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Die Gartenlaube (1881)/Heft 38

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[617]

No. 38.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


„Officier willst Du werden, um Deiner Mutter eine angesehene Stellung zu schaffen?“ fragte Fügen. „Du träumst wohl? Der Umgang mit Friesack ’s hat Dir den Kopf verdreht. Ja, könntest Du damit anfangen, Oberst zu werden oder Major! Welche Reihe von Jahren muß aber vergehen, ehe Du nur über den Lieutenant hinaus bist!“

„Ich trage den Gedanken seit langer Zeit in mir und hielt die Augen offen. Der Oberst will mir wohl; er wird mir alles Formelle erleichtern, wenn ich als Avantageur in sein Regiment trete. Anfänge sind in jedem Berufe zu überwinden – dieser führt sicher meinem Ziele entgegen. Keine Willenskraft kann mir Genie geben, mit Studium und Ausdauer läßt sich aber in der militärischen Carriere Auszeichnung gewinnen. Das will ich um meiner Mutter willen.“

Fügen antwortete nicht; ihm war, als sei der Knabe plötzlich nicht mehr derselbe, mit welchem er seit Jahren Haus und Herz, Freuden und Leiden seiner Künstlerseele getheilt hatte. Alles, was Fügen leidenschaftlich gehegt, seine Liebe zur Musik, zu Genoveva, zur Freiheit sogar, war ihm durch Siegmund zu einem Bilde verschmolzen, gleichsam verkörpert. Und nun sollte von diesem geliebten Menschen die Kunst fortan höchstens als eine Art von Luxus gepflegt, seine Freiheit in Fesseln geschlagen werden. Er kam über den Eindruck nicht hinweg, daß Siegmund sein göttliches Erbtheil um ein Linsengericht verkaufen wolle.

Während solche Gedanken sein Inneres bewegten, hatte Siegmund seinen Sitz am Tische schweigend wieder eingenommen; er stützte den Kopf in die Hand und hielt die Augen unverwandt auf seinen alten Freund gerichtet. Dieser blieb auf einmal vor ihm stehen; es wetterleuchtete in seinem Gesicht.

„Nun,“ sagte er, „Jeder mag thun, was er nicht lassen kann.“

„Dank!“ erwiderte Siegmund mit tiefem Atemzuge. „Und was, denken Sie, wird meine Mutter sagen?“

Der Meister bewegte unruhig seinen buschigen Kopf. Diese Frage war, seit Siegmund seine Eröffnungen begonnen, der Hintergrund aller seiner Gedanken gewesen.

„Deine Mutter,“ sagte er finster, „wird zustimmen.“

„Sie glauben?“ Ein Freudenblitz sprühte aus Siegmund’s Augen.

„Ich weiß – ich weiß,“ murmelte Fügen und warf sich in die Sophaecke. In der. That stand ihm außer Zweifel, daß Genoveva dem neuen Lebensplane zustimmen würde, welcher mehr als jeder andere ihren geheimen Erwartungen entsprach. Die Stellung des Officiers näherte Siegmund seinen angeborenen Standesrechten; gelang es ihm, diese zu gewinnen, so fand ihn ein solcher Moment bereits in entsprechenden Kreisen. Auch das vorhin flüchtig hingeworfene Wort: daß Oberst Friesack willig sein würde, dem Freunde seines Sohnes alles Formelle zu erleichtern, hatte für Fügen größere Bedeutung noch, als für den, welcher es ausgesprochen; denn er wußte sehr wohl, wie hoch der persönliche Einfluß eines Commandirenden in der österreichischen Armee anzuschlagen war, wie nöthig er gerade in diesem Falle sein würde. Das Fehlen aller Personalpapiere konnte durch den Oberst ausgeglichen werden. Fügen that sich Gewalt an und besprach mit seinem Mündel die zunächst nothwendigen Schritte, welche jedenfalls erst nach dem bevorstehende Zusammentreffen mit Frau von Riedegg unternommen werden konnten. Er that sich Gewalt an – denn daß etwas wie Reif zwischen sie gefallen war, empfanden Beide deutlich. Als sie sich trennten und Siegmund sein gewohntes: „Gute Nacht, Meister,“ sprach, polterte Fügen’s unterdrücktes Unbehagen in dem Worte heraus: „Bin ich nicht mehr!“

Siegmund athmete tief auf, als er in sein Schlafzimmer trat, aber so luftig das Gemach war, heute erschien es ihm dumpf. Er öffnete das Fenster, um die kühle Nachtluft hereinströmen zu lassen, und lehnte sich auf das Sims. Es war spät, die Straße menschenleer; die meisten Häuser standen in Dunkel und Schweigen. Nur hin und wieder flimmerte schwacher Lichtschein hinter einzelnen Scheiben. Der Mond war niedergegangen; Nebelmassen stiegen auf. Die hochgelegene Citadelle schien frei im Hintergrunde zu schweben. Siegmund hatte ein Gefühl, als müßten ihm hohe Geheimnisse aufgehen.

Die Schwere, welche er von den letzten Stunden mit hinweggenommen, lüftete sich plötzlich. Es war eine steile Stufe, die er heute erstiegen, sein Auge blickte aber von dort aus freier in die Weite. Während sich Fügen mit dem Gedanken quälte, daß er fruchtlos gestrebt, sein Eigenstes in die Seele des Zöglings zu pflanzen, wuchs diesem gerade auf der Basis innerer Harmonie, die er vom Meister empfangen, das Bewußtsein auf: jedem Conflict des Lebens gewachsen zu sein. Wie ein Gestirn stand das Bild der Mutter über ihm, und diesem Sterne zu folgen, konnte auf keinen Irrweg führen.

In gehobener Stimmung schloß er das Fenster. Als er die Kleider abstreifte, fiel etwas Leichtes, Kühles auf seine Hand. Sinnend betrachtete er im Sternenzwielichte die noch im Welken tiefblaue Blüthe und legte sie dann in ein Fach seines Notizbuches. Sie sollte ihm ein Zeichen des Tages bleiben, der über sein Geschick entschieden hatte.



[618]
20.

„Höher hinauf, Lois!“ sagte Jana zu ihrem Bruder, der auf der Trittleiter stand und schwere Laubguirlanden über dem Mittelfenster des Terrassenzimmers befestigte; „es macht sonst zu dunkel.“

Lois folgte der Weisung.

„Es sind nicht Deine Kränze, die das Zimmer verdunkeln,“ sagte er dann im Niedersteigen. „Sieh nur den Himmel an!“

Sie trat näher und blickte nach dem Gewölk, das in fliegender Eile einherzog. Fast in demselben Moment klappten die geöffneten Fensterflügel zu; unheimliches Rauschen ging durch die Luft, und ein feiner, gelblichgrauer Wolkenstreif fiel wie ein Schleier über den Gipfel des Heiteren Lahn.

„Gut, daß unsere Reisenden erst nach einigen Stunden eintreffen!“ meinte Jana. „Der Scirocco ist im Anzuge.“ Sie schloß eilig das wieder auffliegende Fenster, zu dem ein Gluthhauch hereindrang.

Lois schwieg. Sein Auge hing unverwandt am Himmel, der ein eigentümliches Schauspiel bot. In Form und Farbe unaufhörlich wechselnd, jagte eine Heerschaar von Wolken vorüber, kupferfarbig, grünlichgrau, kiesschwarz, mitunter von weißlichen Punkten erhellt, die sich wie riesige Schneeflocken auf den schwer dahinwogenden Massen zu schaukeln schienen. Nebel flatterten über die Wälder, und hinter den Bergen drohten dunkle Gewalten bis eines der Gebirgshäupter nach dem andern von den Wolken gleichsam verzehrt wurde.

Lois wendete plötzlich den Kopf.

„Wo ist Maxi?“ fragte er unruhig.

„In der Mühle. Keine Sorge! Sie bleibt dort bis zur Postzeit – das ist noch lange hin; die Mutter läßt sie auch nicht fort bei solchem Wetter.“

„Und wozu heut in der Mühle?“ fragte Lois ärgerlich.

„Warum läuft sie weg, während Du alle Hände voll zu thun hast? Kann das Mädchen nie zur Stelle bleiben, wo man sie braucht? Du lässest ihr auch allen Eigenwillen.“

„Nun, nun!“ begütigte Jana lächelnd, „wozu ereiferst Du Dich? Vielleicht hab’ ich sie nur deshalb gehen lassen, weil mir ahnte, daß Du kommen würdest. Ihr zankt Euch ja beständig – das ist nicht besonders angenehm für die Zuhörer, und ich möchte mir heut die Laune nicht gern verderben lassen. Scherz bei Seite: warum könnt Ihr Beide Euch denn gar nicht vertragen?“

Lois erglühte. Ohne zu antworten, ergriff er rasch die Trittleiter und trug sie hinaus. Er hatte während verschiedener häuslicher Hülfsleistungen vorhin die Soutane abgestreift und eine leichte Leinwandblouse übergeworfen, die seinen schlanken Wuchs trefflich zur Geltung brachte. Jana sah ihm wohlgefällig nach, war aber erstaunt, als er völlig angekleidet, den flachen runden Hut in der Hand, zu ihr zurückkehrte.

„Du willst doch jetzt nicht fort?“ sagte sie rasch. „Bis Du heimkommst, ist das Gewitter längst ausgebrochen; es wäre doch ein Unsinn, da unterwegs zu sein. Ich dachte überhaupt, Du wolltest Riedegg’s hier erwarten – sagtest Du nicht so?“

„Heut ist mehr im Anzug als ein gewöhnliches Unwetter,“ sagte er und blickte wieder unruhig nach dem fahlen Wolkengetriebe. „Wenn daheim etwas passirte!“

„Was soll passiren?“ meinte Jana gelassen. „Gewitter sind doch keine Seltenheit bei uns; ich begreife nicht, warum Du Dir heute solche Gedanken machst. Nein, ich lasse Dich nicht fort, brauche Dich auch noch bei meinen schönen Einrichtungen, und Du hast ja nichts zu versäumen. Komm, setz’ Dich, und laß uns ein wenig plaudern! Schau’ mir vor Allem nicht gar so ernsthaft drein! Ich bin so freudig: meine Feiertage brechen an.“

Lois legte schweigend den Hut weg, setzte sich zu Jana und sah sie an. Ihr liebes Gesicht war wirklich von Freude wie beleuchtet. In plötzlicher Bewegung ergriff er ihre Hand und drückte sie warm:

„Gute, genügsame Seele!“

„Genügsam, während ich vollauf habe? O Lois, es giebt so viel Schönes auf der Welt, so viel Liebes zu tun alle Tage! Und dazu noch in jedem Jahr auf solche Festtagszeit warten, sie dann erleben zu dürfen, wie herrlich ist das! Um nichts gäb’ ich schon die Vorfreude hin, und wenn sie dann Alle kommen und ich fühle, daß ich zu ihnen gehöre, mich an diesen drei Menschen erlaben darf die ihres Gleichen nicht haben – sollt’ ich da nicht glücklich sein? Und dieses Jahr habe ich Dich dazu nach langer Entbehrung.“

„Mich –“ sagte Lois und sah zu Boden.

„Meinst Du, Dein Ernst könnte meine Freude stören? O nein! Ich möchte Dich nicht anders, jetzt, wo Deine Weihen so nahe sind. Dieses Warten auf ein Höchstes muß Dich ja von Menschen und Dingen abziehen; ich begreife Dein Innenleben und wie Du jetzt dahin zurückgezogen bist, wie in eine heilige Einsiedelei.“

Lois stand rasch auf und trat wieder an das Fenster. Schweres Dunkel überschattete plötzlich das große Zimmer; es krachte, als wolle das Haus einstürzen sammt dem Berge, der es trug. Der Horizont brannte von Blitzen, die meilenweit durch das schwarze Gewölk zuckten. Es heulte um die Waldecke – der Kampf der Gegenwinde begann.

„Wie sich’s bei dem Sturme wohl drüben in der Einsiedelei hausen mag?“ warf Lois hin.

„Wie bist Du doch heute!“ sagte Jana und blickte besorgt nach dem Bruder. „Komm’ – ich möchte mit Dir über etwas reden, das mir sehr am Herzen liegt. Es hätte früher geschehen sollen, aber ich kann mir schon denken, wie Du mir rathen wirst, und weil es mir schwer fällt, dem Rat dann zu folgen, und es doch wird sein müssen – darum verschob ich’s immer. Jetzt ist es aber die höchste Zeit, denn man kommt so leicht nicht dazu, unter vier Augen zu sprechen, wenn die Andern da sind. Deshalb hab’ ich eigentlich heut die Maxi fortgeschickt.“

Lois setzte sich seiner Schwester ganz nahe.

„Nun?“ fragte er gespannt, ohne sie dabei anzusehen.

„Es ist wegen der Maxi. Schau, ich wollt’ es Dir nicht Wort haben, Du hast aber ganz Recht: das Kind hat nirgend Rast und Ruh’, und ich mache mir Gedanken darüber, ob es gut ist, sie länger hier zu lassen. Launisch und ungestüm ist sie ja immer gewesen, so wie jetzt aber nie. Es mag ihr allzu einsam vorkommen – so allein mit mir das ganze Jahr. Was hat sie auch viel zu thun? Bei ihren Kränzen und Blumen läßt sie’s an Eifer nicht fehlen, verdient sich auch manchen Gulden dabei; die alte Thresl, der wir den Verkauf lassen, rühmt immer, wie Jedes nur ein Kränzel von der Maxi haben will. Aber gerade das Stillesitzen ist nichts für sie, und kein Wunder, wenn sie jeden Vorwand benutzt, um sich davon zu machen. Weißt Du, es war vielleicht doch gefehlt, daß ich ihr alles beibrachte, was ich selber gelernt hab’; ist wenig genug, lauter Zusammengestoppeltes – ich meinte aber ihr damit das einsame Leben abwechselnder zu machen und hab’ sie vielleicht nur unzufrieden damit gemacht. So dacht’ ich denn, ob es nicht geratener wäre, die gnädige Frau zu bitten, daß sie das Kind mitnimmt und zum Dienst für sich verwendet; sie muß ja doch in dem herrschaftlichen Hause Jemand der Art haben. Dann hab’ ich aber auch wieder Bedenken; ich weiß wenig genug von der Welt draußen, kenne sie eigentlich nur aus den Geschichten, die in Büchern stehen, aber die Maxi ist jetzt achtzehn Jahr alt, und sie ist so schön, daß alle Leute sie darum berufen. Das könnte ihr Gefahren bringen, wenn ich sie fortgebe. Nun sprich, was meinst Du?“

Lois zuckte die Achseln.

„Welchen Rath verlangst Du? Geistlichen oder weltlichen? Darauf wird es ankommen,“ sagte er mit einer Schärfe, die seine Schwester befremdete.

„Ich verlange den Rath meines lieben Bruders, der uns kennt,“ erwiderte sie sanft.

„Dann laß sie, wo sie ist! Was wird aus Dir werden, wenn Du auch noch Dein Letztes fortgiebst? Daran hast Du natürlich bei der ganzen Frage nicht gedacht, wie gewöhnlich – die Andern, das ist Dein Dogma. Willst Du nun gar todteinsam hier sitzen bleiben in dem alten Gemäuer und auch dann noch in Heiterkeit auf die vier oder sechs Wochen warten, wo Du Mensch unter Menschen, Deines Gleichen sein darfst? Unsinn! Laß das Mädchen hier – sag’ ich. Sie soll sich zusammennehmen, wie das Jeder muß; zwischen Fremde taugt sie ganz und gar nicht hinein, und – was Du zuletzt sagtest, Dein Bedenken, wiegt tausendmal schwerer, als ihre Langeweile.“

„Du meinst?“ rief Jana ganz glückselig. „O, wenn ihr damit kein Unrecht geschieht, so bleibt sie da. Wenn Du mir nur ein wenig helfen möchtest, Lois; ich hatte so viel von Deinem Einfluß, von der Zeit erwartet, wo sie die geistliche Autorität bei Dir erkennen würde, – auf die Art, wie Du mit ihr umgehst, [619] bringt man sie aber zu nichts. Du bist immer herb – da steift sie sich, statt nachzugeben, und es ist ja sonst auch gar nicht Deine Art. Wie gern hattest Du sie, so lange sie klein war!“

„Was giebt es?“ rief Lois statt zu antworten und horchte gespannt auf Stimmen, die unten im Hause vernehmlich wurden Zugleich drang der Laut ferner Glocken schwach durch die geschlossenen Fenster. Eilige Schritte liefen treppauf; das Hausmädchen stürzte athemlos herein und stammelte:

„Der Alpbach kommt.“

„Herrgott!“ rief Lois erblassend. „Ist’s wahr?“

„Gerad’ ist der Knecht mit dem Wasserfaß heraufgefahren, der sagt’s. Drunten ist schon alle Welt unterwegs nach Lahnegg und dem Mühlthal – es soll arg sein.“

Jana stützte sich zitternd an den Tisch.

„Maxi – die Mutter –“ kein weiteres Wort kam aus der zusammengeschnürten Kehle.

Lois hatte sich schon den Hut aus den Kopf gedrückt.

„Ich schicke Nachricht,“ sagte er mit hastigem Händedruck.

„Den Knecht nehme ich mit. Bleib’ Du mit der Magd ruhig hier. Ich bitte Dich. Vielleicht bring’ oder schicke ich Dir bald Einquartierung, die Deiner bedarf. An Ort und Stelle können Weiber vorerst nichts helfen.“

Er war hinaus. Jana lief zum Treppenfenster, das nach der Landstraße ging. Nach so kurzer Zeit, daß sie nicht begriff, wie er inzwischen den Berg hinabgekommen, sah sie ihren Bruder mit wehender Soutane, den Hut in der Hand, davon eilen und dann, wie vom Winde vorwärts getrieben, ihren Augen entschwinden. Von allen Seiten her liefen Leute über die Felder der gleichen Richtung zu, ohne Regen und Sturm zu beachten. Es donnerte nicht mehr, durch die Luft ging es aber wie gespenstisches Stöhnen und Klagen, das mitunter zu wildem Getöse anschwoll, um endlich hohl und dumpf an den Felswänden zu ersterben. Die Glocken aller Kirchtürme der Thalbuchten wimmerten gleich bangen Hülferufen.

Lois fand sich in seinem Vordringen alle Augenblicke durch Leute aufgehalten, die Wagen und laut blökendes Vieh über den Weg trieben. Einzelne Anrufe, die er nur halb verstand, drangen erschreckend an sein betäubtes Ohr; scharfer Erdgeruch durchdrang die Luft. Dann erblickte sein Auge die schaurige Zerstörung, die er im Geiste vorhergesehen, in Wirklichkeit: Lawinengleich war der Wildbach vom Hochthale niedergetost, erst durch steile Felswände in enger Rinne festgeklemmt, dann in wütender Freiheitsgier seine Ufer überfluthend, Furchen wühlend, Erdhaufen türmend, Steine und Felsblöcke unaufhaltsam mit sich reißend.

Als Lois zwischen verheerten Feldern seinem Vaterhause zustrebte, sah er das ziemlich hochliegende Gebäude zwar unversehrt, die Mühle war aber zertrümmert – wo sie gestanden, hatte das Unwetter eine tiefe Schlucht aufgewühlt, die gleichsam ein Becken für die Gefälle bildete. Hoch schäumend brauste dort der Gischt, nicht schimmernd weiß, wie sonst. Das von all dem Schutt, den Erdklumpen, die es mit sich niedergerissen, in eine mißfarbige, breiartige Masse verwandelte Wasser wälzte sich schwerfällig und dennoch gewaltsam vorwärts und spielte Fangball mit Trümmern und riesigen Felsstücken, die es gleich Sandkörnern in die Höhe schleuderte. Trüber Dampf stieg daraus auf, hing darüber, als wären unterirdische Dämonen losgelassen und hätten den Brodem mit sich gebracht, in dem allein ihnen zu atmen möglich. Weinreben sammt ihrem Spalier, in der Mitte geborstene Bäume, Kreuze von den Gräbern des Friedhofes, Bauhölzer und Stroh – all das schoß wild durch einander. Zwei der Stege waren spurlos verschwunden; der dritte, entlegenste stand noch, da er nur einen zum Betrieb der Lahnegger Mühlen abgeleiteten Arm des Baches überdachte, dessen Hauptströmung sich mehr zur Linken fortgewühlt.

Lois erschrak, als er durch den Regenschleier, der auf fünfzig Schritte weit kaum etwas unterscheiden ließ, eine menschliche Gestalt auf dieser schwanken, durch jede nächste Secunde bedrohten Brücke zu erkennen glaubte. Unmöglich war es, sich von hier aus der Stelle direct zu nähern; es bedurfte dazu eines zeitraubenden Umweges. Vergebens blickte er nach dem Knecht aus, den er von der Moosburg mitgenommen, der aber weit hinter ihm zurückgeblieben war. An Thür und Fenster des Hauses zeigte sich keine Seele. Wollte er retten und helfen wo es zunächst Not that so galt es keine Zeit zu verlieren. Den Hebungen und Senkungen des Thalbodens folgend, den er so genau kannte, eilte er, einen belaubten Hügel zu gewinnen, der fast parallel mit dem Stege stand. Und von diesem Hügel aus unterschied er Formen und Züge der von rettungslosem Untergange bedrohten Gestalt, unterschied Maxi’s dunklen Kopf, ihre Arme, die das Geländer umklammert hielten.

Sie mußte betäubt oder ganz erschöpft sein; kein Laut, kein Hülferuf ging von ihr aus. Lois preßte die Lippen fest auf einander. Mit dem scharfen Blick eines Kindes der Gebirge überflog er das Terrain. Die von hier aus erwartete Verbindung mit dem Stege war zerstört; auch dieser sonst nur hinfädelnde Arm des Alpbaches weit über sein enges Bett getreten. Der fest eingerammte Pflock, welcher das diesseitige Ende des Brettes trug, stand unter Wasser, und bis die andere Seite gewonnen war, konnte es zu spät sein. Lois’ Augen glühten; er lief plötzlich den Hügel hinab, kniete, vorn übergebeugt, auf die Gefahr hin, vom Wasser fortgespült zu werden, in Schlamm und Kies des schmalen Bodenstreifens nieder und erfaßte mit seinen nervigen Händen eine heranschwimmende Stange.

Nun erst, als er sich ausrichtete, rief er in starkem Ton: „Maxi!“ Er sah, wie sie zusammenfuhr und sich jäh umwandte. „Laß das Geländer nicht los! Rege Dich nicht!“ rief er ihr zu und schritt, den Grund mit der Stange prüfend, festen Fußes durch das ihm bis über. die Schultern reichende schäumende Wasser dem Steg entgegen.

Sie regte sich nicht. Den Kopf zurückgeworfen, stand sie wie eine Säule, die leuchtenden Augen fest auf Lois geheftet, der sich nach wenigen Minuten kräftig zu ihr emporschwang.

„Du!“ athmete sie nur und warf beide Arme um ihn. Er hob sie wie ein Kind aus seinen linken Arm und ging, die Stange in der Rechten, scharf aufmerkend, dem anderen Ende des Steges zu. Zwei, drei Schritte – da fühlte er das Brett unter feinen Füßen schwanken und krachen.

„Heiliger Gott!“ Der Seufzer ging mehr gedacht als gesprochen über seine Lippen; zugleich klang es wie Frohlocken in sein Ohr: „Mit Dir!“ Ein Kuß glühte auf seinem Munde. Da barst das Brett. Er umklammerte es im Sinken, auch Maxi erfaßte es instinctiv mit einem ihrer Arme, während der andere fest um Lois’ Hals geschlungen blieb. So schwammen sie einher, mit rasender Eile vom tiefer gehenden Wasser getragen, stets in Gefahr von einen Wirbel erfaßt, von einem entwurzelt dahinschießenden Baumstamme zerschmettert zu werden – Beide willig und bereit zum Sterben, Lois vielleicht mehr noch als das Mädchen, dessen Arm seinen Nacken umschlung, dessen Kuß noch auf seinen Lippen brannte.

Der Tod will aber selten die, welche ihn willkommen heißen. Nicht der entfesselten Hauptströmung zu – rettendem Ufer entlang trieb das leichte Brett, das seine Bürde nicht hatte tragen wollen und sie nun doch dem Leben entgegen trug. Der Strand wimmelte weiter hin von Menschen, und von einer kleinen vorspringenden Landzunge aus zog ein Wurfhaken, an dem ein Seil befestigt war, die Gefährdeten glücklich an das Land.

Maxi hatte nicht einen Moment das Bewußtsein verloren, und als sich Beide, von teilnehmenden Leuten umdrängt in ein nahes Wirtshaus bargen, um vor Allem trockene Kleider zu erhalten da sagte Maxi: „Gelt, Lois, nachher gehen wir zur Mutter. Sie ist daheim, und es ist ihr nichts geschehen aber der Schreck! Wir müssen gleich hin.“

Lois nickte stumm. Ehe er die Scheune betrat, gab er einem Buben den Auftrag, sogleich nach der Moosburg zu laufen und dort auszurichten, sie wären Alle geborgen.

Eine kurze Weile nachher traten die kaum Geretteten den verabredeten Weg an. Lois hatte keine Ruhe; es drängte ihn zu seiner Mutter, welche, nach schwerer Krankheit kaum in der Genesung, so großen Schrecken schwerlich ohne Schaden ertragen haben mochte. Maxi stand auch schon bereit, als er aus dem Wirthshause heraustrat. Sie hatte ein weißes Tuch über ihr zum Trocknen aufgelöstes Haar geworfen; die Hülle bedeckte nur den Scheitel, die blauschwarzen Strähne aber hingen schwer bis zu den Knieen nieder. Das Wirthstöchterchen hatte ihr einen Anzug gegeben. Lois trug die Sonntagskleider des Knechtes; so machten sich Beide auf den Weg.

Der grausige Wassersturz hatte kaum eine Stunde Dauer gehabt. Wohl brausten und zischten die Gewässer noch, in der Luft war es aber still geworden. Man schweigt zu keiner Zeit tiefer, als wenn man sich unermeßlich viel zu sagen hätte. So gingen Lois und Maxi stumm hinter einander auf dem schmalen hochgelegenen Pfade durch die vom Sturme beschädigter Felder. Etwa [620] in der Hälfte des zurückzulegenden Weges sah Lois die Maxi, welche vor ihm herging, plötzlich schwanken und fing die Sinkende auf. Ihre Augen hatten sich geschlossen; ihr Gesicht war so farblos, daß er erschrak. Voll Sorge sah er sich nach einem Rastorte um und trug die beinahe reglose Bürde nach einer Bank, welche etwa zwanzig Schritte von hier unter einem Nußbaume stand. Dort ließ er sie sanft nieder. Sie öffnete einen Moment die Augen, um sie gleich wieder zu schließen. Doch zeigte die Art, wie ihr Kopf sich gegen den Stamm lehnte, daß sie nicht ohne Bewußtsein war.

Lois’ Blick hing wie gebannt an ihrem Gesichte. Wie schön sie war, wie verführerisch schön! In dieser Regungslosigkeit trat das reizende Ebenmaß der kleinen Gestalt noch fesselnder hervor als in der wilden Grazie ihrer Beweglichkeit.

Nun regte sie sich plötzlich und schlug die großen Augen weit auf; Lois fuhr zusammen. Sie sah aber nicht nach ihm – sie blickte nach oben.

„Schau!“ sagte sie und berührte leicht seinen Arm. Er folgte ihrem Blicke. Ein doppelter Regenbogen stand farbig auf dunklem Wolkenhintergrunde, hoch über allem Graus des schauerlich verwüstete Thales. Maxi wandte ihre Augen langsam auf Lois. „So kamst Du,“ sagte sie leise, „und tratest vor den Tod.“

Ein Gedanke, der während des ganzen Weges in Lois gerungen hatte, zu Worte zu kommen, kam jetzt plötzlich zum Ausdruck.

„Wie ging es zu, daß Du dort warst?“ fragte Lois mit kaum unterdrückter Heftigkeit. „Warum bliebst Du nicht im Hause?“

Sie wurde dunkelroth und antwortete nicht.

„Ich will das wissen,“ sagte er in starkem Tone und preßte die Hand auf ihren Arm. „Es war ja Tollheit!“

Maxi sah ihn an.

„Willst es wissen?“ fragte sie zurück. „Nun,“ fuhr sie nach kurzem Bedenken in jenem trotzigen Tone fort, der so leicht bei ihr zu wecken war, „nun, ich blieb dort, weit es mir recht war, zu sterben, und weil dann Keiner erfahren hätte, daß es mir recht gewesen wäre.“

„Sterben –“ wiederholte er dumpf.

„Willst auch wissen warum?“ fragte sie wieder. „Weil Du fortgehst, Lois – darum, und auch, weil ich glaubte, Du könntest mich nicht leiden –“

Er drückte plötzlich seine Hand auf ihre Lippen; diese Lippen brannten aber gegen die Hand, die sie schweigen machen wollte, und im nächsten Momente umschlangen des Mädchens beide Arme seinen Nacken.

„Es ist ja Alles nicht wahr,“ stammelte sie in sein Ohr. „Du hast mich ja gern – seit vorhin weiß ich’s; als wir zu sterben meinten, hab’ ich Dich geküßt, und Du hast mich wieder geküßt. Lois, Lois, Du hast mich ja gern.“

Lois, der seit Jahren zurückgedrängten Leidenschaft nicht mehr mächtig, preßte das Mädchen stürmisch an sich; sein Mund glühte nun wirklich auf dem ihren, und abgebrochene Laute heißer Zärtlichkeit trafen ihr dürstendes Ohr. Sie schmiegte sich dicht, ganz dicht an seine Brust, zitternd vom Kopf bis zu den Füßen. Wie lange sie dort beisammen saßen, Haupt an Haupt und Herz an Herz, sie wußten es nicht – die Welt war vergessen und der Himmel auch.

Es war Maxi’s Verhängniß, den Zauber selbst zu brechen. Sie warf plötzlich den Kopf zurück; ihr leises Lachen weckte in Lois, was ihm von Besinnung noch übrig geblieben, und als sie frohlockend, wenn auch ebenso leise, rief: „Du gehörst mir!“ da sprang er, wie von elektrischem Schlage berührt, auf seine Füße.

„Nie!“

„Du gehörst mir,“ wiederholte sie zuversichtlich. „Meinst Du, jetzt ließe ich Dich noch? Meinst Du, jetzt könntest Du noch ein Pfarrer werden? Du hast mich geküßt“

„Gott steh’ mir bei!“ murmelte der junge Mann mit abgewendetem Gesicht.

„Der Xaver Lederer vom Bühelhofe war auch lange im Seminar,“ fuhr Maxi unbeirrt fort, „und ist nachher doch Lehrer geworden, als er sich den Fuß gebrochen hatte und davon lahm wurde. Der hat auch schon die ersten Weihen gehabt, wie Du, und hat trotzdem Lehrer werden und nachher heirathen dürfen. Das kann man also thun.“

„Das kann man thun,“ sagte Lois tonlos.

In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der Maxi’s drängende Rede mit einem Male durchschnitt. Sie blickte ängstlich auf ihn, während er mit tiefgesenktem Kopfe weitersprach, als würden seine Gedanken zu Worten, ohne daß er es nur wüßte.

„Drei Jahre lang hab’ ich gestritten – umsonst, umsonst!“ Er faßte Maxi’s beide Hände und heftete seinen düsteren Blick auf sie. „Ja, gestritten! Ich weiß ja längst, wie es mit uns steht, bin darum in den letzten zwei Jahren nicht heimgekommen trotz allem Bitten der Mutter. Da muß sie todkrank werden und nach mir verlangen, da muß mich der Bischof selbst herschicken, wider die Regel, da muß gar der Alpbach stürzen, damit wir ganz elend werden alle Zwei.“

„Elend?“ wiederholte Maxi, „o nein, glückselig.“

„Priester werden ist das Höchste. Aber Du magst Recht haben, daß ich kein Pfarrer mehr sein kann, seit ich Dich küßte.“

Er versank in stummes Britten.

Maxi glitt auf ihre Kniee, erfaßte seine niederhängende Hand und preßte sie zwischen ihre beiden kleinen Hände, während sie mit athemloser Inbrunst sprach:

„Bedenke, Lois, ich hab’ vom Leben nichts mehr wissen wollen, weil ich’s nicht aushalten kann ohne Dich! Was wird aus mir, wenn Du mich jetzt verstoßen willst? Lieber Lois – da muß ich ja doch sterben. Ich weiß, Du kannst mein Wildsein nicht leiden, aber sage nur, wie Du mich haben möchtest! Ich will folgsam sein in Allem. Nur verstoße mich jetzt nicht mehr!“

Ihre Augen flehten unwiderstehlicher als ihr Mund. Ein schwacher Seufzer rang sich aus Lois’ Brust.

„Sei stille!“ sagte er in sanftem, traurigem Ton. „Ich will thun, was Du begehrst, aber auch Du mußt Dein Wort halten und folgsam sein. Vor Allem fordere ich, daß Du schweigst – gegen jede menschliche Seele, ohne Ausnahme. Ein heiliger Beruf läßt sich nicht so leicht abstreifen, wie die Soutane.“

Er brach ab – das Wort erinnerte ihn daran, daß er schon jetzt keine Soutane trug; es berührte ihn seltsam, daß er das geistliche Gewand heute zweimal abgelegt hatte. Mit der Blitzesschnelle, mit welcher Gedanken eilen, ging die ganze Kette dieser Nachmittagsstunden an seinem Geiste vorüber – Jana’s Worte über Maxi, Alles. An wen hatte er seine Seele verkauft? Ein dunkler Blick traf das Mädchen, das ihm in strahlender Befriedigung gegenüber stand.

„Wie konntest Du meine kranke Mutter in ihrer Angst und Noth verlassen?“ fragte er schroff.

„Du weißt warum. Und die Gundel ist ja bei ihr.“

„Die Magd – das nennst Du Liebe?“

Sie antwortete nicht; aus den großen vorwurfsvollen Augen fielen helle Tropfen.

„Komm’!“ sagte Lois auf einmal erweicht, „wir dürfen nicht länger säumen. Du versprichst mir also, Dich zusammenzunehmen. Nicht meine Mutter, nicht Jana dürfen erfahre, was ich Dir heut versprochen habe – erst muß ich mit meinen Oberen im Reinen sein. Wirst Du im Stande sein, Dich zu beherrschen?“

Maxi warf die vollen Lippen auf:

„Traust Du mir gar nichts zu?“

Ein halbes Lächeln zuckte, gleich erlöschend, um seinen ernsten Mund.

„An Deinem Schweigen, Maxi, hängt mein Reden – das bedenke!“ sagte er dann in schwerem Tone.

Und schweigend wanderten die so unerwartet, so seltsam Verbundenen dem schon sichtbaren Vaterhause des zum Abfall entschlossenen Priesters zu.




21.

Der Abend war schon weit vorgerückt, als der Extrapostwagen mit den erwarteten Reisenden am Thore der Moosburg hielt. Siegmund und Fügen hatten, Frau von Riedegg’s Weisung gemäß, deren Eintreffen in der Festungsstadt erwartet, von welcher Lahnegg nicht weit entlegen war, und der heftige Ausbruch des Gewitters veranlaßt die kleine Gesellschaft, nachdem sie vollzählig geworden, dasselbe erst vorübergehen zu lassen, ehe sie ihre Fahrt fortsetzte. Was Genoveva und Siegmund entging, weil sie ganz und gar nur mit einander beschäftigt waren, fiel Fügen gleich im ersten Moment auf: daß Jana’s Empfang heute nicht weniger herzlich, aber offenbar weniger freudig war als sonst.

Bald erfuhr er, was heute Nachmittag vorgegangen. Jana’s große Angst um Maxi und die Mutter war nun zwar beschwichtigt,

[621]

„Heureka! – Ich hab’s gefunden!“
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Otto Goldmann.

[622] aber doch nicht völlig gehoben; denn das Mädchen machte ihr Sorge. Maxi war spät und fiebernd heimgekehrt, und Jana hatte sie zu Bette gebracht, voll Besorgniß um sie wie um die Mutter, die den Schreck zwar momentan leidlich überstanden hatte, deren angegriffene Gesundheit aber schwer dadurch erschüttert sein mochte.

Während Fügen tröstlich zu ihr sprach und ihr zuredete, nach so viel Aufregung doch nun auch die Ruhe zu suchen, saß Genoveva mit ihrem Sohn am Fenster des Eßzimmers, ihrem alten Lieblingsplatze. Die kleine Mahlzeit, welche Jana vorbereitet hatte, war eingenommen worden; über dem Eßtische hing, wie von jeher, die Lampe, aber dort, wo Mutter und Sohn beisammen saßen, drang ihr Licht nicht hin; sie saßen im schwachen Zwielicht der Sterne, welche nun den frei gewordenen Himmel bedeckten. Von Jahr zu Jahr empfing Siegmund von seiner Mutter den gleichen Eindruck: daß sie herrlicher, unvergleichlicher sei als je zuvor. Sobald sie bei ihm weilte, verschwand ihm Alles; was nicht sie war, verlor Farbe und Nähe; er fühlte sich unwiderstehlich von ihr angezogen; ihre dunklen Augen, die nur für ihn den Ausdruck stolzer Ruhe in den der Zärtlichkeit veränderten, trafen sein innerstes Herz und öffneten es weit. Als sie heute Nachmittag in das kleine, dürftige Gasthofzimmer getreten war, schien ihm dieses plötzlich in einen vornehmen Raum verwandelt; seiner Mutter bloße Erscheinung beherrschte jede Sphäre. Und wie sie ihm nun hier gegenüber saß, den edlen Kopf leicht zu ihm vorgeneigt, und mit der leisen melodischen Stimme nach seinem Leben und Sein fragte, da strömte ihm alles, was zu sagen er sich so schwer gedacht, wie von selbst aus der entfesselten Seele. Alles, was er durchgekämpft, was er aufgab und begehrte, kam ihm zu neuem, tieferem Bewußtsein. Alle Schwere war gleichsam aus ihm hinweggezaubert; nur Hoffnung, Liebe und Freude beschwingten sein Gemüth.

Und Genoveva? Sie trank die Seele des Einzigen, den sie auf Erden liebte, wie nur die Kraftvollen zu lieben im Stande sind, dürstend in sich, und wenn auch ihr Entscheiden über alles, was er in ihren Willen legte, bis morgen verschoben blieb - Genoveva entschied seit langen Jahren nie unter dem Eindruck des Augenblickes – so fühlte Siegmund doch, daß sie ihm nicht entgegen war. – –

(Fortsetzung folgt.)




Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.[1]

3.0 Die staatliche Hygiene im Kampfe mit dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen und der Gemeinde.

Noch jetzt trägt in den europäischen Staaten – England allein ausgenommen – die auf die öffentliche Wohlfahrt abzielende Gesetzgebung den Stempel der Gelegenheitspolizei. Wo erst ein schreiender Uebelstand das allgemeine Aufsehen erregt und die Noth allein die Erfinderin hygienischer Maßregeln bleibt, da ringt nur Schritt für Schritt und mit äußerster Langsamkeit das Oberhoheitsrecht des Staates dem Eigenthums- und Verfügungsrecht des Einzelnen diese und jene gesetzliche Feststellung ab. Noch weniger kann uns der Widerstand der Gemeinden Wunder nehmen, den sie gegen kostspielige Neuerungen auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege stets in Bereitschaft haben. – Um die Anwendung der einzig erfolgreichen Waffen in diesem Kampfe, der Belehrung und der Hebung des allgemeineren Interesses für unseren Gegenstand, haben sich die zahlreichen hygienischen Vereine ein großes Verdienst erworben.

Allen voran zeichnet sich durch seine ganz Deutschland einmüthig umfassende Anregung der mehr als 1200 Mitglieder zählende „Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ aus, der seine jährlichen Wanderversammlungen von Frankfurt nach Dresden, von Nürnberg nach Hamburg, von Stuttgart nach Wien, kurz überall hin ausdehnt, wo Nachahmenswerthes an der Quelle zu studiren, ein wichtiger Zweifel zu lösen, eine gemeinnützige Anregung zu geben ist. Auf kleinere örtliche Kreise beschränkt, wirken in gleichem Sinne der niederrheinische Verein, derjenige für Elsaß-Lothringen, die Vereine zu Hannover, Nürnberg, Magdeburg, Erfurt, Bremen, Nordhausen, die Section für öffentliche Gesundheitspflege der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur und die deutsche Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege zu Berlin. An Zeitschriften für Fachkreise bestehen zur Zeit acht, die jede Richtung zur Genüge vertreten.

Dagegen geschieht in jenen Theilen des Vaterlandes, wohin jene Bestrebungen nicht reichen, noch gar wenig für die Verbreitung richtiger Vorstellungen und hygienischer Kenntnisse unter dem größeren Publicum. In den Schulen wird die Gesundheitspflege nicht gelehrt; die Zeitungen bringen nur selten eingehende, noch seltener gute Artikel über Gegenstände derselben. Die sparsamen populären Schriften aber bewegen sich mit wenigen Ausnahmen einestheils im Kreise abgestandener Beweise für die Nützlichkeit der Lehre, zum anderen Theile auf dem gefährlichen Boden der „Volksbeglückung“.

Für die besser situirten Gesellschaftsclassen liegt sogar eine bedenkliche Irrlehre in der Art, wie man häufig den privaten Comfort mit den wirklich wichtigen Interessen der Hygiene auf die gleiche Stufe gestellt hat. Es ist außerordentlich schwierig, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen dem für die Gesundheit Schädlichen und jenen Belästigungen, die unser Wohlbefinden und unseren Lebensgenuß stören. Namentlich fassen wir widerwärtige, mit unangenehmen Vorstellungen verknüpfte Geruchs-, Gesichts- und Geschmacks-Wahrnehmungen oft fälschlich als lebensgefährliche Bedrohungen auf.

Wir verlangen, daß man auf gesetzgeberischem Wege mit aller Energie und mit großen Kosten solche Einflüsse aus unserer Nähe entferne, und übersehen bei unserer Empfindlichkeit, daß sie nur durch die Civilisirung und durch die Verfeinerung des Lebensgenusses uns so gefährlich erscheinen, daß wir heute als dringendsten Gegenstand der staatlichen Ueberwachung betrachten, was unsere nächsten Vorfahren in ihren Häusern und Gassen noch mit Gleichmuth ertrugen. Hier wird also leicht zu weit gegangen: in Trockenheit oder Feuchtigkeit, in Reinlichkeit oder Schmutz, in Behagen oder Mißbehagen geht das Wesen der öffentlichen Gesundheitspflege nicht auf. Jeder, der aus seiner mit Peinlichkeit sauber und geruchfrei gehaltenen Stadtwohnung sich in gewisse eigenartige Verhältnisse mancher für besonders „gesund“ geltenden Sommerfrischen begiebt, konnte zwischen liebgewordenen Gewohnheiten und dem zur Gesundheit schlechterdings Nothwendigen unterscheiden lernen. Es läßt die Urtheilsfähigkeit unserer Nation, auf welche wir gewohnt sind uns etwas zu Gute zu thun, in keinem günstigen Lichte erscheinen, daß es nicht die hygienisch nachweisbaren Unzulänglichkeiten sind, die den gebildeten Theil des deutschen Publicums am meisten empören und auf Abhülfe dringen lassen, sondern diejenigen, an welche eine ekelerregende Vorstellung geknüpft wird. Für den Credit und die wahren Erfolge der staatlichen Gesundheitspflege aber liegt eine gewisse Gefahr darin, daß sie Stützen ihrer Bestrebungen in der übermäßigen Verfeinerung und in der bis zur Verzärtelung gehenden Empfindlichkeit der Sinnesorgane suchen solle. Sie würde so zum Gegensatze dessen führen, was sie unter der Devise „ein starkes und widerstandsfähiges Volk“ in Wahrheit erstrebt; sie würde den Vorwurf verdienen, die Gesellschaft zu einer Schaar hülfsbedürftiger Schwächlinge, die Welt zu einem großen Hospital zu machen.

„Auch ich meine allerdings,“ spottete bereits Goethe mit einem Seitenblicke auf gewisse schwärmerische Philanthropen des vorigen Jahrhunderts, „daß die Humanität einst siegen wird, aber ich besorge zugleich, daß alsdann der Eine nur noch des Andern humaner Krankenwärter sein werde.“

Gleichzeitig kann nun aber nichts Nutzloseres gedacht werden, als dem darbenden und entbehrenden Theile der europäischen Menschheit lediglich wiederholt vorzupredigen, daß es gesundheitswidrig sei, sich Schädlichkeiten auszusetzen, die gewissen Erwerbszweigen untrennbar anhaften. Es klingt fast wie Ironie, wenn fortwährend davon die Rede ist, daß man luftig wohnen, viel baden, nur nahrhafte und auf etwaige Schädlichkeiten vorher untersuchte Nahrungsmittel genießen solle, wo Obdach und Nahrung an sich bereits den höchsten Preis des unbarmherzigen Lebenskampfes bilden. Wer [623] mitten in der Noth ist, verlangt Hülfeleistungen und keine guten Rathschläge, wenn diese auch unter Umständen sehr nützlich sein können.

So kommt die staatliche Gesundheitspflege, wenn sie als allgemeine Theorie auftritt, in die Verlegenheit, ein bedenkliches Agitationsmittel für unmögliches und maßlose Bestrebungen zu werden. „Schafft vor Allem das Elend und die Armuth aus der Welt“ so lautet die Schlußfolgerung des natürlichen Verstandes, wenn die belehrenden Schriften ihm nichts weiter beweisen können, als daß es zur Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt dient, wenn Jeder Schädlichkeiten vermeiden und gemächlich leben kann.

Schon lange hat sich für die hygienische Wissenschaft aus solchen Betrachtungen die Aufgabe entwickelt, die verschwommenen Grenzen des für die öffentliche Wohlfahrt Notwendigen und des nur Angenehmen oder Nützlichen schärfer kennen zu lehren. Wo streitende Pflichten und Rechte auf diesem Gebiet in Frage kommen, hebt die allgemeine Belehrung bei dem Begreifen des Zeitgedankens an, daß alle menschlichen Interessen auf’s Innigste unter einander verknüpft sind, daß keine menschliche Gemeinschaft mehr gedacht werden kann, sie mag sich Stadt, Dorf, Rittergut, Fabrikort oder anders nennen, in welcher sich nicht die am Einzelnen verschuldete Schmälerung der wirklich notwendigen Lebensansprüche bitter rächt an der Gesammtheit.

Und diese Lehre ist es, in deren Sinn gerade bei uns in Deutschland die populären und die Fachzeitschriften nicht nachlassen dürfen zu wirken. Sie ist es zunächst, deren innere treibende Kraft einen so bedeutenden Theil des in England Erreichten zu Stande gebracht hat und die in Amerika in so kurzer Zeit Beneidenswerthes leistete. Nicht durch übereifrige bloße Nachahmungen einzelner in die Augen fallender anglo-amerikanischer Erfindungen auf diesem oder jenem Gebiete der Luft-, Wasser- und Bodenhygiene, noch weniger durch die rein polizeiliche Betreibung der Wohnungs- und Nahrungsmittelfragen werden wir es jemals erreichen, daß die Todesziffer unserer Städte von durchschnittlich 28 im Jahre auf jedes Tausend der Bewohner sich auf die weniger als 20 betragende der englischen und amerikanischen Großstädte erniedrige. Wir müssen nicht nur halb, sondern ganz aus dem specifisch deutschen Zustande herauszukommen suchen, den der warmherzige und für die Volksgesundheitspflege aufrichtig begeisterte Johann Peter Frank schon im vorigen Jahrhundert so anschaulich schildert:

„Kaum sieht man,“ sagt er, „daß irgend Jemand sich um das edle Kleinod der allgemeinen Gesundheit in vielen Gegenden bekümmert, bis eine tödtliche Seuche ihr Haupt in die Höhe hebt: dann schreit Alles, was sich nur ein weniges Ansehen geben will, über die Saumseligkeit der Polizei. Diese hingegen giebt sich jetzt, um Hülfe zu schaffen, mehr vergebliche Mühe und verwendet mehr Geld in einer Woche, als von beiden nötig wäre, dem Uebel durch kluge Ordnung vorzubeugen. Es ist beinahe mit den Gesundheitsanstalten alsdann wie mit den Feuerspritzen beschaffen, die man, wenn es im Dorfe brennt, erst flicken und wieder zurecht richten lassen muß; das Feuer erlischt von selbsten, ehe sie ankommen aber das Dorf liegt in Asche.“

Jedoch ist auch in jenen Ländern, die uns in Bezug auf gleichmäßig thätigen Gemeinsinn zum Vorbilde dienen dürfen, die Frage erst zum Theil gelöst, wo die Gemeinde von ihrem Selbstbestimmungsrecht zurücktreten und wo das Eingreifen des Staates angerufen werden muß. Sicher erscheint nur, daß die öffentliche Wohlfahrt von der Fürsorge der einzelnen Gemeinde nicht losgelöst werden kann, so weit sie rein örtliche Bedürfnisse im Auge behalten muß und so weit sie auf’s Engste mit dem Armenwesen und der Armenpflege zusammenhängt.

Wer so weit gehen wollte, alle Zweige des Gesundheitswesens in der Hand des Staates zusammenzufassen, könnte sich auch der Nothwendigkeit nicht entziehen, gleichzeitig das Armenwesen staatlich zu regeln. Wie solche Versuche in anderen Staaten ausgefallen sind, und wie sie bei uns ausfallen müßten, ist hier nicht der Ort zu untersuchen. – Aber auch für die Lösung der örtlichen Schwierigkeiten darf die Leistungsfähigkeit der Gemeinden durch allgemeine Vorschriften nicht lahmgelegt werden. Einmal in die Lage versetzt, eine als zweckmäßig anerkannte Maßregel schnell auszuführen, haben es die Ortsbehörden in ihrer Hand, der schwerfälligen Gesundheitsgesetzgebung des Landes vorauszueilen und – wie es in England und Nordamerika so oft zur Thatsache geworden ist – als Vorkämpfer in dem großen Ringen der Menschheit mit den ihr Vernichtung drohenden Gewalten aufzutreten, ihre Nation auf Bewährtes hinzuweisen und vor Verfehltem zu warnen. Auch der kühnste Experimentalpolitiker, wollte er alle möglichen localen Aufgaben unter allgemeine Gesichtspunkte bringen, müßte verzweifeln – und der Staat riebe sich am Unmöglichen auf, der den Kampf gegen das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden so weit treiben wollte, um die Beseitigung aller Schädlichkeiten nach derselben Formel zu verlangen. Hier glitte uns bald jeder Rechtsboden unter den Füßen fort, und keine Erfahrung wiese uns auf richtige Wege. Denn in ihrer Allgemeinheit ist die Frage, bis zu welchem Grade der Staat befugt sei, im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege in Privatrechte einzugreifen, auch in England noch eine bestrittene; in Deutschland ist sie in ihrer vollen Tragweite noch kaum zum Bewußtsein der gebildeten Kreise gekommen. Von einigen unumgänglichen Aufgaben läßt sich allerdings auch Seitens der eifrigsten Vorkämpfer der Selbstregierung nicht mehr bestreiten, daß ihnen einzig die volle Autorität des Staates gewachsen ist, so für die Aufgaben der Statistik, die Reinhaltung der Flüsse, den Kinder- und Irrenschutz etc.

Am meisten aber geben nach dieser Richtung die Erfahrungen zu denken, welche man ganz neuerdings in England mit den auf eigene Kosten und eigene Verantwortung von den Gemeinden angestellten ärztlichen Gesundheitsbeamten (medical officers of health) gemacht hat. Die heutigen Klagen über die einst diesseits des Canals vielfach bewunderte Einrichtung treten so laut und begründet auf, daß an eine versuchsweise Nachahmung derselben wohl für lauge Zeit nicht zu denken ist.

Schon bei der Anstellung durch die Gemeinde geben oft genug – wie wir mit Befremden hören müssen – nicht die Fähigkeiten des Bewerbers, sondern seine persönlichen und politischen Eigenschaften den Ausschlag. Viele Gemeinden betrachten die Anstellung dieser Beamten, zu welcher der Staat sie nötigt, ohne sich um einen Fähigkeitsnachweis oder sonstige Einzelnheiten zu kümmern, als eine günstige Gelegenheit zu Ersparnissen; sie nehmen häufig nicht nur den Mindestfordernden an, sondern entlassen sogar den schon Angestellten, wenn ein Anderer die Dienstleistung für eine geringere Entschädigung anbietet. Ein solches Unterbietungswesen wuchert natürlich in denjenigen Gemeinden am meisten, welche eine strenge Beaufsichtigung durch einen gewissenhaften „medical officer“ am wenigsten ertragen können. Sie stellen ihn in der Erwartung, ja unter der stillschweigenden Bedingung an, daß er die Gemeinde mit Anträgen und Ausgaben verschone und angesichts nicht gerade nach außen bemerkbarer, wenn auch noch so erheblicher Uebelstände sich blind stelle.

Oft werden mehrere kleine Districte zusammengelegt, um einen gemeinschaftlichen Gesundheitsbeamten zu besolden. Dann muß dieser sich hüten, irgend einem seiner Patrone durch eine Vorsichtsmaßregel oder einen Verbesserungsvorschlag zu nahe zu treten. Er verliert sonst sein Wohlwollen; der District wird ihm entzogen und an eine andere Gruppe angeschlossen. So büßt der durch seine Pflichttreue mißliebig Gewordene an Einnahmequellen ein und muß sich mehr und mehr darauf einlassen, Privatpraxis zu treiben. Letzteres nehmen aber die nicht angestellten freien Aerzte als eine unvorhergesehene Beeinträchtigung ihres Erwerbes auf – sie werden feindlich und suchen nach Gelegenheiten, dem unglücklichen Beamten seine schwierige Aufgabe noch unmöglicher zu machen, z. B. ihn, der für die rechtzeitige Anzeige von Epidemien verantwortlich ist, über die ersten Anfänge derselben im Dunkeln zu lassen etc. So fordert man jetzt jenseits des Canals die Prüfung der anzustellenden Gesundheitsbeamten und ihre Anstellung durch den Staat, Einrichtungen, wie wir sie, wenn auch mit etwas stiefmütterlicher Behandlung der deutlichen Gesundheitsfragen, in Gestalt unserer Kreisphysikate längst haben.

Es ist aber höchst fraglich, ob auch durch die besten Gesundheitsbeamten allein die Schwierigkeiten und Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege wesentlich gemindert werden. Sicherer würde zur Herbeiführung eines Einverständnisses die Mitwirkung aller ärztlichen Kreise herbeigezogen werden, und zwar in dem Sinne, wie 1873 die schweizer Aerztevereine es offen als ihre Hauptaufgabe bezeichneten, ihren Regierungen Vorschläge über zeit- und ortsgemäße Verbesserungen der öffentlichen Gesundheitspflege zu machen und die Ausführung derselben zu überwachen. „Freilich,“ so mußte noch im Jahre 1849 Virchow ausrufen „von unseren Aerzten werden nicht viele den Beruf in sich fühlen, ihre [624] wunderthätige Stellung gegen eine wahre Culturstellung aufzugeben. Mancher Praktiker wird sein gewichtiges Haupt schütteln und es unbegreiflich, ja lächerlich finden, daß er, statt an den Puls zu fassen, an die Zunge zu tasten und auf seine Schnupftabaksdose zu klopfen, von den ewigen Gesetzen der Natur nicht blos Kenntniß nehmen, sondern sie auch Anderen überliefern und beweisen“ – ja, wie wir jetzt fordern müssen, aus ihnen richtige Vorbeugungsmaßregeln ableiten – „soll.“

Diese Verhältnisse haben sich innerhalb der verflossenen zweiunddreißig Jahre unverkennbar zum Besseren geändert: der Staat darf heute die Aerzte im Kampfe für die hygienischen Interessen sicher als seine Bundesgenossen betrachten.

Aus jedem Bündniß entstehen aber auch Verpflichtungen, und es fehlt nicht an Stimmen, welche für eine nachhaltige Belebung jener Interessen die Einrichtung staatlicher Unterrichtsinstitute für hygienische Zwecke fordern. In Deutschland wird jetzt die Hygiene zwar an den meisten Universitäten gelehrt; besondere Lehrstühle für dieselbe bestehen jedoch bis zur Stunde nur an den bairischen Universitäten, und mit allen notwendigen Lehrmitteln ausgerüstete Institute nur drei: das altberühmte Pettenkofer’sche Institut zu München, in welchem von weit und breit besuchte Curse gehalten werden, die hygienische Universitätsanstalt zu Leipzig und die 1871 in’s Leben getretene chemische Centralstelle für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden. Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, daß die weitere Organisation solcher Fachanstalten mit zu den wesentlichsten Hülfsmitteln für die gedeihliche Entwickelung der Staatsgesundheitspflege gehört.“

Wir dürfen hoffen , dem Leser eine annähernd richtige Auffassung angebahnt zu haben für die Schwierigkeiten, mit welchen die Einführung einer staatlichen Regelung der Hygiene bei uns in Deutschland zu rechnen hatte. Doch sind absichtlich nur diejenigen Punkte berührt worden, welche am leichtesten aus dem Gesichtskreise des allgemeinen Verständnisses entschwinden und am ehesten zu dem Mißverständniß führen, es handle sich bei Errichtung eines Reichsgesundheitsamtes um nichts anderes als um die nöthigen Geldmittel und die Beachtung bereits gemachter technischer Erfahrungen. – Unser nächster und letzter Artikel wird von dem kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin handeln.




Ein Besuch der Goethe-Häuser zu Weimar.
Zugleich ein Mahnruf zur Tilgung einer alten Nationalschuld.

„Es ist ein Licht erloschen,“ waren die Worte, welche mir beständig auf den Lippen schwebten, als ich kürzlich Weimar besuchte, um die Stätten zu sehen, wo einst Goethe wandelte.

„Glücklicher Goethe!“ wird wohl Jeder ausrufen, der in das heimliche und doch so ausgedehnte Paradies des Goethe’schen Gartens am Parke tritt. Da schmiegen sich die Rosen tausendfältig an der weißen Wand bis an das spitze Schindeldach empor; im frischen Grün strecken sich Plan, Wiese, Terrassen, Baumanlagen und Bergesabhang; die schmalen, wohlgesäuberten Wege schlängeln sich durch blumenreiche Beete hin; die Gardinen blicken hinter den kleinen Fenstern hervor, und die niedrige Hausthür mit der einfachen Eisenklinke sieht aus, als müßte sie sich eben öffnen, der Unsterbliche mit dem Siegerblick, dem festen Schritte, dem alles genießenden Lächeln, den von durchwachten Nächten und überwundenen Leidenschaften sein gemeißelten Zügen hervortreten und dich nach seiner Gewohnheit begrüßen.

Aber er kommt nicht, auch sonst Niemand. Einsam ist’s. „Es ist ein Licht erloschen.“

Man wird inne, daß diese Stätte dem Todten geweiht ist: die Wege sind nur für einen Promenirenden eingerichtet; auch die Plätze, welche sich hier im Schatten des Hauses ausweiten, fassen kaum eine traute kleine Gesellschaft von zehn oder zwölf intimen Bekannten. Unwillkürlich fühlt man sich versetzt in Goethe’s glückliche Zeit. Da heißt es aus Christianens Munde:

„Lieber Wolfgang, Herder’s sind da! Komm’ doch ein wenig heraus!“

„Herder’s, heute? Gleich, Christiane! Beschäftige sie einstweilen!“

Auch der Großherzog schreitet dort über die Brücke der Ilm, bei der Borkenhütte unter der künstlichen Burgruine, wo die hohen Pappeln und Fichte sich zu einer breiten Avenue ausdehnen. Es ist ein feierlicher Empfang.

Als ich so dastand, kamen mir Iphigeniens Worte in den Sinn:

„Ach wie beschämt“ gesteh’ ich Dir, daß ich
Dir nur mit stillem Widerwillen diene.“

Die ganze Scenerie ist die der „Iphigenia“ und des „Tasso“. In der That kann man diese beiden Dichtungen erst dann ganz und voll verstehen, wenn man den Ort besucht hat, wo Goethe’s Geist sie mit sich herumtrug, bis er in ein Land ohne Pedanterie und Kleinlichkeit, entwich, um sie zu gestalten, in das Land Alfieri’s, wo selbst die Feder des Dichters zum Meißel wird.

Endlich entdeckte ich ein lebendes Wesen in dieser Todtenstille, wo die Erinnerungen, lautlos weben. Es war ein alter Mann, der dort mit der Hacke den Weg säuberte; den fragte ich, ob einem wohl Jemand die Thüren öffnete.

„Ei, nee Heren Sie. Der Herr Baron hat das streng verboten. Es is Sie och nichts nich im Stande.“

„Sind Sie schon lange hier?“

„Nu, sah’n Sie, ich nich, aber Springer, der Gärtner, der da droben wohnen thut. Und der Großherzog war och egal hier. Es waren Sie zwei sehre gute Menschen, der Karl August und der Goethe. Sie haben viel für’s Volk gethan und verachteten Keinen nich. Geh’n Sie mal ’nauf! Vielleicht, daß er jetzt da is, der Herr Springer.“

Nun, der Herr Gärtner Springer war nicht da, und eine anmuthige junge Frau gab mir abschlägigen Bescheid.

„Ei ja,“ sagte nachher der alte Gartenarbeiter, „es is so, wie ich Sie sagte. Die Grundstücke gehören dem Herrn Baron. Der bewirthschaftet Sie hier die Gärten, ’s kost Geld, viel Geld, Alles im Stande zu halten, und einbringen thun die Häuser och nichts nichs, säh’n Sie. Wo soll’s Alles herkumme?“

„Und darüber geht unserem Volke einer seiner größten Schätze verloren?“ meinte ich.

Der Alte sah mich verdutzt an.

„Der Herr sind wohl gar ein Engländer?“ fragte er; „wenn das is, na, heren Sie, dann kann’s eher möglich sein, daß Sie ’nein kumme. Sie müssen sich mal in’s Stadthaus bemühen. Das sind sehre freundliche Leute, die beiden alten Mädchens bei Geheimraths. Immer, wenn ich mal hinkumme und Salat bringe oder ein Körbchen junges Gemüse, na, dann geben sie mich ein Töppchen Suppe oder ein Schälchen Kaffee, ja, wenn’s übrig is.“

Ich wanderte also durch den Park zur nahen Stadt zurück – und welch eine entzückende Welt liegt zwischen diesen beiden Goethe-Häusern, dem sommerlichen und dem winterlichen! Der Park ist ein Juwel. Die Ilm schlängelt sich hindurch; zahlreiche Quellen springen ringsum theils aus dem Kalkfelsen, theils aus dem Boden hervor, und vom „Stern“ aus gesehen, spiegeln sich die erleuchteten Fenster des großherzoglichen Schlosses Abends in dem Flusse, den hohe Pappeln halb verhüllen. Diese Pappeln und Fichten! Ein wahres Geheimniß von Poesie liegt zwischen ihnen. Da ist eine Avenue von so hohen Bäumen überragt, daß trotz der Breite des Raumes sich die immer regen Wipfel über demselben zu schließen scheinen. Sie mahnen an ihn, an den Dichter, der auch über alle Schranken hinausragt. Und dennoch ist Goethe ein nationaler Dichter, aus deutschem Holz, auf deutschem Boden stehend, wenn auch sein Angesicht von der Sonne fernster Zeiten und Zonen, gleich dem ewigen Alpenriesen, beleuchtet wird. Man muß nur im Auslande lange genug gelebt haben, um zu erfahren, wie sehr wir um diesen einen Mann beneidet werden, wie in ihm das Deutschthum zu Ehren kommt und wie man in ihm einen Geist erblickt, der viel zu praktisch war, um sogleich und schon damals von einer Nation verstanden zu werden, deren Wesen einen fanatischen Haß in Gemüthern wie Hölderlin, Grabbe, Heine erweckte. Ist dieser schonungsvolle, weltmännische Geist Goethe’s erst in Fleisch und Blut des deutschen Volkes übergegangen, dann wird dieses Volk im edelsten Sinne des Wortes die Welt beherrschen, und das ist – so trüb die Aussichten auch zu sein scheinen, – doch nur eine Frage der Zeit, weil diese frühe Blüthe – die Poesie eines Goethe – auf eine spätere in politischer Sinne hinweist.

[625] Das Goethe-Haus in der Stadt ist nun nicht dasjenige des Weltdichters, sondern des Geheimraths, des Ministers, und zwar eines kleinstaatlichen; es unterscheidet sich hierin wesentlich von dem Gartenhause. Hier schrieb der alte Goethe seine oft recht weitspurigen Recensionen und empfing die zahlreichen literarischen oder officiellen Besuche; hier trieb er Geheimniß-Verskünstelei; hier legte er seine naturwissenschaftlichen und Kunstsammlungen an.

Das Haus am Goethe-Platz ist zweistöckig mit einem Dachstockwerk darüber, hat, wenn ich mich recht erinnere, vierzehn Fenster Front und ist gelb getüncht. Die Façade liegt nicht in einer Flucht, sondern an beiden Flügeln in stumpfem Winkel eingezogen. Rechts und links ein breites, hohes Thor für Reisewagen und Kutsche, in der Mitte ein schmaleres Portal mit drei Steinstufen. Innen flache Steintreppen mit breiten Balustraden und weißgetünchte Wände. Ein paar antike Bronzen lehnen in einer Nische. Links steht die Thür auf; sie ist alt und echt, und läßt dich in ein kleinstädtisch möblirtes, weißgetünchtes Gemach schauen, wo die beiden Frauen sitzen, von denen der Alte im Garten sprach.

Dort trage ich mein Anliegen vor. Meine offenbare Verehrung für diese geweihte Stätte gewinnt mir das Herz der größeren, älteren Jungfer; sie sieht mich gutmüthig an. Braune beredte Augen versöhnen uns mit den Runzeln. Sie begegnete mir mit Wohlwollen, zeigte mir, was möglich war, und ging ein halbes Stündchen im Garten mit mir herum. Geheimrath selber hätte nicht besser, natürlicher, frohmüthiger sich benehmen können, als meine Führerin. Lebte sie doch in der Erinnerung an „das erloschene Licht“ ihre langen Jahre dahin. Es ist ein seltsames Leben, achtzig Jahre alt werden und vom „Geheimrath“ erzählen, als läge er während der ganzen Zeit da oben in seinem Stübchen und müßte sofort herunterkommen, uns zu begrüßen.

Viel konnte diese alte Dame nun freilich nicht zeigen. Die Mansarde bewohnen die Barone; die Hälfte des oberen Stocks ist an einen General vermiethet, und die Herrschaften benützen auch den Garten und die Wirthschaftsgelasse und können bei aller gerühmten Sorgfalt doch den unveränderten Zustand aus Goethe’s Zeit nicht auf die Dauer heilig halten. Das anstoßende Hinterhaus mit dem Goethe-Zimmer, dessen mit Holzläden verbarricadirte Fenster auf den Garten hinaussehen, ist unbewohnt. Ich genirte durch meine Anwesenheit dort eine Dame, welche mit dem Kaffeebrett die alten Goethe-Stiegen herunterkam, und all meine Höflichkeit half mir nicht über einen Blick der Entrüstung hinweg, der mir so en passant zufiel. Was hatte Irgendwer im Goethe-Hause noch zu suchen! Somit begnügte ich mich denn mit einer Revision des hochummauerten Gartens, in welchen die Fenster des vis-à-vis von jenseits einer schmalen Straße hineinblickten. Ich stieg eine alte Treppe hinauf, die zu einem Anbau führt. Dort sah ich in einigen dunklen Ecken eine Mineraliensammlung und einige physikalische Instrumente, welche in einer Mauernische sich befanden. Ich erkannte unter Anderem eine einst sehr elegante, jetzt von Staub bedeckte Elektrisirmaschine ursprünglichster Construction, für welche allein jeder verehrende Engländer sofort hundert Pfund Sterling zahlen würde. Sie lag als Gerümpel da. An der Straße steht außerdem ein Gartenhaus, in welchem unter Anderem ein Mammuthszahn, in Sand gelegt, in einer Kiste sich meinem spähenden Blick durch das verstaubte Fenster offenbarte. Ueberall Spuren des Fleißes, des Forschungs- und Sammeleifers einer frühern Zeit, deren Licht nun in diesem Hause nicht mehr leuchtet. „Es ist ein Licht erloschen.“ Nur aus den Augen der Alten traf mich dessen matter Wiederschein.

Auch von ihr hörte ich nun dasselbe Lied: Das Haus in seinem Urzustande zu erhalten, ist eine Aufgabe, welche den beiden Kammerherren von Goethe, den Enkeln des Dichters, sehr viele Kosten verursacht. Vor Jahren einmal hat der Bundestag, wenn ich nicht irre, dem damaligen Vormund der Erben ein hübsches Sümmchen angeboten, aber ein in diesem Falle wohl nicht ganz berechtigter Familienstolz hat die Nachkommen des Dichters verhindert, auf die damaligen Präpositionen einzugehen.

Es liegt in der Natur der Sache, daß es kein leichtes Ding ist, die Weimarischen Goethe-Häuser und -Sammlungen ein halbes Jahrhundert lang im Urzustande zu erhalten, und eine Vernachlässigung dieser Aufgabe würde sofort die Verwünschungen der gesammten Goethe-Gemeinde aller Zeiten rings um die Erde gegen die unglücklichen Erben wachrufen. Abgesehen aber von der Last, welche diese Besitzthümer mit sich führen, repräsentiren dieselben auch zugleich einen großen Theil des Vermögens der jetzigen von Goethe’s, und es kommt der Goethe-Gemeinde, jedenfalls dem deutschen Volke, zu, sich einmal zu fragen, ob es sich und den kommenden Geschlechtern die Goethe-Stätten erhalten will und welche Pflichten – wenn diese Absicht besteht – gegenüber den bisherigen aufopferungsvollen Hütern derselben zu erfüllen sind.

Unserer Ansicht nach wäre es Sache des Reichs, diese Stätten ein- für allemal unter seine Obhut zu nehmen. Die anzulegenden Capitalien würden sich reichlich verzinsen; die zahlreichen Fremden, welche nach Weimar pilgern, um ihrer Würdigung unseres größten Dichters Genüge zu thun, würden für den Besuch der Goethe-Häuser gern einen Obolus entrichten, der als Beitrag zu den Erhaltungskosten dieser Heiligthümer für Kinder und Enkel angesehen werden muß.

Goethe ist in unsern Augen der vornehmste Repräsentant des deutschen Geistes, weil er das deutsche Gemüth in Einklang mit den rauhen Wirklichkeiten des deutschen Daseins gebracht, weil er in einer Zeit tiefster nationaler Erniedrigung mit den Waffen des Genius der Welt Achtung für unsern Stamm abgezwungen. Er war ein Prophet und Kämpfer, so lange ihm die Jugendkraft Stand hielt, und im Alter ein liebevoller Lehrer und Berather, der selbst Mißlichem und Lästigem gegenüber Geduld und Nachsicht übte. Sein Wohlwollen nahm zu, je mehr er verketzert und angefeindet wurde, und nichts Gemeines hat über ihn Gewalt geübt, wenn er auch in mehr als einem Sinne Mensch und allen Anfechtungen einer zöpfigen Zeit ausgesetzt war.

Er war ein Mann, der lebenslange Treue und Freundschaft üben konnte und der bei allen Herrschergaben zu dienen verstand, der aller Phrase, Philisterei und Lüge gegenüber in seinen Werken einen Wall errichtet hat, den keine Fluth mehr hinwegspült, so sehr auch Schule, Doctrin und Partei-Eifer dagegen ankämpften. Er ist ein sich selbst und den Stoff bezwingender Geist und bietet als Sohn unseres Volkes seiner Nation die Gewähr endlichen Sieges. Je mehr die deutsche Nation heranreift und sich anderer als blos continental-particularistischer Aufgaben bewußt wird, umsomehr wird sie jene Stätten zu ehren das Bedürfniß fühlen, wo jener Geist seine Nahrung sog. Soll etwa das Wort unseres Goethe: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht“ an ihm selbst zu Schanden werden? Es ist sehr hohe Zeit, daß in dieser Frage der Erhaltung der Goethe-Häuser in Weimar, dieser Denkmäler, die viel werthvoller und inhaltreicher sind als irgend ein Standbild mit verzweifelter Allegorik, die Initiative ergriffen werde. Wie mancher hat die Pilgerfahrt nach der Dichterstadt vergebens gemacht und sich mit der Antwort begnügen müssen: „Der Herr Baron hat’s verboten.“

Reist man darum sechszig Meilen, um sich sagen lassen zu müssen: „Ja, wenn Sie ein Engländer wären, würde sich’s vielleicht machen lassen!“ Wenn irgend jemand, so hat jeder Sohn Deutschlands ein Recht – oder sollte es haben – diese Stätten der Erbauung zu besuchen, auf ihnen zu weilen und nach jener Läuterung zu streben, die Goethe’s Werke dem Strebenden in Fülle bieten. Und darum eben rufen wir die Reichsmacht an, der Nation dieses Recht zu sichern.

O. Beta.

Skizzen aus Niederdeutschland.

Von Ferdinand Lindner.
6.0 Das niederdeutsche Bauernhaus.

Wenn wir Reisepläne entwerfen, so pflegt die Anziehungskraft einer naturschönen Gegend noch eine Steigerung zu erfahren, sobald diese durch sogenannte „historische Punkte“ ausgezeichnet ist; mit Begierde suchen wir solche Gegenden auf, wo sich Ereignisse aus der Geschichte unseres Volkes abgespielt haben; mit lebhaftem Interesse durchwandern wir die Museen, in welchen wir die todten Zeugen dieser Vergangenheit angesammelt finden, und doch darf ich gegenüber diesem gerade in der Gegenwart besonders regen [626] Interesse behaupten, daß eines der interessantesten und ehrwürdigsten unserer Altertümer, für die Mehrzahl wenigstens der Oberdeutschen, fast unbekannt ist, eines, welches den ganz einzigen Vorzug hat, daß es nicht vom Staube der Museen oder dem Schutt der Ruine bedeckt, sondern noch heute vom Leben der Gegenwart erfüllt ist – ich meine das niederdeutsche Bauernhaus.

Fast genau so, wie es vor nahezu zwei Jahrtausenden im Schatten seiner Eichen stand, erhebt sich das niederdeutsche Bauernhaus noch heute vor unseren Augen. Dasselbe bemooste Rieddach, in welches der siegreiche Krieger Karl’s des Großen den Brand schleuderte, dasselbe zeichengeschmückte Hofthor, aus dem der Krieger des Hengist und Horsa schritt, um das britannische Land zu erobern, dieselbe düstere, raucherfüllte Diele, in welche der erstaunte Römer zaudernd den Fuß setzte, ja sogar noch dasselbe alte heidnische Zeichen des heiligen Rosses über Herd und Giebel!

Wenn ich so schlechthin vom niederdeutschen Bauernhause spreche, muß ich zuvor eine Scheidung vornehmen, welche auf der natürlichen Gestaltung des niederdeutschen Landes und seiner Eintheilung in Geest und Marsch beruht; denn zwischen der Bauart beider machen sich trotz bestehender Verwandtschaft wesentliche Verschiedenheiten geltend. Da sich aber das Marschhaus, wie wir sehen werden, als Sprößling des alten Geesthauses erweist und dieses den uralten Charakter auf das Treueste bewährt, so muß zunächst die Darstellung diesem, als dem eigentlichen Typus, gelten.

Im Voraus sei jedoch bemerkt, daß, genau wie das Plattdeutsch von District zu District, oft in Zwischenräumen von wenigen Meilen, variirt, so auch bezüglich des Hauses in Einzelheiten Verschiedenheiten je nach der Landschaft hervortreten, daß also das im Folgender ausgeführte Bild den Durchschnittstypus des gesammten niederdeutschen Landes bietet.

Will man die gegenwärtige Grenze des sächsischen niederdeutschen und des fränkischen oberdeutschen Bauernhauses markiren, so kann man wohl sagen, daß diese Grenze sich so ziemlich mit der der plattdeutschen Sprache deckt – freilich ganz bedeutende Ein- und Ausbuchtungen und auch die Districte der Uebergänge mit eingerechnet; denn steigen wir höher in's Land hinauf, so finden wir, daß sich die „Diele“ verengt und zusammenschrumpft; das Vieh verschwindet daraus und kommt in Nebenräume, bis der rein fränkische Bau in sein Recht tritt.

Das niederdeutsche Bauernhaus hat zwar die primitive Stufe der Herstellung aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk, die älteste Form des deutschen Hauses neben dem Blockhause, meist überwunden, ist aber anderntheils noch durchweg beim Fachwerk stehen geblieben. Vor Allem ist aber nun zu constatiren, daß es sich in seiner Gesammtheit wie in seiner Einzelnheiten durchaus vom oberdeutschen unterscheidest und dies zwar besonders in folgenden vier Punkten:

Erstens: Das Haus umfaßt das gesammte zur bäuerlichen Wirthschaft gehörige todte und lebende Inventar; es ist der Inbegriff des ganzen Hofes, des ganzen Besitzthums, und wie sehr dies auch von der Bevölkerung empfunden wird, darauf deutet eine Auffassung, der ich überall begegnet bin. Will nämlich Einer den Besitzstand eines Anderen bestimmen, so bemißt er denselben nach dem Längenmaße des Hauses; denn damit ist z. B., abgesehen von allem Anderen, der Viehstand, welcher die Längsseite der Diele einnimmst zugleich mit angedeutet.

Die zweite charakteristische Eigenschaft ist der Bau zu ebener Erde – das niederdeutsche Bauernhaus hat fast nie ein Stockwerk, selbst in der sonst so vielfach abweichenden Marsch nicht; denn Abweichungen, welche ich gefunden, z. B. in den nach Abgrabung des Moores reich gewordenen Moordistricten, sind verschwindende Ausnahmen.

Ein Drittes, ganz Eigenartiges ist das offene Herdfeuer, der Mangel eines Rauchfanges, worauf ich bei der Einzelschilderung zurückzukommen gedenke.

Die vierte Eigenschaft endlich ist die isolirte Lage des Hofes. Es giebt in Niederdeutschland natürlich ebenso gut Dörfer und Flecken wie anderwärts, aber der Procentsatz der Einzelhöfe ist ein viel bedeutenderer als im oberen Deutschland. Und im Dorfe selbst macht sich unverkennbar das Streben des einzelnen Hauses und Hofes bemerkbar, sich den Nachbar etwas vom Halse zu halten. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß die Besitzer schlechte Nachbarschaft hielten – im Gegentheil, das nachbarliche Verhältniß ist durch ganz Niederdeutschland ein sehr gutes.

Deuten schon diese allgemeinen Eigenschaften auf einen ganz eigenartigen Character hin, so zeigt sich dies mal um so interessanter in den Einzelheiten des Hofes.

Während im übrigen Deutschland die Höfe meist aus einem einen Hofraum umgebenden Häusercomplex bestehen, concentrirt sich, wie ich eben schon andeutete, hier Alles auf das eine Gebäude – ein Umstand, durch welchen das Aussehen des Hofes an sich schon ein durchaus verschiedenes wird. Hierzu tritt aber nun, das Bild in einer ganz besonderen Weise vervollständigend, der Kamp. Unter diesem Ausdrucke versteht man einen Baumbestand von bald größerem, bald kleinerem Durchmesser, in dessen Mitte der Hof gleichsam geborgen liegt, und der Kamp erfüllt in der That die Aufgabe, als Windschutz gegen den Nordwest zu dienen. Daher sind denn auch Kamp und Hof unzertrennlich, und der mit der Gegend Vertraute erkennt an der isolirt und dicht gedrängt stehenden Baumgruppe schon aus der Ferne das Vorhandensein eines Hofes.

Diese Verbindung nun des altertümlichen Bauwerks mit einer prächtigen Baumvegetation bietet etwas, was unsere Maler allenthalben in Deutschland, nur nicht in Niederdeutschland zu suchen pflegen – die ländliche Idylle nämlich in einer Vollkommenheit, daß ich dreist zu behaupten wage: das gesammte übrige Deutschland vermag sich in Bezug auf diese Bilder in keiner Weise mit dem niederdeutschen Gebiete zu messen. Es geht durch diese ländlichen Höfe-Bilder ein so packender kraftvoller Zug; sie zeigen eine solche Energie der Form und Farbe, des Lichtes und Schattens, ja in ihrer isolirten Lage oft ein solch künstlerisch in sich abgeschlossenes, fertiges und charaktervolles Bild, wie ich es nirgends anderswo in diesem Umfange und namentlich auch in dieser Reichhaltigkeit gefunden habe; sie wirkt oft geradezu überraschend, wenn man in kurzem Zeitraum an einer größeren Reihe solcher Höfe vorübereilt. Hier liegt der eine in einer wahren Schattennacht, von stolzen Buchen überwölbt, aus deren Mitte eine alte vom Blitz gefurchte kahlästige Eiche wie ein trotziger Wächter des Hausfriedens emporragt; dort ist das altehrwürdige Gebäude von lauter knorrigen Eichen ehrwürdigen Alters umstanden, wieder an einem anderen Hofe legen dunkle Tannen, von lichten Birken durchsetzt, ihre breiten Aeste wie schützend auf das dunkelgrün oder goldbraun schimmernde Rieddach – ringsum aber läuft bei allen in hellleuchtendem Grün die Hecke, zwischen deren Laub hier und dort die krummgebogenen Buchen- oder Birkenstämme, aus denen sie besteht, sich gleich ertappten Bösewichtern ducken, während wilde Rosen, Jelängerjelieber und Brombeerranken sich durch ihre Aeste und Blätter schlingen.

Die Hecke nun vervollständigt das Bild des Hofes als eines in sich abgeschlossener Ganzen. Den Eingang durch die Hecke schließt der Baum, „Rön- oder Rünbaum“, auch blos „Rön“ genannt, der aus zwei durch Querhölzer verbundenen Balken besteht, derer oberster schwer in einer Gabel ruht und durch dessen Aus- und Einheben der Eingang geöffnet oder geschlossen wird.

Diese Pforte und den Kamp durchschreitend, stehen wir bald vor dem Hause, zu dessen Seite, meist in rechtwinkeliger Stellung zu demselben, sich ein oder zwei aus Flechtwerk mit Lehmbewurf hergestellte kleinere schuppenartige Gebäude befinden, welche teils als Aufbewahrungsort von Frucht, theils als eine Art Rumpelkammer Verwerthung finden. An die oft abgebröckelte Seitenwand eines dieser Gebäude stößt der Schweinestall, der sich natürlich nicht mit im Hause befindet.

Das Haus selbst stellt ein langes Parallelogramm dar, das in zwei respective drei ungleiche Theile zerfällt: in die den bei Weitem größten Raum beanspruchende Diele und in die Howand einerseits, in die Stube oder Dönse andererseits, und zwar derart, daß der als Howand bezeichnete Theil zwischen der Diele und Stube liegt. Namentlich macht sich hier ein Unterschied zwischen dem nieder- und oberdeutscher Begriffe in Bezug darauf geltend, was beim Hause „vorn“ und „hinten“ genannt wird. Während für das übrige Deutschland das „Vorn“ sich mit der Fensterfront der als Wohnzimmer benutzten Räume deckt, ist dies hier gerade umgekehrt, indem der Theil, welcher die Wohnzimmer umschließt, das „Hinten“ repräsentirt, während die Diele und ihre Thoröffnung nach vorn liegt.

Beim Eintritte in das Haus empfängt uns ein hochgewölbtes breites Thor, über welchem in Holz eingeschnitten ein frommer Spruch steht – ab und zu orginell, meist aber ein gewöhnlicher Bibelspruch – unter diesem in der einen Ecke der Name des [627] Erbauers, in der Mitte die Jahreszahl der Erbauung und in der andern Ecke Vor- und Zunamen der Eheleute. Doch ist auch hier oft eine verschiedene Anordnung eingehalten. In alten Häusern befinden sich unmittelbar neben dem Thore innerhalb des Hauses links und rechts schmale Räume, „die Wamm“ genannt, in denen Jungvieh gleich nach der Geburt untergebracht wird, weil es die wärmsten Theile der Diele sind; „Wamm“ ist daher wohl durch Zusammenziehung aus Warm entstanden.

In die Diele oder „Deele“ eintretend, befinden wir uns nun in einem weiten und hohen, aber so dunklen Raume, daß wir für den ersten Augenblick Nichts als die gegenüberliegende, matt herüberdämmernde Howand zu unterscheiden vermögen – ein Eindruck, der um so frappanter wirkt, aus je grellerem Sonnenlichte wir kommen. Der Grund dieser Dunkelheit ist der, daß die Diele ihr Licht nur durch das Thor und den Resten der gegenüberliegenden seitlings erleuchteten Howand erhält. Einmal aber darin, verlieren wir den düstern Eindruck bald (im Sommer wirkt schon die stetige Kühle der Diele ungemein erquickend) und wir sind in der Lage, uns umzusehen. Der Boden besteht aus festgestampftem Lehm und wird zum Ausdreschen der Frucht etc. benutzt. Die Decke ist aus starken, in Zwischenräumen querübergelegten Balken gebildet, die vom Rauche des Herdes vollständig schwarz, ja rußglänzend gefärbt sind; über dieser Decke befindet sich der Fruchtboden bis zu dem sogenannten Hahnenbalken oder Hahnenjoche hinaus, dem obersten längs dem Firste liegenden Balken, welcher die Sparren des Daches aufnimmt.

Blicken wir nun nach rechts und links, so stehen wir einer der hervorragendsten Eigenthümlichkeiten des niederdeutschen Hauses gegenüber: den Viehständen; dieselben laufen auf beiden Längsseiten des Hauses hin. Die Pferde befinden sich meist rechts, das Rindvieh dagegen links. Die einzelnen Räume sind durch starke, vom Reiben des Viehs glatt polirte Balken von einander abgetrennt, – und diese in Zwischenräumen aufgestellten Balken gestatten dem Vieh das bequeme Hindurchstecken von Kopf und Hals und die Entgegennahme des Futters; einer der Ballen kann ausgehoben werden und bildet die Thür in den Stand. Diese Verbindung des Stalles mit den Wohn- und Haushaltungsräumen hält man im oberen Deutschland geradezu für einen Mangel an Civilisation. In dem Zusammenleben mit den Hausthieren unter einem Dache liegt aber ein so gemüthlicher, mit dem Wesen bäuerlichen Lebens übereinstimmender Zug, daß auch der Fremde sich bald davon angeheimelt fühlt, und was der Niederdeutsche als besonderen Vorzug anführt, daß man das Vieh jederzeit unter dem Auge hat, ist so zutreffend, daß es zur Genüge für sich selbst spricht. (? Die Red.)

Zwischen dem Viehstande und der Balkendecke befindet sich ein Raum, „Hille“ oder „Helgen“, welcher zur Unterbringung theils von Futter, theils von Torf oder auch von Geräthen und Gerümpel benutzt wird, während ein anderer Raum, der Waschort, wo auch der Backtrog u. dergl. Aufstellung findet, am Ende des einen Standes liegt. Zwischen der Howand und den Viehständen liegen kleinere zimmerartige Räume, welche theils als Gesindestube, theils aber auch als Wohnstube dienen, wie sich überhaupt in der Anordnung dieser Räume vielfache Verschiedenheiten finden. Die Wände der Diele und die Hauptbalken des Viehstandes bis zur Howand hin sind mit Ackergeräthen, Geschirren für Pferde und Kühe etc. behängt; auch stehen hier nach der Howand zu die alten Eichenschränke, oft mit außerordentlich schöner Schnitzerei von oben bis unten reich verziert, die mächtigen Truhen, in welche manchmal Jahreszahlen von hohem Alter eingeschnitten sind, die vielfach auf Rädern ruhen und zum Theil dieselbe geschmacklose Malerei zeigen, wie die anderen Bauerntruhen unseres gesammten Vaterlandes. Hier finden auch Geräthe größeren Calibers Aufstellung, wie z. B. die auf der Skizze rechts sichtbare Grützemaschine. Es ist hier nicht der Raum, um verschiedene dieser Geräthe aufzuführen, nur eines ganz absonderlichen sei noch Erwähnung gethan, nämlich einer Buttermaschine, welche nach Art des Bratspießes durch ein von einem Hunde getretenes Rad bewegt wird – die untenstehende Skizze erläutert das Uebrige.

Buttermaschine

Ich habe diese Maschine ebenso in der Lüneburger Haide, wie in der Oldenburger Marsch gefunden jedoch stets nur bei einem Hofe mit größerem Viehstande. Das Ding hat aber eine höchst humoristische Seite, die ich dem Leser nicht vorenthalten will; ist nämlich der Hund in der wirthschaftlichen Thätigkeit des Butterns begriffen, und betritt ein Fremder die Diele, so erwacht in dem Thiere zugleich die sicherheitspolizeiliche Natur, und wie eine Verdickung jener beiden Factoren oft genug vom Uebel zu sein pflegt, so auch hier; denn der Hund, welcher seinem Eifer keinen andern Ausdruck geben kann, fängt an im Rade derart zu strampeln, daß die Butter rings in der Diele herumzuspritzen beginnt – die Hausleute eilen in diesem Falle schleunigst herbei, um ihn aus dem Rade zu befreien und so die Butter zu retten.

Mit unserer Schilderung sind wir nun bis zur Howand gediehen, welche an sich den Uebergang von der Diele zur Stube bildet, in ihrer Bedeutung aber die letztere vollständig in den Schatten stellt, da die Howand der eigentliche Wohnraum ist; denn hier nimmt der Bauer auf dem großen breiten Tische seine Mahlzeiten ein; hier kocht er; hier verrichtet er alle Geschäfte des täglichen Lebens. Die Howand ist aber nicht allein der Schauplatz der täglichen Geschäfte, sondern in Verbindung mit der Diele auch derjenige der außergewöhnlichen Ereignisse des Lebens – hier wird die Kindtaufe, die Hochzeit mit allen eingeladenen Nachbarn festlich und namentlich mit Tanz gefeiert, bei welcher die Diele den Tanzplatz abgiebt – hier aber steht auch der Sarg und wird die Trauerfeierlichkeit abgehalten.

Auf beiden Seiten hat die Howand Fenster nach außen, ebenso je eine Thür (Tegen-Sitelthür); außerdem aber befinden sich an der die Howand bildenden, der Diele zugewandten Seite der Dönse Fenster, aus denen man die ganze Diele übersehen kann. (Bei alten Häusern ist die Howand ab und zu durch ein niedriges hölzernes Gitter abgetrennt.) Der Lehmboden der Diele wird auf der Howand durch ein Pflaster meist verschiedenfarbiger, in regelmäßigen Vierecken wechselnder kleiner Kiesel abgelöst, und hier stehen die Torfkasten, ebenso alle Küchengeräte, darunter manch werthvolles alterthümliches Stück.

Auf der Howand finden wir nun auch jene Stelle des Hauses, welche bei allen Völkern eine besondere Verehrung genießt – die Feuerstatt – und hier im niederdeutschen Bauernhause tritt sie uns noch in der altertümlichsten Form entgegen; ohne irgend weiche Vorrichtung, mitten auf dem Boden der Howand, brennt das Herdfeuer, und der Rauch zieht, langsam an der Decke der Diele emporsteigend, zum Thor hinaus.

Die Einrichtung des Herdes, auch „Herdkuhle“ genannt, ist folgende: Das Feuer selbst wird entweder unmittelbar auf den Steinen des Bodens oder auf einer kegelförmigen Anschüttung von Sand oder endlich auf einer gemauerten Unterlage von Backsteinen hergerichtet, welche auch öfter hohl und an einer Seite mit einer Oeffnung versehen ist, um der Flamme Luftzug zuzuführen. Ueber diesem Herd befindet sich an einem in die Wand eingelassenen Balken ein nach links und rechts bewegliches galgenförmiges Holzstück, der Wendhaken, von welchem entweder eine einfache Kette oder ein sägeförmiger eiserner Halter, der Ketelhaken herabhängt, an welch letzterem wiederum, soll er noch verlängert werben, ein eiserner Haken, der „Längholt“ befestigt wird; der Apparat dient dazu, den Kessel über dem Feuer aufzuhängen. Ueberragt wird das Ganze von einer Herddecke, die da, wo sie nicht einfach blos aus Brettern besteht, sondern mit roh ans Holz geschnitzten Pferdeköpfen auf lang geschweiften Hälsen (den Springern des Schachspiels sehr ähnlich) verziert ist, der ganzen Diele ein altertümliches Aussehen verleiht. Ueber dem Herd hängen nun im Rauche an horizontalen Stangen Speckwiem) die Schinken und Speckseiten.

Dieses Herdfeuer kann zwar noch vollständig als typisch gelten,

[628]

Das niederdeutsche Bauernhaus.0 Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.
1. Das Geesthaus. – 2. Lüneburger Haide. – 3. Osterstade. – 4. Butjadingen (Berg). – 5. Das alte Land. – 6. Hadeln. – 7. Wursten. – 8. Die Bettkästen. – 9. Die Howand mit der Herdkuhle und dem Blick in die Dönse.

[629] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [630] aber es ist nicht zu verkennen, daß die Bevölkerung allmählich beginnt; zur Schlotfeuerung überzugehen. In engem Zusammenhang hiermit steht auch wohl das Verschwinden des Rieddaches, und haben wir hier ein drastisches Beispiel für jene wirtschaftliche Anpassung, welche die äußeren Formen umgestaltet: der Grund für das Verschwinden des Rieddaches mit der Herdkuhle ist einfach der, daß die Feuerversicherung bei der Einführung des Schornsteins für Häuser mit Rieddächern viel höhere Prämien fordert, als für solche mit Ziegeldach.

Wie die Feuerstatt, so hat auch der Brunnen – um denselben an dieser Stelle gleich zu erwähnen eine eigenartige vom übrigen Deutschland abweichende Form, und wenn man sein Bild, aus dem Zusammenhang gehoben, einem Bewohner Oberdeutschlands vorlegte, so würde er denselben aller Wahrscheinlichkeit nach in die ungarische Pußta versetzen; denn es ist genau derselbe Ziehbrunnen mit dem mächtig hinausragenden Arm, den wir hier wiederfinden, meist, wie dort, roh aus einem unbehandelten Baumstamm angefertigt, von welchem an Stange, Seil oder Kette der Eimer herabhängt.

Die die Howand begrenzende Wohnstube oder „Dönse“, auch „Achterdönse“, theilt sich meist in zwei Zimmer. Die Möbel der Dönse sind auf das Allernothwendigste und Einfachste beschränkt, Vorhänge zieren meist die Fenster, und findet man da ab und zu eine wunderliche Färbung der im übrigen Deutschland nur in weißer Farbe üblichen Mullvorhänge in’s Hochrothe. Von den Fensterscheiben hat man vielfach gelesen, daß sie sich besonderer Verzierungen, namentlich auch durch Inschriften erfreuten; gegenwärtig ist aber diese Sitte, solche Fensterscheiben zu benutzen nicht nur ganz abgekommen, sondern man findet – mit Ausnahme allenfalls westfälischer Districte – auch diese alten Scheiben fast nirgend mehr.

Eine eigentümliche Ausstattung der Stube bildet oft der Strohdeckel. Während das übrige Deutschland denselben nur zum niedrigsten Dienst vor der Schwelle der Wohnung kennt, erscheint er hier in veredelter Form, buntgeflochten als Zimmerzierde, und zwar dutzendweise in regelmäßigen Abständen über den Boden der Stube verstreut. Beim Beschreiten eines solcher Zimmers fühlt man die moralische Verpflichtung, storchbeinig jeden einzelnen Deckel zu „nehmen“.

Das merkwürdigste und eigenartigste Institut der ganzen Wohnstube sind nun aber die Bellkästen. Soviel Poesie in der grotesken Alterthümlichkeit des Hauses liegt, hier hört sie absolut auf. Diese Bettkästen findet man zwar auch in einigen französischen und englischen Districten, ebenso in sehr alten Häusern des oberen Deutschland, namentlich noch auf Burgen, aber in solch weiter Ausdehnung sind sie nur in Niederdeutschland in Gebrauch. Entweder in dem todten Raume, welcher da entsteht, wo das schicke Dach auf die Grundmauer stößt oder in der Scheidewand zwischen den beiden Dönsen befindet sich eine Art dunkler Verschlag (die beigegebene Skizze, Nr. 8, illustrirt dies), oder auch zwei neben einander durch eine Scheidewand getrennte; der untere Theil desselben ist mit Stroh gefüllt und darauf liegen Berge von Federbetten, welche dem Raum entsprechend ein Lager für zwei bis drei, ja mehr Personen bilden. Macht das Ganze schon den Eindruck einer finsteren Höhle, so kommt nun eine weitere verdunkelnde Einrichtung dazu: die „Schotten“, Schiebtüren, welche der Bauer, sobald er mit seinen Bettgenossen in den Kasten gekrochen ist, wie der Staar in den seinigen, namentlich bei kälterer Witterung hinter sich zuschiebt.

Das ist nun zwar schauerlich, das Merkwürdigste ist es aber doch noch nicht; dieser Vorzug gebührt meiner Ansicht nach dem „Bettquast“. Mitten über dem Bett hängt nämlich von der Decke des Bettkastens eine Schnur mit einer Quaste oder einem Knopf herab, so weit, daß der im Bett Liegende sie mit ausgestrecktem Arm erreichen kann. Das Ding heißt der Bettquast und soll, wie man uns sagt, zum Aufrichten dienen – eine wunderliche Aufgabe, welche fast den Verdacht erregen könnte, daß es dem niederdeutschen Bauer ganz besonders schwer falle, aus den Federn zu gelangen.

Ueber alle die geschilderten Einrichtungen, über Mensch und Thier, legt sich nun ein breites gewaltiges Dach, das ebensowohl mit Stroh, wie ganz besonders auch mit „Reid“, unserem Ried, dem reichlich an den Deichen wachsenden Schilfe, gedeckt wird, welch letzteres ein sehr dauerhaftes Material liefert. Auf dem Dach wuchert eine starke Moosvegetation, und auf dieser haben wiederum oft Pflanzensamen Wurzel geschlagen und geben mit ihren hochgerichteten Stengeln dem Ganzen ein eigentümliches und freundliches Aussehen.

Bei dem Dache selbst sind zwei Formen zu unterscheiden: die eine, bei welcher die Giebelwand des Hauses bis unter den Hahnenbalken reicht, die andere, welche ein nach der Giebelfront des Hauses schräg abfallendes Dach zeigt, welches meist nur bis zur Hälfte der Höhe des Daches hinabreicht, sodaß die Giebelfronten des Dach- und Mauerwerkes eine größere Höhe haben, als die Seitenwände. Diese letztere Art hat noch am Giebel eine besondere Gestaltung, den Walm, einen mützenartigen, über den gekränzten Hahnenhölzern gewölbten Aufsatz von Stroh oder Ried, in dessen Mitte sich das sogenannte Uhlenloch befindet (oft durch ein Thürchen verschlossen), welches dem Fruchtboden Licht gewährt; doch ist diese Oeffnung nicht überall vorhanden.

Was aber diese Stelle – den Giebel – zu einem der interessantesten Theile des ganzen Hauses, ja vom historischen Standpunkte vielleicht zum merkwürdigsten macht, ist das Giebelzeichen, die gekreuzten Pferdeköpfe – ist jedoch hier nicht der Raum geboten, näher auf diese altehrwürdige Giebelzierde einzugehen und behalte ich mir deren Besprechung für einen späteren Artikel vor. –

Wenn wir die Geest und ihr altertümliches Haus verlassen und in die Marsch hinabsteigen, so tritt uns hier nicht allein eine große Mannigfaltigkeit der Bauarten entgegen, sondern für den erster Blick scheint auch kein klarer Zusammenhang mit dem Typus des alten Geesthauses zu bestehen, doch ist in Wirklichkeit dieses als der Stammvater des Marschhauses anzusehen. Die scheinbar vollständige Verschiedenheit ist die Folge eines ähnlichen Vorganges, wie er in der organischen Welt zur weitesten Umgestaltung führt – die Folge der Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, die in der Marsch total verschieden sind von denen in der Geest.

Für die Abstammung vom Geesthaus sprechen sowohl die Geschichte der Marsch, wie die im gegenwärtigen Bau der verschiedenen Marschhäuser noch erhaltenen Reminiscenzen an das alte Geesthaus; denn die Marsch ist trotz ihrer wirtschaftlichen Ueberlegenheit über die Geest doch immer vom historischen Standpunkte aus durch die Geest beeinflußt worden. Der Typus des friesischen Hauses, wie wir es noch in Nordfriesland finden, mußte da aufgegeben werden, wo der einwandernde Friese seinen Blick von der See und Schifffahrt ab- und dem Land- und Ackerbau zuwandte. Hier aber traf er natürlich lediglich auf die Vorbilder der umgrenzenden Geest. Aber ebenso zeigt die weitere Geschichte der Marschen deren bewegteste Perioden durch den Kampf gegen die Geestbewohner charakterisirt werden, auf den weiteren Einfluß derselben hin, insofern bald schwächere bald stärkere Bevölkerungselemente der Geest unter diejenigen der Marsch gemischt wurden. Ja, dieser Einfluß der Geest hat heute noch nicht aufgehört, nur daß es nicht der blanke Stahl der Waffe, sondern das nicht weniger mächtige blanke Gold ist, welches hierbei eine Rolle spielt, indem sich bedeutende Massen Geestcapital zwischen den Besitzstand der Marschen schiebt.

In den westlichen Marschen ist der Einfluß Hollands sowohl in Bezug auf die Wirthschaft überhaupt, wie namentlich, was uns hier interessirt, in Einzelheiten der häuslichen Einrichtungen unverkennbar, während die östlichen wohl mit den Dithmarschen in Beziehung standen. In der neueren Zeit tritt nun die Beeinflussung durch das Hinterland, das obere Deutschland hinzu, welche sich namentlich von den Flußläufen aus geltend macht. Wie der Grund und Boden der Marschen durch Anschwemmung entstanden ist, so könnte man die geistigen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Marschen in den letztvergangenen Decennien sowohl, wie noch in der Gegenwart, mit einem Schwemmlande vergleichen, indem die mit der Benutzung des Dampfes immer mächtiger angeschwollene Flut des Verkehrs Schicht auf Schicht im Culturleben der Marschen absetzte, die freilich oft noch unvermittelt neben einander liegen, sich aber immer mehr zu einem neuen organischen Ganzen zusammenfügen.

Man kann allerdings wohl bei jeder Marsch im Allgemeinen von einem Typus ihres Häuserbaues sprechen, aber dieser Typus ist in Wirklichkeit keineswegs streng durchgeführt; denn theils drängen sich verschiedene Bauarten neben einander, theils weichen die einzelnen Gehöfte mehr oder weniger von der Norm ab, auf keinen Fall aber existirt ein allgemeingültiger, aller Marschen gemeinsamer Typus; das, was alle Marschen mit einander theilen, schließt sich an die Eigenthümlichkeit des Marschlandes selbst an.

Die Marsch ist ein vom Wasser geschaffenes, vom Wasser um- ja überwogtes Land – das kommt zum prägnanten Ausdruck bei [631] der Anlage, speciell bei der Umgrenzung jedes Hofes. Was nämlich für das Geesthaus die Hecke, das ist für das Marschhaus der Wassergraben, die Graft, welcher jeden Marschhof rings umgiebt. Doch darf sich der binnenländische Leser darunter ja nicht einen jener Wassergräben vorstellen, wie sie noch teilweise alte Herrenhäuser unserer Güter im übrigen Deutschland zu umgeben pflegen, sondern diese Gräben sind nur Glieder eines die ganze Marsch durchziehenden und das ablaufende Wasser aufnehmenden, von Binnen- und Außensielen regulirten Grabensystems. Dieser voll hohem nickendem Schilf durchwachsene Graben macht einen charakteristischen Eindruck, und derselbe steigert sich oft zu einem hochmalerischen, wenn die Graft sich unter den weit übergebogenen Bäumen des Gartens tiefbeschattet einherzieht.

So ist denn auch der Klubenstock der treue Begleiter des Marschbewohners (in der einen Marsch übrigens mehr als in der anderen), mit welchem er die Gräben gewandt überspringt, wenn er in seine Felder und Weidegründe hinausgeht.

Nächst dem Graben wäre nun noch die Warf zu nennen, ein künstlich gewölbter Hügel, auf welchem einst das Marschhaus errichtet wurde. Doch kann man dieselbe gegenwärtig nicht mehr als allgemeines Charakteristicum hinstellen, da sie mit den stärker werdenden Deichen allmählich mehr und mehr verschwunden ist und eigentlich nur noch in der Marsch Wursten sich im Profil der Landschaft hervorhebt.

Das dem Geesthause eigenthümliche Streben nach Isolirung findet sich in vollem Maße in der Marsch wieder. „Wie durch ein Sieb vom Himmel gestreut“ ist ein übliches, die Einzellage der Höfe bezeichnendes Bild. Doch gilt von der Marsch, was ich vom übrigen Niederdeutschland sagte, daß neben dem Einzelgehöft auch der Häusercomplex als Dorf, Flecken und Stadt vertreten ist, und zwar zeigen die einzelnen Marschen hier eine große Verschiedenheit.

In Hadeln und Kehdingen z. B. herrschen die Einzelgehöfte. In Osterstade dagegen drängen sich die Höfe von Köthnerwohnungen umgeben zu kleinen Dörfern zusammen, und zwar namentlich in der Nähe des Deiches, den endlosen Weideflächen freien Spielraum lassend. Im Butjadingerland wiederum finden wir ein Gemisch beider Arten, und zwar nach der Weser zu die Anhäufung zu Ortschaften, welche oft rein das Gepräge mitteldeutscher moderner Kleinstädte tragen, nach dem Jahdebusen zu das Vorherrschen des Einzelhofes.

Das Material beim Bau des Marschhauses ist schon längst kein gleichmäßiges mehr; denn während das Haus früher entsprechend dem Geesthause aus Fachwerk bestand, tritt jetzt bei jedem Neubau der massive Backsteinbau an dessen Stelle. Freilich – die Romantik muß auch hier wie anderwärts der praktischeren Neuerung weichen; denn so malerisch sich z. B. ein alter Butjadinger Berg dem Auge darbietet, einen so verzweifelt nüchternen Eindruck macht der moderne aus Backsteinen und Ziegeldach zusammengesetzte Kasten.

Durchaus gemeinsam allen Marschen ist der Bau zu ebener Erde. Dagegen ist das Herdfeuer auf der Diele nicht nur aus den neueren, sondern auch fast aus allen älteren Häusern verschwunden und meist nur da noch vorhanden, wo alte Leute die Sitten der „guten alten Zeit“ hartnäckig festhalten. Nicht in gleichem Maße hat aber mit der Entfernung des Herdfeuers und der Verwendung des Schornsteines ein Ersatz des Rieddaches durch ein Ziegeldach stattgefunden und abgesehen von den Neubauten überwiegt noch das erstere.

Den größten Unterschied zwischen dem Marschhause und dem Urtypus des Geesthauses einerseits und den Marschen unter sich andererseits bietet das Verhältniß der Diele zur Wohnstube, der Dönse des Geesthauses. Während das Verhältniß in letzterem ein gleichmäßiges ist, herrscht in den Marschen große Verschiedenheit, sodaß es schwierig ist, Allgemeines festzustellen.

Die Diele an sich hat im Großen und Ganzen ihre Physiognomie bewahrt, teilweise hat sie aber starke Abänderungen erfahren. Vollständig verschwunden ist die Howand, an deren Stelle der sogenannte „Windfang“ getreten ist, welcher eine Art Flur vor dem Wohnzimmer darstellt, und durch eine Thür, meist Glastür, mit der Diele in Verbindung steht, während die Seiteneingänge die Haupteingangsthür zu dieser Flur bilden. Der Grund für dieses Verschwinden der Howand liegt in der verschiedenen Bedeutung, welche die Wohnzimmer im Geest- und im Marschhause haben.

Während sie im ersteren, wie wir sahen, für das eigentliche tägliche Wohnbedürfniß eine untergeordnete Rolle spielen und die Howand der Schauplatz des täglichen Lebens ist, treten die Wohnzimmer in der Marsch in ihr volles Recht, ja erfreuen sich einer sorgfältigen, oft sogar luxuriösen Ausstattung.

Daß freilich die Einheit einer solchen Einrichtung oft noch sehr zweifelhaft ist, läßt sich denken.

So findet man z. B. folgende Einrichtung: Die eine Seite weist die Ausstattung einer kleinbürgerlichen Stube auf mit obligaten Häkeldecken auf Sopha, Tisch u. dergl. m. Die gegenüberliegende Wand aber wird von zwei der oben geschilderten Bettkästen eingenommen und zwischen den Schiebtüren dieser beiden steht ein kostbares Pianino, das jedem eleganten Salon zur Zierde gereichen würde.

Wie Howand und Wohnstube, so hat auch der Fruchtboden bedeutende Veränderungen erfahren, was bei dem großen wirtschaftlichen Abstand zwischen Geest und Marsch nahe liegt. Theils treten große Scheunen zum Hof hinzu, theils nehmen auch zwei, drei Stock hohe Fruchtböden innerhalb des hochgegiebelten Hauses die Frucht auf, theils wird sie sogar zu ebener Erde innerhalb der Diele aufgespeichert.

Von der Frucht zum Mist ist kein allzu weiter Sprung, und dieser wichtige Stoff der Landwirthschaft wird gleichfalls in sehr verschiedener Weise untergebracht – in der einen Marsch in hoch gewölbten Haufen, welche seitlings im Hofe untergebracht sind, oder weit ausgebreitet, fast teichartig theilweise mit Geländer umgeben, sodaß sie den ganzen mittleren Raum des Hofes einnehmen.

Endlich sei noch mit einigen Worten des Blumen- und Gemüsegartens Erwähnung getan, welcher beim niederdeutschen Bauernhaufe ebenso wenig fehlt wie beim oberdeutschen; er ist hier wie dort derselbe, wie er sich beim Geesthause auch fast durch nichts von dem oberdeutschen unterscheidet.

Anders dagegen in der Marsch! Theils macht sich hier auf das Deutlichste der holländische Einfluß in den verschnittenen Hecken, Bäumen und Laubgängen, sowie in der Anordnung der Blumenbeete geltend, theils nimmt er ganz im Gegensatze hierzu ein parkähnliches Aussehen an und bietet mit den breiten wasser- und schilferfüllten Gräben ein hochmalerisches Ensemble; hier tritt dann auch noch eine ganz absonderliche Eigentümlichkeit der Marsch hervor, indem die Bäume und die Vegetation des Gartens auf der Seite, wo sie dem Ansturm des Nordwest ausgesetzt sind, in den wunderlichsten Windungen und Krümmungen auf dem Boden hinkriechen, während erst die nächsten Colonnen allmählich eine aufrechte und stattliche Haltung gewinnen.

Vor dem Marschhause findet man die sehr verbreitete Verwendung des Windschutzes – eine Reihe von Bäumen, welche in holländischer Manier, flach verschnitten wie ein breiter, grüner Schirm, vor der Giebelfront mit den Wohnzimmern sich hinzieht. Doch kommt man in der Neuzeit mehrfach davon ab, da dieser Laubschirm wohl gegen den Wind schützt, zugleich aber auch den trocknenden Einfluß der Sonne hemmt. Die trocknende Sonne ist aber von großer Wichtigkeit; denn so behaglich und freundlich der Eindruck ist, den das Marschhaus macht – eines wird dem Oberdeutschen immer störend und unangenehm auffallen: der leichte Modergeruch, der in allen, namentlich den geschaffenen Räumen, und hier besonders wieder in den Ecken, herrscht und der auch nicht zu entfernen ist, da er aus der Bodenbeschaffenheit der Marsch entspringt. Doch würde man sich täuschen, wenn man gerade diesen Umstand für besonders gesundheitsschädlich ansähe: die Marschfieber hängen meist mit anderen Erscheinungen zusammen und sind überdies in der neueren Zeit in stetiger Abnahme begriffen. Eine specielle Schilderung der Höfe in den einzelnen Marschen muß hier des Raumes wegen unterbleiben, und verweise ich den Leser auf das vortreffliche Marschenbuch von Hermann Allmers, in welchem er eine anziehende Schilderung des Lebens und Treibers auf einem Marschhofe findet. (Vergl. auch „Gartenlaube“ 1866, Nr. 22; 1864, Nr. 32 und 51.)

Wer in seinem Empfinden nicht tief von der Eigenart des niederdeutschen Bauernhauses berührt wird, der muß von allen Göttern verlassen sein. Wenn ich so des Abends am Herdfeuer saß, wenn der Rauch rötlich angeleuchtet in leichten Wolken zu den Balken hinaufklomm und wie ein Schatten im Dunkel der Diele verschwand, in der man kaum etwas Anderes als die im Widerschein des Feuers glänzenden Augen der Rinder [632] sah, wenn dann die Flamme heller aufzuckte und die alterthümlichen Formen und Geräthe der Howand flüchtig erglänzten, oben aber vom Rieddach die alten heidnischen Roßzeichen aus den Rauchwolken gespenstisch herauszuspringen schienen – in solchen Augenblicken hätte ich mich wahrhaftig nicht gewundert, wenn drüben aus der Thür der Dönse ein alter sächsischer Krieger getreten wäre und Speer und Schild an den dunkelglänzenden Balken gehängt hätte. Niemand wird sich dem Zauber der Poesie zu entziehen vermögen, welcher ein solches niederdeutsche Haus und seine uralten historischen Formen umgiebt

Das niederdeutsche Gebiet wird einst ein durchaus anderes Gesicht zeigen – die Haide wird Wälder und Felder tragen lernen; das dunkle Moor wird verschwinden und lachenden grünen Fluren Platz machen; das Plattdeutsch wird trotz der momentanen Belebung durch die Literatur Jahr um Jahr mehr absterben, und so wird einst auch die Zeit kommen, wo die letzte Herdkuhle erlischt, das letzte Rieddach verschwindet – es wäre daher wohl der Mühe und Arbeit werth, wenn in einem umfassenden Werke diesem ältesten Zeugen aus der Geschichte unseres Volkes, dem niederdeutschen Bauernhause, ein wissenschaftliches Denkmal gesetzt würde.




Die Petroleum-Fundstätten Deutschlands.

Die Geschichte des Handels vermag kein anderes Product auszuweisen, welches sich so schnell den Weltmarkt erobert hätte, wie dies mit dem amerikanischen Petroleum der Fall gewesen. Der Siegeszug, den es in den letzten zwanzig Jahren um die Erde hielt, lebt noch frisch in unserer Erinnerung. Auch die Thatsache ist allgemein bekannt, daß die Gewinnung des Erdöls in Amerika von den glänzendsten finanziellen Resultaten begleitet war und der Reinertrag der fünfzehntausend nunmehr im Betrieb befindlichen Bohrbrunnen bald die Summen überflügelte, welche in allen Gold- und Silberminen der nordamerikanischen Republik gewonnen werden. Kein Wunder also, daß man unter dem überwältigenden Eindruck dieser Thatsachen in allen den Ländern, in welchen merkliche Spuren von Petroleum an den Tag traten, hastig nach diesem kostbaren Material zu graben und zu bohren anfing. So entwickelte sich in den letzten Jahren an dem nördlichen Abhange des Karpathengebirges eine ziemlich bedeutende Petroleum-Industrie, und unternehmungslustige Capitalisten zogen selbst an das kaspische Meer, um in der Umgebung von Baku die seit uralter Zeit bekannte und von den parsischen Feueranbetern mit religiösem Cultus umgebenen Erdölquellen auszunutzen und das gewonnene Product, wie dies bereits geschehen, sogar an die Küste der Ostsee zu versenden.

Unter solchen Umständen. darf es uns also nicht wundern, daß vor wenigen Wochen, als in Deutschland die Kunde erscholl, eine Petroleum-Fontaine sprudele lustig in der Nähe von Braunschweig, auch einige deutsche Geldleute starke Anwandlungen des Oelfiebers bekamen und mit dem Ruf „Petroleumland! Petroleumland!“ an die Begründung einer Actiengesellschaft gingen, welche denn auch willige Theilnehmer fand.

Hurtig stiegen die frischgebackenen deutschen Petroleumactien auf der Börse, um von ihrer schwindelnden Höhe jählings unter den ausgegebenen Werth zu sinken und, wie es an der Börse die Sitte, wieder in die Höhe zu gehen. Es erhoben sich inzwischen Beschuldigungen gegen das junge Unternehmen, die bis zu dem Augenblick, wo wir diese Zeile schreiben, noch nicht widerlegt worden sind, und im großen Publicum wurden traurige Erinnerungen aus der unseligen Gründerperiode lebendig.

Aber es kann nicht unsere Aufgabe sein, in diesem Streite mitzureden und über die Oelheimer Actiengeschichte ein entscheidendes Urtheii zu fällen. Vorläufig wollen wir noch abwarten, Thee trinken und dazu – leider! – amerikanisches Petroleum brennen.

Eines steht jedoch bereits heute fest: Was die laute Ermahnungen gelehrter Bergingenieure bisher nicht vermocht haben, das ist in überraschend kurzer Zeit dem Oelheimer Petroleum-Bohrwerk gelungen – es hat die Aufmerksamkeit der großen Masse auf das Vorkommen des Petroleums in Deutschland gewendet und hierdurch das nationale Capital für diesen Industriezweig interessirt. Schon dieser einzige Umstand ist aber, wie wir weiter unten sehen werden, von der größten Bedeutung und sichert hoffentlich dem Oelheimer Unternehme einen nicht unbedeutenden Platz in der künftigen Handels- und Industriegeschichte Deutschlands.

Während nun diese erste allgemein bekannt gewordene deutsche Petroleumquelle an einer anderen Stelle dieser Nummer den Lesern in Bild und Wort vorgeführt wird, haben wir uns in dem vorliegenden Aufsatze die Aufgabe gestellt, die für den Volkswohlstand äußerst wichtige Frage: „Wo kommt das Erdöl in unserem Lande vor?“ vom allgemeinen Standpunkte aus zu beleuchten.

Daß Erdöl in Deutschland zu finden sei, ist durchaus nichts Neues. Die Kenntniß dieser Thatsache läßt sich überhaupt soweit verfolgen, wie unsere geschichtliche Ueberlieferung zurückreicht. Ortsnamen, welche der ältesten Zeit angehöre, wie „Theerberg, Pechgragen, Oelbach, Pechelbronn“ etc. zeugen wohl beredt für die Richtigkeit der Annahme, daß unsern Vorfahren das Vorkommen des Bergtheers und des Erdöls seit vielen Jahrhunderte bekannt war. In späteren Werken finden wir es sogar geschrieben und gedruckt, daß diese Producte all viele Orten gewonnen und zu bestimmten Zwecke verwendet wurden. So quillt z. B. bei Tegernsee in Baiern seit undenklicher Zeit eine Oelquelle aus dem Boden, und die weisen Mönche, unter denen sich bekannter Weise auch die Begründer der Glasmalerei befanden (vergl. Nr. 33), benutzten die schmierige Flüssigkeit als Arzneimittel.

Ueber die älteste der bekannten Fund- und Gewinnungsstätten bei Hänigsen in der Nähe von Burgdorf berichtet dagegen schon Agricola, daß die Dorfbevölkerung Sachsens das Erdöl als Wagenschmiere verwendete, aus demselben Hochzeitsfackeln herstellte und mit dem Bergtheer Holzpfähle bestrich, um diese gegen Witterungseinflüsse zu schützen. Die ursprüngliche Gewinnung des werthvollen Productes geschah übrigens bis auf die neueste Zeit in einer höchst primitiven Weise. Wo der unmittelbare Oelaustritt versiegte, wurden flache Gruben von 2 bis 4 Meter Tiefe gegraben und aus denselben das Oel, welches mit Wasser vermengt zum Vorschein kam, abgeschöpft; wo dagegen oberflächliche Sandschichten mit Bergtheer durchdrungen waren, grub man in den Sommermonaten die Thonerde und wusch das Oel mit kochendem Wasser aus. So wurden an vielen Orten sogenannte „Theerkuhlen“ hergestellt, welche seit Jahrhunderten ihren Eigenthümern eine spärlichen Segen spendeten. Fast mühelos war die Production, und der sich ergebende Gewinn wurde gern in die Tasche gesteckt, aber an die Hebung und Erweiterung der Industrie dachte man nicht; nur im Elsaß entwickelte sich schon frühzeitig ein regelmäßiger Bergbaubetrieb.

Betrachten wir nun die Gruppirung der deutschen Petroleum- Fundstätten auf der Landkarte, so finden wir, daß in Deutschland vor allem zwei große Petroleumzonen vorhanden sind. Die wichtigste derselben liegt im nordwestlichen Deutschland, und ihre Grenze wird durch eine Linie gekennzeichnet, die von der Stadt Heide in Holstein östlich bis zu der Eider reicht, von dort in südöstlicher, gerader Richtung über Itzehoe, Altona, Lüneburg, Uelzen, Helmstedt bis nach Schöningen hinabsteigt, weiter nach Hildesheim und Wunsdorf läuft und von hier über Nienberg und Stade wiederum die Holsteinische Nordseeküste erreicht. Verbinden wir durch eine Linie die angedeuteten Orte mit einander, so erhalten wir ein ziemlich großes, längliches und gegen den Süden breiter werdendes Gebiet, welches einen Theil der Braunschweigischen, Hannöverischen und Holsteinischen Lande umfaßt und in welchem zahlreiche, von altersher bekannte Petroleum-Fundstätten sich befinden.

Die zweite Zone bildet einen schmalen Strich, welcher im Elsaß fast parallel mit dem Rheinstrome läuft und von Bergzabern bis über Altkirch sich erstreckt.

Außerdem finden sich Spuren von Erdöl bei Tegernsee in Baiern und in den Wettiner Kohlenwerken der Provinz Sachsen.

Als nun in den sechziger Jahren die Erfolge der amerikanischen Production bekannt wurden, lenkte sich die Aufmerksamkeit einiger Fachleute auf die vernachlässigten deutschen Fundstätten, und bald nach der Annexion Hannovers ließ die preußische Regierung in Folge der Vorstellungen des Herrn H. W. Kasten zu Hannover die dortige Erdölgegenden untersuchen. Ein Berliner Geologe stattete bald einen ausführlichen Bericht über den geologischen Bau der nordwestlichen Petroleumzone ab, und auf [633] Grund der damals allgemein angenommenen Anschauung, daß das Petroleum in den oberflächlichen Formationen durch Zersetzung der Kohle entstehe, riet er entschieden von Tiefbohrungen ab und empfahl die Ausbeutung der öligen Massen nach der alten Methode fortzusetzen.

Oelheim; Bohrloch Nr. 3.
Originalzeichnung von Alfred Schütze.

Ein derartiges Ergebniß der wissenschaftlichen Untersuchung vermochte selbstverständlich weder die Regierung noch Privatcapitalisten zu neuen Versuchen anzuregen. Erst als H. W. Kasten später mit Nachdruck gegen die oben angeführte Ansicht aufgetreten war, Professor Harper 1872 zu Brüssel seine Schrift: „Geognostischer Bericht über ein sehr bedeutendes Petroleumlager in der königlich preußischen Provinz Hannover“, herausgegeben, der Chemiker L. Meyn aus Uetersen für das deutsche Petroleum auf der Naturforscherversammlung zu Hamburg 1876 mit Wärme gesprochen hatte und L. Strippelmann mit seinem vortrefflichen Werke vor die Oeffentlichkeit getreten war, gelang es diesen Vorkämpfern der deutschen Petroleum-Industrie, das Capital für dieselbe, wenn auch in geringem Maße, zu interessiren. Wir vermögen leider nicht, auf die Einzelheiten der in dieser Fachliteratur niedergelegten Untersuchungen näher einzugehen, und beschränken uns nur darauf, die neuere Ansicht über die Vertheilung und die Entstehung des Erdöls in allgemeinen Zügen wiederzugeben.

Zunächst ist es nunmehr sicher festgestellt, daß das Petroleum in den Tiefen und Schichten, in welchen wir es bisjetzt gefunden haben, nicht entstanden ist; was wir bis auf den heutigen Tag erbohrt und ergraben haben, sind nicht dessen Ursprungsstätten sondern vielmehr seine Ablagerungsorte. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß das Petroleum aus tieferen Regionen der Erde in gasförmiger Gestalt in die Höhe stieg, hier in den Klüften und Spalten verschiedener Gesteine sich zu einer Flüssigkeit verdichtete und die bekannten Petroleumbecken bildete, oder auch die Poren der Sand-, Kreide- und anderen Schichten ausfüllte und also Veranlassung zur Entstehung der Theererde und des Asphalts gegeben hat. Untersuchen wir aber weiter die Bildung dieses wichtigen Productes und stellen uns die Frage: woraus und

Oelheim; deutsche Petroleum-Bohrwerke bei Peine.
Nach einer Skizze von Alfred Schütze.

[634] in welchen Tiefen dasselbe entstanden ist, so sind wir nach dem heutigem Stand der Wissensdurst leider nur auf Vermuthungen angewiesen, die jedoch die größte Wahrscheinlichkeit für sich haben.

Die chemische Zusammensetzung des aus der Erde hervorquellenden Oeles beweist zunächst, daß es ein Zersetzungsproduct thierischer und pflanzlicher kohlehaltiger Ueberreste ist. Wir wissen auch ferner, daß in den ältesten geologischen Perioden, in welchen lebende Wesen zum ersten Male aufgetreten waren, zahllose Thierarten den Weltocean, aus dem nur wenige Inseln hervorragten, erfüllten, während die nachfolgende carbonische Zeitepoche sich durch üppiges Pflanzenleben auszeichnete. Alle diese lebenden Wesen sind den Naturgesetzen gemäß zu Grunde gegangen, und ihre massenhaften Ueberreste bedeckten in großen Schichten die damalige Oberfläche der dünnen Erdkruste. Damit wäre also auch ein genügendes pflanzliches und thierisches Material zur Bildung von Petroleum in den tiefsten Erdschichten als vorhanden nachgewiesen.

Allmählich wurden nun diese Ueberreste der ursprünglichen Thier- und Pflanzenwelt mit neuen Formationen bedeckt, die sich Hunderte voll Metern hoch über denselben aufthürmten. Aber von Zeit zu Zeit wurde auch die Ruhe dieser Massengräber gestört. Der flüssige Erdkern schrumpfte zusammen, und die Erdkruste durfte nicht locker um ihn hängen. Die gewaltige Anziehungskraft zog sie unwiderstehlich nach unten; da brach die Rinde unseres Planeten an vielen Stellen durch, und tiefe Falten und hohe Bergzüge bildeten das Resultat dieser unter furchtbaren Erdbeben vor sich gehenden Naturerscheinungen.

Nun sanken an solchen Orten die verkohlten Ueberreste der Urahnen der heutigen Thiere und Pflanzen in die Tiefen hinab, in welchen die Gluth des Erdinnern ihre zersetzenden Mächte walten läßt. Hier wurden sie, gleich den Steinkohlen in den Retorten unserer Gasanstalten, in brennbare Gase verwandelt, die in der kälteren höheren Schichten die tropfbar flüssige Form annahmen.

Und in der That soll die nordwestliche Petroleumzone Deutschlands eine derartige eingesunkene Mulde, eine breite Falte der Erdrinde bilden; in der That sehen wir in der Regel dort Petroleum aus der Erde hervorquellen, wo Spuren derartiger gewaltsamer Durchbrüche deutlich vorhanden sind.

Der praktische Geschäftsmann fragt jedoch weniger nach der Entstehung des Petroleums, als vielmehr darnach, ob es wahrscheinlich ist, daß aus unserm Petroleumgebiet jemals größere Petroleumquellen aufgeschlossen werden. Daraus kann nun der Sachverständige mit ziemlicher Sicherheit antworten, daß dort, wo Petroleum zu Tage getreten ist, auch auf größere Ansammlungen desselben in beträchtlichen Tiefen von etwa 600 Meter zu schließen ist, und daß Tiefbohrungen nicht nur ihre Berechtigung haben, sondern daß hierauf eine umfangreiche Entwickelung der Petroleum- Industrie Nordwestdeutschlands ausdrücklich hinweist. Dabei aber muß vorläufig eine Oelgewinnung in kleinerem Maßstäbe durch rationell eingerichteten Pumpenbetrieb vorgesehen werden, welche, wie Leo Strippelmann[2] nachweist, bereits bei einer Tageserzeugung von zwei bis drei Centnern mit befriedigenden finanziellen Ergebnissen verbunden ist, während eine Tiefbohrung von 600 Meter schon bei einer Tagesgewinnung von sechs Centnern den für die ausgeworfenen Kostenbetrag von circa 60,000 Mark in fünf Jahren zu amortisiren vermag.

In der That erwies sich der rationell betriebene Petroleum-Bergbau in Deutschland auch dann lohnend, wenn man auf größere Quellen nicht gestoßen war. Ehe noch die neuesten Bohrwerke bei Oelheim und in Hölle bei Hemmingstedt errichtet wurden, producirten wir im Ganzen 20,000 Centner freiausfließendes Petroleum pro Jahr, welches auf dem heimischen Markte mit gutem Gewinne abgesetzt wurde. Denn während die Amerikaner mit einem Gewinne (ab Waggon-Grube) von 19 bis 22 Procent arbeiten, in Galizien der durchschnittliche Nutzen im Vergleiche zu den Rohölgestehungskosten etwa 45 Procent beträgt, haben die kleinen Werke der Provinz Hannover und Holsteins einen Nutzen von 21,5 Procent und der rationelle Bergbau im Elsaß sogar einen Gewinn von circa 60 Procent erzielt. Indem aber ferner die durchschnittliche Dauer eines Petroleumbrunnens in Amerika zwei bis drei Jahre beträgt und in Galizien in der Regel fünf Jahre übersteigt, währt diese Dauer der Ergiebigkeit in den deutschen Schachten der nordwestlichen Petroleumzone fünf Jahre und darüber und im Elsaß sogar zehn Jahre.

Alle diese Thatsachen müßten auf unsere Kapitalisten durchaus ermuthigend wirken; nur sollte man nicht von der Meinung ausgehen, daß eine erschlossene Quelle Millionenwerthe repräsentire; denn kein Sachverständiger vermag zu sagen, wie lange ein anfangs noch so mächtiger Strahl fließen werde; nur sollte man nicht die junge Industrie, für welche alle Bedingungen einer künftigen Blüthe vorhanden sind, zum Gegenstand toller Speculation machen; denn dadurch wird dem Actionär in den seltensten Fällen genützt, wohl aber die gedeihliche Entwicklung des Petroleum-Bergbaues tief geschädigt und für lange Jahre aufgehalten; auch sollte man sich nicht durch amerikanische Trugbilder täuschen und verleiten lassen; denn wohl ist über den Ocean die Kunde von den glänzenden Erfolgen der Speculation zu uns gedrungen, während über das Elend der vielen beim Petroleumgraben zu Grunde gegangenen Existenzen nur selten etwas verlautet.

Wir meinen aber und betonen es nachdrücklich, daß auch ohne das berüchtigte Oelfieber diese Industrie aufblühen kann und daß sie sogar in ruhiger rationeller Weise bei uns sich überhaupt entwickeln muß; denn die alten Völker Europas können unmöglich die tieferschütternden finanziellen Krisen ertragen, welche die junge amerikanische Nation auf dem reichen Boden der Neuen Welt mit großer Leichtigkeit überwindet.

Andererseits darf aber der Entwickelungsgang der amerikanischen Petroleum-Industrie in uns berechtigte Hoffnungen erwecken. Auch jenseits des Oceans war das Petroleum seit uralter Zeit bekannt und in oberflächlicher Weise bewirthschaftet. Noch im Beginn dieses Jahrhunderts wurde das auf der Oberfläche der stehenden Gewässer schwimmende Oel in wollenen Decken gesammelt, welche man, sobald sie mit demselben getränkt waren, auswand, oder man grub auch dort die in Deutschland wohlbekannten Theerkuhlen, um aus ihnen Oel zu schöpfen.

Erst im Juni 1859 kam der Gedanke Georg Bisse’s zur Verwirklichung, wiewohl der Leiter der ersten Bohrung, Drake, von den Einwohnern der Gegend allgemein verspottet wurde, zumal sein erster Versuch vollständig mißglückte. Wie schnell sich aber nach der Erschließung der ersten Quelle am 27. August 1859 die Ansichten änderten, brauchen wir all dieser Stelle nicht besonders hervorzuheben.

Von diesem allgemeinen Standpunkte aus betrachtet, bleibt die Petroleum-Industrie Deutschlands ein ernstes Problem der Zukunft, dessen Lösung uns von dem amerikanischen Monopol befreien würde. Die allgemeine Aufmerksamkeit ist nunmehr auf den Gegenstand gelenkt worden, und sie darf sich weder durch mißlungene Bohrungen, noch durch etwaiges Fiasco einer Actiengesellschaft voll weiteren Versuchen abschrecken lassen; sie muß nur unterscheiden lernen zwischen waghalsiger Börsenspeculation und ernster, früchtetragender Arbeit.

Valerius.




Die Petroleum-Bohrwerke in Oelheim.

Von Alfred Schütze.

Ein öder, unwirthlicher Landstrich durchzieht den nordwestliche Theil Deutschlands. Bald sind es tiefe. unergründliche Moore; bald treffen wir trockenen, unfruchtbaren Sandboden, und nur mit Mühe und harter Arbeit vermag hier der Mensch der widerwilligen Erde einen schmalen Ertrag abzugewinnen. Vereinzelt finden wir wohl kleine Fichtenwaldungen, doch die Bäume bleiben niedrig und verkrüppeln; sonst ist, so weit wir schauen, nirgends ein schattiger Platz zu erspähen. Die Sonne sendet ihre heißen Strahlen herab; kein Windzug regt sich, und lautlose Stille herrscht ringsum. So ist das Bild der Lüneburger Haide. Kommt der Hochsommer, dann wird der Anblick wohl freundlicher für den Wanderer, den der Zufall einmal von dem lauten Treiben der großen Welt weit ab geführt hat. hier hinein in die Einsamkeit. Dann legen [635] die langgestreckten Hügel, die in sanfter Wellenform das Land durchziehen, ein festlich Gewand an; denn dann blüht die Erika und bedeckt die ganze Haide mit einem Purpurmantel. Geschäftige Bienen summen von Kelch zu Kelch und tragen emsig den Honig zusammen – die einzige Gabe vielleicht, die das Haideland freiwillig bietet. Aber nach kurzer Frist ist auch dieser poetische Hauch entschwunden; still und trübe liegen die verlassenen Fluren wieder da.

Jetzt nun kommt plötzlich eine überraschende Kunde aus jener öden, übel berufenen Haide; menschliche Kraft und Ausdauer schicken sich dort an, dem unfruchtbaren Boden Schätze abzuringen, deren Dasein man allerdings schon lange vermuthete, deren ergiebige Hebung aber der jüngsten Zeit vorbehalten blieb.

In dieser unwirthbaren Gegend, welche einen Theil der nordwestlichen Petroleumzone Deutschlands bildet, liegt, fünfundreißig Kilometer von Hannover entfernt, an der Hannover-Braunschweigischen Eisenbahn das Städtchen Peine. Ein guter Weg, zum größeren Theil Chaussee, führt uns von dort aus in nördlicher Richtung nach dem etwa acht Kilometer entfernten Oelheim, einer neu gegründeten Ansiedelung, in deren Nähe in jüngster Zeit Bohrversuche auf Petroleum angestellt werden. Schlank gewachsene Birken beschatten die Fahrstraße; rechts und links haben wir saftige grüne Wiesen und wogende Getreidefelder zur Seite; aus dunklem Lande schauen die Häuser wohlhabender Dörfer hervor – nichts gemahnt daran, daß wir uns am Rande der unfruchtbarer Haide befinden. Plötzlich aber ändert sich das Bild; der Boden wird trocken und sandig; statt des Weizens und der Wiesengräser sehen wir Haidekraut, und an Stelle der Linden und Buchen finden wir niedriges Nadelholz.

Bald umgiebt uns die stille Einsamkeit der Haide; ringsum scheint alles Leben erstorben; nicht einmal ein Vogel durchkreist die Lüfte. Da schlagen Töne an unser Ohr; wir hören den Schlag des Hammers, das Getöse der Fallwerke, das Knarren der Winden und das gleichmäßige Stampfen der Dampfmaschinen. Nun haben wir die Höhe eines Hügels erreicht und sehen einen großen Complex von Bauten vor uns liegen. Da ragen schlanke, eiserne Thürme hoch empor; neben ihnen stehen Pyramiden aus Holz gefügt, niedrige Schuppen mit eisernen Schloten, aus denen dichter schwarzer Ranch zum Himmel steigt, und endlich kleine hölzerne Häuser, welche Comptoire, Wohnungen und Schenken enthalten. Das ist Oelheim, das vielbesprochene deutsche Petroleum-Dorado, das Ziel zahlreicher, von Neugier oder Gewinnsucht getriebener Fremdem.

Ein reges Leben bekundet sich schon jetzt in der jungen Ansiedelung. Ueberall begegnen uns Arbeiter, in dunkle, öldurchtränkte Kleider gehüllt, welche die Maschinen und Pumpen bedienen, an den Fässern zimmern oder die Frachtwagen beladen; emsig hilft eine Hand der anderen. Die hauptsächlichsten Werke liegen auf einem Plateau von etwa einem Quadratkilometer Umfang. Hier wurden die Bohrungen anfänglich nach amerikanischem System betrieben. das heißt, man errichtete Thürme von 23 Meter Höhe aus zerlegbarem Schmiede-Eisen und wandte dann die Seilbohrung mit sogenannter Rutschscheere an, indem man den Apparat entweder durch Dampfmaschinen oder durch Menschenkraft in Bewegung setzte. Später ging man dazu über, mit festem Gestänge und Fabian’schem Freifall zu bohren, wozu nur Holzthürme von 17 Meter Höhe erforderlich sind. Die Bohrlöcher wurde dann mit eisernen Röhren ausgefüttert; zuerst benutzte man geschweißte Röhren, nimmt jetzt aber als geeigneter genietete Eisenblechröhren von 3 Millimeter Wandstärke, welche oben einen Durchmesser von 40 Centimeter haben, der sich nach unten verhältnismäßig verjüngt.

Bei den Bohrungen ergab sich nun folgende geologische Formation: Bis zu einer Tiefe von 10 Meter finden wir feine Sande, mit Findlingen (rothem Granit und Flintsteinen) durchsetzt. Dann folgen 7 Meter blaugraue diluviale Thone und 3 Meter blauer Thon mit Kalksteinschichten. Von 20 bis 35 Meter treffen wir Mergelthon, von 35 bis 40 Meter festes Gestein mit Quarzeinlagerungen, von 40 bis 48 Meter harten Sandsteinfelsen mit Schwefelkies. Hier zeigen sich auch die ersten Oelspuren. Von 48 bis 54 Meter waren in sandigem Thon bereits ansehnliche Quantitäten Petroleum vorhanden. In weiterer Tiefe weichen die Formationen sehr von einander ab, meistens aber stoßen wir auf porösen Sandstein schwarzen und braunen Sand, sowie besonders eine Kiesschicht, welche im reichsten Maße ölhaltig ist und in Amerika als „pebbles“ bezeichnet wird.

Sechs verschiedene Unternehmungen beschäftige sich gegenwärtig in Oelheim mit der Petroleumproduction. Davon sind zwei, eine deutsche und eine englische Gesellschaft, erst neu gebildet; ein Privatunternehmer Arnemann ans Hamburg hat ein Loch zu bohren angefangen, während ein Ingenieur Kleissen aus Bremen schon seit längerer Zeit arbeitet; er stieß vier Bohrlöcher, von denen zwei noch unvollendet, eins in Pumpbetrieb und eins außer Betrieb gesetzt sind. Die bedeutendsten Unternehmungen gehören aber der deutschen Petroleum-Bohrgesellschaft und der neugegründeten Oelheimer Actiengesellschaft, welche bekanntlich die dem Privatunternehmer A. M. Mohr gehörenden Werke übernahm. Die deutsche Petroleum-Bohrgesellschaft hat bisher zwanzig Bohrlöcher gestoßen, von denen gegenwärtig acht in Betrieb stehen, fünf noch in der Ausführung begriffen und stehen als verunglückt, beziehungsweise unbrauchbar zu betrachten sind. Außerdem besitzt die Gesellschaft ein Sammelbassin, welches 360,000 Liter (6000 Centner) Petroleum zu fassen vermag, eine Maschinen-Reparaturwerkstatt und einen großen Wasserthurm, der besonders zur Bekämpfung etwaiger Feuersgefahr dienen soll. Das gewonnene Petroleum wird vermittelst einer kräftigen Dampfpumpe in einer zehn Kilometer langen Röhrenleitung nach Peine direct in eine der Gesellschaft gehörige Raffinerie übergeführt. Die tägliche Production auf diesen Werken schwankt zwischen 55 und 60 Barrels.

Das meiste Interesse nehmen die Bohrungen auf dem ehemals Mohr'schen Terrain (vergl. Abbildung S. 633) in Anspruch; denn dort wurde, wie man behauptet, in den letzten Tagen des Juli die große sogenannte „Springquelle“ erschlossen und durch diese Nachricht zuerst die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf die Unternehmungen in Oelheim hingelenkt. Mohr hat bisher vier Bohrlöcher angelegt; davon hat das erste eine Tiefe von 90 Metern: das zweite ist 70 Meter tief, das dritte 69 Meter und das vierte 68 Meter. Mit dem dritten Bohrloche wurde die Springquelle erschlossen, welche man deshalb so benannte, weil im Anfange die unterirdischen Gase einen so starken Druck ausübten, daß das mit Wasser vermengte Petroleum in einem dicken Strahle oben aus der Röhre herausgetrieben wurde.[3]

Die aus diesem Bohrloch (vergl. Abbildung S. 633) gewonnene Flüssigkeit wird zunächst in ein großes Bassin geleitest in welchem das schwerere Wasser hinabsinkt und durch eine Oeffnung am Boden des Bassins abfließt, während das leichte Oel oben schwimmt und einem anderen Behälter zugeführt wird. Vom Wasser befreit zeigt das Oel nun eine glänzende grüne Farbe und geht, um sich von etwaigen Erdtheilen zu befreien noch in ein drittes Bassin, aus welchem es vermittelst einer Handpumpe in die Fässer gefüllt und dann zur Raffinerie nach Hemelingen bei Bremen befördert wird.

Schließlich mag noch ein Wort über den Betrieb der Bohrwerke gesagt werden. Die Bohrungen selbst erfordern eine Mannschaft von einem Bohrmeister, einem Schlosser und sieben Arbeitern; dagegen besteht das Betriebspersonal für die Pumpe an jedem Werk nur aus zwei Mann. Als Antrieb der Pumpe genügen zwei Pferdekräfte, sodaß eine kleine Locomobile leicht zwei nicht zu entfernt von einander liegende Pumpen bewegen kann.

Hiermit können wir unsere Mittheilungen über die Unternehmungen in Oelheim schließen. Allerdings befindet sich die junge Industrie, welche sich dort entwickelt, noch auf den ersten Stufe des Werdens, aber die Forschungsversuche sind gelungen, und die Möglichkeit weiterer Erfolge ist keineswegs ausgeschlossen




Blätter und Blüthen.

Der alte Gelehrte. (Mit Abbildung S. 621.) „Heureka! – Ich hab's gefunden!“ ruft soeben in gedämpftem Tone der alte Naturforscher auf unserem heutigen Bilde; mit Genugthuung betrachtet er den Inhalt der Kochflasche, in welcher nach langem Brühen und Sieden die verschiedenartigen Elemente endlich sich zu einer neuen chemischen Verbindung vermählten. „Heureka!“ murmelt er zum wiederholten Male und fühlt sich in diesem Augenblicke vielleicht ebenso stolz und selbstbefriedigt, wie der griechische Weise Archimedes, der dieses historisch gewordene Wort in freudiger Erregung ausgebrochen, als er im Bade an seinem eigenen Körper die Entdeckung von der Gewichtsabnahme fester Körper im Wasser gemacht und damit das lang gesuchte Mittel gefunden, die unehrlichen Goldarbeiter zu überführen, daß sie in die Krone des Tyrannen statt des ihnen übergebenen Goldes viel unedles Metall hineingearbeitet hatten. Die Hand unseres sinnenden Alten ruht noch auf dem dicken Folianten, in welchem über die Natur des von ihm nunmehr sicher festgestellten Stoffes nur dunkle Vermuthungen niedergeschrieben wurden, und ebenso hell und klar wie der Sonnenschein, der, durch das Fenster hereinfallend, sich in der Flüssigkeit des Fläschchens in bunten Farben bricht, strahlt der warme Schein edler innerer Freude über das vom Alter gefurchte Antlitz des glücklichen Gelehrten als ob er sprechen wollte:

„So, nun hab' ich in diesem Punkte die Wissenschaft um einen Schritt vorwärts gebracht.“

Mit diesem Naturforscher hat Meister Goldmann einen glücklichen Griff gethan; er hat uns hier in lebenstreuer Situation eine Art von Gelehrten vorgeführt, deren Bekanntschaft wir jetzt nur noch in Bildern machen, einen Naturforscher aus der alten Schule, hie heute so gut wie ausgestorben ist.

Ja, in unseren Tagen brüten die Erfinder und Entdecker nicht mehr in dunklen Kammern oder in düstern durch Knochengerippe und allerlei in Spiritusgläsern conservirtes Gethier ausgestatteten Laboratorien; heute führt man für hie Naturwissenschaften palastartige Bauten auf, in deren hellen geräumigen Sälen der gelehrte Herr Professor, umringt von seinem Assistentenstabe und mit allen Hülfsmitteln der Wissenschaft ausgerüstet, seine Arbeiten vollendet. Und die Völker, welche zu der Errichtung dieser großartigen Anstalten das Geld hergaben, haben diese Aenderung der Dinge nicht zu bereuen. Das beweisen die Fortschritte der Neuzeit, die unzähligen, in sinnreichen Apparaten gebändigten Naturkräfte, die für den Menschen arbeiten und, ihn von physischer Arbeit immer mehr entlastend, die Lösung her Sclavenfrage im weitesten Sinne des Wortes vollziehen.

So etwa dachten wir bei Betrachtung des Bildes, welches heute die „Gartenlaube“ ihren Lesern vorführt; dann aber fragten wir uns auch noch: müssen wir die Verdienste jener Naturforscher vergangener Zeiten nicht um so höher ehren und schätzen, weil sie ihr wissenschaftliches Thun

[636] und Treiben vor den Augen einer finsteren intoleranten Oeffentlichkeit verbergen mußten, und ohne Aussicht auf glänzende Erfolge in dieser Welt, oft in selbstentsagender harter Arbeit die Grundsteine schufen, auf denen sich der stolze Bau der heutigen Naturwisssenschaft majestätisch erhebt?




Das deutsche Lagerbier in den Vereinigten Staaten. Vor nicht langer Zeit hielten die Brauer der nordamerikanischen Union ihre Jahresversammlung zu Chicago im Staate Illinois ab. Die Zusammenkunft war äußerst zahlreich besucht und gab nicht nur der deutschen, sondern auch der englisch-amerikanischen Presse zu recht erbaulichen Betrachtungen Anlaß.

Vor etwa einem Vierteljahrhundert hatte das Bier in den Vereinigten Staaten nur sehr wenige Freunde; es gab dort auch verhältnißmäßig nicht viele Brauereien; man importirte aber ziemlich stark schweres englisches Bier (Ale) und gab diesem entschieden den Vorzug vor dem einheimischen Gebräu. Bei alledem aber gehörte die nordamerikanische Union nicht zu den biertrinkenden Ländern; denn das nationale Getränk war dort der Whiskey. Jetzt ist dies wesentlich anders geworden; die Brauereien sind an Zahl und Größe so gewachsen, daß die Vereinigten Staaten nächst Großbritannien und Deutschland von allen Ländern der Welt das meiste Bier produciren. Dieser Umschwung datirt seit etwa 25 bis 30 Jahren, das heißt seit der Zeit, wo die Einwanderung aus Deutschland größere Dimensionen annahm.

Zunächst waren es allerdings vorzugsweise die Deutschen, welche gern und viel Bier tranken; bald aber gewöhnten sich auch die Amerikaner daran. Man überzeugte sich in Amerika davon, daß das deutsche Lagerbier nicht nur billig und wohlschmeckend, sondern, mäßig genossen, auch heilsam und nicht berauschend ist. Auch gewannen die eingeborenen Amerikaner den freundlich und gemüthlich eingerichteten Bierstuben und den schattigen Gärten, wo man sich bei einem Glase Bier niederlassen und einer leidlich guten Musik zuhören konnte, Geschmack ab; das Stehenbleiben an den Schenktischen und das schnelle Niedergießen des Whiskeys kam entschieden in Abnahme. In nicht zu langer Zeit wurde es denn auch von den unparteiischen Amerikanern anerkannt, daß die Einführung des Lagerbiers den übermäßigen Genuß des Whiskeys und des Branntweins überhaupt wesentlich eingeschränkt und die Nüchternheit gefordert habe. Die eingefleischten Mäßigkeitsapostel allerdings, deren Zahl jenseits des Oceans bekanntlich nicht gering ist und die in den Gesetzgebungen einzelner Unionsstaaten zeitweise sogar in der Mehrheit sind, zeigen sich auch als bittere Gegner des Lagerbieres und bekämpfen dessen Genuß mit aller Macht. Dafür mehren sich aber andauernd die Stimmen in der englisch-amerikanischen Presse, welche dem Lagerbier das Wort reden und dasselbe als ein angenehmes und gesundes Getränk dem Whiskey und jeder Branntweinssorte gegenüber empfehlen.

Ganz besonders fällt hier indeß auch der Umstand in's Gewicht, daß die officielle Statistik dargethan hat, daß die Einnahmen der Vereinigten Staaten durch das Anwachsen der Production und der Consumtion des Bieres bedeutend zugenommen haben. Im Jahre 1870 wurden in der Union 203,813,096 Gallonen gegohrner Getränke producirt, zehn Jahre später, 1880, aber schon 413,760,410 Gallonen: bei weitem das Meiste hiervon war einfaches Bier und Lagerbier. Trotz alledem stehen die Vereinigten Staaten bis jetzt hinsichtlich der Bierproduction noch weit hinter England und Deutschland zurück, senden doch diese Staaten noch immer massenhaft Bier über den Ocean, und zwar mehr als 1 Million Gallonen jährlich. Nachgelassen hat allerdings der Import fremder Biere bedeutend, sodaß 1880 zwei Drittel Bier weniger importirt wurde, als im Jahre 1873. Das amerikanische Bier ist auch der Qualität nach viel besser geworden, weshalb die Nachfrage nach fremdem geringer wurde. Im Jahre 1880 wurde nur noch für 683485 Dollars Bier aus Europa importirt, und das meiste davon kam aus Baiern. Im Vergleich zu England ist aber die nordamerikanische Union noch immer kein starkes Biertrinkerland; denn die Engländer consumiren von ihrem schweren Biere jährlich die enorme Summe von 82 Gallonen per Kopf; dagegen kommen weder Deutschland noch Amerika auf.

R. D.




Chinesische Zauberspiegel. Im Jahrgang 1877, Seite 487 brachte die „Gartenlaube“ einen Aufsatz über diese merkwürdigen Erzeugnisse des asiatischen Kunstfleißes. Damals war die Eigenschaft dieser Spiegel, in ihrem Widerschein auf der Wand Bilder zu zeigen, die wohl aus der Rückseite der Metallscheibe im gegossenen Relief, aber schlechterdings nicht auf der spiegelnden Fläche selbst zu erkennen sind, noch nicht zu allgemeiner Befriedigung erklärt worden. Die „Gartenlaube“ ist ein ungemein fruchtbares Feld, um geistigen Samen auszustreuen, und der Artikel hatte das Glück, in die Hände der englischen Physiker Ayrton und Perry zu fallen, welche damals an der Ingenieurschule zu Yeddo in Japan wirkten und sogleich beschlossen, den Eigentümlichkeiten und der Fabrikation dieser mysteriösen Spiegel genauer nachzuspüren. – Ihre Bemühungen wären denn auch von dem besten Erfolge gekrönt, und schon am 24. Januar 1879 konnte W. E. Ayrton der königlichen Gesellschaft zu London eine Arbeit über diese sogenannten Zauberspiegel vorlegen, in welcher alle dunklen Punkte aufgeklärt wurden. Aus dieser und einer ganzen Reihe weiterer Abhandlungen, die seitdem von Ayrton und verschiedenen anderen Physikern, wie Bertin und Duboscq, Laurent und Anderen den gelehrten Gesellschaften von London und Paris vorgelegt worden sind, geht hervor, daß es sich bei diesen Spiegeln um schwer wahrnehmbare Unregelmäßigkeiten der spiegelnden Oberfläche handelt, die den Reliefs der Rückseite genau entsprechen und durch eine eigentümliche Behandlung bei der Politur erzeugt werden; die Spiegelfläche ist nämlich an den Stellen, welche den Reliefs der Rückseite entsprechen, weniger stark gewölbt, als an den übrigen Theilen. Diese weniger gewölbten Theile werfen daher mehr Sonnenlicht auf die Wand, als die mehr convexen Theile, und darum erscheinen sie im Wandbilde heller als die übrigen Punkte der runden Lichtscheibe. Die allgemeine Form und das Relief der Rückseite dieser Spiegel wird durch Guß hergestellt, wobei aber die Spiegelfläche zunächst nicht gewölbt ist. Erst indem man den Spiegel mit seiner durch einen erhabenen Rand geschürten Rückseite auf den Arbeitstisch legt und seine Oberseite unter starkem Drucke mit einem etwas zugestutzten Eisen, dem sogenannten Megebo, nach allen sich kreuzenden Richtungen gleichmäßig schrammt und dann polirt, bringt man die Wölbung hervor: der Spiegel wölbt sich dabei natürlich, weil er hohl liegt, zunächst nach rückwärts und wird concav, springt dann aber, vermuthlich in Folge des starken Kupfergehalts (76. bis 80 Procent) der Bronze, elastisch zurück und wird convex.

Die dickeren und nach, hinten durch Reliefs verstärkten Theile geben dabei weniger dem Drucke des Megebo oder schrammenden Eisenstabes nach und werden deshalb schließlich auch weniger convex, und dies tritt natürlich umsomehr hervor, je dünner der Spiegel in seinen nicht verdickten Theilen ist. Die Spiegelfläche wird nachher mit einem Zinnamalgame überzogen und die Politur durch Tripel (eine Art Mineral) und Holzkohle vollendet. Nur einige Procente der japanischen Bronzespiegel zeigten die „magischen“ Eigenschaften in erheblichem Grade, aber Govi, Bertin und Duboscq haben gefunden, daß man auch diejenigen ostasiatischen Bronzespiegel, welche diese Eigenschaften in minderem Grade oder gar nicht zeigen, in Zauberspiegel verwandeln kann, indem man sie von hinten erhitzt, oder die Luft hinter ihnen comprimirt. In beiden Fällen dehnen sich die dünnern Theile stärker aus und wölben sich mehr als die mit Reliefs bedecktem und das magische Lichtbild tritt dann scharf auf der Wand hervor – hell auf dunklem Grunde. Verdünnt man umgekehrt die Luft hinter dem in den Deckel einer luftdichten Büchse gekitteten Spiegel, so werden die dünneren Theile stärker rückwärts gewölbt als die dickeren, und das Wandbild erscheint jetzt umgekehrt, dunkel auf hellerem Grunde. Es ist nicht unmöglich, daß diese auffallenden Eigenschaften früher eine gewisse Rolle in dem alten Nationalcultus Japans, der Sinto-Religion, gespielt haben: denn als höchstes Symbol derselben gilt ein solcher runder Bronzespiegel, und das größte Nationalheiligthum des Sonnenreiches ist der im Palaste von Ise aufbewahrte älteste Bronzespiegel, den die Sonnengöttin dem ersten Herrscher Japans als Reichspalladium geschenkt haben soll. Einer dieser Tempelspiegel zeigt nach Ayrton's Bericht eine von den erwähnten verschiedene magische Eigenschaft. Steht man gerade davor, so sieht man nichts, als sein eigenes Abbild, blickt man aber unter einem sehr schiefen Winkel darauf, so erblickt man ein Buddhabildniß, welches aber wahrscheinlich auf einem anderen Wege, nämlich durch Einätzen und nachheriges Ueberpoliren, der Spiegeloberfläche mitgeteilt wurde.




Erklärung. Von Herrn Leo F. Emil Pierre, dem Verfasser unseres Artikels „Caroline Bauer als Gräfin Plater“ (Nr. 27 der „Gartenlaube“ ) geht uns unter Bezugnahme auf die „Erklärung“ des Herrn Gottfried Keller in Zürich (Nr. 34 der „Gartenlaube“) die Mittheilung zu, daß mit dem Namen „Gottfried Keller“ nicht der eben genannte ausgezeichnete Züricher Novellist und Lyriker, sondern der augenblicklich in Paris lebende geistreiche Essayist gleichen Namens (Pseudonym: Cave) habe bezeichnet werden sollen.

D. Red.




Kleiner Briefkasten.

D. W. in Memel. Ihnen, Verehrter, und den übrigen lyrischen Heißspornen der deutschen Sängergilde geben wir den wohlgemeinten Rath, die Stromfluth Ihrer poetischen Sendungen, welche unsere Pulte schier zu überschwemmen droht, von uns freundlichst ab- und dem geschickt redigirten „Deutschen Dichterheim“ in Dresden-Striesen (Redacteur: Paul Heinze) zuzuwenden, das zu freundlichem Empfange lyrischer Gäste stets geöffnet ist. Unser Haus hat leider nicht Raum für so zahlreichen edlen Besuch aus dem grünen deutschen Dichterwalde.

H. K. in M. Ist eine vollständig correcte Wortbildung.

Erna. Sie vermutheten richtig. Es ist kein Pseudonym, sondern der wirkliche Name des Autors. Ueber den uns in Ihrem Briefe namhaft gemachten Schauspieler haben wir vor der Hand keine Veranlassung einen Artikel zu bringen.

K. L. in Berlin. Herr Maler Rudolf Cronau hat seine Reise auf dem Mississippi in Begleitung des Capitain Boyton längst glücklich beendet und gedenkt jetzt den vielbesprochenen Indianerhäuptling Sitting-Bull im Interesse der „Gartenlaube“ zu besuchen. Weitere trefflich gelungene Bilder von Cronau's Hand werden zum Druck vorbereitet.




Nicht zu übersehen.

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal des laufenden Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.


  1. Vergl. Nr. 25 und Nr. 29.
  2. Vergleiche „Die Petroleum-Industrie Oesterreich-Deutschlands“ vom Berg- und Hüttendirector Leo Strippelmann (Leipzig 1878 und 1879, G. Knapp), sowie die Flugschrift „Petroleum und Asphalt in Deutschland“ von Freiherr von Dücker (Minden 1881, J. Cl. Bruns).
  3. Ueber die Menge und die Beschaffenheit des Petroleums, welches aus diesem Bohrloch Nr. 3 der Oelheimer Actiengesellschaft gewonnen wird, sind zwar vielfache Angaben in die Oeffentlichkeit gedrungen; die Glaubwürdigkeit derselben ist jedoch von den verschiedensten Seiten so scharf angegriffen worden, daß wir dieselben mit Stillschweigen übergehen müssen. Hoffentlich wird bald eine Sachverständigen-Commission die sich nach Oelheim begeben soll, in das Dunkel, welches leider über dieser wichtigen Frage schwebt, das erwünschte Licht bringen.
    D. Red.