelufer eines hübschen Landsees gelegen, mit den malerischen Ruinen des alten Heermeisterlichen Schlosses, und Wenden in Südlivland, gleichfalls durch seine reizende Lage, seine Burgruinen zu den anmuthigsten Städtebildern zählend, erfreuen sich seit Jahrzehnten des besten Rufes als beliebte und bewährte Erziehungsstätten der Landesjugend. Im Laufe der letzten Jahre sind, hier wie dort, die renommirten Privatanstalten durch Landesgymnasien ersetzt worden, die zum allergrößten Theil aus Mitteln des Landadels erhalten werden und alljährlich ein ansehnliches Contingent ihrer Zöglinge zur Hochschule nach Dorpat entsenden.
Klein-Wolmar, am Ufer der livländischen Aa gelegen, und das regen Binnenhandel treibende Walk sind durch ihre Lage im Herzen der Provinz dazu ausersehen, alljährlich abwechselnd den Sammelort für die Synoden abzugeben, zu denen sich die lutherischen Geistlichen des Landes nahezu vollzählig einzufinden pflegen.
Erwähnen wir noch des Städtchens Lemsal, zehn Meilen von Riga, und des durch den souverainen Willen der Kaiserin Katharina erstandenen Werro, so haben wir die Reihe der kleinen Städte Livlands erschöpft, die, dünngesäet, auf einem Territorium zerstreut liegen, das an Ausdehnung größer ist als die gesammte Schweiz und dreimal so groß wie das volkreiche Königreich Sachsen.
Wir wenden uns nun der nächst Riga größten Stadt des Landes zu, die an Bedeutung in gewissem Sinne noch die Centrale der Provinz überstrahlt: der 30,000 Einwohner zählenden Universitätsstadt Dorpat. Die hier blühende deutsche Hochschule zählt nicht zu Livland allein: sie gehört den baltischen Landen gemeinsam an. Mehr, als das sonst wohl der Fall zu sein pflegt, gebührt gerade ihr, als der Pflanzstätte allen geistigen Lebens in Livland, Esthland und Curland, der Name einer Landesuniversität: denn was in den Provinzen an Pastoren, Aerzten, Beamten, Richtern und Advocaten wirksam ist – fast ausnahmslos haben diese Männer sich ihre wissenschaftliche Bildung von der „alma mater Dorpatensis“ geholt.
Wir stehen am Ende unserer Betrachtung. Viel erübrigt noch von dem Leben, den Verhältnissen des „flachen Landes“ zu sagen, doch läßt sich nicht einmal eine nur flüchtige Umschau hierüber in den engen Rahmen dieser Skizze zwängen. Nur soviel sei hier bemerkt:
Livland, zur Hälfte getheilt in eine esthnische und lettische ackerbautreibende Landbevölkerung, erfreut sich von Jahr zu Jahr zunehmenden Wohlstandes. Die Scholle ist zur größeren Hälfte erbliches Eigenthum der Bauern, die seit der freisinnigen Landgemeinde-Ordnung vom Jahre 1866, unabhängig vom Landadel, in eigenen Gemeinden ihre communalen Angelegenheiten ordnen. Zur Zeit freilich gährt die jungesthnische und junglettische Bewegung verhängnißvoll und greift, von gewissenlosen Führern geschürt, [835] immer bedrohlicher unter den besitzlosen Classen des bäuerlichen Proletariats um sich.
Wenn es aber erst wieder gelingt, die unheimliche Beleuchtung der Brandfackel zu löschen, dann wird helles Sonnenlicht erkennen lassen, wie für Land und Leute alle Bedingungen vollauf gegeben sind zu friedvollem ersprießlichen Nebeneinander, in welchem jede Berufsclasse, jede Bevölkerungsgruppe ihre ganze Kraft einsetzen darf und soll für das Gedeihen und die Wohlfahrt des Landes.
Von Bremer Kaufleuten ward der baltische Küstenstrich dem europäischen Handel gewonnen – das Kreuz des livländischen Ordens war das Zeichen, unter dem die Cultur siegte. Siebenhundert Jahre sind seither in’s Land gegangen. Die materielle Existenz, die coloniale Cultur – sie stehen und fallen noch heute mit der größeren und geringeren Erkenntniß der Bedeutung Livlands als des Mittlers ost- und westeuropäischer Interessen.
Die Stürme der Prairien.
Mit dem allmählichen Vorwärtsschreiten der weißen Ansiedler Amerikas gen Westen, mit ihrem stetigen Vordringen in die Prairien erhielt man mehr und mehr Nachrichten und Aufschlüsse über die dort waltenden großartigen und verderblichen Witterungserscheinungen, die man früher weniger beachtet hatte, weil sie der öden Prairie keinen erheblichen Schaden zuzufügen vermochten, jetzt aber für die Werke der sich eben verbreitenden Cultur mitunter zu wahren Heimsuchungen wurden.
Den Schauplatz dieser furchtbaren Naturerscheinungen, der unter dem Namen Tornados bekannten Wirbelwinde, der Wolkenbrüche, der Cyclone und Schneestürme, bilden am häufigsten die Territorien Montana, Dacotah, Minnesota, Nebraska, das mittlere Iowa, Kansas, Illinois und Ohio. Stürme, die an Heftigkeit kaum ihres Gleichen haben, treten hier fast alljährlich auf; sie haben sich namentlich in den beiden letzten Jahren häufig eingestellt und eine verheerende Kraft entfaltet.
Das Schicksal der deutschen Ansiedelung Neu-Ulm in Minnesota, welche im vergangenen Jahre (1881) durch einen Tornado fast völlig zerstört wurde, ist auch in Europa bekannter geworden; dasselbe Schauspiel wiederholte sich im gegenwärtigen Jahre, wo eine Anzahl von Städtchen in Iowa auf das Schwerste heimgesucht wurde. Nicht selten, namentlich in den Monaten Mai und Juni, sind diese Stürme von schwerem Hagelschlage begleitet, und vielfach hat man unter den Schlossen einzelne von einem Umfange von drei bis sechs, ja von zwölf Zoll gefunden.
Die westlichen Tornados, deren Gürtel ein schmaler zu sein scheint, obwohl ihre Ausdehnung mitunter beträchtlich ist, entstehen urplötzlich und verrichten ihr Zerstörungswerk in wenigen Minuten. Der Sturm erscheint in Gestalt einer sich pfeilschnell umdrehenden Säule, und ist bei ihm die wirbelnde Bewegung das charakteristische Moment. In wie hohem Grade aber jene Regionen alle Bedingungen zur Bildung solch schwerer Stürme und Gewitter erfüllen, lernte ich während meiner einmonatlichen Mississippifahrt von St. Paul bis Cairo, in Gesellschaft des Capitain Boyton, kennen, während welcher sich fast tagtäglich ein, mitunter zwei oder drei Gewitter über uns entluden. Ja an einem Tage, am 18. Juni, hatten wir auf der Strecke von Louisiana bis Alton sogar fünf Gewitter zu verzeichnen, die sich ohne Ausnahme durch ungemein heftige elektrische Entladungen, kolossale Regengüsse und starke Stürme charakterisirten.
Nirgendwo ist ein derartiger „waterspout“ gewaltiger, grausiger und unheimlicher als auf den öden Prairien; nirgendwo – es sei denn auf dem Ocean – ist man sich seiner irdischen Nichtigkeit, nirgendwo der Nähe und Macht des Schöpfers bewußter, nirgendwo kann das Krachen, das dumpfe, lang anhaltende Rollen des Donners furchtbarer, erschütternder, der Blitz greller, blendender erscheinen, als eben auf den Prairien Amerikas.
Der Effect der während dieser Regenstürme in kurzer Zeit auf die Prairien niederschießenden, schier unglaublichen Mengen Wassers, die nach verschiedenen Messungen in einer Stunde manchmal 2½, 3 und sogar 4 Zoll betrugen, ist ein ebenso eigenartiger wie grauenhafter.
Man vergegenwärtige sich, daß die ganze Prairie durchschnitten ist von tiefen Rinnen und Strombetten, die während des Sommers meist ausgetrocknet sind! Ereignet sich nun in einer solchen Gegend einer dieser Wolkenbrüche, so ergießen sämmtliche Schluchten und Engpässe die in denselben angesammelten Wasser fast auf einmal in das Hauptsystem der Wasserläufe der Prairien; Vertiefungen in der Erdoberfläche, während des trockenen Wetters kaum bemerkbar, verwandeln sich in wenigen Augenblicken in wüthende Bäche; durch die Schluchten und Rinnen schießen unpassirbare Flüsse dahin, und meilenweite Thäler sind viele Fuß hoch überschwemmt. Haben Prairiereisende das Nahen eines solchen Unwetters in Sicht, so vermögen sie zumeist ohne große Schwierigkeit sich auf die Ankunft desselben vorzubereiten und einen genügende Sicherheit bietenden Platz zu erreichen; viel kritischer aber mag sich die Sache gestalten, wenn plötzlich, ohne ein vorheriges Anzeichen, ohne daß der Himmel durch eine Wolke getrübt wäre, wie mit einem Zauberschlage gewaltige Fluthen die ausgetrockneten Strombetten hinabgebraust kommen und Alles rings umher zerstören und verwüsten.
Dieses geheimnißvolle plötzliche Anschwellen der Wasserläufe, eine dem erfahrenen Trapper sehr wohlbekannte Erscheinung, entsteht durch den Niedergang von Wolkenbrüchen in den oberen Stromgebieten. Ein amerikanischer Officier, Col. Dodge, welcher ein derartiges Phänomen erlebte, beschreibt dasselbe also:
„Meine Compagnie lagerte auf einer Uferbank, die sich gegen 25 Fuß über das ausgetrocknete, sandige Bett eines Stromes erhob. Lesend lag ich Nachts in meinem Zelte, über welchem sich ein klarer, sternenbesäeter Himmel wölbte. Da plötzlich hörte ich in der Ferne einen seltsamen Laut, ein Sausen und Rauschen, das bald mehr, bald weniger deutlich, mit erschreckender Geschwindigkeit uns näher kam und schnell an Macht gewann.
Die Ursache dieses Geräusches augenblicklich erkennend, eilte ich aus meinem Zelte und placirte mich an den äußersten Vorsprung der den Strom überhangenden Uferbank. In wenig Minuten rollte eine lange zu Schaum gepeitschte Wassermasse mit zischendem und sausendem Geräusch über den dürren Sand in der Tiefe, und kaum sechszig Fuß hinter dieser Welle folgte eine mindestens vier Fuß hohe Masse Wassers, welche die ganze über hundert Fuß weite Schlucht überschwemmte.
Die Front dieser Masse war nicht zu einer Welle abgerundet, sondern erhob sich gerade aufwärts – eine vollendete Wand von Wasser, die immer höher und höher schwoll und Baumstämme, Sträucher, Felsblöcke und mächtige Stücke Erde mit sich riß.
In zehn Minuten hatte das Wasser zu meinen Füßen eine Tiefe von fünfzehn Fuß und der reißende Strom, das jenseitige niedrige Ufer übertretend, eine Breite von einer halben Meile erreicht. Für drei Tage war derselbe unpassirbar, und es dauerte einen vollen Monat, bis er zu seinem Normalstand zurückkehrte.“
Gottlob sind derartige Ereignisse auch in den häufiger von solchen Naturerscheinungen betroffenen Gegenden selten.
Führen Tornados und Wolkenbrüche während der Sommermonate das Regiment, so treten während der kälteren Jahreszeit die nicht minder berüchtigten Schneestürme an ihre Stelle.
Wochenlang sind die Tage klar und heiter gewesen; die Luft ist rein und trocken, der Himmel wolkenlos – nichts verkündet das Nahen des schlimmen Gastes, vor welchem selbst der wetterfeste Dacotah-Mann den größten Respect hat.
Da, als abermals eine leichte Röthe im Osten das Aufsteigen der Sonne verkündet, umzieht sich der Horizont allgemach mit grauen, schweren Dünsten, die langsam immer näher schleichen. Gegen Mittag senkt sich über die fernen Hügel ein weißer Nebel, die Umrisse derselben leicht verhüllend. Langsam und unmerklich kriecht der Nebel die Flußthäler entlang; Alles rings umher ist unheimlich still, nirgendwo Leben, nirgendwo Bewegung; nur hier und da weht leise schon eine feine Flocke hernieder. Sie schwebt zur Erde, wie die Blüthe eines Baumes, kaum getragen von einem Hauch. Der erfahrene Trapper aber versteht diese Zeichen und eilt, so schnell wie möglich irgend eine geschützte Niederung, eine [836] Schlucht oder das ausgetrocknete Bett eines Stromes zu erreichen. Nicht lange mehr läßt der Sturm auf sich warten. Der Flocken und Flöckchen werden mehr und mehr; ihre Flugrichtung wird eine immer verticalere, je mehr sich der Wind zum Sturm steigert. Hat derselbe seinen Höhepunkt erreicht, so werden die feinen Flocken mit einer solchen Kraft getrieben, daß die das Gesicht treffenden Theile gleich ebenso vielen Nadelstichen prickeln.
Man hat Beispiele, daß Farmer, die während des Unwetters von ihren Wohnhäusern nur bis zu den Ställen zu gehen versuchten, den Weg verloren, in die Prairie geriethen und wenige Schritte von ihrem Herde elendiglich zu Grunde gingen.
Die Gefahr beruht weniger in der mit der Naturerscheinung verbundenen Kälte als in der ungemeinen Schärfe des Windes, welcher gleich einem Messer schneidet und alle Lebenswärme aus den Gliedern treibt. Ein gewöhnlicher Winterüberzieher schützt nicht mehr als ein Fetzen Mousselin gegen das Wüthen des „Blizzard“, der, von den eisigen Gebieten der nördlichen britischen Besitzungen und Alaska kommend, in der Regel drei Tage lang aus dem Norden bläst, dann plötzlich umschlägt und wieder drei Tage lang mit ungeschwächten Kräften sein Wüthen von Süden her fortsetzt.
Glücklicher Weise treten gewöhnlich diese äußerst schweren „Blizzards“ nur etwa fünf- bis sechsmal während eines Winters auf; ja im vergangenen Winter wurde Norddacotah nur von einem einzigen in den Monat März fallenden Schneesturm betroffen; dahingegen hat sich der Winter 1880 bis 1881 mit seinen sechszig schweren Stürmen für immer denkwürdig in die Chroniken des amerikanischen Nordwestens eingeschrieben. Der erste Schnee fiel früh, im October, und von dieser Zeit bis zum April führte der Winter ein ganz unerhört strenges Regiment. Ueberall lag der Schnee sechs bis zwanzig Fuß hoch; einige Schneewehen erreichten sogar eine Stärke von über fünfzig Fuß. Weit und breit war Alles unter diesen enormen Massen begraben, die Menschen litten schrecklich, und die Thiere starben zu Tausenden; jede Verbindung mit der Außenwelt war abgeschnitten, und die Passagiere der Eisenbahnzüge waren nicht selten inmitten der ödesten Prairien unter den größten Entbehrungen zu tagelanger Haft verurtheilt.
Welche Macht und Stärke die ungeheuren Schneemassen besaßen, erhellt aus der Thatsache, daß ein 48,000 Pfund schwerer Pflug, der noch dazu mit 80,000 Pfund Eisen belastet und von sechs hinter einander gespannten Locomotiven getrieben wurde, vollständig unfähig war, eine ihm entgegenstehende Schneewand zu durchbrechen. Als die furchtbare Attacke geschehen und die Werkleute den Pflug näher besahen, fanden sie, daß derselbe mit all seinen 128,000 Pfund Eisen wie eine Feder zurückgeschlagen, über die Schneewehe hinweggeglitten und gegen einige Bäume geschleudert worden war, wo die Maschinerie bis zum Wegschmelzen des Schnees ausruhen mußte. Die Schneewehe war zweiundfünfzig Fuß hoch.
Einige Bahngesellschaften suchten ihre Linien frei zu halten, indem sie Tausende von Leuten anstellten, die den Schnee in große Blöcke von der Breite des ganzen Bahnbettes und von zwölf Fuß Länge zu zerschneiden hatten, welche dann, durch Stricke und Planken zusammengehalten, mittelst einer vorgespannten Locomotive an weitere Oeffnungen geschafft wurden, um daselbst aufgebrochen und beseitigt zu werden.
So viel für heute über die Stürme der Prairien[WS 1]! Es wird genügen, um dem Leser ein Bild zu entwerfen von den Schrecknissen, mit denen die Natur die Bewohner jener Gegenden bedroht. Wohl uns, die wir einen freundlicheren Himmelsstrich bewohnen!
Blätter und Blüthen.
Der Tschuktschenhund in dem Hausthiergarten der Universität Halle. (Mit Abbildung S. 829.) Das vielseitige Interesse, welches der von der geographischen Gesellschaft zu Bremen dem obengenannten Hausthiergarten überwiesene Tschuktschenhund erregte, veranlaßt uns, dieses seltene Exemplar unseren Lesern in einem sehr getreu ausgeführten Holzschnitte vorzuführen. Der Tschuktschenhund zu Halle ist weiblichen Geschlechts und wurde im Alter von einem Jahre von den Herren Gebrüder Dr. Krause, welche im Auftrage der Bremer geographischen Gesellschaft zu naturwissenschaftlichen und geographischen Zwecken die Küstengebiete des Beringsmeeres bereisten, auf der Tschuktschenhalbinsel mit noch einem zweiten, männlichen Exemplare erworben und von San Francisco aus mit dem Bremer Schiffe „Anna“, Capitain Kruse, nach Europa gesandt. Der männliche Hund starb während der langen Seereise, bei welcher der Aequator zweimal passirt werden mußte, das weibliche Thier dagegen überwand die Schwierigkeiten der Reise sehr gut. Ueber dasselbe ertheilte uns Herr Professor Dr. Julius Kühn, Director des landwirthschaftlichen Instituts der Universität Halle, bereitwilligst nähere Auskunft.
Darnach ist der am Widerrist und am Kreuz gleichmäßig 48,5 Centimeter hohe Hund schwarz und weiß gefleckt, das Schwarz mit einem leichten Anflug von Braun, der hintere Rand des Sprunggelenks rehbraun.
Die Beschaffenheit der einzelnen Körpertheile ergiebt sich aus der Abbildung; insbesondere ist auf die spitze Schnauze hinzuweisen. Ihrer ganzen Bildung nach gehören die Tschuktschenhunde zur Rassengruppe der „Spitze“ und kommen im Wesentlichen mit dem Eskimohunde überein, sind jedoch etwas kleiner. Sie dienen wie dieser, den Bewohnern ihres Heimathlandes durch ihre vorzügliche Zugkraft und haben für dieselben einen unschätzbaren Werth; sie bilden ihr einziges, aber auch unentbehrliches Hausthier. Es sind dies die mit den Eskimos verwandten sogenannten „seßhaften“ Tschuktschen, die auch als Fischer-Tschuktschen oder Namollos bezeichnet werden und die sich fast allein von Fischen ernähren, auch ihre Hunde ausschließlich mit Fischen füttern. Die Tschuktschenhunde bellen nicht, sondern heulen nur. Bei Kreuzungen scheint jedoch diese Eigenthümlichkeit verloren zu gehen. Der abgebildete Tschuktschenhund warf nämlich am 20. Juli fünf Junge, von denen zwei starben, während drei vortrefflich gedeihen. Schon der Tragezeit nach können diese jungen Thiere nicht wohl reinblütig sein, weil der männliche Tschuktschenhund während der Seereise frühzeitig starb. Bemerkenswerth ist nur, daß das eine männliche Exemplar der Jungen bereits zuweilen ein deutliches Bellen wahrnehmen läßt.
Herr Professor Dr. Kühn macht uns noch darauf aufmerksam, daß der Hausthiergarten des landwirthschaftlichen[WS 2] Instituts zu Halle keineswegs zur Aufgabe hat, zahlreiche Hunderassen zu halten; nur Rassen von besonderem physiologischem oder züchterischem Interesse werden beiläufig mit aufgenommen – die wesentliche Bestimmung dieser Einrichtung beruht vielmehr in der Haltung und Züchtung der landwirthschaftlich wichtigsten Hausthiere, wie dies aus folgenden Ausführungen des Herrn Professor Dr. Julius Kühn hervorgeht:
„Das landwirthschaftliche Institut der Universität Halle besitzt in seinem Hausthiergarten ein eigenartiges, anderen Lehrstätten der Landwirthschaft fehlendes Unterrichtsmittel, dessen Werth für die Behandlung der Thierzuchtlehre nicht hoch genug anzuschlagen ist. Es sind hier auf einem Areale von circa einem Hectare die mannigfaltigsten und wichtigsten Rassen des Rindes, des Schafes, der Ziege etc. in sorgfältig ausgewählten Originalexemplaren vertreten, deren unmittelbare Anschauung und vergleichende Betrachtung weder durch Vorführung von Abbildungen noch durch Demonstrationen an plastischen Nachbildungen vollständig ergänzt werden kann.
Eine solche Vereinigung von Repräsentanten möglichst zahlreicher, selbst der geographisch entfernt verbreiteten und zum Theil auf größeren Viehausstellungen nur selten oder gar nicht zu beobachtenden Rassen kann auch nicht ersetzt werden durch die noch so bedeutenden Viehheerden eines mit einer Lehrstätte verbundenen Gutes. Die Rücksicht auf möglichsten Reinertrag des Betriebes gestattet hier nur die Haltung weniger, der besonderen Oertlichkeit entsprechender Rassen. Was damit für die Zwecke der praktischen Demonstration gewonnen wird, ist in gleicher Weise durch Excursionen nach den einem landwirthschaftlichen Institute benachbarten Gütern zu erreichen. Sicher ist der dadurch erzielte Gewinn für Ausbildung des Urtheils über einzelne Zuchtrichtungen hoch anzuschlagen, aber zur Erweiterung des Blickes für Rassengestaltung, zur Schärfung des Beobachtungstalentes und Aneignung eines umfassenderen, selbstständigeren Urtheils auf dem Gebiete der Thierzüchtung hat ein Hausthiergarten, wie er in Halle zuerst zur Ausführung gelangt ist, eine eigenthümliche, durch nichts Anderes zu ersetzende Bedeutung. Kann hier die einzelne Rasse auch immerhin nur durch wenige Individuen vertreten sein, so ermöglichen dieselben doch das Auffassen und die Unterscheidung des Typischen der Bildung und eine vorurtheilslose Würdigung der mannigfaltigen Rasseformen. Nur die vergleichende Betrachtung vieler Rasseformen vermag das Urtheil über Umfang, Richtung und Nutzbarkeit der Variabilität unserer Hausthierarten recht zu entwickeln und zu befestigen.
Ein solcher Rassengarten dient aber nicht nur in trefflichster Weise den Unterrichtszwecken, sondern wird sich auch für die Fortbildung und wissenschaftliche Fundamentirung der Lehre von den Rassen und von der Vererbung sowie für anderweitige zootechnische Studien in hohem Maße nutzbar zeigen – unser Hausthiergarten ist zugleich die erste Versuchsstätte für systematische thierzüchterische Forschung. An dieser sollen ebenso praktisch bedeutsame, wie streng wissenschaftliche Fragen ihrer Lösung entgegengeführt werden. Eine Reihe wichtiger Untersuchungen, insbesondere über Bastardzucht, ist bereits zu theilweisem Abschluß gebracht worden.“
Wir glaubten unseren Lesern diese gelegentlichen Ausführungen über eine in ihrer Art einzige Institution nicht vorenthalten zu sollen, weil die in dem Hausthiergarten des landwirthschaftlichen Instituts der Universität Halle ausgeführten Untersuchungen zum Theil von allgemeinerer Bedeutung sind; steht doch die Geschichte unserer Hausthierrassen in den intimsten Beziehungen zur Anthropologie und Geschichte der Menschheit, namentlich zur Urgeschichte derselben.
M. F. in Bückeburg. So ist es! Hans Hopfen’s soeben erschienenen „Gedichte“ kamen, wie so viele andere Neuigkeiten, für die Besprechung auf unserm Weihnachtsbüchertische leider um ein paar Tage zu spät. Wir werden aber baldigst Gelegenheit nehmen, unsere Leser mit diesen zu einem großen Theile wahrhaft genialen Poesien des geistvollen Dichters bekannt zu machen. Das elegant ausgestattete Buch gehört in jedem Sinne in die Reihe der für den Festtisch besonders empfehlenswerthen Novitäten.
- ↑ „Woran wir leiden“. Freie Betrachtungen und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule. Düsseldorf 1882.
- ↑ Herr Amtsrichter Hartwich hat neuerdings in einer öffentlichen Erklärung ausdrücklich constatirt, daß der Erlaß des Ministers nicht etwa durch seine Broschüre und die dadurch hervorgerufene Bewegung veranlaßt worden, vielmehr von langer Hand im Ministerium vorbereitet gewesen sei. Wir wollen übrigens an dieser Stelle nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß der Stadt Düsseldorf das Verdienst gebührt, diese hochwichtige Frage schon vor einem Jahrzehnt angeregt zu haben. Damals war es der „Düsseldorfer Anzeiger“, der in einer Reihe von Artikeln für eine größere Pflege der körperlichen Ausbildung unserer Jugend eine Lanze brach. Leider verhallte damals die vereinzelte Stimme völlig, heute aber bieten die gemeinsame Wirksamkeit des ministeriellen Erlasses und die unseren privaten Kreisen entsprungenen Bestrebungen begründete Aussicht auf Erfolg.
- ↑ Wem es darum zu thun ist, tieferen Einblick in die ethnographischen und socialen Zustände des Landes zu gewinnen, den verweisen wir auf: „Die baltischen Provinzen Rußlands von Julius Eckart“. (Leipzig, Duncker und Humblot 1868.)