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Die Gartenlaube (1881)/Heft 39

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[637]

No. 39.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Für Mutter und Sohn folgten nun köstliche Tage. Bloßes Beisammensein ist für die Liebe, welchen Charakter sie auch trage, schon die höchste Glückseligkeit, was Siegmund aber besonders das Herz leicht und froh machte, war die Wahrnehmung , daß seine Mutter nunmehr begann, den Schleier, der bisher auf allen ihren Lebensbedingungen gelegen, für ihn allmählich zu lüften. So empfing er denn aus ihrem Munde nicht nur eine Aufklärung über die Stellung, welche Genoveva in den letzten Jahren im Clairmont’schen Hause eingenommen, sondern auch Mittheilungen über eine Wendung, die für sein und seiner Mutter Leben von der größten Wichtigkeit war: Frau von Clairmont war gestorben; nach jahrelangem Kränkeln hatte sie endlich die Ruhe gefunden, die ihr zeitlebens nicht beschieden gewesen. Clairmont, ein Lebemann, stets daran gewöhnt, sich inmitten reicher äußerer Formen zu bewegen, hatte bei dem andauernde Leiden seiner Gattin einer Persönlichkeit bedurft, welche fähig war, an Stelle der Kranken das Haus zu repräsentiren und die ihn ermüdende Leidende zu beschwichtigen. In Genoveva war ihm geworden, was er gesucht, und sie selbst hatte es sich durch Uebernahme dieser Stellung zur Aufgabe gemacht, einerseits ihrem Sohne die nöthigen pecuniären Mittel zu schaffen, andererseits aber Frau von Clairmont eine freundschaftliche Stütze zu sein. Nun hatten sich die müden Augen der kranken Frau geschlossen. Herr von Clairmont hatte seiner Verwandten eine nahezu fürstliche Jahressumme als persönliches Einkommen gewährt und sich erboten, ihren Sohn zum künftigen Erben seiner ganzen Habe zu bestimmen, wenn Genoveva einwillige, sein Haus ferner zu führen. So war Mutter und Sohn mit einem Schlage eine sorgenlose Zukunft eröffnet worden.

Siegmund sah seine Mutter nicht im Banne einer demüthigenden Lage, wie er gewähnt hatte sie zu finden. O nein – vornehm und ruhig, wie sie ihm all das mitgeteilt, mußte ihre Stellung sein.

So flohen die Tage den glücklich Vereinten froh dahin. Inzwischen war Antwort auf die Briefe eingelaufen welche Siegmund an den Oberst Friesack und Max gerichtet hatte, und zugleich auf ein Schreibe Fügen’s, in welchem er im Auftrage Genoveva’s das durch ein schon verjährtes Ungefähr veranlaßte Fehlen von Personalpapieren berührt hatte, wofür als Ersatz nur der in Genoveva’s Besitz befindliche Kaufvertrag der Moosburg, welcher auf den Namen Riedegg lautete, als Identitätsbeleg angeboten werden konnte. Des Obersten Antwort lautete durchaus befriedigend, und er stellte Siegmund den Eintritt als Avantageur in sein Regiment frei, sobald dieser es wünsche. Max schrieb in hellem Jubel. Fügen theilte die zufriedene Stimmung, welche der Brief des Obersten hervorgerufen nur zuweilen; denn kein Mensch, auch der Beste nicht, verwindet es leicht und schnell, sich da, wo er mit voller Hingabe geliebt, nicht nur äußerlich, sondern innerlich als fortan überflüssig zu empfinden. Es schmerzte ihn, daß Genoveva’s Einwilligung in Siegmund’s Berufswechsel ohne jeden Rückblick auf das kostbare Aufgegebene stattfand, und ein gewisses Gefühl des Gekränktseins gab ihm Siegmund gegenüber eine Zurückhaltung, einen fremderen Ton. In solcher Stimmung, welche Fügen mehr und mehr von den beiden Menschen entfernte, die er so herzlich liebte, suchte und fand er bei Jana Trost, obgleich er auch an dieser die gewohnte Heiterkeit, das ihm so wohlthuende innere Genügen vermißte.

Es mochten etwa acht Tage des auf sechs Wochen geplanten Zusammenlebens vergangen sein, als Fügen eines Abends, nachdem er Jana vergebens überall gesucht hatte, diese im Musikzimmer in Thränen fand. Sein theilnehmendes Fragen löste ihr das Herz, und sie schüttete ihm ihre heimliche, täglich wachsende Sorge um Maxi aus: Das Mädchen sei vom Tage des Alpbachsturzes an wie im Fieber und müsse sich irgend einen Schaden zugezogen haben. Krank sei sie sicher, sehr krank; nicht nur das Fieber deute darauf hin – ihr ganzes verändertes Wesen spreche dafür, und wer sie genauer beobachte, könne gar nicht verkennen, wie schlimm es um sie stehe. Dazu sei sie unstät und hastig geworden wie nie zuvor; ihr ganzes Wesen habe etwas Fieberisches, Unruhiges, und das mit anzusehen, presse ihr, der Jana, schier das Herz vor Weh aus dem Leibe. Ach, wenn sie nur helfen könnte, daß das Mädchen ihr gesunde und wieder die Alte werde, aber damit sei es nichts; sie sei der Maxi gegenüber ohnmächtig; sie habe aus das Mädchen jeden Einfluß verloren; denn trotz Bittens und Befehlens daheim zu bleiben, verschwinde sie Tag für Tag in unbewachtem Augenblicke und laufe trotz ihres Hustens und Fieberns in die Mühle hinab, um sich nach der Kranken umzusehen.

„Niemand vermag mehr ’was über die Maxi,“ schloß Jana ihre Herzensergießung, „nicht ich und mein Bruder ebenso wenig. Denn daß sie sich, wenn sie drunten ist, jedesmal mit Lois zankt, merke ich alle Tage. Und obgleich Der davon abgerathen, bin ich doch jetzt der Ueberzeugung, daß es am besten ist, ich gebe die Maxi der gnädigen Frau mit. So wie sie sich jetzt anläßt, kann [638] ich ihr nichts Gutes mehr thun – ach! sie hat von jeher nur ihrem eigenen Sinne folgen mögen.“

„Sie haben Recht, liebe Jana,“ stimmte Fügen zu, „da Sie selbst davon reden, will ich Ihnen nur ganz offenherzig gestehen daß mir des Mädchens Art gar nicht gefällt. Es wird ihr sicher gut thun, unter fremde Leute zu kommen, wo sie merken wird, was dabei herauskommt, allen Launen nachzugeben. Führen Sie also getrost Ihren Vorsatz aus! Aber Sie, Jana?“

Ihr trotz der entflohenen Jugend immer noch lieblicher Kopf neigte sich tiefer.

„Es wird schon gehen –“ sagte sie.

Fügen ergriff ihre Hand, die im Begriff war, die nassen Augen zu trocknen.

„Liebe, theure Jana, ich trage schon seit manchem Jahr einen Wunsch mit mir herum. Lassen Sie ihn mich endlich aussprechen! Wir werden nächstens alle Beide allein sein: der Siegmund geht unter die Soldaten und die Maxi hinaus in die weite Welt. Da wird es uns recht einsam werden, und das könnte so anders, so gut sein, wenn Sie sich entschließen möchten, als meine liebe Hausfrau zu mir zu ziehen –“

Jana wollte ihn unterbrechen, aber eine Bewegung seiner Hand drängte bittend ihr Wort zurück, indem er fortfuhr:

„Wir haben ja schon einmal, vor manchem Jahr, von Aehnlichem gesprochen, und damals – Sie meinen am Ende, diese Thorheit säße noch in irgend einem Winkel meines Kopfes oder Herzens? O nein, Jana, das müßten Sie eigentlich selbst ganz genau wissen. So oft ich herkam, saß mir die Frage auf den Lippen, die ich eben an Sie stellte, aber ich weiß nicht, in Ihrer ganzen Art lag immer etwas, das mich nicht damit hervorkommen ließ. Jetzt aber, scheint mir, wäre die rechte Zeit da. Wer braucht Sie hier noch? Und ich brauchte Sie gar nöthig – das kann ich Ihnen versichern“

Nun rollten die zurückgehaltenen Tropfen in rascher Folge aus Jana’s lieben Augen nieder. Nur ein trauriges Kopfschütteln gab zuerst Antwort; endlich rang sich das Wort hervor:

„Es ist nicht möglich – o, fragen Sie mich nicht warum, aber glauben Sie mir: es ist niemals möglich – nie!“

Er blickte sie unter den buschigen Brauen hervor fast zürnend an, als er aber ihre stehend gegen die Brust gedrückten Hände sah und ihren angstvollen Augen begegnete, murmelte er nur ein paar undeutliche Worte in sich hinein und setzte sich mit raschem Abwenden an den Flügel, dessen stürmische Accorde noch hallten, als Jana schon das Zimmer verlassen hatte.




22.

Der Rückfall, den die Müllerin erlitten, war heftig aufgetreten, aber nur von kurzer Dauer gewesen; schon saß sie wieder im alten Großvaterstuhle, und der Doctor hatte heut erklärt, er brauchte nun nicht mehr zu kommen. Trotzdem war der Blick, mit dem Lois sie betrachtete, nicht ohne Sorge. Seit dem Ableben des Vaters war die Mutter sehr verfallen, ob nur aus Leid, oder weil es sie zu viel anstrengte dem Anwesen nun allein vorzustehen, ließ sich kaum sagen. Während er neben der Schlummernden saß und dem nachsann, gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf – sie spannen sich bis zu dem Nachmittage auf der Moosburg zurück, wo er seiner Schwester Jana zum ersten Male seine heiße Sehnsucht bekannt, Priester zu werden, und sie ihn so eindringlich daran mahnte, was er für sich und die Seinen aufgab, wenn er bei diesem Wunsche beharren wollte. „Aufgab!“ Sein Kopf senkte sich und die Gedanken flossen in einander, bis er von nichts mehr wußte als von schneidendem Weh. Die Mutter schlug die Augen auf und sah mit unbehaglichem Ausdruck um sich.

„Bist da, Lois?“ fragte sie dann mit ihrer schwachen Stimme, „sonst Keines? Mir hat gerad’ geträumt, die Maxi wär’ wieder da.“

Lois stand auf, um der Mutter den Trunk zu holen, der ihr noch verordnet war.

„Heute kommt sie nicht – sei ruhig!“

„Was hat sie mit Dir, Lois?“ fragte die Kranke. „Mir gefällt das nicht – meinetwegen kommt sie nicht alle Tage daher – und schau nur, da ist sie doch wieder.“

Er folgte dem unzufriedenen Blicke der Mutter durch das Fenster und sah in der That Maxi über den neu aufgerichteten Steg auf das Haus zu kommen Seine Stirn faltete sich; er stand rasch auf.

„Sie soll Dich nicht belästigen, Mutter; ich schicke sie heim,“ sagte er fest und hatte das Zimmer verlassen, ehe sie antworten konnte.

„Die Mutter möchte allein bleiben,“ sagte er draußen auf dem Stege zu dem Mädchen, „sie ist besser, muß aber Ruhe haben. Ich begleite Dich zurück. Heut wollte ich ohnehin hinauf zu Euch, um Ade zu sagen; denn morgen, spätestens übermorgen muß ich fort.“

„Fort?“ fragte Maxi erschrocken – „jetzt schon? Und das sagst Du so obenhin, als wär Dir’s einerlei – als wär Dir’s recht?“

Er sah sie fest an.

„Es ist mir recht, Maxi,“ sagte er traurig. „Der Boden brennt mir unter den Füßen, und Du weißt, wer schuld daran ist.“

Sie warf die Lippen auf und wurde dunkelroth.

„Schiltst Du wieder? Wenn Du mich lieb hättest, so wärst Du froh, wenn ich zu Dir komme – Zwei, die einander lieb haben, halten es nicht aus, so hüben und drüben zu bleiben statt zusammen zu kommen, wenn’s doch sein kann. Mich hält die ganze Welt nicht auf.“

„Leider nicht,“ sagte Lois, und sein eben noch trauriger Ton ward streng. „Nichts hält Dich auf Tag für Tag zu brechen, was Du mir versprochen hast. Du weißt, wie viel mir daran liegt, daß Keiner erfährt, was wir im Sinne haben, bis ich losgelöst bin von Dem, was mich bindet. Und doch magst Du meinem Gebot und allem Wohlanstand zum Trotz Deinen Willen nicht eine Woche lang bändigen. Schon sind meiner Mutter die Augen aufgegangen. Ich weiß mir keinen Rath als zu gehen, obwohl ich hier noch recht nöthig wäre.“

„Und wann kommst Du wieder?“ sagte Maxi mit unterdrückter Heftigkeit.

„Es ist mir unmöglich, Dir das heute schon zu sagen. Ich muß mit dem Bischof selbst sprechen, und dazu findet sich nicht immer Zeit und Gelegenheit. Ueberlasse das mir! Schweige indessen! Wenn ich mit Allem breche, was mir theuer und heilig ist, so darf ich wohl von Dir fordern, daß Du das Einzige übst, was an Dir ist – Geduld.“

„Geduld!“ brach Maxi aus, und ihre zürnenden Augen flammten. „Nein! Die hab’ ich nicht; die üb’ ich nicht. Wärst Du Einer, der sein Mädchen lieb hat, dann predigtest Du mir nicht fortwährend, dann wär’ ich Dir recht so, wie ich bin, und Du freutest Dich, daß ich nicht so zahm warten und entbehren mag. Was geht mich Deine Mutter an sammt den Andern allen was liegt daran, wenn sie merken, wie wir zusammen stehen? Aber ich merke das selbst nicht mehr bei Dir, Du kümmerst Dich beständig um die Andern, an mir aber ist Dir nichts gelegen! Geh – geh – und bleib’ ganz und gar in Deinem Seminar, bei alledem, was Dir so theuer und heilig ist, wie Du eben sagtest – wir taugen nicht zusammen – geh mir, geh!“

Lois wurde todtenblaß und blickte stumm in ihr flammendes, trotziges Gesicht. Ihm war, als löste sich ein Theil seines innersten Lebens von ihm ab und sänke kalt und todt in ihm nieder. Einen Augenblick rang er nach Worten; dann, als er seiner Stimme Herr geworben, klang sie fremd und seltsam ruhig.

„Du hast es ausgesprochen Maxi; wir taugen nicht für einander. Was Du sagtest, soll geschehen ich kehre zurück an den Platz, dem ich nie hätte abtrünnig werden dürfen weder in Gedanken noch in Worten und Werken“

Maxi fuhr zusammen.

„Lois!“ rief sie wie halb erstickt; „Dein Gelübde gehört mir!“

„Du selbst hast mich eben des Versprechens entbunden, das ich Dir gab,“ erwiderte er, „Du mußt fühlen, mußt wissen, daß es mehr ist, als augenblickliches Zürnen, was Dich so sprechen ließ. Ach, uns trennt Anderes, als nur das Seminar, Maxi; unsere Seelen sind sich fremd, und darum würden wir einander elend machen. So lange ich denken kann, verstehe ich kein Leben ohne Pflicht, und die kennst Du nicht.“

Sie preßte die kleinen Zähne auf einander.

„Du wirst mich lehren – –?“ murmelte sie.

„Dich lehren?“ gab er ihr zurück. „Ja, könnte ich das! Aber was Du nicht lerntest im Zusammenleben mit meiner Jana, [639] nicht durch meine Bitten, das lehrt Dich Keiner mehr. Du forderst, und würdest ewig fordern, was ich nicht geben kann, willst neben Dir selbst nichts in meiner Seele dulden, weder Gott noch Menschen O Maxi, Du hast es gesagt: wir Beide taugen nicht zu einander. Das bleibt. Laß uns in Frieden scheiden, nachdem wir ohne Frieden beisammen gewesen! Gott wird mir beistehen; unwerth, wie ich bin, gab ich mich ihm von Neuem – gieb Du Dich unserer Jana! Sie hilft Dir wohl gesund werden und verschmerzen, was nie hätte anfangen dürfen. Ich will für Dich beten, so lang ich lebe – und so leb’ wohl!“

Er wollte gehen, aber Maxi deutete plötzlich mit stürmischer Geberde auf den Steg, welchen Beide noch nicht verlassen hatten, und dann auf das nahe schäumende Gefälle. Lois hatte sie verstanden. Seine blassen eingefallenen Wangen rötheten sich.

„Thust Du das,“ sagte er in einem Tone, der sie erzittern ließ, „dann hab’ ich keinen Gedanken mehr für Dich in Zeit und Ewigkeit.“

Er wandte sich und ging langsam dem Hause zu. Ein leichter Windhauch bewegte sein unbedecktes Haar und seine dunkle Soutane; dann bückte sich die hohe Gestalt, um unter der Thür zu verschwinden.

Maxi stand einen Moment regungslos; nun aber warf sie den schönen Kopf zurück und heftete einen heißen Blick von Trotz auf das Haus; sie machte eine jähe Handbewegung, als ließe sie etwas in das schäumende Wasser niederfallen und ging dann im Sturmschritt vorwärts, ohne umzuschauen.

Als sie auf der Moosburg eintraf, war ihr Haar feucht vom Abendthau; ihre Hände glühten. Gegen ihre Gewohnheit widerstrebte sie nicht Jana’s dringendem Zurede, sich sogleich zu Bette zu legen, fügte sich überhaupt von diesem Abend an gleichgültig jeder Forderung, die an sie gestellt wurde.

Diese Apathie, der sich andauernde Fieber gesellten, ängstigte Jana noch mehr, als des Mädchens rastlose Erregung zuvor, und die Abreise ihres Bruders, den sie nicht mehr gesprochen, fiel der armen Pflegerin gleichsam schwer auf’s Herz.




23.

Jede Kirchenfeier gestaltet sich in Tirol zum Volksfest. Der Primiztag eines Kindes der Gemeinde wird von dieser als eigener Ehrentag betrachtet und mit allem nur erdenklichen Pomp gefeiert. Heute – Wochen waren inzwischen in’s Land gegangen – beging man in Lahnegg aber ein besonderes Fest: Lois feierte seine Primiz; für ihn, den einzigen Sohn aus der Mühle, wo seit Generationen ein angesehenes Geschlecht hauste, galt dieser Brauch als besonders wesentlich, und das ganze Dorf befand sich schon am Vorabend des Festes in Bewegung. Noch war die Sonne des nächsten Morgens nicht über die Berge gestiegen, als Sonntagsglocken den Festtag einläutete. Lebhaftes Böllergeknall schloß sich ihnen an – kein Tiroler Fest ohne Schießen.

Eine Stunde später begann sich allerwärts frisches Leben zu regen. Hier und dort wurde fliegende Verkaufsstellen aufgeschlagen; weiß-blaues Steingeschirr, Melonen und Trauben, Muschelwaaren ans Venedig lockten in zierlicher Anordnung zum Einkauf. Thresl, die alte Kränzeverkäuferin, hatte das wackelige Tischchen, das ihre leichte Waare trug, unter den Nußbaum gestellt, der nahe der Kirche auf einem Hügel steht, und ihre künstlichen Kranzgewinde erschienen wie ein Zubehör des laubumkränzten Portals.

Immer lebendiger wogte es aus den Gassen; selbst die Walddörfer sandten ihre Vertreter zu Thale. Mann, Weib und Kind erschienen im Festschmuck, und selbst das älteste Weiblein hatte sich eine rothe Nelke hinter das Ohr gesteckt. Es gab ein frisches Bild, als die vereinigten Musikcapellen der nachbarlichen Ortschaften ihren wohleingeübten Marsch anstimmten, als sie dann, hinter sich die Schützengilde, auf den Sammelplatz zogen und die Gruppen des Gefolges sich ordneten.

Böllerschüsse krachten vom nahen Waldwege nieder; dann erhoben die schönen Glocken ihre mächtige Stimme und läuteten fort und fort, während der Festzug sich in Bewegung setzte, die Hauptstraße entlang, in weitem Bogen über Felder und Wiesen, bis er der in der Mitte des Dorfes gelegenen Kirche zustrebte.

Im Rahmen des schönen Thales bot der von goldgestickten Purpurfahnen überflatterte Zug ein lebens- und weihevolles Bild, dessen Hauptgruppe sich besonders malerisch hervorhob.

Inmitten der Vicare und Patres des nachbarlichen Klosters, denen das Musikcorps voranzog, schritt Lois und unmittelbar vor ihm die kleine „geistliche Braut“ mit unschuldigen Engelsmanieren, als wüßte sie, daß sie das Ideal, die Kirche selbst, versinnlichen sollte. Lois’ Gesicht leuchtete in Verklärung, während er hochaufgerichtet seinen Ehrenweg ging, der ihn zu den Stufen des Altars seiner Heimathkirche führte, in welcher ihm dereinst, als ein Anderer die gleiche Feier beging, der erste heiße Wunsch geistlichen Lebens aufgestiegen war, dessen Erreichen er sich „so fest vorgenommen hatte, wie man sich vornimmt, in den Himmel zu kommen“. Nun stand er am Ziele.

Das Mysterium, welches zu begehen ihm heute zum ersten Male oblag, war vollzogen. Wieder erhoben die Glocken ihre feierlichen Stimmen, und Lois sprach aus erschüttertem Herzen, mit vergeistigtem Ausdrucke der seinen Zügen den Segen über die Gemeinde, welche ihn hatte aufwachsen sehen, über seine Mutter, welche vor seligen Thränen das geliebteste ihrer Kinder nicht mehr sah.

Wenige Minuten nachher strömte der Zug aus der Kirche. Fügen, welcher mit Genoveva und Siegmund der Feier im Chor beigewohnt hatte, war von heimlicher Sorge um Jana, welche die kranke Maxi nur ungern verlassen, um die mühsamen Schritte ihrer noch leidenden Mutter zu stützen. Fügen fand ihr Aussehen so angegriffen, daß er sie nicht aus den Augen verlieren mochte, schnell hinabeilte und zwischen der Volksmenge neben dem Zuge herschritt. Auf einmal sah er Jana den Arm ihrer Mutter loslassen. Ihr schreckensbleiches Gesicht war bestürzt seitwärts gewendet. Dort auf dem Hügel, an welchem sich der Zug eben vorüberwand, unter dem Nußbaume stand hinter dem Verkaufstische der alten Kränzelfrau nicht diese, sondern Maxi. Ihre Wangen, ihre Augen glühten. Sie trug ihre gewohnte, halb städtische, halb ländliche Kleidung; ein grüngoldener Kranz mit weißen Blüthen war auf ihr Haar gedrückt, dessen Zustand ein Zeugniß fieberischer Achtlosigkeit gab; es war nur theilweise aufgenestelt, und eine der schweren dunklen Flechten hing lose über die wogende Brust. Die weitgeöffneten Augen waren mit so intensiver Macht auf Lois geheftet, daß sie wohl Gewalt haben mochte, die seinen an sich zu ziehen Wenigstens sah Fügen, als er der Richtung ihres Blickes folgte, den des jungen Priesters einen Moment auf der Erscheinung des Mädchens haften. Einen Moment nur – dann schritt er hochaufgerichtet vorüber.

Zugleich vernahm Fügen einen leisen, gebrochenen Laut; er wandte sich um und fing die inzwischen herbeigeeilte Jana halbohnmächtig in seinen Armen auf; er trug sie mehr als er sie führte aus dem einen Augenblick sich stauenden Gewühle. Unfähig zu sprechen, deutete sie nach dem Hügel, wo Maxi, nun aschfahl geworden, immer noch stand und dem Zuge nachstarrte.




24.

Als die Morgenglocken den nächsten Sonntag einläuteten stand inmitten eines Parterrezimmers der Moosburg ein offener Sarg. Die junge Gestalt, welche darin ruhte; schien zu schlummern. Einen Kranz weißer Astern im dunklen aufgelösten Haare, ein Sträußchen frischer Feldblumen zwischen den gefalteten Händen – so lag sie friedlich in dem engen Schrein

Der Lufthauch, welcher durch das geöffnete Fenster eindrang und die Kerzen zu Häupten der Bahre dann und wann aufflackern ließ, war das Einzige, was sich hier regte, und doch athmete eine Menschenbrust in diesem todtenstillen Raume. So leise war aber der Hauch, so unbeweglich die Lebende, welche unverwandt auf das stumme Kind niederblickte, daß sie mehr einem Bilde glich, als einer Athmenden. Alles, was von Leben in Jana war, lag in ihren Augen.

Plötzlich schrak sie zusammen. Schritte und Stimmen, gedämpft und doch deutlich, wurden draußen vernehmlich. Jana beugte sich mit rascher, fast scheuer Bewegung und berührt die geschlossenen Lider der heißgeliebten Todten mit ihren Lippen. Beide Hände fest gegen die Brust gedrückt, ging sie dann mit gesenkten [640] Augen der Thür zu. Auf der Schwelle trat ihr Richard Fügen entgegen.

„Es ist Zeit, liebe Jana,“ sagte er benommen.

„Ich weiß.“

Sie ging mit stillem Neigen des Kopfes an den Männern und Frauen vorüber, die den Flur anfüllten, und stieg die Treppe hinauf. Fügen folgte ihr schweigend. Es wollte ihm fast das Herz brechen, sie so gelassen und doch den unaussprechlichen Gram in ihren Augen zu sehen. Als sie oben ihr Tuch umwarf, und sich zum schwersten Gange zu rüsten, nahm er sie mit einem Male in die Arme, wie ein Vater sein Kind. Ihre Stirn ruhte an seiner Brust, und die Fluth bisher versagter Thränen brach unaufhaltsam hervor.

„Jana, liebe Jana,“ stammelte der heftig ergriffene Mann. „Ich weiß ja nun Alles; Frau von Riedegg hat mir’s vertraut – Du hast Dein Liebstes verloren, Dein Kind, Leid und Freud’ Deiner armen Jugend.“

Jana richtete sich auf und sah ihn an.

„Verloren,“ sagte sie man. „Aber ich gönn’ ihr die Ruhe. Sie ist wohl aufgehoben. Ich gönn’ es, gönn’ es ihr.“

Drunten ertönten Hammerschläge. Die Hand, welche Fügen noch in der seinen hielt, wurde eiskalt. Genoveva erschien an der Thür und gab schweigend ein Zeichen

Eine Stunde später bewegte sich aus der noch im grünen Festschmuck der Primiz-Feier prangenden Lahnegger Kirche ein Trauerzug nach der Südseite des Friedhofes. Sechs junge Mädchen, dieselben Kränze im Haar, mit denen sie sich zu jenem Feste geschmückt, trugen den auf schwarzverhangener Bahre ruhenden Sarg, und ein bekränztes Kind, dessen beide Händchen mühsam einen farbigen Riesenstrauß umschlossen, ging an der Spitze des Zuges. Ihm folgten zwei Mädchen, den Jungfrauenkranz zwischen sich auf rothem Kissen; ein Schleier, wie ihn Bräute tragen, knüpfte sich um das Myrthengeflecht und bauschte sich im Winde. Alle, die sich jüngst dem priesterlichen Festzuge angereiht, gaben Maxi heute die letzte Ehre; denn das schöne Kind, welches plötzlich hinweggeweht worden, wie ein Halm auf dem Felde, war weit und breit bekannt und Alle hatten es lieb gehabt. Viele Blicke richteten sich auf die vornehme Frau, unter deren Obhut das Mädchen aufgewachsen, die heute als Leidtragende, Jana zur Seite, in Trauergewändern dem Sarge folgte.

Es war ein sonnenheller Tag. Frische Astern schmückten alle Gräber, und über den nahen tannendunklen Hügeln ragten die Gipfel der Alpen leuchtend und frei. Der Klang des Glockengeläutes schaute weit hinaus in die blaue Luft, während der neu geweihte Priester seines Amtes am offenen Grabe wartete. Kein Zug in Lois’ Gesicht verrieth, was in ihm vorging, als er die Ruhestätte der Todten einweihte, deren Leben um ihn gebrochen war. Als die Schollen niederrollten, begegneten seine Augen den Augen Jana’s. Da überlief ihn ein Zittern. Der Blick seiner Schwester verrieth ihm, daß sie wußte, was diesem jungen Herzen den Todesstoß gegeben.




25.

Die Geschichte verzeichnete inzwischen das inhaltschwere Kriegsjahr 1866. Tiefe Verstimmung der Armee, tiefe Trauer in allen Provinzen des österreichischen Vaterlandes blieben als Bodensatz der Ereignisse jenes verhängnißvollen Sommers zurück. Die Truppentheile bezogen, aus Italien oder von den böhmischen Schlachtfeldern heimgekehrt, nach und nach ihre alten Garnisonsorte oder wurden neuen zugetheilt, und schließlich begann Jeder sich im Alltagsleben wieder einzurichten.

Oberst Friesack’s Regiment war seit September nach S. zurückbeordert, aber die Batterie, welcher Siegmund zugehörte, erwartete noch Ablösung von ihrem Standorte in Südtirol, wo sie zu den Truppenteilen zählte, welche zur Besetzung des von den Italienern geräumten Gebietes commandirt worden. Es war Siegmund nicht unlieb, daß ihm auf diese Weise Zeit gelassen wurde, sich zu einem inneren Gleichmaße zu stimmen, das ihm in jüngster Zeit abhanden gekommen war. Abgesehen von dem Ernst, welcher ihm aus den Eindrücken seiner kurzen Kriegsfahrt zurückgeblieben, verstimmte ihn ganz Persönliches: Die letzten Briefe, welche er mit seiner Mutter getauscht, hatten ihm nicht wohl gethan; zum ersten Male vermochte er sich weder in ihre Aeußerungen noch in ihre Beschlüsse zu finden; denn sein lebhaftes Bedürfniß, sie so bald wie möglich wiederzusehen seine Bitte, ihn hier aufzusuchen, um die Frist einer Trennung abzukürzen welche diesmal länger als ein Jahr gewährt hatte, traf auf bestimmte Ablehnung, und dieses kränkte und befremdete ihn um so mehr, als Genoveva ihren Besuch nicht nur versagte, sondern sogar das seit Jahren feststehende Zusammentreffen auf der Moosburg auch für diesen Herbst aufhob, wie sie das schon im vorigen gethan. Was sollte das bedeuten? Und weshalb gab sie nicht wenigstens bestimmte Gründe für dieses Versagen an, unter dem sie doch nicht weniger leiden mußte als er? Das war schwer zu begreifen, schwer zu überwinden.

Der junge Officier fühlte sich unter solchen Verhältnissen zu geselligem Verkehre gar nicht aufgelegt, begrub sich während seiner dienstfreien Stunden in allerlei Fachstudien, führte ein Tagebuch, das er während des Feldzuges begonnen, nun weiter aus und hätte nichts dagegen gehabt, das isolirte Leben, welches er jetzt führte, noch ein paar Monate länger fortzusetzen. Doch war die Zeit seines Commandos dem Abschlusse nahe. Um diese Zeit erhielt er einen Brief von Max Friesack aus S.

„Also Friede!“ schrieb Max, „schade darum, wenn ich auch nicht leugnen will, daß mir die Fleischtöpfe meiner Mama wohl behagen. In der That, es lebt sich gar nicht übel hier im alten Neste, und mir fehlt nur Einer –: Du fehlst mir. Aber dem Uebel wird bald abgeholfen werden; denn der Vater sagte mir gestern, Dein Batteriechef solle nächstens hierher zurückcommandirt werden. Dann fangen wir das alte gute Leben wieder an – oder nein, nicht das alte – wir sind inzwischen ein Paar ganz andere Kerls geworden. Gestern Abend besuchte ich Fügen’s; sie behielten mich zum Nachtessen, und ich muß sagen, Eure Jana, wie Ihr sie nennt (spaßiger Taufname!), gefällt mir ausnehmend gut. Die Frau ist doch gar nicht jung, aber man meint ein Fräulein vor sich zu haben, statt einer ehrsamen Hausfrau. Sie faßt Alles so eigen an, so sanft, Sachen wie Menschen – ihr zerbricht sicherlich nie etwas unter der Hand. Und Dein Herr Vormund ist als Hausvater förmlich jugendlich geworden – einen Humor hat er Dir, sage ich, daß man seine Freude daran haben muß. Es war ein herziger Abend, und sie freuen sich auf Dich, wie auf einen – Sack von Geld. Nimm mir den Vergleich nicht übel! Ich mache Dir damit das größte Compliment; denn Geld – Du weißt ja, ich habe immer keins und bin trotz seiner Treulosigkeit doch sein guter Freund. Wer sich aber nächst den Fügen’s und meiner Wenigkeit gleichfalls sehr auf Dich freut, oder wenigstens sehr neugierig auf Dich ist, würdest Du schwerlich errathen und wirst Dich wundern, wenn ich Dir melde, daß es keine geringere Person ist, als Frau Generalin von Seeon, Excellenz, die stolzere Hälfte unseres neuen Commandanten. Wie das zugeht? Erinnerst Du Dich noch unseres Spazierganges am Concert- und Absolvententage und wie uns da ein lustiges kleines Mädchen fast in die Arme lief – bergab? Da hobst sie auf, als sie am Boden lag, und die gestrenge Mama sah Dich nachher an, als wollte sie Dein Signalement aufnehmen. Die sind’s. Ich kannte alle Zweie gleich wieder, als ich ihnen vorgestellt wurde. Die kleine Margareta ist freilich in diesen drei Jahren gewaltig in die Höhe geschossen aber die Augen, weißt Du, mit der besonderen Farbe und dem hübschen Lachen im Blick, die sind noch die nämlichen. Ein herziges Kind so von sechszehn, siebenzehn Jahren, mit der es sich prächtig plaudert; denn sie hat einfache, natürliche Manieren – trotz der vornehmen Frau Mama. Als ich sie an damals erinnerte (nur um mein gutes Gedächtniß für ihre schönen Augen in richtiges Licht zu setzen), wurde sie freilich roth, lachte aber und gestand ihre Identität wie ihr Ungeschick zu. Obgleich die Frau Generalin gerade mit meinem Vater sprach, muß sie ihre Ohren doch auch bei uns gehabt haben – sehr überflüssiger Weise; denn sie wendete sich um und fragte zu meinem Erstaunen nach Dir, das heißt nach dem andern jungen Mann, der damals bei mir gewesen wäre’, und sah mich dabei ebenso scharf und gespannt an, wie sie Dich damals in Person angeschaut. Natürlich nannte ich gehorsamst Deinen Namen und Charakter, und mein Vater fiel mir in’s Wort und lobte Dich über den Schellenkönig hinaus. Während ich nun mit der Kleinen weiter plauderte, hörte ich meinerseits den Andern zu und wunderte mich, wie genau die hohe Dame meinen Vater nach Dir ausfragte. Als sie Alles heraus hatte, was es irgend über Dich zu berichten giebt, sagte sie in sehr gnädigem Ton, daß sie

[641]

Eine Herzensfrage.
Nach dem Oelgemälde von W. v. Miller.


sich freuen würde, einen so begabten jungen Mann – ich citire – persönlich kennen zu lernen, und forderte mich dann geradezu auf, ihr meinen Freund recht bald nach dessen Rückkehr in die Garnison vorzustellen. Nun mache Deine Sachen gut, damit auch auf mich ein Wiederschein der Dir zugedachten Gunst fällt! O, ich käme gern öfters in dieses Haus.

Genug geschwatzt! Zwei Bogen – womit willst Du diese unerhörte Leistung abverdienen? Es ist Zeit, daß Du kommst; Briefe zu schreiben, ist das schwerste Stück Arbeit, wenn man, wie ich, bei diesem Geschäft immer Mühe hat, Anfang und Ende zu finden.
Dein alter Max F.“     
(Fortsetzung folgt.)
[642]

Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.

4. Das kaiserlich deutsche Gesundheitsamt zu Berlin.

„Heutigen Tages können wir weder unsere Fehler noch die Mittel gegen dieselben ertragen.“ An dieses Wort des Livius wird man unwillkürlich erinnert durch die Hergänge, welche der Errichtung unseres deutschen Gesundheitsamtes vorausgingen, und durch die so vielfachen Angriffe, welche diese Reichsschöpfung in der kurzen Zeit ihres Bestehens schon zu erdulden gehabt hat. In der Idee war man für diese neue Centralbehörde begeistert; praktisch in’s Leben getreten stieß sie auf Schwierigkeiten, die man eben erst durch die Praxis voll würdigen lernte.

Bereits im Februar 1870 war dem damaligen Norddeutschen Bundesrathe eine Petition von einigen Tausend deutscher Bürgermeister, Aerzte, Techniker etc. vorgelegt worden, welche dringend eine centrale Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege innerhalb des Norddeutschen Bundes erbat; mit ihr vereinigten sich mehrere gleichsinnige Petitionen einzelner Städte und Vereine. Man hatte auf ein freundliches Entgegenkommen gerechnet und war nicht wenig erstaunt, ja teilweise entrüstet darüber, daß die wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen, die oberste begutachtende Fachbehörde Preußens – sich ablehnend aussprach. Die Petenten redeten vom Schutz der Fabrikarbeiter und der Schulkinder, von Baupolizei-Ordnungen, von der Entwässerung und Reinhaltung der oberen Bodenschichten in den Städten, von der Beschaffung guten Wassers, von der Einrichtung des hygienischen Unterrichtes an den Universitäten und noch von zahlreiche Einzeldingen hinsichtlich deren die Gesundheitsbehörden tief in die Thätigkeit der Kreise und Gemeinden eingreifen sollten.

„Wir müssen es für unmöglich halten,“ heißt es sehr bezeichnend in dem Gutachten jener wissenschaftlichen Behörde, „diese Aufgabe so sehr zu schematisiren. Nicht einmal wissenschaftlich sind die einschlagenden Fragen so sehr geklärt, um der fortschreitenden Erfahrung der Einzelstaaten Schranken zu setzen: eine glückliche Erfahrung, die aus einer Gemeinde hervorgeht, wirkt hier mehr, als eine Schaar von Verordnungen, zu deren Durchführung es an geeigneten Localorganen gebricht.“

Für einzelne Aufgaben aber, lesen wir in dem Gutachten weiter, seien viel zweckmäßiger besondere Sachverständigen-Commissionen einzuberufen, z. B. wenn es sich um die Abwehr ansteckender Krankheiten handle. Selbst hinsichtlich des einzigen als wünschenswert anerkannten Punktes, „eine wissenschaftliche Körperschaft für die Bearbeitung der medicinischen Statistik und der allgemeinen Gesundheitsberichte zu haben“, wird noch die Befürchtung laut, daß es für eine jeder executiven Gewalt entbehrende Behörde kaum möglich sein dürfte, in Bezug auf Erkrankungs- und Sterbeziffern eine zuverlässige Grundlage zu schaffen.

Der starke Wille des Reichskanzlers selbst aber war es, welcher – allerdings erst im October 1875 – eine Denkschrift zur Begründung einer Forderung von etwas über 20,000 Mark als Gehalt für vorläufig drei Mitglieder des Gesundheitsamtes – einen Arzt, einen Statistiker und einen Verwaltungsbeamten – einbrachte und begründete. Auch dieses Document spricht über die Schritte, die man zunächst im Auge hatte, sehr vorsichtig.

So gewann das Gesundheitsamt eine vorläufige concrete Gestalt, und durch die Bewilligungen in der nächsten Sitzungsperiode auch die Mittel, sich in dem bis dahin nur mietweise innegehabten Hause ein eigenes Heim zu begründen. Es ist ein unscheinbares, nur sechs Fenster breites Haus, Nr. 57 in der Louisenstraße, und der Berliner Volkswitz halte es wohlfeil, über einen Centralsitz der „Volksgesundheit“ zu spötteln der unmittelbar an den Ufern der übelberüchtigten Panke liegt. Selbstverständlich hatten bei der Wahl des schmucklosen, auch jetzt noch durch keine Inschrift gezierten Gebäudes wichtigere, sogleich zu erwähnende Rücksichten den Ausschlag gegeben.

Treten wir ein! – Der saubere Oelfarbenanstrich des Fußbodens und der Wände allein zeichnet den Zugang des Amtes vor den überwiegend etwas unsauber gehaltenen Hausfluren benachbarter Häuser des Quartier latin aus; den kleinen gepflasterten Hof, den casernenartigen Seitenflügel, das niedrige Hintergebäude hat es mit ihnen gemein. Im Parterre finden wir einige Bureauzimmer und, nach hinten sich erstreckend, die Räume des chemischen Laboratoriums, im ersten Stock Conferenzsaal, Bibliothek, Arbeitszimmer der Räthe, im zweiten die Directorwohnung. Die Räume des Seiten- und Hinterbaues werden im ersten Stock vom mikroskopischen im Parterre – neben dem chemischen – vom physikalischen Laboratorium ausgefüllt. Im Souterrain finden sich neben Heiz-, Gas-, Wasser- und Ventilationsanlagen Aufbewahrungsorte für die Chemikalien und einige Kellerräume zur Unterbringung der Affen, Hühner, Kaninchen etc., welche für die mit Krankheitsstoffen anzustellenden Thierversuche bestimmt sind.

Die Einrichtung aller Aufenthaltsräume ist einfach, zweckentsprechend und nüchtern, die Ausstattung der Laboratorien zeitgemäß und ausreichend, ja was die Vorrichtungen zum Mikroskopiren und zur photographischen Abbildung der zu erforschenden Krankheitsstoffe anlangt, sogar reichlich und in ihrer Art einzig. Ein freundschaftliches Verhältniß zur unmittelbar angrenzenden Thierarzneischule, deren Director gleichzeitig Rath im Gesundheitsamte ist, ermöglicht die Ausführung umfangreicherer Experimente über Thierkrankheiten, animale Impfung etc.

Das vornehme, fast mysteriöse Schweigen, welches über dem ganzen Bau und in allen Einzelräumen herrscht, ist einige Male im Lauf der Jahre wohl schon von lebhaftem Zu- und Abgang Fremder unterbrochen worden. Als die in fast allen größeren Städte Deutschlands ausfindig gemachten Hülfskräfte des Amtes sich zu Commissionsberathungen vereinigten, um sich über das neue „Deutsche Arzneibuch“, den „Schutz gegen Petroleumverfälschung und -gefahr“, das „Nahrungsmittelgesetz“ zu verständigen, pulsirte ein reges Leben im Amte, und an Gelegenheiten, solche Congresse auch künftig zu veranstalten, wird es bei der Zahl der noch zu erledigenden und sich immer neu gestaltenden Aufgaben nicht fehlen.

Inzwischen hat sich auch die Zahl der ununterbrochen an Ort und Stelle tätigen Kräfte wesentlich vermehrt, sodaß dem Director und vier Räthen (für chemische, physikalisch-hygienische, epidemiologische und veterinärärztliche Aufgaben) bereits sechs Hülfsarbeiter zur Seite stehen.

Es ist indeß – auch mit solcher Unterstützung – wahrlich eine Herculesarbeit, den von allen Seiten her sich aufdrängenden Anforderungen der Ungeduld und dem theilweise offen ausgesprochenen Uebelwollen Stand zu halten. Und wie es in der Natur der Sache lag, konnte auch der neuen Reichsschöpfung der Hauptfeind alles neuen Werdens nicht fern bleiben – der Dämon der übertriebenen Erwartungen.

Schon der gemeine Mann bildet sich von einem staatlichen Gesundheitsamte die Auffassung, daß in Folge seiner Wirksamkeit die Krankheiten bald aufhören und viele andere Uebel wesentlich gemindert werden müßten. Aber auch andere, wenn nicht wirklich gebildete, so doch sehr hochstehende Persönlichkeiten haben in diesem Falle erwartet, kraft einer solchen Einrichtung werde man nun nicht blos stets gutes Bier, echten Tabak, sondern auch reelle Kleiderstoffe u. dergl. m. habe. – Und wie übertrieben waren die Vorstellungen, welche man fast allgemein von einer Uebertragung englischer Gepflogenheiten auf unseren deutschen Boden hegte; wie leicht und schnell wurde auch hier das Selbstverständliche vergessen, daß Eines sich nicht für Alle schickt!

Durch eine höchst beachtenswerthe Denkschrift – vom Februar 1878 – suchte das Amt diesen Uebertreibungen entgegen zu arbeiten. Es begrenzte auf einundzwanzig Folioseiten seine Aufgabe auf einige dreißig, hob unter diesen einige als nächstliegende hervor und ordnete die übrigen nach ihrer Dringlichkeit und den bereits möglich gewesenen Vorarbeiten. So konnte man damals bereits mittheilen, daß eine systematische Klimabeobachtung im Gange war, daß man das Trinkwasser einer großen Anzahl deutscher Städte und Plätze untersucht habe, um die Ergebnisse beim etwaigen Ausbruch einer Epidemie zu verwerthen, daß die Gesetzvorlagen „über die allgemeine obligatorische Impfung“, das „Reichsgesetz, betreffend die Abwehr und Unterdrückung der Viehseuche“, ein Gutachten über die Einführung der Fleischschau und den Verkauf des Fleisches, sowie das besonders dringlich dargestellte „Gesetz gegen die Nahrungsmittelverfälschungen“ als vollkommen fertig gestellt gelten konnten.

[643] Eine weitere Reihe von Aufgaben war in Vorbereitung, wie „Die Ertheilung technischen Rathes an Staats- und Gemeindebehörden“ und eine „Neue Prüfungsordnung für Aerzte und Thierärzte“.

Es liegt nicht im Zweck unserer Betrachtung, das Schicksal der zum Theil vortrefflich geplanten Entwürfe im Einzelnen zu verfolgen und jede Schwierigkeit, welche dieselben zu überwinden haben, zu prüfen. Beispiele geben hier das beste Bild. Für die Durchführung der Nahrungsfälschungs-Bestimmungen sind Untersuchungsstationen in Städten und Gemeinden die unerläßliche Vorbedingung, aber die wenigsten Gemeinwesen bringen die hierzu nöthigen Geldmittel auf. Selbst in einigen Regierungshauptstädten (wie Königsberg in Preußen) fehlt es noch ebenso sehr an der obligatorischen Trichinenschau, wie an öffentlichen Schlachthäusern.

Andere betheiligte Kreise ließen ihr anfangs lebhaftes Interesse gar zu schnell erkalten; so könnte eine mit großer Mühe begonnene und zum Theil durchgeführte Erhebung über die Krankheits- und Invaliditätsstatistik des deutschen Eisenbahnpersonals nicht vollkommen fertig gestellt und praktisch verwerthet werden, weil ein Theil der Eisenbahnverwaltungen den Nutzen derartiger Ermittelungen noch nicht einzusehen im Stande war. So blieb ferner die Prüfungsordnung der Aerzte bei den Einzelregierungen liegen, auch nachdem das Gesundheitsamt sein ausführliches Urtheil in dieser wichtigen Angelegenheit längst abgegeben hatte.

Man geht hier sicher nicht fehl, wenn man diese „unüberwindlichen Mächte“ für manche Anfeindungen der doch so nützlich wirkenden Behörde verantwortlich macht. Nothwendige Ergänzungen und Hülfskräfte wurden im Reichstage Gegenstände unfreundlicher Debatten, und im vorigen Jahre wurde ein unumgänglicher Bureaubeamter sogar direct vom Etat gestrichen. Und dabei beklagten sich, so oft von dem Reichsgesundheitsamte im Reichstage die Rede war, gerade die für öffentliche Gesundheitspflege am aufrichtigsten interessirten Abgeordnetenkreise, wie wenig weit man auf dem verheißenen Wege vorwärts gelangt sei. Man vergaß eben bei solchen Gelegenheiten gar zu leicht, daß Früchte nicht zu ernten sind, wo noch das Säen kaum vollendet war.

In sehr hervorragender Weise hat sich das kaiserliche Gesundheitsamt mit der Erforschung der Seuchengifte beschäftigt.

Nicht nur daß es sich die Thätigkeit eines Mikroskopikers sicherte, der durch eigenen selbstständigen Fleiß, durch bis dahin unerreichte Exactheit der Methoden sich zu einer Autorität auf dem schwierigen Felde der Krankheitsparasiten heraufgeschwungen hatte – es hat auch keinen Theil seiner Arbeitsräume glänzender ausgestattet, als diesen. Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß durch eine reiche staatliche Unterstützung ganz andere Untersuchungen zur Ausführung gebracht werden können, als sie der Privatgelehrte auf seinem beengten Laboratoriumsplatze, oder gar der mit Privatpraxis beschäftigte Arzt mitten unter zeitraubenden Berufsgeschäften zur Reife bringen kann. – Die Pariser Akademie und die französischen Fachjournale jubeln über die neuesten Entdeckungen Pasteur’s, der im Laufe der letzten Jahre dem Geheimnisse immer näher kam, warum und wodurch die Krankheitsgifte so umgewandelt werden können, um sie zu Schutzstoffen zu benutzen. Man sehe aber auch, mit welchen Mitteln Pasteur ausgestattet wird, wie ihm von diesem Ministerium, von jener landwirthschaftlichen Akademie, aus allen für wissenschaftliche Zwecke gestifteten Fonds die unglaublichsten Summen zur weiteren Verfolgung seiner Entdeckungen zuströmen.

Man kann die sichere Hoffnung aussprechen, daß auch das Gesundheitsamt mit dem Aufwande, den es für die Erforschung der Seuchenursachen verwerthet, die erfreulichsten Resultate erreichen wird. Vielleicht läßt sich in der Folgezeit gerade dieser segensreichen Bestrebung noch eine Ausdehnung in anderer Richtung geben, indem man auch die auswärtigen Wanderseuchen in den Kreis der Forschung zieht. Denn für die Erkenntniß der einheimischen wird ja unverkennbar dadurch schon sehr Erhebliches geleistet, daß man die Ansteckungsstoffe sucht und ihnen durch Thierversuche ihre geheimen Verbreitungswege ablauscht, um diese vorkommendenfalls abschneiden zu können. Die von außen den europäischen Ländern drohenden Wanderseuchen jedoch, sowie die an gewissen Herden auftauchenden und einer schnellen Verbreitung fähigen, bedürfen zum Verständniß ihrer Entstehung und Verbreitung der Enträtselung jener großen Experimente, welche die Natur innerhalb der Entstehungsbezirke anstellt. Sie bedürfen mit anderen Worten eines Studiums an Ort und Stelle, ja sie bleiben unbegriffen und trotz aller Hypothesen ungemindert furchtbar, wenn man ihnen nicht mit Forscherkräften bis an ihre Ursprungsorte entgegengeht. Zu dieser geographischen Seite der Seuchenbekämpfung hat das Gesundheitsamt bis jetzt noch nicht Stellung genommen.

Als die von Rußland zurückgekehrten Pestdelegirten ihren Bericht erstattet hatten, wartete man auf eine Meinungsäußerung der centralen Gesundheitsbehörde vergebens, und auf ebenso wenig Widerhall traf eine wichtige Petition, welche von dem über ganz Deutschland verbreiteten „Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ berathen worden war. Man hatte sich hier schlüssig gemacht, daß bei drohenden Wanderseuchen statt der wenig nützenden Absperrungen und Quarantänen die Einrichtung internationaler Sanitätscommissionen in den Europa fast unablässig bedrohenden Cholera- und Pestbezirken alle Beachtung verdiene, und dem Reichskanzler eine entsprechende Petition unterbreitet. Diese Anregungen lagen selbstverständlich den Zielen und Aufgaben unserer Behörde ganz nahe, doch läßt sich auch leicht ermessen, auf wie große diplomatische Schwierigkeiten derartige Bestrebungen stoßen, so lange es sich nicht um die dringendsten Nothlagen handelt.

In zwei wichtigen Punkten hat endlich das deutsche Gesundheitsamt seine Aufmerksamkeit auf jene beiden Staatenbunde gelenkt, welche wenigstens annähernd ihren Einzelstaaten gegenüber mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wie unser geeinigtes Vaterland – auf die Schweiz und auf Nordamerika. Zunächst erschien von Interesse jener einmüthige, lobenswerthe Entschluß der sämmtlichen schweizerischen Aerzte, an der Krankenstatistik besonders für die ansteckenden Krankheiten mitzuarbeiten; man hat nicht versäumt, von Seiten des Amtes eine ähnliche Anregung auch unter den deutschen Aerzten wachzurufen. Das nachahmenswertste Beispiel Nordamerikas bezieht sich dagegen auf die „National-Board of health-Bulletins“ (Veröffentlichungen des National-Gesundheitsamtes), welche, in Washington herausgegeben, durch ganz ausgezeichnete und auch dem Laien verständliche Supplementhefte, die der einheitlichen Behandlung hervorragender hygienischer Fragen gewidmet sind, auch in weiteren Schichten der Bevölkerung ein dauerndes Interesse an unserem Gegenstände wacherhalten wollen.

Das deutsche Gesundheitsamt hatte an die Spitze seiner am 6. Januar 1877 begonnenen „Veröffentlichungen“ ein Programm gestellt, laut dessen es regelmäßig über die Erkrankungs- und Sterblichkeitsverhältnisse des In- und Auslandes berichten, den Gang der Epidemien verfolgen, den Witterungsverlauf in Deutschland nach Beobachtungen in acht Klimakreisen – mit Konitz, Bremen, Berlin, Breslau, Heiligenstadt, München, Karlsruhe, Köln als Mittelpunkten - darstellen, den Veränderungen der sanitarischen Gesetzgebung und den Erlassen über Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege Beachtung schenken wollte. Wir finden denn auch seit jenem Datum in jeder wöchentlichen Nummer eine Zusammenstellung: Wochenschau im In- und Auslande; eine statistische Nachweisung über die Sterblichkeit in hundertachtundvierzig deutschen und fünfzig außerdeutschen Städten; einen schematischen Witterungsnachweis und eine Zahlentabelle über die Krankenbewegung in den Berliner Hospitälern. Jede dritte oder vierte Woche bringt noch eine Beilage: Thätigkeitsberichte aus anderen Gesundheitsämtern, Zahlentabellen aus statistischen Blättern, amtliche Verfügungen etc. Sachgemäß, aber trocken werden diese Gegenstände behandelt, und so ist es kaum auffallend, daß diese „Veröffentlichungen“ viel weniger im Publicum verbreitet sind, als es wünschenswerth wäre. Man hat sich indessen das nordamerikanische Vorgehen einsichtsvoll zum Muster genommen und beabsichtigt schon in der allernächsten Zeit die zusammenhängenden Arbeiten der Mitglieder des Gesundheitsamtes ebenfalls in zwanglosen Supplementheften im Publicum zu verbreiten.

So gedeiht, wenn auch langsam und nicht gerade in den Sonnenstrahlen der Popularität, unter bis jetzt wenig prunkhaften Aeußerlichkeiten hier ein wichtiges Stück deutscher Einigkeit. Möge es unserer Darstellung gelungen sein, dem Leser nahe zu führen, daß auch er, für sich selbst und im Verein mit Anderen, an dem begonnenen Werke gelegentlich, und wäre es nur durch die Beschränkung eines Sonderinteresses, mitarbeiten kann.



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Norderney.

Eine Studie von der deutschen Nordseeküste.

Unter den Düneninseln, welche in geschlossener Kette sich an der hannöverschen Küste hinziehe und von denen die eine, Juist, dem „Gartenlauben“-Leser bereits früher (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1880, Nr. 8) in Wort und Bild nahe gebracht wurde, ist Norderney die bekannteste, besuchteste, vornehmste. Sie war einmal „Hofnordseebad“, Hoflieferantin für die Gesundheitsbedürfnisse der hannöverischen Welfendynastie verflossenen Angedenkens, und damit zugleich natürlich officielles Seebad des Adels. Allein es schwebt um diese Insel auch ein literarischer Nimbus. Wer seinen Heine gelesen hat, oder auch nur jene galgenhumoristisch-farbenreiche Skizze Spielhagen’s in der Sammlung „Aus meinem Skizzenbuche“, der wird das empfinden.

Norderney: Villa Knyphausen und Villa Fresena.
Originalzeichnung von Fr. Schreyer.

Norderney ist wohl auch die größte dieser Inseln, obschon Maßverhältnisse bei diesen Kindern des Seesandes immer etwas Problematisches haben. Man findet sie Morgens unter Umstände ein halb Mal kleiner, als Mittags; die Fluth macht sie abnehmen, die Ebbe wachsen. Man könnte sie Mondinseln nennen. Wer sich gewissenhaft über die Große von Norderney zu unterrichten beabsichtigt, sieht sich voll Erstaunen vor die Thatsache gestellt, daß hier ein Buch die Länge der Insel auf fünf, dort eines auf sieben Viertelstunden, ja der getreue Eckart unserer reiselustigen Gegenwart, Bädeker, auf drei Stunden berechnet. Und während nach Letzterem die Insel zwei Stunden in der Breite mißt, schrumpft diese Breite in der Riefkohl’schen Monographie über Norderney auf „höchstens“ eine Viertelstunde zusammen.

Ueberlassen wir die Ausgleichung dieser immerhin erheblichen Unterschiede den Geographen von Fach, und versuche wir vor allen Dingen, auf die Insel selbst zu gelangen! Das ist nun freilich nichts weniger als schwierig. Nur die Wahl macht die Qual.

Wolle wir den Dampfer von Geestemünde-Bremerhaven aus benutzen? Täglich, ausgenommen Sonntags, ist Gelegenheit dazu; in – vier bis sieben Stunde sind wir da. Bequem ist die Fahrt auf dem stattlichen Dampfer; bei ruhiger See fährt das Fahrzeug des Norddeutschen Lloyd durch das offene Meer nördlich von der Inselreihe. Drohe dagegen Sturmwolke am Himmel, so arbeitet sich der Dampfer durch das seichte, stille Wattenmeer hin, links die festländische Küste, flach, oft wie mit dem Lineal gezogen, rechts blendendes Wasser, während am Horizont zuweilen die niederen Dünenreihen der Inseln auftauchen. Auch seekrank kann man werden, wenn ein tüchtiger Wind vom Jahdebusen her die nöthigen Wellen dazu liefert. Endlich, endlich –

Aber wollen wir nicht lieber von Emden durch den Dollart fahren, jenen unheimlichen Meerbusen, welcher wie eine Riesescylla an die vierzig Dörfer verschluckt haben soll?

Oder bequemer noch: wir fahren mit der Omnibusgelegenheit von Emden nach Norden und Norddeich. Dort harrt unser tagtäglich eine Ueberfahrtgelegenheit mit einem Dampfboot, welche uns nicht einmal eine Stunde, vielleicht nur eine halbe, auf der See hält.

Oder – wollen wir zu Wagen hinüber fahren?

Das ist eine einzige Fahrt. Von Norddeich geht es auf dem steinernen Damm hin nach dem Hilgenrieder Siel, durch von der Ebbe bloßgelegten Sand, durch Seewasser sogar, das bis über die Räder reicht und unheimlich und nervenerschütternd an den Wagenschlag plätschert, eine Viertelstunde lang, vielleicht eine ganze Stunde und mehr. Die Postpferde machen das so ruhig ab, als stammten sie aus dem Marstall des Heidengottes Neptun, und es giebt Leute genug, für welche das Gruseln zu den Reizen des Lebens gehört und die sich darum eine solche Fahrt loben werden. Indeß wir sind Landratten, welche gern etwas Langeweile in Kauf nehmen, wenn sie sich recht lange „auf See“ fühlen können, eine Bezeichnung, welche freilich für das Wattemeer eine Schmeichelei bedeutet. Zudem ist der Bremer Dampfer so comfortable –

Das ist Norderney.

[645] Am Horizont hebt sich eine Insel heraus, ein paar stattliche Gebäude, eine lange Straße niedriger Häuser, ein Landungsdamm, der sich weit in das Wasser hinein erstreckt: die Glocke läutet – wir sind da, verlassen das Schiff und besteigen einen der Wagen, welche bereit stehen, uns zum Conversationshause, dem Curhause von Norderney zu fahren. Neugierige Augen von Kurgästen, denen die Ankunft des Dampfers zu den Zerstreuungen des Badelebens gehört, wie die täglichen Concerte oder ein Feuerwerk, empfangen uns.

Da stehen wir nun inmitten in dem Saisontrouble eines großen Bades es giebt hier zwei „Saisons“, welche durch den Zeitraum von Mitte Juli bis Mitte August, die Zeit der Hitze. Windstille, des ruhigen Wassers getrennt sind. Der Ort selbst zählt über zweitausend Bewohner, und nach Tausenden zählen die jährlichen Besucher. Heuer haben hier gegen 9000 Gäste Stärkung ihrer Gesundheit gesucht. Das Conversationshaus weist alle Einrichtungen auf, welche die Curhäuser großer Bäder bieten; daneben finden sich




Norderney: Blick auf die „Weißen Dünen“.
Originalzeichnung von F. Schreyer.


zwei Warmbadehäuser, der nie fehlende Bazar mit den „Andenken an Norderney“, zahlreiche mehr oder minder gute und theure Hotels und Curhäuser, unter diesen das „große Logirhaus“ beim Conversationshaus, die ehemalige welfische Baderesidenz; da reihen sich jene einstöckigen, bescheiden möblirten Fischerhäuser aneinander, deren Bewohner den Sommer über in der Küche logiren, und sie haben ganz den obligaten Thran- und Räucherduft; da giebt es befrackte Kellner und Tables d’hôte und täglich dreimal Concerte der königlichen Badecapelle, die reichlich so gut spielt wie die Emser; da werden Ausflüge gemacht, Bootfahrten in die Watten, Landpartien, zwei- und vierbeinig, zur Georgshöhe, zum Leuchtturm, zur Schanze, zum Ruppertsburger Kamp mit dem kleinen Erlengehölz zur weißen Düne im Osten der Insel. Da trinkt man Kaffee auf der Marienhöhe, zwischen Herren- und Damenbad, restaurirt sich in der „Giftbude“ über dem Herrenbade, und geht Abends zum Concert vor dem Strand-Etablissement. Aehnlich spielt sich eben der Tag in allen Seebädern ab; sie sind wie eine Mittagstafel; die äußere Physiognomie bleibt die nämliche; nur die Zahl der Gerichte und die Zubereitung sind verschieden, und von dem Mehr oder Weniger, das geboten wird, hängt der Ruf, der Besuch, die Freistellung für die Theilnahme am Genusse ab.

Uebrigens ist der Ort unter den Inselbadeorten der Nordsee bevorzugt ausgestattet. Das Auge weilt hier zur Erholung von dem Blenden des Wassers und des Sandes gern auf dem Grün der Anlagen beim Conversationshause und dem großen Logirhause, und es giebt selbst etwas wie schattige Promenaden für die Sonnengluth. Nur denke man sich keinen imposanten Baumwuchs auf einer nordischen Däneninsel. Auch die festen Trottoirs, welche den Zwang aufheben, von Straße zu Straße bis an die Knöchel im Sande zu waten, empfindet man andern Seebädern gegenüber als eine Wohlthat. Von den drei Hauptstraßen von Norderney zieht sich die Marienstraße im Süden, an der Wattenmeerseite, hin. Vom Conversationshause ostwärts nach der Schanze zu, die Victoriastraße am Weststrand entlang vom Conversationshause bis zur Strandhalle, weiterhin noch die Kaiserstraße, an deren Ende die Bremer Baugesellschaft Wohnungen „gegründet“ hat. Das Strand-Etablissement ist das elegantere Seitenstück zum Conversationshause. Hinter der Marien- und der Victoriastraße dehnt sich ein Gewirr von Häusern und Gärtchen mit zahllosen Wetterfahnen und Flaggenstangen aus. In der Nähe des Strandes dagegen erfreuen unter Anderm die heiter auf die See hinausblickenden Villen Kyphosen und Fresena (vergl. S. 644[1]) das Auge des Beschauers.

Von der Marienhöhe bei dem Strand-Establissement schweift das Auge über den zu Füßen liegenden Strand hin, der sieh links nach Südosten, rechts nach Nordosten zurücklegt; jener dient als Damen- dieser als Herrenbadestrand, solange Badezeit ist, nämlich vom frühen Morgen bis zur zweiten Mittagsstunde. Zur Zeit der nun folgenden Ebbe wird alsdann der Strand zur Promenade, bis zu dreihundert Schritt Breite sich erweiternd. Da regt sich munteres Leben, wenn das zurückweichende Gewoge einen glatten Streifen [646] des bleichen, wasserharten Sandgrundes nach dem andern bloßlegt. Da promenirt Männlein und Fräulein in bunter Mannigfaltigkeit der Toilette oder sitzt in den wunderlichen geflochtenen Strandkörben vor Wind und Sonne gedeckt; da tummelt sich fröhliches Kindervolk, zum Entsetzen der unglücklichen Seesterne, Krabben, Taschen- und anderer Krebse, welche leichtsinnig und unvorsichtig genug waren, nicht rechtzeitig ihr eigenes Ebben bewerkstelligt zu haben, und welche nun hülflos, ausgesetzte Kinder des Meeres, im Sande krabbeln.

Völlig verändert ist die Scenerie während der Badestunden. Dann stürzen die Fluthwellen weiter und weiter über die Sandfläche, immer mehr Terrain verschluckend. Auf der Promenade aber bewegen sich die vierräderigen Strandkarren, transportable Zellen, einst von kräftigen Fäusten geschoben und nun von einem Rößlein gezogen, und in diesen Zellen, welche zwei Schiebfenster zur Auswahl je nach der Windrichtung des Tages, wie die Eichhörnchennester, bieten, sitzt ein weibliches oder männliches Wesen und macht Badetoilette, wenn der Karren hält, und steigt dann hinaus, um an der schwieligen, nervigen Hand eines weiblichen oder männlichen Badewärters der nächsten sich überstürzenden Woge entgegenzugehen falls es nicht vorgezogen wird, auf diese Führung zu verzichten. Wehe dem, der das in schnödem Leichtsinn thut, ohne die nöthige Standhaftigkeit der unteren Extremitäten und ohne von dem großen Geheimniß etwas zu wissen, daß man dem überlegenen Element wohl den gekrümmten Rücken, nicht aber die Brust bieten darf! Dann, Unglücklicher, spielt es nicht mit dir, in kräftigem Schwunge dich vorwärts hebend und niedersetzend, dann trifft ein Stoß des Zornes deine Brust, dessen du dich nicht versehen hast; taumelnd suchst du vergeblich dich zu halten, eine grünliche, Schaum speiende Undurchdringlichkeit fällt über dich her und nimmt dir den Athem, und kaum hast du Zeit gefunden, dich aufzuhaspeln, um deiner Lunge das dringend nöthige Quantum Luft vermittelst des geöffneten Mundes zuzuführen, so stopft dir ein zweites Sturzbad den letzteren, und zappelnd liegst du wieder dort, von wannen du aufgestanden bist. Das ist nichts weniger als gemüthlich, ist ohne Bewachung sogar eine gefährliche Sache, wenn die See hoch geht, und um gar hier ungestraft zu schwimmen dazu gehört Ausdauer und eine zuverlässige Muskelkraft. Anders, wenn du geduldig dein Schicksal in jene Fäuste legst, welche dazu da sind, um es in richtigem Geleise zu lenken. Diese schweigsamen, schwerbeweglichen Männerkolosse, diese männerhaften, braunen, runzligen Jeskes, Nantjes, Jantjes, Jates, Tates oder wie sie sonst heißen, halten für dich unentwegt Stand, bis du den „zweiten Schauer“ in deinem inwendigen Menschen nahen spürst. Dann geht es wieder in das Gehäuse mit den vier Rädern; du klingelst; es wird eingespannt und mit den äußerlichen Erfordernissen des modernen Menschen versehen, entklimmst du drüben und suchst dich in sanfter Promenade zu beruhigen.

Vom Strande steigt die Dünenkette empor, hinter welcher der Ort so hart liegt, daß Jeden, der die Wirkung der Sturmfluthen kennt, von Rechtswegen ein Fürchten ankommen müßte, die Häuser möchten eines Tages mitsammt der Düne von der Fluth weggeleckt und verspeist werden.

Es gab eine Zeit, da die Gefahr nahe genug lag, und das war in den fünfziger Jahren. Ist es doch eine Thatsache, daß alle diese Inseln durch Fluth und Wind im Westen und Norden ab-, im Osten und Südosten zunehmen, sich sozusagen auf der Wanderschaft befinden. Eine Sturmfluth in der Sylvesternacht von 1854 aus 1855 riß die Dünen der West- und Nordwestseite der Insel bis zu achtzig, an einer Stelle sogar bis zu hundertsechszig Fuß Breite ab. Da war es klar: noch ein paar solche Elementarereignisse, und das Geschick des Ortes war besiegelt – wenn nicht gründlich für Schutz gesorgt wurde. Die hannöverische Regierung griff denn auch ein und half durch Küstenbefestigung ab. (Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1881, Nr. 21.)

Die schmale, langgestreckte Insel gleicht einem Kometen. Bad Norderney im Westen bildet den Kern, während der Schweif sich östlich nach der Nachbarinsel Baltrum zu in das Seegat Wichter Ee verliert. Die Küste im Westen und Norden ist wesentlich durch die Düne charakterisirt, deren Fuß sich als flacher, leichtgeneigter Strand in das Meer senkt. Ihr Grund ist Sand, der alte Urboden der Insel; dann kommt regelmäßig zwischen Sand gelagert eine dünne Schicht von Darg, einer torfartigen Masse, welche aus Blättern Halmen und Wurzeln des gemeinen Rohrs, Resten einer uralten sumpfigen Schilf- und Binsenvegetation, verfilzt ist. Wehe dem Unseligen, welcher es versucht, diese Masse als Torf zu brennen! Er wird Düfte riechen, welche sonst nur die Hölle kennt. Als Perle unter den Inseldünen steht die weit östlich liegende „Weiße Düne“ (vergl. unsere Abbildung S. 645) da, eine kolossale, nahe an hundert Fuß hohe, in alpenartigen Contouren aufsteigende Pyramide feinkörnigen, fast weißen Sandes, von deren Spitze man einen weiten Rundblick hat: Sand, Luft, Wasser, eine Dreieinigkeit, welche hier in der unzerstückelten Massenhaftigkeit der einzelnen Factoren von gewaltiger Wirkung ist.

Düne ist im Grunde auch das Innere der Insel, Sand, Sand und wieder Sand, unregelmäßig an der Oberfläche sich hebend und senkend, mit dürftiger, kränklicher Vegetation: der Zwergweide, Halmgewächsen, Pimpinellröschen, Erika und sonstigen unscheinbaren Pflänzchen verschiedener Art. Einen eigenthümlichen Charakter trägt nur der Südstrand und der äußerste Osten.

Der Wattstrand im Süden ist nicht mehr reiner Sand. Die Binnenwässer, welche sich in das Wattenmeer ergießen, führen Kalk, Thon, animalische und vegetabilische Reste mit sich, welche sich, sobald salzige und süße Fluth zusammentreten, als feiner grauer Schlamm, „Schlick“ genannt, zu Boden schlagen, besonders in dem ruhigen Uferwasser. Die Zugabe dieses Schlicks ermöglicht das Auftreten einer eigenthümlichen und üppigen Vegetation, aber im Wirkungsbereiche der Fluth zieht der Mensch keinen Vortheil aus diesen günstigen Bodenverhältnissen. Durch Eindeichung ist indessen im Südwesten ein schöner Wiesenwuchs gewonnen, auf welchem viele ostfriesische Kühe sich wohl nähren. Auf dieser Seite der Insel befindet sich übrigens auch die Rhede für die Fischerboote.

Wo im Osten das Dünenland aufhört, bietet sich ein verwandtes Bild. Dort senkt sich das Sandterrain flach und flacher, anfangs von kleinen, mit Strandhafer bewachsenen Erhöhungen durchsetzt; dann kommt eine Strecke, wo das Wasser und der sandige Boden heimliche, gefährlich trügerische Verbindungen eingehen, „ein unheimlicher Bereich von superfeinem Sand, welcher dem Wanderer unter dem einen Fu0e weggleitet, während der andere bereits in einem grünen Sumpfe versinkt, den man für ein Stück Wiesenland gehalten,“ wie Spielhagen diesen Theil der Insel schildert. „Und dann zischelt es in den Binsen, in die man plötzlich, man weiß nicht wie, gerathen ist, und die Binsen haben ein schmutziges, klebriges Aussehen, als ob sie alle schon einmal im Leben ertrunken gewesen wären, und das sind sie auch, und öfter als einmal: denn das Meer ergießt sich bei Springfluthen über das ganze Gebiet, wie eine Boa constrictor sich erst ihr Opfer zurechtleckt, bevor sie es verschlingt“

Hier im Osten entfaltet sich auch das reichste Thierleben. Im Sande gräbt das wilde Kaninchen seinen Bau, vor Allem aber wimmelt es in und über dem seichten Wasser von Seegevögel aller Art, und die Nimrode unter den Inselbesuchern können es sich nicht leicht versagen, mit der gemietheten Schießwaffe im Arme einen Streifzug in dieses Gebiet zu unternehmen. Da schweben mit ihrem breiten Flügelschlage die Mantelmöven und Lachmöven, die Raubmöven und andere Genossen der Sippe, besonders häufig die graziösen Seeschwalben; da laufen und stelzen die Regenpfeifer, Säbelschnäbler, Austernfischer, Strandläufer; hoch in der Luft schwebt wohl ein See Adler oder Wanderfalke. Es ist freilich leichter, diese Geschöpfe zu treffen als der Beute beizukommen, es sei denn, daß man zu Kahn jagt, wobei etwa auch ein Seehund, ein Tümmler zum Schusse kommt. An Vögeln findet man übrigens auf dem festen Boden auch den und jenen bekannten aus der Sängerwelt, welche unsere heimischen Gebüsche belebt.

Ungleich ergiebiger und mannigfaltiger an Beute ist die Jagd der Fischer in der Fluth, welche mit Netzen, vorzugsweise aber mit Grundangeln betrieben wird; aus dem Sande gegrabene Tobiasfische, Quappen oder Pierer bilden dabei die Köder. Der Schellfisch- und Kabeljaufang liegt freilich außerhalb der Saison. Allein die Schollenarten und mancher andere seltsam gestaltete Meeresbewohner bieten sich dem Netze, selten nur der in den Ostseebädern ständige Häring.

Ein hohes Interesse nehmen die krebsartigen Geschöpfe in Anspruch, die Krabben, Taschenkrebse, Einsiedlerkrebse, Garneelen, letztere im Juni in ungezählten Mengen vorhanden. Da sind Gliederwürmer, Schnecken und Muscheln, Seesterne und Seescheiden, Seegurken, [647] Quallen und Actinien - eine reiche Auswahl für neugierige Augen. Und einen wahren Aufruhr erzeugt es, wenn im Abenddunkel jene geheimnißvollen mikroskopischen Geschöpfe, deren Anblick so mancher Inselgast vergeblich ersehnt, wie ein phosphorescirendes Oel gelegentlich das Wellenspiel beleben.

Meeresleuchten! Ein Ruf, der jede Nachtruhe stört, jede andere Beschäftigung unmöglich macht, als die eine: mit weitgeöffnetem Auge auf den blassen grünlichen, mit den Wellen tanzenden und sich überschlagenden Glanz hinauszustarren.

Den Hauptreiz bietet doch immer das Meer selber, ob nun der Himmel blaut und die wie ein Chamäleon in Farben spielende Fluth melancholisch ruhige Wogen wälzt, ob die Schaumkämme trotziger aufgischen und lauter branden, oder ob sich der Himmel mit wüstem Braun, schmutzigem, röthlichem, schwefelig angehauchtem Wettergewölk verhängt, Dunkelheit am Tage über dem Wasser lagert, der Sturm seine schauerliche Stimme erschallen läßt in das Toben und Wüthen, das Schaumschleudern und Brüllen des Proteus-Okeanos, des ewig ungefesselten Titanen.

Nur eine Regenwoche ist fürchterlich hier: Nichts sehen, als die geschäftigen Striche, welche dicht wie Notenlinien neben einander niederziehen, nichts hören, als den hohlen Ton der Brandung und das Rieseln und Klatschen, nichts fühlen, als die durch alle Kleider dringende Feuchtigkeit, welche Leib und Seele frösteln macht – puh! Doch, man muß auch darauf gefaßt sein. Und nirgendwo hat man besser Gelegenheit stoischen Gleichmuth zu lernen, als hier, von den schweigsamen, auf alle Wechselfälle des Geschickes gefaßten, ruhig und schwer ihres Weges wandelnden Inselbewohnern.

Es ist friesischer Schlag, mit der ganzen zähen Ausdauer und Arbeitskraft dieses Stammes ausgestattet. Im achtzehnten Jahrhundert zählte die Flotte von Norderney dreißig bis vierzig Kauffahrteischiffe. Die lutherischen Bewohner zählten dem ostfriesischen Landesherrn ein geringes Schutzgeld, und in der Mitte des Jahrhunderts wurde die Insel preußisch. Aber erst als Lichtenberg und Hufeland das Gewicht ihrer Autorität in die Wagschale warfen, beschlossen die Stände, die Idee zu erwägen, ob man dort Bade-Einrichtungen in’s Leben rufen solle; Mit dem Mai 1800 begann auf Norderney die erste „Saison“. Die Franzosenzeit – Norderney wurde königlich holländisch und dann sogar kaiserlich französisch – ließ alles stocken. Mit dem Jahre 1815 fiel die Insel an Hannover, 1866 an Preußen.

Der Uebergang an Preußen hat zwar dem Bade seinen aristokratischen Anstrich genommen, nicht aber seine Frequenz geschädigt, zudem allerlei gefördert – der Landungsdamm, der Leuchtthurm, die Sorge für den Dünenschutz, das große Strand-Etablissement und das neue Badehaus gehören hierher. In den Herzen der Bewohner hat der Uebergang keine Spuren zurückgelassen; wesentliche Bedeutung hat für sie nur die Physiognomie der Saison. Nach dem Ablauf des überaus milden Winters wird der Familienhammel in das Gärtchen beim Hause gebracht und festgebunden; die Stuben werden geweißt und hergerichtet – und nun kann der sehnlichst erwartete Gast kommen. Dann beginnt das lustige Saisonleben, um im September zu verregnen und zu verwehen, bis der letzte Fremde scheidet und Alles in die Lethargie der todten Jahreszeit zurücksinkt. So war es bis jetzt wenigstens; in der Zukunft durfte auch während des Winters in Norderney reges Leben herrschen; denn zum ersten Male wird im laufenden Jahre unter Professor Benneke’s Leitung auf dieser Insel eine Winterstation errichtet.

Man kann nicht von Norderney scheiden, ohne jener Hämmel zu gedenken, welche durch Spielhagen eine lustige Berühmtheit erlangt haben. Man höre seine Schilderung dieser Geschöpfe:

„Der Norderneyer Hammel ist ein hochbeiniges, breitbrustiges, langrückiges Thier von der Größe jenes berühmten Widders aus der Stammschäferei des Polyphem, und sein habitueller Gemüthszustand ein bis zur Melancholie des Wahnsinns sich vertiefender Ernst. Schon physiognomisch ist dieser Ernst deutlich erkennbar in dem Meer von Schmerz, das um die hohlen Augen herumliegt und sich in einem ununterbrochenen Strom die lange Nase herabgießt. So steht er, mit dem Einzug des Gastes tief in das Innere der Insel in eine Verbannung geführt, welche bis zum Wiederabzug dieses Gastes dauert, regungslos auf den Dünensand starrend. Endlich hebt er das Haupt zu den Wolken, die schwer über ihn dahinziehen und im nächsten Augenblick einen Schauer auf ihn herabschütten werden, den vierunddreißigsten heute Vormittag. In den Stapfen seiner Hufe sammelt sich der Regen, der eben losbricht – ein Zeichen, daß der Sand vollkommen getränkt ist. Und jetzt, jetzt! – über seinen breiten Rücken gleitet ein dünner, kalter Strahl – er kann, er will’s nicht glauben, und doch, es ist nicht anders: der Regen hat sich einen Weg durch sein Fließ gebahnt! und die feuchten Wimpern auf die halbgebrochenen Augen senkend, erhebt er seine Stimme.

Es ist nur ein Ton, aber welch ein Ton! ein Ton, tief, wie das tiefste Register einer Orgel, stark, wie die Drommeten Jerichos; ein Ton, der eine Welt von Schmerzen nicht sowohl in sich schließt, als von sich giebt, ausgiebt, zu den Wolken schreit, die droben hangen, zu den Möven, die schweren Flugs vorbeischwingen – ein Ton absoluter Hoffnungslosigkeit auf jedes Glück hienieden und in einem zukünftigen Leben, an das jeder glauben mag, wer kann – ein Ton, der gewissermaßen das Band zwischen dem Hammel und seinem Schöpfer zerreißt und das Tischtuch zwischen ihm und dem Menschen mitten durchschneidet. Dieser Ton, der, einmal ausgestoßen, zur Zertrümmerung und Vernichtung einer schönen Welt voll Licht und Frieden und Sonnenschein zu genügen scheint – er erdröhnt nun in regelmäßigen Pausen von fünf bis zehn Minuten wieder, Tag und Nacht, bis der Abgrund sich zu deinen Füßen aufthut und dein Herz in dir verzagt. - -“

Ist das nicht, lustig genug?

Glücklicher Hammel, der du einen solchen Sänger deiner Unsterblichkeit gefunden hast!

B.




Die Wandlungen des Jagdrechts.

Zur Geschichte edlen Waidwerks.

In der geschichtlichen Wandlung und Entwickelung des deutschen Jagdrechts begegnen wir dem uralten Kampfe zwischen der Satzung des Naturrechts und des Menschenrechts, des Rechts, wie es im Bewußtsein des Volkes lebt, und des künstlich gewordenen Rechts, das berufen ist, das Interesse einer einzelnen Classe zu schützen, einer Classe, welche gleichzeitig auch das Privileg der Macht für sich hat. So wird die Geschichte des Jagdrechts gleichzeitig eine Geschichte der Revolution, des Classenhasses, der socialen Bewegung im engeren Sinne.

Mit dramatischer Schärfe und in packender Verkörperung hat der bekannte Historienmaler W. Räuber in seinem, diesem Artikel beigegebenen Bilde eine Phase der Entwicklungsgeschichte dieses Rechts zur Anschauung gebracht, in welcher die Gegensätze in höchster Steigerung neben einander gestellt sind. Die beiden äußersten Stände in der gesellschaftlichen Stufenleiter des späteren Mittelalters, zwischen denen jener Kampf ausgekämpft wird, der Stand des Bauern und der des Adels, treten hier in drastische Berührung, bei welcher die ganze Ohnmacht und Schutzlosigkeit des ersteren und die volle Macht und herrische Willkür des anderen körperlich zur Erscheinung kommen. Gnad- und schonungslos jagt in toller Parforcejagd die wilde Hunde- und Menschenmeute zerstörend über das Eigen des Landmannes dahin, das dieser durch harte Arbeit zu einem zinstragenden Capitale für sich und die Seinen gewandelt hat. Im Gefühle seiner Ohnmacht beugt er nicht nur den Rücken vor den Hufen des Rosses und vor der geschwungenen Reitgerte der vornehmen Herrin, sondern er verstärkt dieses Gefühl auch noch durch den unterthänigen Gruß mit der Mütze, zu dem er sich mitten in der Herbigkeit der Situation anschickt. Die Bäuerin aber hat gegen die gewaltsame Zerstörung ihres mit pflegender Hand großgezogenen Kleinodgärtchens nur Töne der Klage und des Jammers. Es ist, als ob inmitten dieser Flucht der Empfindung und des Mitleids nur Einem aus dieser Gruppe das Gefühl für das begangene Unrecht nicht abhanden gekommen sei: dem sich gegen den Niederritt des Zaunes wild aufbäumenden Rosse des einen der Reiter.

Gerade in jener Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege, auf [648] welchen die Costümirung der Figuren unseres Bildes hinweist, war der geschichtliche Moment eingetreten, wo das Recht der Ausübung des edlen Waidwerks zu einem Hoheitsrechte des Landesherrn gestempelt wurde, zu einem von diesem wieder an den höchsten Stand, den Stand des Adels, verliehenen Privileg. Es hatte lange gedauert, bis es dahin kam; denn das öffentliche Rechtsgefühl kämpfte beständig gegen diese Monpolisirung an. Im Rechtsbewußtsekn des Volkes hat darum auch diese Auffassung nie Platz gegriffen. Dort galt ein anderes Gesetz.

Nach uralten germanischen Rechtsbegriffen war nämlich Wald, Weide und Wasser Gemeingut. „Jagd und Wasser,“ lehrte ein alter Rechtsspruch, „sind gemein.“ Jeder freie Mann, der da Waffen tragen durfte, sollte auch das Recht haben, diese zu gebrauchen im Kriege des Friedens, das heißt in der Jagd gegen alles, was da kreucht und fleucht. Die Jagd war gewissermaßen die Kriegsschule in der Zeit des Friedens. Mit ihr schloß in der germanischen Urzeit neben Spiel, Gelage und dem Rathe der Gemeinde der Kreis der Lebensthätigkeit des Mannes ab. „Es soll jedes Wild in dem Rechte desjenigen sein, in dessen Gewalt es ist – wer die Vögel fängt, deß sind sie.“ So lautete die Norm des alten Rechts.

Mit dem Uebergange von Grund und Boden aus dem Eigenthum der Gesammtgemeinde in das Eigenthum des Einzelnen wuchs die Ausübung und Pflege des Waidwerks naturgemäß zusammen mit dem Besitze des Revieres, auf dem das Wild lebte und sich bewegte. Bald aber begann die Umwandlung des Naturwaldes in den Culturwald, den Forst. Diese forstliche Pflege, welche der Staat in seine Hände nahm, erstreckte sich aber nicht blos auf die Bäume, auf die pflanzlichen Nutzungen des Waldes, sondern auch auf das Wild. Man umgab dasselbe mit einem gesetzlichen Banne, dem Wildbanne, und entzog es damit sowohl dem allgemeinen Angriffe, wie dem des einzelnen Grundbesitzers. So wurde das Jagdrecht aus dem Zusammenhange mit dem Grund und Boden wieder gewaltsam herausgerissen und zu einem besonders verleihbaren Rechte des Königs gestempelt, von dem es dann wieder an die kleineren Territorialherren, an geistliche Stifte, Klöster und Reichsritter vergeben wurde.

Selbst die Aufnahme des römischen Rechts, welches in dem Grundsatze, daß das wilde Thier dem gehöre, der sich seiner zuerst bemächtigt, auf die altgermanische Rechtsanschauung zurückging, vermochte den Gang der geschichtlichen Entwickelung nach jener Richtung hin nicht zu durchbrechen. Weil es nur der hohe Adel war, der mit dem Wildbanne belehnt wurde, so hieß es im Volke nicht ohne ironisirenden Beigeschmack: „Wo Edelleute sind, da sind auch Hasen.“

Mit der Erstarkung der Landeshoheit wurde dagegen die hohe Jagd das alleinige Vorrecht des Landesherrn und damit der Wildbann des Adels wieder eingeschränkt. Man brachte das Recht der Ausübung der hohen Jagd gleichzeitig in Verbindung mit dem allein dem Landesherrn zustehenden Rechte der Ausübung der peinlichen Gerichtsbarkeit („an Hals und Hand“).

„Wohin der Hirsch mit dem Fange,
Dahin gehört der Dieb mit dem Strange.“

So gelangte das Leben des Edelwildes in dieselbe Werthclasse mit dem Leben des Menschen, und im Laufe der Zeit sollte sein Werth sich sogar noch darüber hinaus erhöhen.

Auch bei der niederen Jagd nahm der Landesfürst die Vor- und Mitjagd in Anspruch. So kam in die Rechtsbücher die Lehre von der Existenz eines landesherrlichen Jagdregals; das gemeine Rechtsgefühl des Volkes aber hielt mit altgermanischer Zähigkeit an dem Grundsatze fest, daß Jagd und Wald ein freies Eigen seien. Sobald nun in der Geschichte der socialen Entwickelung ein Druck von unten nach oben stattfand, trat auch der zurückgedrängte Gedanke der Jagdfreiheit wieder in den Vordergrund. Schon im dreizehnten Jahrhundert findet er einen Ausdruck in Freidank’s Bescheidenheit, einem bekannten mittelalterlichen hochdeutschen Spruchgedichte, in dem es heißt:

„Die Fürsten zwingen mit Gewalt
Fels, Stein, Wasser und Wald;
Dazu nehmen sie die Thiere wild und zahm,
Und machten’s auch so mit der Luft gern allsam,
Die muß uns, aber doch gemeinsam sein.
Könnten sie uns auch den Sonnenschein
Verbieten, nicht minder Wind und Regen,
Man müßt ihnen den Zins auf Gold abwägen.“

Als gegen das Ende des fünfzehnten und im Beginne des sechszehnten Jahrhunderts die Bauern sich überall gegen die Herren gewaltsam erhoben, bildete der auf ihnen lastende Jagddruck eines der Hauptmotive ihrer socialen Unzufriedenheit, und in den zwölf Artikeln, in denen sie ihre Forderungen zusammengestellt hatten, stand der Anspruch, daß sie wieder mit den Fürsten Wald und Wasser gemeinsam haben wollten, daß Wild, Vogel, Fisch und Holz frei sein sollten, obenan.

Je erbitterter aber der Kampf geführt wurde, um so mehr bewegte er sich auf beiden Seiten in’s Maßlose. Auf der einen Seite wurde der Wildbann, die Jagdschranke, auf alles Wild, außer den Vögeln und Bienen, ausgedehnt, zuletzt aber auch der Vogelfang, die Anlegung eines Vogelherds, zu einem Vorrechte des Adels gemacht, und nur die Sorge um das lohnendere Wild schloß gemeinschädliche und werthlosere Thiere wie Füchse, Wölfe, Bären von dem Wildbanne aus. Als eine nothwendige Folge des Jagdrechts erschien dann auch das Recht des Hegens, der jagdmäßigen Pflege des Wilds. „Wer darf jagen, der darf auch hagen.“

Damit aber gesellte sich zu dem verletzten Rechtsgefühle für den Bauer, den Proletarier des Mittelalters, noch die Zufügung eines materiellen Schadens. Man verbot ihm nicht blos die Vernichtung, die Abwehr des Wildes von und auf seinem Eigen; man verpflichtete ihn auch noch, sein Wirthschaftssystem zu Gunsten der Wildpflege einzurichten, verbot ihm z. B., um das Gedeihen der jungen Hasen- und Hühnerbrut nicht zu stören, das Jäten und Aufhacken des Ackers, das Heuen und Stoppeln, ja, damit der Wohlgeschmack der Rebhühner nicht leide, das Düngen der Aecker mit gemeinem Dünger; man zwang ihn endlich zu Frohndiensten bei der Hetze und Suche des Wildes.

In Folge dieser Hegung nahm auch der Wildstand eine ungewöhnliche Ausdehnung an. Man hat nachgezählt, daß unter der Regierung des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen unter Einrechnung der Bären und Wölfe allein 800,000 Stück Wild im Lande Sachsen erlegt worden sind, und nach den eigenen Jagdtagebüchern des Kurfürsten Johann Georg des Ersten von Sachsen wurden in den Jahren 1611 bis 1653 in Summa 113,629 Stück Wild erlegt, unter denen sich allein 28,000 wilde Schweine befunden haben. Gerade die Wildsau war aber das dem bestellten Felde gefährlichste Thier; denn der Einbruch eines einzigen Rudels in ein Saatfeld konnte in einer Nacht die Resultate der mühevollen Arbeit eines ganzen Sommers vernichten.

Unter solchen Umständen bildeten auch beim seligen Reichskammergericht die Processe wegen Wildschadens eine stehende Rubrik.

„Der Wohlstand des Wildes,“ heißt es in Weber’s „Demokrit“, „wurde höher geachtet, als der Wohlstand des Volkes. Menschen hatten,“ fährt der rücksichtslose Satiriker fort, „durch den fleißigen Anbau ihrer Erde Hirsche und Schweine verscheucht, den Ur, Eber, Bär und Wolf nach dem hohen Norden getrieben; jetzt vertreiben Hirsche und Schweine den Menschen in die freien Wälder Amerikas.“

In der That, war gerade im achtzehnten Jahrhlmdert zu Zeiten jener Versailler Hofwirthschaft, wie sie auch an den kleinen deutschen Höfen nachgeäfft wurde, der Jagdsport, um ein modernes Wort zu gebrauchen, am stärksten in Uebung. Er wurde, wie aus der Schilderung der damaligen Jagdfeste hervorgeht, mit dem größten Luxus und oft mit einem Raffinement betrieben, von dem wir heute kaum noch eine Vorstellung haben. An jenem Feste, das der Herzog Karl von Württemberg im Jahre 1782 zu Ehren seines Gastes, des russischen Thronfolgers, Großfürst Paul, gab und das dem Regimentsmedicus Friedrich Schiller die Gelegenheit bot, den bedrückenden Banden der Karls-Schule und des Gamaschendienstes zu entfliehen – an diesem Feste wurden aus allen Forstrevieren des Landes gegen 6000 Hirsche nach dem herzoglichen Lustschloß Solitüde getrieben, wo ein lebendiger Zaun aufgebotener Bauern ihren Durchbruch verhinderte. Dort sollten sie, nach dem Festprogramm, alle auf eine Anhöhe getrieben und von da gezwungen werden, sich in einen See zu stürzen. Ein im See aufgebauter Pavillon aber bildete den Schießstand der fürstlichen Schützen.

So wurde das arme gehetzte Wild zwischen die Alternative des Feuer- oder des Wassertodes gestellt. Selbst russischen Nerven schien das zuviel; denn man sagt, der Großfürst habe sich unwillig abgewandt und keinen Schuß gethan.

Gegen diesen Druck von oben, in der maßlosen Ausbeutung des Jagdrechts, erfolgte nun ein Druck von unten. Da der in

[649]

Eine Herrenjagd im siebenzehnten Jahrhundert.
Nach dem Oelgemälde von W. Räuber.

[650] seinem Eigenrechte gekränkte Landmann keinen gesetzlichen Schutz fand, so griff er zur Selbsthülfe und begann den Vernichtungskampf wider die Feinde und Schädiger seines Eigenthums auf eigene Faust. Er griff nach dem Gewehre und wurde unter dem Schutze des Waldes und der Nacht zum Wilderer.

Im Rechtsgefühl des Volkes hat das Verbrecherische der Wilddieberei nie Anerkennung gefunden. Ihm galt das Wildern immer nur als die Ausübung eines ureigenen, unrechtmäßiger Weise verkümmerten Rechts, als ein Act der Nothwehr wider einen rechtlosen Eingriff in die Sphäre des eigenen Rechts. Am schlagendsten wird dies documentirt durch die Geschichte des Meisters aller Wilddiebe, jenes zu einer historischen Berühmtheit aufgebauschten baierischen Hiesel (Matthias Klostermaier); denn er konnte nur deshalb allen Anstrengungen der Forst- und Polizeibehörden, seiner habhaft zu werden, Jahrzehnte lang trotzen, weil er im Schooße der Landbevölkerung die lebhafteste Unterstützung fand. Er galt als der heldenhafte Vollstrecker eines dem Volke selbst versagten Rechts; das Volk nahm auch keinen Anstand, diesen Wilderer in Wort und Lied zu feiern und ihm einen wahren Cultus der Verehrung zu weihen. Ein in ganz Altbaiern zu jener Zeit gesungenes Lied preist ihn als den „Fürst der Wälder, dessen Reich so weit gehe, als der Himmel blau ist“; denn das Wild „auf weiter Erde sei freies Eigenthum“; das Lied läßt ihn von sich sagen:

„Die Bauern geb’n mir z’ essen,
Und wenn ich’s brauch, noch Geld;
Drum thu ich d’ Felder schützen
Mit meinen tapfern Leut.“

Dieser gewaltthätige, auch hier in’s Maßlose sich steigernde Widerstand rief nun wieder eine um so stärkere Reaction der staatlichen Macht hervor. Es entstanden die Strafgesetze gegen die Wilddieberei, aber längere Zeit hinderte noch die Scheu vor dem tiefgewurzelten Rechtsbegriffe im Volke ein peinliches Einschreiten. „Da Gott den Menschen schuf, da gab er ihm Gewalt über Fische und Vögel und alle wilde Thiere. Darum haben wir es von Gott beurkundet, daß Niemand seinen Leib und seine Gesundheit um dieser Dinge willen verwirken mag,“ hieß es noch im Rechtsbuche des Sachsenspiegels, und es erging dort noch ausdrücklich das Verbot, daß „Jemand während des Kornes Reife die Saat durch Jagen oder Hetzen betrete.“

Auch die peinliche Halsgerichtsordnung Karl’s des Fünften zählt den Wilddiebstahl nicht unter die Verbrechen. War es doch für den Rechtsgelehrten überhaupt schwierig, den Begriff des gemeinen Diebstahls auf das Wildern zu übertragen, da, solange das Wild frei im Walde lebte, ein Besitz oder Gewahrsam desselben juristisch nicht festzustellen war. Man mußte deshalb zu besondern Ausnahmegesetzen greifen, und daran ließen es die Herren der Particularstaaten nicht fehlen. Ja, sie griffen, z. B. wenn sie ertappte Wilderer auf Hirsche binden und den furchtbaren Todesritt reiten ließen, zu eigenmächtiger Selbsthülfe. Auch sonst ging durch diese Wilddiebgesetze der Zug erbitterter Grausamkeit.

So gebot Herzog Ulrich von Württemberg 1517, daß den Wilddieben beide Augen ausgestochen werden sollten. Von einem Erzbischof Michael in Salzburg heißt es ferner, daß er 1517 einen Bauern, der einen seinen Aeckern verderblichen Hirsch erlegt hatte, in die Haut des Thieres einnähen und auf offenem Markte von den Hunden habe zerreißen lassen, und noch im Jahre 1772 wurde in diesem vom geistlichen Jagdsport besonders heimgesuchten Ländchen das alte Gesetz erneuert: „Wer einen Steinbock tödtet oder verwundet, kommt zehn Jahre auf die Veste und erhält am Jahrestage der That fünfzig Prügel; im Wiederholungsfalle verliert er die rechte Hand und kommt Zeitlebens um die Freiheit.“ Der im Waldreviere auf offener That ertappte Wilderer hatte vor dem Schusse des angestellten Jägers keinen größeren Schutz als das Wild selbst. Er war vogelfrei. So herrschte im Reviere des deutschen Waldes das Standrecht.

In anderer Weise nahm die Phantasie des Volkes, da dieses keinen irdischen Richter für den ihm nach seinem Rechtsgefühle zugefügten Schaden fand, gleichsam Zuflucht zur überirdischen Gerechtigkeit. Sie heftete an den Leib des tollen unersättlichen Nimrod den Fluch des Ahasver, die peinvolle Strafe ewiger Ruhelosigkeit und versetzte den Peiniger des armen Bauern nach seinem Tode unter die finstere Schaar des wüthenden Heeres, der wilden Jagd, welche noch von Wuotan’s Zeiten her rastlos mit furchtbarem Rüdenlärm durch die Wälder dahinbraust. Als der hervorragendsten Einer in der wilden Rotte galt der Oberjägermeister des Herzogs von Braunschweig, jener Hans von Hackelberg, von dem das Volk sich erzählte, er wäre der Lust des edlen Waidwerks so tief ergeben gewesen, daß er, von einem wüthenden Eber zu Tode getroffen, dem Priester, der ihn zu Gebet und Buße ermahnte, geantwortet habe:

„Wenn mir die Jagd nur bliebe, möchte unser Herrgott seinen Himmel schon behalten, wonach der fromme Mann sich entsetzt von ihm gewandt und ihm zugerufen habe:

„So jage denn, jage bis zum jüngsten Tage!“

Von einem Anderen, dem Wild- und Rauhgrafen, ging die Sage, er habe selbst am Sonntage, als die Glocken zur Kirche riefen, mit seinem wilden Trosse und der kläffenden Meute einen Hirsch gehetzt, habe in der tollen Hatz die Halme des Feldes, den Hirt und die Heerde und zuletzt selbst die Hütte des frommen Waldklausners zerstampft, bis ihm die Donnerstimme des Himmels ein mächtiges Halt geboten und ihn den Mächten der Hölle zur ewigen Pein überliefert habe. Nun rauscht ihm, wie es in Bürger’s Ballade heißt, durch die ganze weite Welt bellend die Hölle nach:

„Bei Tag tief durch der Erde Klüfte,
Und Mitternachts hoch durch die Lüfte.“

Es ist bekannt, wie in dem achtundvierziger Revolutionsjahre das alte Rechtsbewußtsein von der Freiheit des Waldes und der Jagd wieder zum gewaltsamen Durchbruche kam und dabei zu jener grausamen, planlosen Verwüstung des Wildstandes führte, von deren Folgen dieser sich nie wieder erholte. Es war dies eben nichts weiter, als der alte „Krieg um den Wald“, wie ihn Riehl nennt, „der sich in allen Jahrhunderten unserer Geschichte wiederholt“.

Diese gewaltsame Selbsthülfe führte indeß dahin, daß das Hoheitsrecht der Jagd verschwand und der alte erbitterte Streit insoweit eine naturgemäße Lösung fand, als das Jagdrecht nun wieder in Zusammenhang mit dem Eigenthumsrecht am Grund und Boden gebracht wurde; denn eine Rückkehr zu dem altgermanischen kommunistischen Gedanken des Gesammteigenthums an Wald, Wasser und Weide wäre heutzutage nicht durchzuführen; es setzt dies so einfache Verhältnisse voraus, wie sie heute nicht mehr bestehen.

Aber eine heilsame Wirkung hatte dennoch die Aufhebung des alten Rechts, durch welche der Mitgenuß des Einzelnen an Wald, Weide und Wasser geschmälert wurde; die neueste Regelung des Jagdrechts ließ den Gedanken der Besitzlosigkeit nicht aufkommen, und dieser ist es vor Allem, der unsern heutigen Socialismus erzeugt hat und ihm fort und fort neue Nahrung gab.

Fr. Helbig.




Ein Tag auf der Berliner Augustconferenz.[2]
Vom Prediger Dr. Kalthoff.

Am 24. und 25. August hat in Berlin wieder einmal die sogenannte evangelisch-lutherische Conferenz getagt, die sich seit einer Reihe von Jahren eine gewisse Berühmtheit in weiteren Kreisen erworben hat. Je weniger die Verhandlungen dieser Conferenz für die wissenschaftliche Theologie jemals etwas Neues zu bieten vermögen, desto interessanter pflegen sie als Symptome des allgemeinen Zustandes unserer Kirche zu sein. Die Augustconferenzen haben die Erbschaft der orthodoxen Kämpen einer früheren Zeit, der Herren Hengstenberg, Stahl und von Gerlach, angetreten. Auf ihnen wird regelmäßig vor aller Welt das Bündniß der reaktionären Parteien erneuert; auf ihnen giebt der pommersche Landjunker dem märkischen Superintendenten den Bruderkuß. Was unsere Kirche an Orthodoxie und Pietismus aufzuweisen hat, ist auf der Augustconferenz vertreten.

Wer aus dem bunten Leben der Reichshauptstadt in eine solche Conferenz hineintritt, glaubt sich plötzlich in eine andere [651] Welt versetzt. Schon der äußere Eindruck der Versammlung läßt über den Charakter derselben keinen Zweifel: der lange schwarze, bis an die weiße Halsbinde zugeknöpfte Luther-Rock, mit dem man bekanntlich vor der Welt das Zeugniß unverfälschter Rechtgläubigkeit ablegen will, ist hier die vorherrschende Tracht. Scharfgeschnittene Gesichter mit unheimlich stechenden Augen verrathen den zelotischen Geist, der diese Eiferer für die reine Lehre beseelt. Dann wieder begegnen wir jenem süßlichen Gesichtsausdrucke, jenem himmelnden Blicke, der für einen natürlich organisirten Menschen zu dem Unangenehmsten gehört, was ihm geboten werden kann. Hier und dort begegnet man auch einer Physiognomie, der man es ansieht, daß ihr Besitzer sich eigentlich draußen am Büffet viel wohler fühlen würde, als bei den Beratungen seiner Gesinnungs- und Amtsgenossen. In diesem Jahre war die Augustconferenz unter ganz besonders günstigen Auspicien zusammengetreten. Als vor zwei Jahren ein Redner der Versammlung das frivole Wort aussprach: „Gott segne die Reaction!“ mochte er wohl selbst nicht gedacht haben, daß sein Herzenswunsch, dem er in diesem Worte Ausdruck verlieh, sobald in Erfüllung gehen würde. Noch vor einem Jahrzehnt wurde die Augustconferenz vom preußischen Kirchenregiment durchaus mit mißtrauischen Augen angesehen. Weil die Conferenz eine entschieden feindliche Stellung gegen die Union einnahm, bildete die Theilnahme an derselben ein Hinderniß der Ernennung zum Superintendenten. Heute nimmt der Präsident des Provinzialkirchenregiments Hegel neben dem Generalsuperintendenten Büchsel an der Versammlung Theil, und hervorragende Mitglieder eines unirten Kirchenregiments hören ruhig zu, wenn der erste Referent der diesjährigen Verhandlungen den Reformirten gegenüber das Wort erneuert: „Ihr habt einen anderen Geist als wir,“ oder wenn er als das Ziel der Versammlung die Umwandlung der Union in eine confessionell lutherische Kirche proclamirt. Heute wird den Theilnehmern der Augustconferenz von dem Minister freie Rückfahrt auf allen Staatsbahnen bewilligt! Die Vorkämpfer kirchlicher Reaction erhalten Unterstützung aus staatlichen Mitteln!

Der erste Tag der Verhandlungen begann früh Morgens um acht Uhr mit einem Gottesdienst in der Matthäi-Kirche, bei dem Generalsuperintendent Büchsel die Predigt hielt. Büchsel gehört bekanntlich nicht zu den oratorisch oder wissenschaftlich irgendwie bedeutenden Predigern der Berliner Orthodoxie. Den Grund für die Anziehungskraft, die er nichtsdestoweniger auf seine Zuhörer ausübt, möchte man vielmehr in der Kühnheit suchen, mit der sich Büchsel über die einfachsten kanzelrednerischen und logischen Regeln hinwegsetzt. Das Publicum seiner Predigten gehört fast durchweg der vornehmen Welt an, und wenn die vornehme Welt einmal anfängt „fromm“ zu werden, so pflegt sie meistens in Folge ihres überreizten Gaumens einen ganz absonderlichen Geschmack zu haben. Indeß widerstrebt es dem Gefühl der Pietät, die wir einer der gemeinsamen Andacht geweihten Stunde gern entgegenbringen, diesen Theil der Augustconferenz näher zu beleuchten wenn auch Büchsel selbst durch die Ausfälle gegen den Liberalismus, die er sich auch diesmal wieder von der Kanzel herab erlaubte, in keiner Weise Anspruch auf diese Pietät haben mag.

Gegen elf Uhr eröffnete Graf Krassow die Verhandlungen in der Berliner Flora. Am Vorstandstische hatten unter Anderem Platz genommen von Kleist-Retzow , vielleicht, der äußeren Erscheinung nach, die ansprechendste Persönlichkeit ans der ganzen Versammlung, Professor Grau aus Königsberg und der seiner Zeit zum Märtyrer der Augustconferenz gestempelte Superintendent Meinhold. Nach Erledigung einiger Formalien begann der erste Referent, Professor Sohm aus Straßburg, in weiteren Kreisen als Führer der Agitation gegen die Civilehe bekannt, seinen Vortrag über die Frage: „Was hat die Kirche vom Kirchenregiment zu verlangen?“

Schon die Wahl des Themas kann als ein Zeichen der Zeit gelten. Der Appetit kommt bekanntlich beim Essen. Hat das preußische Kirchenregiment einmal angefangen, den Gelüsten der Orthodoxie nachzugeben, so darf es sich auch nicht wundern, wenn von jener Seite immer ausschweifendere Forderungen an dasselbe gestellt werden. Man muß es dem Redner nachrühmen, daß seine Ausführungen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Das ist überhaupt immerhin das Sympathische an den Augustconferenzen, daß auf ihnen die theologischen Diplomaten noch nicht das große Wort führen, aber dafür ist auf denselben in der Regel dem Publicum die beste Gelegenheit geboten, einen Einblick in die ganze Unnatur der protestantischen Orthodoxie zu thun. Die lutherische Orthodoxie will eben ihre Stellung zwischen zwei absolut unvereinbaren Gegensätzen nehmen, zwischen dem kirchlichen Glaubenszwang und der protestantischen Glaubensfreiheit. Sie hat nicht den Muth, offen die Unfehlbarkeit der Kirche zum Dogma zu erheben, factisch aber bleibt ihr die Autorität der Kirche überall die letzte Instanz für die Fragen des Glaubens und Gewissens. Das Bekenntniß ist die rechtlich feststehende Norm des Glaubens – so belehrt uns Professor Sohm. Aber der Lutheraner, so werden wir weiter belehrt, glaubt nicht etwa, wie der Katholik, an das Bekenntniß, weil es die Kirche lehrt, sondern – weil es mit der Bibel übereinstimmt. Ja, wer controllirt denn diese Uebereinstimmung? Nicht die freie Kritik, sondern die Kirche. Sie hat behauptet, daß Bekenntniß und Bibel übereinstimmen, und wehe Dem, der diese Uebereinstimmung etwa einmal nicht finden sollte! Und wer hat denn bestimmt, daß alle Glaubensnormen der Kirche mit der Bibel übereinstimmen müssen? Doch eben wieder die Kirche, welche die Bibel nur aus denjenigen Büchern zusammengesetzt hat, von welchen sie annahm, daß sie mit den Anschauungen der schon bestehenden kirchlichen Glaubensregel übereinstimmten

Ist nun aber das lutherische Bekenntniß die einzige Regel des öffentlichen kirchlichen Lebens, so ist es auch völlig consequent, wenn der Referent der diesjährigen Berliner Augustconferenz fordert, daß ein Jeder, auch der Laie, der ein Amt in der Kirche bekleidet, auf das Bekenntniß verpflichtet wird. Also jedes Mitglied eines Gemeindekirchenraths, jedes Mitglied einer Synode, jedes Mitglied des Kirchenregiments muß in seiner Wirksamkeit an das Bekenntniß des lutherischen Glaubens gebunden werden und hat einen Eid auf dasselbe abzulegen. Wenn das geschieht, dann ist die goldene Zeit für die Kirche gekommen, in der, wie der Referent sich ausdrückte, die geistliche Aristokratie das alleinige Regiment führt, und daß das geschehe, das ist die Forderung der Kirche an ihr Kirchenregiment! Nun ist aber doch in den deutschen protestantischen Nationalkirchen der Landesfürst oberster Träger des Kirchenregiments. Insbesondere ist in Preußen das Summepiskopat Vorrecht der Krone. Die allerdings kluger Weise unausgesprochene Forderung der Augustconferenz geht also in letzter Consequenz dahin, daß der Landesfürst nur dann in den Vollbesitz aller Rechte seiner Krone eintreten dürfe, wenn derselbe einen Eid auf das lutherische Bekenntniß ablege und sich zum Glauben an die Dreieinigkeit, die Erbsünde, an Christi Himmel- und Höllenfahrt bekenne, überhaupt wenn die Pastoren mit seiner Rechtgläubigkeit zufrieden sind.

Was hülfe es aber der Kirche, wenn auch Könige und Consistorien, Synoden und Presbyterien alle im rechten lutherischen Glauben ständen und sie nähme doch Schaden – am Kirchenvermögen! Noch ist ja das Kirchenregiment in Preußen, auch wenn es das gläubigste wäre, ohnmächtig, weil es nicht frei über die Millionen verfügen kann, die nach der Absicht der Augustconferenz zur Hebung gläubigen Sinnes nöthig sind. Das confessionslose Abgeordnetenhaus hat zum Aerger aller gutgesinnten Lutheraner das Budgetbewilligungsrecht für die Kirche. Das muß anders werden, denn die Geldfrage ist nach der Meinung des Professor Sohm das Herz der Kirche. Alles säcularisrte Kirchengut muß der Kirche zurückgegeben werden, damit Generalsynode und Oberkirchenrath über dasselbe frei zur größeren Ehre des lutherischen Glaubens verfügen können.

Das also ist das Kirchenideal dieser Herren: eine Kirche, in der das Bekenntniß das Kleid und das Kirchenvermögen das Herz ist! Um diesem Ideal zum Leben zu verhelfen muß die Zeit ausgekauft werden, solange sie wie gegenwärtig so günstig ist – das war wiederum der kurze Sinn des langen Vortrags, den der zweite Referent Superintendent Holzheuer an das Referat des Professor Sohm anschloß.

Nachmittags gegen 41/2 Uhr beschäftigte sich ferner die Conferenz mit der Frage, wie den Gefahren zu begegnen sei, welche die Unkirchlichkeit und Sittenverderbniß der großen Städte für das Land bietet. Daß die großen Städte die eigentlichen Brutstätten des Lasters seien, daß die ländliche Einfalt nicht ängstlich genug vor jeder Berührung mit dem Leben der Großstädte bewahrt werden könne, ist ja schon längst eine Lieblingsbehauptung der ländlichen Pastoren. Wer freilich die Verhältnisse nicht durch die pastorale Brille ansieht, weiß, daß die Sittenverderbniß auf dem Lande auch ohne Einfluß der Städte groß genug ist, um den Landpastoren [652] den ernsten Rath zu geben, sie sollten zuerst einmal vor ihrer eigenen Thür kehren. Es handelt sich ja auch eigentlich für die orthodoxer Herren weniger um die Sittlichkeit als um die Gläubigkeit. Da ist allerdings der Einfluß der größeren Städte gefährlich. Das von denselben ausgehende geistige Leben klärt auch die Köpfe der Landbevölkerung auf, und der Bauer fängt allmählich an stolz darauf zu sein, daß er nicht mehr so dumm ist, alles zu glauben, was ihm vorgeredet wird. Natürlich wird das der Orthodoxie unbequem; sie klagt deshalb die großen Städte an, daß sie die Hauptschuld an der „Mißachtung der Autoritäten“ tragen

Besonders aber war es die Presse, über welche sich die ganze Schale des pastoralen Zornes ergoß, und bei dieser Gelegenheit wurde auch der „Gartenlaube“ die Ehre zu Theil, vom Hofprediger Stöcker als Repräsentantin der „Schandpresse“ bezeichnet zu werden. So sind ja jene Heeren: die Begriffe von sittlich und unsittlich sind ihnen übergegangen in die Begriffe von gläubig und ungläubig. Man kann nach besten Kräften für die Verbreitung edler Gesittung, für die Förderung humaner Bestrebungen arbeiten – das rettet Niemand vor dem Bannfluche, sobald diesen Arbeiten der Stempel specifischer Kirchlichkeit fehlt. Wer erst gar wagt, dem Volke die Ketten zu zeigen, welche die Hierarchie dem Geist schmiedete, wer die Lüge und Heuchelei aufdeckt, welche die Orthodoxie im Gefolge hat, der ist unrettbar dem Verdammungsurtheil verfallen Ein achtzigjähriger katholischer Bischof hat am Anfang dieses Jahrhunderts auf dem Sterbebett den Ausspruch gethan: es gäbe keinen unversöhnlicheren Haß als den der Sclavenhalter und – der Priester.

Es ist einmal die scherzhafte Bemerkung gemacht worden das Beste wäre, wenn Stöcker zum preußischen Cultusminister erhoben würde; dann hätte er in vier Wochen abgewirtschaftet, und wir wären ihn für alle Zeiten los. Man könnte von der ganzen Augustconferenz sagen: das Beste wäre, wenn einmal alle ihre Forderungen erfüllt würden; dann könnten wir sicher: sein, daß unser Volk sich nur um so mächtiger gegen den geistigen Druck empören würde, der es alsdann zu erdulden hätte. Indeß, wenn es auch ewig wahr bleibt, daß neues Leben aus den Ruinen erblüht, ist es darum nothwendig daß stets erst Ruinen da sein müssen, wenn neues Leben entstehen soll? Müssen denn immer erst die stolzesten Errungenschaften unserer Cultur in Frage gestellt, die niedrigsten Leidenschaften der Menschen entfesselt werden, damit die träge Masse von brennender Sehnsucht nach Besserem erfaßt werde und ein neuer Aufschwung der Geister sich fühlbar: mache?

Eine angesehene liberale Zeitung tröstete sich beim Rückblick auf die Augustconferenz damit, daß die von derselben beschlossenen Resolutionen ohne jede praktische Wirkung bleiben werden. Ist das aber nicht schon eine praktische Wirkung, wenn nun ein halbes Tausend Pastoren nach der Conferenz in ihre Gemeinden zurückkehren, um dort die neuen Schlagwörter, mit derer sie sich in Berlin durch ihre Führer haben ausrüsten lassen, weiter zu geben und die alte Minirarbeit gegen unser modernes Culturleben mit neuen Kräften wieder zu beginnen? Was haben wir denn jener Arbeit entgegenzusetzen? Als vor wenigen Wochen in Berlin der Protestantentag aus ganz Deutschland zusammentrat, betrug die Zahl der activen Theilnehmer an demselben etwa den vierten Theil derjenigen, die sich zur Augustconferenz allein aus Preußen eingefunden hatten. Man sieht: wenn es sich um die Arbeiter des kirchlichen Gemeindelebens handelt, bietet die confessionelle Partei ihre tüchtigsten und rührigsten Kräfte auf, aber unter den Freisinnigen hält es meistens schwer, nur nothdürftig die Zahl der erforderlicher Candidaten zusammenzubringen, während die einflußreichsten und leistungsfähigsten Kräfte von der Arbeiten der kirchlichen Reform sich zurückziehen. Dort Rührigkeit, Macht und Ansehen, hier Schlaffheit, Gleichgültigkeit, im besten Falle ein momentanes Aufflackern ohne Ausdauer das ist im Großen und Ganzen die Signatur der Heerlager, die sich im kirchlichen Kampfe gegenüberstehen. Wenn diese Signatur sich nicht wesentlich ändert, werden wir bei jedem Schritt, den wir rückwärts machen, bekennen müssen: Nicht die Stärke der Gegner, sondern unsere eigene Schwäche ist die Ursache der Reaction.




Blätter und Blüthen.

Das Brockhaus'sche Conversations-Lexicon in neuer Auflage. Zu den ältesten literarischen Hausfreunden des deutschen Volkes gehört das Brockhaus’sche Conversations-Lexicon. Dem Lernbegierigen ein kenntnißreicher Lehrer, dem Gedächtnißschwachen ein stets bereiter Retter in der Noth, hat es sich in der deutschen Familie wohlverdiente Achtung und Liebe erworben – und heute erscheint der alte Freund, die Vortheile, welche die in Wissen und Technik fortgeschrittene Zeit ihm bietet, klug benutzend, in neuem Gewande. Aber nicht nur modischer und prächtiger am Kleide, ist er, wie an Jahren, so auch an geistigem Inhalte und an erfahrungsvoller Weisheit reicher geworden.

Es ist die dreizehnte Auflage, in der das Lexicon soeben zu erscheinen beginnt, nicht ein bloßer Neudruck, sondern eine vollständig umgearbeitete und wesentlich erweiterte Ausgabe des Werkes. Der hervoragendste Unterschied dieser Auflage besteht den früheren gegenüber in einer erheblichen Vermehrung der Artikel, ferner in der Beigabe von Abbildungen.

Bei der Vermehrung der Artikel ging die Verlagshandlung von dem Wunsche aus, durch Auskunftsertheilung über jede Frage des Wissens und des Lebens dem höchsten und letzten Ziele immer näher zu kommen, welches die lexicalische Literatur sich stellen kann. Die für so viele Wissensgebiete unentbehrliche Ergänzung des Wortes durch das Bild aber hielt sie für eine Forderung der Zeit, der sie sich nicht verschließen durfte, und so wird sie diese neue dem deutschen Volke auf’s Wärmste zu empfehlende Auflage des Lexicons mit Abbildungen und Karten auf nicht weniger als vierhundert Tafeln schmücken, dieselben werden durch die verschiedensten graphischen Verfahren: Holzschnitt, Phototypie, Lithographie und Farbendruck hergestellt und auch einen vollständigen geographischen Atlas darbieten; außerdem werden Abbildungen in den Text gedruckt, wo dies zum besseren Verständnisse nöthig erscheint. Das Papier ist holzfrei, also dem Vergilben nicht ausgesetzt.

Wir geben dieser neuen Auflage des altbewährten trefflichen Conversations-Lexicons die besten Wünsche mit auf den Weg in das deutsche Heim.




Nicht zu übersehen.

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal des laufenden Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.




Für das nächste Quartal liegt uns außer der nur noch wenige Nummern umfassenden Fortsetzung der Godin’schen Erzählung „Mutter und Sohn“ die gehalt- und stimmungsvolle Novelle:

Das Krüppelchen von Karl Theodor Schultz,

dem allbeliebten Verfasser von „Felix“, vor, und werden sich an dieses sein entworfene und spannende Seelengemälde einige kürzere Novelletten anschließen.

Unter den zahlreichen belehrend-unterhaltenden Beiträgen aus allen Gebieten des Wissens und Lebens seien hier nur genannt: instructive Artikel über die internationale elektrische Ausstellung in Paris von Ernst Hinkefuß, lebensvolle Schilderungen der Flottenmanöver bei Kiel von Harbert Harberts, interessante Mittheilungen aus der Jagd- und Hunde-Ausstellung zu Cleve von v. Hirschfeld sowie farbenfrische Bilder von den Dresden-Meißener Festen der deutschen Kunstgenossenschaft von A. Wernick, welche sämmtlichen Aufsätze durch hinzugefügte Illustrationen von Meisterhand (Woldemar Friedrich, Ludwig Beckmann. u. A.) einen besonderen Reiz erhalten werden. Außerdem: die Fortsetzung unserer Rubrik „Um die Erde“ von Rudolf Cronau nebst anderen Studien über Amerika, in erster Linie aber „Bilder aus dem Stillen Ocean“ von dem bekannten Reisenden O. Finsch. Ein hervorragendes Interesse dürften endlich die uns von Dr. Kalthoff, dem tapferen Streiter für Religionsfreiheit und unabhängiges Denken zugesagten Artikel „Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments“ in Anspruch nehmen, in welchen sich der geistvolle Verfasser die Aufgabe gestellt hat, im Gegensatze zu einer mystisch-unklaren Auffassung der Entwicklungsgeschichte der Bibel die rein-menschliche und natürliche Entstehung der neutestamentlichen Schriften in großen Zügen kurz darzulegen.

Die Redaction der „Gartenlaube“.



  1. Für einen Theil unserer Leser dürfte es nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, daß die beiden obigen für die „Gartenlaube“ angefertigten Originalzeichnungen in einem gegen das Ende dieses Jahres erscheinenden Bildersammelwerke über Norderney (Braams’ Verlag, Norden) Aufnahme finden werden.
    D. Red.
  2. Unser Herr Referent war leider verhindert, den Verhandlungen des zweiten Tages beizuwohnen.
    D. Red.