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Die Gartenlaube (1881)/Heft 36

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 36.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


’– „Mein Sohn!“ sagte Genoveva mit einem Blick auf den im halben Wege stehen gebliebenen Knaben und wich etwas zurück. Fügen streckte beide Hände nach Siegmund aus und betrachtete ihn, während er ihn festhielt, mit so spähender Liebe, als stünde sein eigener Sohn vor ihm. Wie hatte sich Siegmund verändert! Vergebens forschte Fügen nach einer Spur der seiner Erinnerung so lebhaft eingeprägten kindlichen Züge. Selbst die Augen blickten ihn anders an; noch hatten sie ihr feuriges Blau, aber das Träumerische, welches einst mit so sprühendem Glanze abgewechselt, war einem bewußteren Ausdrucke gewichen. Fein, etwas zurückhaltend erschien der Ausdruck des festen Gesichtes, trotz der offenen Stirn, dem Lächeln, welches eben jetzt um den Mund des Knaben spielte. Der zartgebaute Körper verrieth ein Vorherrschen des Nervensystems, ohne doch von Schwäche zu zeugen. Leichte, wenn auch selten nur rasche Bewegungen, und eine stolze Haltung des Kopfes verliehen der ganzen Erscheinung etwas Ausgezeichnetes.

„Und das wäre also der kleine Sigi,“ sagte Fügen. „Schon jetzt mir beinahe über den Kopf gewachsen; was soll das geben, wenn wir zusammen hausen!“

„Sie bringen uns Ihr Ja!“ rief Genoveva erfreut „Doppelt willkommen mit so guter Botschaft!“

„Wenn Telemach einstimmt – Mentor ist’s zufrieden.“

„Ich hätte Sie überall erkannt,“ sagte Siegmund freundlich, „und weiß noch gut, wie viel Sie mir zu Liebe thaten. Wohin könnte ich lieber gehen, als zu Ihnen, dem Freunde meiner Mutter, dem – Meister,“ setzte er mit leisem Nachdruck hinzu.

Fügen verstand ihn sogleich.

„Du liebst die Musik noch?“ rief er voll Freude.

„Sie ist mein Leben,“ sagte Siegmund mit flüchtigem Seitenblick auf seine Mutter.

Der leicht bewegliche Mann war bezaubert. In raschem Impuls umfaßte er die Schultern des Knaben:

„Wir werden uns verstehen“ sagte er und mit lebhaftem Blick aus Genoveva: „Ich danke Ihnen.“ .

Es entstand eine kurze Pause des Schweigens, in deren Stille leises Klirren aus dem anstoßenden Zimmer hineintönte.

„Maxi rumort, und Jana – wartet,“ sagte Frau von Riedegg lächelnd. „Uebrigens muß unser Reisender hungrig sein. Zu Tische also! Morgen verhandeln wir Ernsthaftes, heute aber wollen wir vor Allem der Freude leben. Sie wieder zu haben. Wir behalten Sie doch einige Zeit?“

„Ich habe acht Tage Urlaub,“ sagte Fügen. „Spätestes am Ersten muß ich wieder in die Pflicht. Acht Tage aber! da gehen viel gute Stunden hinein, vorausgesetzt, daß Sie mich so lange beherbergen wollen.“

Er folgte Genoveva, welche schon die Thür zum Eckzimmer geöffnet hatte, aus welchem heller Lichtschein drang. Da inzwischen Dämmerung eingefallen, waren dort bereits die Läden geschlossen und die Ampel entzündet worden. O, wie es ihn anheimelte, dieses dunkelgetäfelte , wohlvertraute Gemach, über dessen unveränderte Einrichtung sich das weiße Licht ergoß! Sein Blick streifte wie liebkosend darüber hin, während er auf der Schwelle zögerte, vor Freude gebannt, wie das Kind beim ersten Anblick seiner Weihnachtsbescherung.

Elastischen Schrittes eilte ihm eine helle Frauengestalt entgegen – Jana’s sympathisches Gesicht erhob sich zu ihm.

„Endlich,“ rief sie innig, „endlich suchen Sie uns heim!“

Wie das in ihm nachhallte – „Endlich!“ dachte auch er und staunte heimlich, wie er doch so lang hatte fortbleiben mögen. Stilles, freudevolles Staunen beherrschte überhaupt sein Empfinden, während sich Minuten zu Stunden reihten. War ihm doch, als wäre die Zeit stille gestanden, seit er zuletzt an diesem runden Eßtische gesessen, der auch damals, als die ersten herbstkühlen Tage kamen, im Wohnzimmer gerüstet worden. Die Majoliken blickten vom Schranke, und drüben aus dem Eichentische am Ofen schimmerten silberne Flitter. Alles wie sonst – nur der Kreis war vergrößert, Jugend an Stelle der Kindheit getreten, mit ihrem eigenen Leben und Streben daran mahnend, wie manches Jahr vergangen, und daß Jahre auch um die Menschen Ringe ziehen, wie um Bäume.

Das Gespräch floß leicht und heiter dahin, an Vergangenes anknüpfend, zu Gegenwärtigem überspringend. Obgleich es nur Thatsachen berührte und Fügen voll und ganz dem glücklichen Augenblick lebte, ohne an Prüfen und Vergleichen zu denken, fiel ihm doch schon in dieser ersten Stunde aus, welche bestimmten, von einander gesonderten Individualitäten hier mit und durch einander lebten. Dies galt wesentlich für die junge Generation.

In Lois schien der künstlerische Hang, welcher sein frühes Knabenalter bezeichnet, erloschen oder bezwungen; nichts Unmittelbares kam zu Tage, während er mit freier, bescheidener Sicherheit am Gespräch Antheil nahm; Alles erschien überlegt, gewollt. Siegmund, der, im engsten Umkreis aufgewachsen, kaum mehr vom Leben wissen konnte, als er gesehen hatte, setzte Fügen durch manche hingeworfene Aeußerung in Erstaunen; er sprach nicht oft, in jedem seiner Worte lag aber etwas Frisches und Bedeutendes, dessen Kern seinem Alter vorauseilte und dennoch selbst im Munde eines Kindes einfach geklungen hätte. Am schweigsamsten erwies sich

[586] Maxi, welche während der Mahlzeit ein und aus huschte, die Speisen auftrug und die Gäste mit flinker Gewandtheit bediente. Erst nach beendeter Mahlzeit, als die kleine Gesellschaft nach dem Eichentische übersiedelte, setzte sie sich dort zwischen die Anderen und begann an ihren Blumen zu arbeiten. Bei jedem flüchtigen Blick aus das Mädchen war Fügen von Neuem frappirt. Kein Wunder, daß er sie nicht erkannt hatte – wer hätte in diesem reinen Oval, der warmem aber klaren Färbung dieses schönen Gesichtes wohl des Wildfangs rundes, dunkles Köpfchen wiedergefunden? Klein von Wuchs, auch heute noch geschmeidig wie ein Kätzchen, war Maxi nach Formen und Bewegungen ein Kind; nichts Kindliches lag aber im Ausdruck ihrer fast übergroßen schwarzen Augen, deren eigentümlich rascher Ausschlag um so mehr etwas Blendendes hatte, als die gebogenen Wimpern sich ebenso plötzlich wieder senkten. Während sie, mit ihren Flittern und grünen Blättern beschäftigt, dem Gaste gegenüber saß, richtete er neugierig öfters das Wort an sie, erhielt aber zur Erwiderung nur einen Blitz der schwarzen Augen oder ein Lächeln, das die schimmernden Zähnchen enthüllte. Statt zu antworten, warf Maxi jedesmal einen schnellen Blick auf Lois, als solle dieser das Wort für sie führen. Nicht er war es aber, der das scheue Kind vertrat, welches sich doch bei Fügen’s Ankunft so keck gezeigt – es war Jana, wie es ihm denn überhaupt nicht entging, daß sie in kaum merklicher Weise Maxi stets im Auge behielt. Zu Jana aber kehrten seine eigenen Augen am häufigsten, am liebsten zurück. Sie gefiel ihm mehr als je; ihm schien, als habe sie während dieser Jahre nur gewonnen. Heitere Ruhe lag auf dem weißen angenehmen Gesicht; ihre klaren Augen leuchteten in so wohltuender Güte, daß sie Anderer Blicke immer wieder zu sich zurückriefen, wie eine sanfte Melodie, welche man oft zu hören begehrt. So anspruchslos ihre Haltung war, erschien sie neben Genoveva jetzt als deren Gleichen. Fügen empfand, daß sie die Stelle, auf welcher ihr Dasein wurzelte, als ihr Recht betrachtete und für immer eingenommen hatte. Bestand noch eine Abhängigkeit für sie, dann war es jedenfalls eine freiwillige.




16.

„Es bedarf keiner Versicherung, daß ich bereit bin, dem großen Vertrauen zu entsprechen, welches Sie mir gönnen,“ sagte Fügen, als er am nächsten Morgen Genoveva gegenüber saß. „Ob ich es kann, wird davon abhängen, was Sie von mir erwarten. So weit ich Sie verstand, übertragen Sie mir auf Jahre hinaus, also bis Siegmund als erwachsen zu betrachten ist, alle moralischen Pflichten und Rechte eines Vormundes. Für Aufmerksamkeit und Zuneigung, auch für sorgfältige körperliche Pflege vermag ich zu bürgen, die Erfahrung eines Erziehers fehlt mir aber durchaus, und ich bin sogar in Zweifel, ob ich die dazu nötigen Eigenschaften besitze. Wohl traue ich mir zu, einem jungen Geiste die Richtung zu geben; auf Charakter und Temperament einzuwirken erscheint mir jedoch überaus schwierig, fast unmöglich. Strenge zu üben liegt nicht in meiner Natur, und was ich sonst bieten kann, ist mehr Moralisches als Belehrendes.“

Genoveva neigte zustimmend den Kopf.

„Ihr Charakter, lieber Freund, bürgt für Alles, was mir als das Wichtigste erscheint. Siegmund ist am richtigen Platze neben einem rechtschaffenen Manne, welcher alle Dinge des Lebens frei von Nüchternheit, doch mit Ernst betrachtet. Was ich unter Erziehung verstehe, liegt vor Allem in der Richtung der Willenskraft. Ihn alle Bedingungen menschlicher Existenz in großer Auffassung sehen zu lehren, ist für seine Zukunft das Notwendigste. Diese Zukunft wird vielleicht einen glänzenden Rahmen haben – sorgen wir, daß sich dafür ein im edelsten Sinne vornehmes Bild vollende!“

Fügen’s nachdenkliche Miene wurde fest.

„Sie haben ein bestimmtes Ziel im Auge,“ sagte er mit Nachdruck, „und bestimmte Verhältnisse. Soll ich Siegmund in Ihrem Sinne leiten, muß ich auch erfahren, wohin sein Weg geht.“

„Ohne Zweifel,“ sagte sie gelassen. „Das Recht, über unsere Verhältnisse Aufklärung zu empfangen, steht Ihnen von jetzt an zu. Ich bin bereit, Ihnen vollen Aufschluß zu geben; um des Zusammenhanges willen ist es sogar notwendig, Sie mit Erlebnissen bekannt zu machen, die viel älter sind als Siegmund. Die Geschichte, welche Sie hören werden, könnte in manchem Sinne als eine ungewöhnliche gelten – im Grunde berichtet sie nichts, als die alte Geschichte von Macht gegen Recht.“

Während sie sich schweigend zurücklehnte und mit gesenktem Blick in sich hineinzusinnen schien, betrachtete Fügen das schöne, blasse Gesicht, in dem sich keine Spur von Erregung zeigte. Um so aufgeregter war er selbst – das Wort des Rätsels, welches ihn vor Jahren soviel hatte grübeln lassen, sollte ausgesprochen werden. Um seine Unruhe zu verbergen, entgegnete er kein Wort.

„Meine Familie,“ begann Genoveva, „ein altes Geschlecht, verließ Frankreich nach Aufhebung des Edictes von Nantes. Meine Großeltern, deren ich mich noch entsinne, lebten in Berlin auf glänzendem Fuße, auf allzu glänzendem; denn meinem Vater fiel nach ihrem Tode ein im Verhältniß zu seinen Gewöhnungen geringes Erbe zu. Er verheiratete sich frühe mit einer Bürgerlichen, die als reich galt. Von dieser Mutter, von meiner ersten Kindheit überhaupt sind mir nur schwache Erinnerungen geblieben; denn meine Eltern wechselten so oft den Aufenthaltsort. daß wir nirgends daheim waren, und als ich kaum das achte Jahr erreicht hatte, wurde ich einem adeligen Erziehungsstift in Berlin übergeben, das ich erst mit achtzehn Jahren verließ. Mein Vater führte mich nun nach Wien, wo er sich seit dem schon vor geraumer Zeit erfolgten Tode meiner Mutter häuslich eingerichtet hatte und in der ersten Gesellschaft verkehrte. Unter dem Schutze der Gemahlin des französischen Gesandten trat auch ich in diese Kreise ein. Ein paar glänzende Jahre rauschten im Fluge vorüber; dann kam ein Abend –“

Sie erblaßte bis in die Lippen hinein. Aber nur einen Moment lang weigerten sich diese blassen Lippen, weiter zu sprechen. Mit einem Tone, der so fest war, daß ihre melodische Stimme fast hart klang, fuhr sie fort:

„Während einer Soiree in unserem eigenen Hause, die von ausgezeichneten Persönlichkeiten besucht war, beschuldigte ein diesem Kreise Zugehöriger meinen Vater, mit dem er am L’hombretische saß, mit lauter Stimme des falschen Spieles, und fast in demselben Augenblicke erklärte ein eben bei uns eingeführter Fremder gleich nachdrücklich, in Herrn von Meillerie den Croupier der Spielbank des Bades M. wieder erkannt zu haben. In derselben Nacht erschoß sich mein Vater.“

„Um Gotteswillen!“ rief Fügen.

„Sie erschrecken schon beim Anfang,“ sagte Genoveva mit einem Lächeln, das ihm wehe that. „Allerdings geht auch dies Siegmund an, sonst würde ich mir erspart haben, es zu erzählen Hören Sie weiter! Einige Zeilen fanden sich, aus denen erhellte, daß tolle Börsenspeculationen meines Vaters die Summen, welche er durch die Spielbank erworben, rasch verschlungen hatten – ich war eine Bettlerin; man zwang mich, im Hause des französischen Gesandten Gastfreundschaft hinzunehmen, während meine Seele nach Einsamkeit dürstete, nach Selbstständigkeit rang. Man schrieb und petitionirte wider mein Wissen und Wollen bei den Pariser Verwandten – ich fand bei ihnen ein Asyl. Hochmütige Menschen voll grausamer Höflichkeit, ohne Herzlichkeit – dort dauerte ich nicht aus. Nach etwa einem Jahre glückte es mir, als Gesellschafterin nach Italien engagirt zu werben. In Neapel begegnete ich meinem künftigen Gatten.“

Sie hielt inne; ihre Hand beschattete die dunklen Augen. „Graf Riedegg,“ nahm sie nach kurzer Pause wieder das Wort, „erfuhr Alles, was gegen seine Wahl sprach, durch mich selbst. Es bedurfte nicht seiner Offenheit, mich zu überzeugen daß ich seiner Familie nicht willkommen sein konnte, er aber war Herr seiner Entschlüsse. Wir verbanden uns in der Stille und lebten in glücklicher Verborgenheit hier auf der Moosburg, aber nach Siegmund’s Geburt wünschte ich um des Kindes willen freies Auftreten. Mein Gatte begab sich zu den Seinen, um mit ihnen die nötigen Einleitungen zu treffen – dort ereilte ihn ein jäher Tod. Ich trat für das Recht meines Sohnes ein. Es ward bestritten. Im Grabe noch wurde Meinhard durch die Behauptung beschimpft, er hätte sich nicht zu uns bekannt. Die Zeugnisse unserer Trauung und Siegmund’s Taufschein, welche mein Gatte mit sich genommen, wie ich aus seinem Munde wußte, wurden vom alten Grafen Riedegg verleugnet, meinem Kinde und mir selbst die Ehre genommen, das Recht verhöhnt, den uns gebührenden Namen zu führen.“

„Unerhört! Und Sie duldeten –? Es giebt doch Kirchenbücher –“

[587] „Auf die ich mich verließ,“ sagte Genoveva bitter. „Empört, wahrlich nicht verzagt, kehrte ich zurück, entschlossen unser Recht zu erstreiten. Natürlich war, sobald ich hierher zurückgekehrt, mein erster Gang nach dem Servitenkloster. und dem Pater, welcher Trauung wie Taufe eingesegnet hatte. Da sagte man mir, Pater Alois sei vor etwa vierzehn Tagen an einem Schlagflusse verstorben. Nun, der Herr Prior erklärte sich sofort bereit, die Bücher des Klosters nachzuschlagen und beglaubigte Duplicate der beiden Acte ausfertigen zu lassen. Es fand sich nichts. Der geistliche Herr ließ mich selbst Einsicht in das Kirchenbuch nehmen, während er bemerkte, daß mein Anliegen ihn überhaupt befremdet habe, da Trauungen und Taufhandlungen Angelegenheiten der Pfarrgemeinden, aber nicht einer Klostergenossenschaft seien; überdies habe Pater Alois ihm keine hieraus bezügliche Meldung gemacht. Er begann ein Examen anzustellen, dem ich mich in der Bestürzung dieses Momentes ohne Rückhalt unterwarf. Als der Prior erfuhr, daß es sich um eine gemischte Ehe handle, verwandelte sich sein Ton; er äußerte mit Schärfe, daß sich der Pater, falls er eine solche wirklich eingesegnet, der höchsten Pflichtverletzung schuldig gemacht und hierüber selbstverständlich kein amtlicher Act hätte eingetragen werden können, da jede Ehe dieser Art null und nichtig sei.

Das war für wich ein Donnerschlag. Noch lebte aber ein Zeuge: Der Eremit auf dem Hilariberge, zugleich Küster der Capelle, in der unsere Verbindung stattgefunden, hatte als Trauzeuge gedient und den Act der Trauung mit unterschrieben. Dieser Mann, welchen ich sofort aufsuchte, erklärte sich bereit zur Bestätigung, aber am nächsten Morgen erschien er nicht zur verabredeten Stunde und bald erfuhr ich, daß er anderen Sinnes geworden. Man hatte ihn vom Kloster aus über den Zusammenhang belehrt und er verschwor sich hoch und theuer, daß er mit einer Ketzerin nichts zu schaffen haben wolle.

Nu blieb nur ein Weg: offene Anklage! Dieser Mensch mußte gezwungen werden, die Wahrheit zu bestätigen, der alte Graf Riedegg zur Herausgabe der schriftlichen Zeugnisse genöthigt werden, die er – noch heute will ich es beschwören – widerrechtlich unterschlagen. – Ich begab mich mit Jana und dem Kinde nach Wien, suchte dort einen berühmten Rechtsanwalt auf und legte ihm die Lage der Dinge dar. Er riet mir, jenes Zeugen guten Willen zu erkaufen, so hoch es sei, den Tod meines Schwiegervaters abzuwarten und erst dann, auf jenes Zeugniß gestützt, meine Klage zu erheben. Er begründete mit scharfer Klarheit seine Ueberzeugung, daß gegenwärtig jedes Vorgehen meiner Sache verderblich werden müsse und daß späterer, auf das Erbrecht erhobener Anspruch mehr Aussichten und weniger Gefahren böte, als eine Beschuldigung des Lebenden, für die jeder rechtliche Beweis fehle.

So beschloß ich denn zu warten. Der Graf war bei Jahren, ein hoher Sechsziger. Er lebt noch heute. Auch der Eremit lebt und weigert sich noch heute. Was habe ich nicht aufgeboten, diesen Menschen zu gewinnen! Der Armselige fürchtet sich – daran prallt jedes Bemühen ab. Ich aber warte. Der ganze Plan meines Lebens drängt einzig nur diesem Ziele zu. Auf des Grafen Erbe hat Niemand directen Anspruch als die Tochter meines Gatten aus erster Ehe. Sie ist seit Jahren verheiratet und lebt dem Großvater fern. In der Stille ist Alles vorbereitet, Siegmund’s Anspruch zu erheben, sobald sich zwei Augen schließen. Wie es auch ende, ohne Kampf, ohne äußersten Kampf soll Siegmund ’s heiliges Recht nicht aufgegeben werden. Daß es hierzu großer Mittel bedürfen wird, hat mir der Rechtsanwalt dargelegt. Nun, wir blieben nicht entblößt zurück; mein Gatte hielt eine namhafte Summe zur Disposition; er hatte mich mit der Moosburg, mit kostbaren Juwelen beschenkt. Die Zukunft im Auge, beschränkte ich unsere Form zu leben; Sie sahen mich arbeiten – dies geschah Jahre hindurch. Jetzt handelt es sich um Siegmund’s Ausbildung, und von Beschränkung darf hierbei keine Rede sein. Ich werde Genügendes in Ihre Hände legen, lieber Freund; die gleiche Summe trifft in regelmäßigem Raten bei Ihnen ein. Ich selbst folge Aussichten, welche – einerlei! Diese äußerlichen Punkte bedürfen keiner weiteren Erörterung.“

Sie schwieg, wie erschöpft, als aber Fügen beginnen wollte zu sprechen, hielt sie ihn durch eine Geberde zurück und sagte lebhafter: „Ein Wort noch! Siegmund ist in all Das nicht eingeweiht. Es ist mein Wille, daß er in der Voraussetzung aufwächst, bürgerlichen Herkommens zu sein, sich den Weg durch das Leben selbst bahnen, Wohlstand und Ansehen sich selbst gewinnen zu müssen.“

Fügen stützte den Kopf nachdenklich aus die Hand.

„Und wenn nun in ihm ein Grundton wäre, der sich künstlerisch ausklingen wollte? Er ließ gestern Worte fallen, die solchen Hang betonten. Was dann? Haben Sie hieran gedacht, bei der Absicht, ihn dem Hause eines Künstlers zu übergeben, wo er in Musik leben und athmen wird, vom ersten Tage bis zum letzten?“

„Ich widerspreche,“ sagte Genoveva ruhig, „seinem Hange zur Musik so wenig, daß ich bei der Wohl des Hofmeisters, welcher ihn bisher unterrichtet hat, ausdrücklich auf gediegene musikalische Kenntniß desselben bedacht war. Siegmund weiß, daß ihm Freiheit für dereinstige Berufswahl gewährt wird, zugleich aber weiß er, daß ich zunächst den Erwerb allgemeiner Bildung von ihm fordere. Bis zur Vollendung seiner Studienjahre muß sich unser Loos entschieden haben; denn Graf Riedegg zählt achtzig Jahre. Lassen wir Siegmund gewähren! Sie verstehen, daß bis dahin von jedem Heraustreten in die Oeffentlichkeit abgesehen bleibt. Im Uebrigen – Musik erhebt die Gedanken – selbst in Gefahren.“

Sie ergriff Fügen’s Rechte und hielt sie mit starkem Druck, während ihre unerforschlichen Augen dunkel auf ihm ruhten.

„Ich übergebe Ihnen mein Alles,“ sagte sie mit unsicherer Stimme. „Bisher waren mein Sohn und ich nie getrennt, auch nicht für einen Tag; jetzt lasse ich ihn für Jahre von mir, aber es muß sein. Oede ist der Weg ohne ihn – nie besaß ich, nie werde ich ein anderes Glück besitzen als meinen Sohn.“

Er blickte sie mit eigentümlichem Ausdruck an.

„Jetzt, in Zukunft – nun ja!“ sagte er hastig. „In der Vergangenheit aber? Sie besaßen seines Vaters Liebe.“

Ein finsterer Blick begegnete dem seinen.

„Liebe?“ wiederholte sie herb. „Er hat Weib und Kind verleugnet.“




17.

Wenige Vorkommnisse des täglichen Lebens bringen den Betheiligten nahe bevorstehendes Scheiden so zum Bewußtsein, als die letzten gemeinschaftlichen Mahlzeiten. Wer von dannen zieht, nimmt den langgewohnten Platz bei Tische mit der stillen Betrachtung ein, wie fern er sein wird, wenn die Andern das nächste Mal zu gleicher Stunde hier beisammen sein werden; wer zurückbleibt, sieht im Geiste seinen Platz schon leer. Wider Willen schleicht sich ein Schweigen ein – Schwermut sitzt mit zu Gaste. Unter solchem Banne lag heute die kleine Mittagsgesellschaft auf der Moosburg. Mit diesem Tage war Fügen’s Zeit um. Morgen in der Frühe stand seine Abreise mit Siegmund bevor, welche der Beginn allgemeiner Zerstreuung der heute noch so traulich vereinten Tafelrunde war. Für Genoveva’s Reise, als deren Ziel sie Paris bezeichnete, war schon alles vorbereitet. Lois, dessen Eltern ihm gestattet, seine diesjährigen Ferien auf der Moosburg zu verleben, kehrte im Lauf derselben Woche nach dem Seminar zurück. Nur Jana und Maxi blieben hier.

Der geheime Bann, welcher sich Allen fühlbar machte, schien Siegmund am meisten zu bedrücken; er gab sich heute unruhiger, als in seiner Art lag, und nachdem man vom Tische aufgestanden und in das Terrassenzimmer übergesiedelt war, überkam den Knaben großes Unbehagen bei dem Gedanken an alle die Stunden, welche noch bis zum späten Abend zu überdauern waren. Er stand am Fenster und blickte hinab auf das herbstlich farbige Thal. Plötzlich wandte er den Kopf:

„Mutter! weißt Du, was ich möchte?“

„Nun?“

„Ich möchte noch einmal drüben vom Hilariberg die Sonne untergehen sehen. Natürlich nur, wenn Du mitkämest. Es ist ja so schönes Wetter; alle Wege sind trocken – gewiß, der Spaziergang würde Dir gut thun. Alle gingen wohl gerne mit, nicht wahr?“

„Warum nicht?“ sagte Genovevoa „Dann laßt uns aber keine Zeit verlieren! Die Octobersonne geht frühzeitig nieder, und der Weg ist weit.“

Bald wanderte die kleine Gesellschaft hinab zum Inn, ließ sich auf das linke Ufer übersetzen und schlug dann, das schmale offene Thal verlassend, den Weg durch den Forst ein, welcher, [588] dicht an die Höhen gedrängt, zu denselben aufstieg und ein hochragendes Joch bis zum Gipfel bewaldete. Die Sonne stahl sich nur in einzelnen Funken durch den düstern Föhrenwald, auf dessen Moosgrunde schwere Felsblöcke verstreut umherlagen. Das ernste Dunkelgrün der Tannen, nirgends von buntgefärbtem Laube belebt, das mächtige Gestein, welches so fremd, wie nicht hierher gehörig, grauweiß erschimmerte, verlieh dieser Waldstrecke wilden Reiz. Der schmale, wenig betretene Fußpfad war mit grauem Geflechte dicht übersponnen; trotzdem hallte jeder Schritt der Spaziergänger in der tiefen Einsamkeit wieder. Nur je Zwei konnten neben einander bleiben. In stiller Übereinstimmung hatten die Andern Frau von Riedegg und ihrem Sohne einen Vorsprung gelassen, der sie isolirte. Lois, welcher mit Maxi zunächst folgte, hielt den Schritt an, so oft das Mädchen zwischen die Bäume huschte, um die späten Waldblumen zu sammeln, die noch vereinzelt zwischen bunten Pilzen und riesigen Farrnkrautbüscheln gediehen. Der junge Mensch war schweigsam und schien ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, während des Kindes funkelnder Blick verrieth, wie viel Mühe es kostete, die Aeußerungen zu unterdrücken, welche sich am liebsten alle zugleich an den Tag gedrängt hätten. Aber schon bei Maxi’s auf ihn gerichtetem Blick runzelte Lois die Stirn wie vor etwas Störendem; dann warf sie trotzig die rothen Lippen auf und schwirrte wieder seitwärts zwischen die Bäume. So war und blieb Alles still im Bereiche der Strecke, welche Fügen und Jana in geringer Entfernung von Jenen durchschritten; sie sprachen mit einander in so gedämpftem Tone, daß der einzige schwache Naturlaut, das noch ferne Brausen der Ache, fast vernehmlicher klang als ihre Stimmen.

„Mir bangt für Sie, liebe Jana,“ sagte Fügen; „Sie werden allzu einsam sein. Der ewig lange Winter – was wollen Sie da mit sich anfangen, wenn Sie ihn hinbringen sollen wie eine Märchenprinzessin auf dem verwünschten Schlosse?“

„Halten Sie mich zum Besten?“ lachte sie. „Im Märchen werden allerdings aus Hirtinnen manchmal Prinzessinnen, um die es sehr schade wäre, blieben sie im verwünschten Schlosse. Die sind aber jung und haben nichts auf der Welt zu thun, als wunderschön zu sein und sich erlösen zu lassen. Ich dagegen bin ein altes Mädchen und habe zu thun vollauf. Sie brauchen wahrlich nicht zu sorgen, daß mir die Zeit lang würde. Zur Schloßverwalterin, Schulvorsteherin, Kirchensängerin und Armenpflegerin bestellt – und Sie fragen, was ich mit mir anfangen werde?“ Ihre klaren Augen blickten ihn so heiter an, daß all ihre sanfte Wärme auf ihn überging.

„Ja, ich weiß,“ sagte er innig; „wohl hab’ ich’s gesehen in diesen wenigen Tagen, daß die ganze kleine Welt ringsum Sie wie eine gütige Vorsehung betrachtet. Und was ich nicht selbst gesehen, das ist mir erzählt worden: wie die Betrübten zu Ihnen heraufkommen und Sie zu den Kranken hinabsteigen, und daß Ihnen bei alledem Zeit bleibt, sich mit den Fröhlichen zu freuen, mit Ihren hülfreichen Händen und liebreichem Herzen auch am Glücke eines Jeden mitzuarbeiten, der um Sie her lebt. Gut für all diese braven Leute! Aber Sie, Jana, Sie selbst? Unmöglich können Sie mich im Verdachte haben, Ihnen Complimente machen zu wollen, wenn ich es ausspreche, wie sehr Sie gewonnen haben, seit wir uns zuletzt trafen. Nicht an Güte und Vortrefflichkeit – da war nichts Besseres zu gewinnen – aber Sie müssen diese Jahre über neben Alledem, was Sie den Andern leisten, doch auch viel Zeit gefunden haben, Ihr eigenes Können und Wissen auszubilden. Ihr Gespräch, Ihr Gesang verrathen es – ja gewiß, Sie haben gelernt und geübt. Was so erworben worden, trägt auch den Anspruch in sich, genährt und befriedigt zu werden. Es ist wiederholt, es ist ausdrücklich die Rede davon gewesen, daß Frau von Riedegg Jahre hindurch abwesend sein wird. Denken Sie im Ernste daran, diese Jahre ganz allein auf der Moosburg zu verleben – mit keiner andern Aussicht auf Unterbrechung Ihrer Oede, als die für einige Herbstwochen hier verabredeten Zusammenkünfte von Mutter und Sohn? Nein, Jana, ich müßte nicht Ihr Freund sein, wenn ich mich scheuen wollte, dagegen zu sprechen! Sie sind zu jung, zu strebsam und begabt für solches Leben absoluter geistiger Einsamkeit. Das ertragen vielleicht Träumer oder Menschen, welche schweres Unglück ganz erschöpft hat – Sie müßten dabei verkümmern, und so sehr ich Frau von Riedegg verehre – das könnte ich ihr nicht verzeihen, solchen verkehrten Lebensplan zu unterstützen oder gar von Ihnen zu fordern. Längst schon brannte mir auf der Seele, hierüber mit Ihnen zu reden, und ich bin der Gelegenheit froh, die sich endlich findet. Ich habe kein Recht mich in Ihre Verhältnisse zu mischen, wenn Sie mir aber nicht verbieten, in meinem Sinne mit Frau von Riedegg zu sprechen, so möchte ich dies heute noch thun; ich bin überzeugt, nur das momentane Uebergewicht ihrer eigenen Angelegenheiten läßt sie übersehen, daß sie ihrer treuesten, allzu selbstlosen Freundin Unrecht anzuthun im Begriffe steht.“

Jana hatte ihn ausreden lassen, ohne die sanften, leuchtenden Augen von ihm zu wenden.

„Ich danke Ihnen für Ihren Eifer,“ sagte sie jetzt lächelnd; „er zeigt mir, daß Sie mein Freund geblieben. Aber Sie irren ganz und gar. Auf der Moosburg zu bleiben, an meinen Verhältnissen nichts geändert zu wissen, war und ist mein eigener Wunsch. Ich fürchte mich weder vor der Welt noch vor den Menschen, aber ich kenne keinen anderen Kreis als den der Wenigen, denen ich ganz und gar angehöre, und würde auch schwerlich in einen anderen hineinpassen. Wünschte Frau von Riedegg mich mit sich zu nehmen, so wäre mir dadurch das höchste Opfer auferlegt, welches ich mir vorstellen kann – und wohin, zu wem sollte ich sonst gehen wollen, wenn ich von hier ginge? O nein, Einsamkeit erschreckt mich nicht – ich liebe sie. Und was ich mir etwa erwerben konnte an geringem Wissen und Können, das bereichert ja nur mein Leben. ja, es war mir lieb, als Siegmund einen Hofmeister bekam und ich so Gelegenheit fand, meine große Unwissenheit ein wenig zu vermindern. Es ist schade, daß Herr Steuber uns schon vor Ihrem Eintreffen verlassen mußte. Ich verdanke ihm viel.“

„Und nun werden Sie für Jahre hinaus auf den Verkehr mit Bauern und Gesinde angewiesen,“ grollte Fügen.

„Sie vergessen Maxi.“ Ihr Blick spann gleichsam einen Faden zu der kleinen behenden Gestalt hin, welche leichten Fußes vor ihnen hin und wieder huschte. Der warme Ton, in dem sie sprach, fiel ihrem Begleiter auf.

„Ein Kind! Und dem Sie nicht einmal weiter geben sollen, was Sie sich angeeignet,“ sagte er. „Oder ist der Plan geändert, sie zu bescheidener Stellung zu erziehen?“

„Gewiß nicht! Sie sahen doch, daß sie uns Allen dient, und in irgend einem Sinne soll das stets geschehen. Nur, daß sie es nicht nöthig haben wird, Fremden anders als freiwillig zu dienen, und –“ sie hob das helle, lächelnde Gesicht zu ihm auf. „Ich habe ‚Hermann und Dorothea‘ gelesen! In diesem herrlichen Gedicht kommt eine Stelle vor, die ich nicht wieder vergessen werde. Sie wissen doch: ‚Dienen lerne das Weib!‘ So will ich es unserer Maxi lehren, wenn ich das vermag. Und hat sie es so begriffen, was könnte es ihr dann schaden, wenn ich an sie weiter gebe, was ich selbst gelernt habe? Bedenken Sie auch, daß ich hier in der Nähe meiner eigenen Familie bleibe. Der Mutter würde es schwer fallen, zöge ich fort. Sie hängt auch an der Maxi, obgleich sie das nicht Wort haben will und immer auf sie schilt. Das Kind thut’s doch Jedem an.“

„Hm,“ sagte Fügen nach kurzer Pause; „Sie mögen Recht haben. Die Kleine hält bei Ihnen noch das alte warme Herzplätzchen inne, wie ich sehe. Sagen Sie mir doch, von welchem Schlage sie eigentlich ist? Recht dahinter gekommen bin ich noch nicht, obgleich ich auf sie Acht gab. Das Gesicht thut es Einem an; da werden Sie mit der Zeit zu hüten bekommen. Sie hat ja ein paar Augen, um damit die Welt in Brand zu stecken. Und wissen Sie, mir scheint, daß sie dem Kobold, der früher in ihr hauste, heute noch Herberge giebt, so sachte sie sich auch geberdet. Sie allein sind es, welche das Sprühteufelchen am Bande halten.“

Jana erröthete; nach immer war ihr der mädchenhafte Reiz dieses leicht erregten Aufsteigens des Blutes geblieben.

„Vielleicht,“ sagte sie; „mehr als ich vermag aber der alte Spielcamerad über Maxi. Es ist nicht Ihre Gegenwart, welche jetzt den sonstigen Muthwillen dampft – sie nimmt sich immer zusammen, wenn Lois in der Nähe ist. Ja, Maxi’s Naturell ist stürmisch; wetterwendisch ist sie aber nicht. Nur wo sie sich freiwillig unterwirft, ist ihr etwas abzugewinnen dann aber auch Alles, denn sie kann nichts halb thun oder sein.“

„Und Siegmund? Wie stellt er sich zu Maxi?“ warf Fügen ein.

Jana schüttelte den Kopf.

„Die Beiden haben nichts gemeinsam, als ihr Alter. Ihr ungestümes Temperament stört ihn; die Wege dieser Kinder gehen

[589]

Die Erdpyramiden des Finsterbachthales in Tirol.
Originalzeichnung von H. Heubner.

[590] weit aus einander.“ Sie schwieg und blickte sinnend vor sich nieder; dann sagte sie in warmem Tone: „Beide sind mir an’s Herz gewachsen. Und daß Sie jetzt den Einen zu sich nehmen, während mir die Andere bleibt, ist so viel lieb.“

Die Innigkeit der letzten Worte rief Fügen ganz und gar alte Zeiten zurück. Er sah liebreich auf Jana nieder, und während sie leichten Fußes neben ihm herschritt, regten sich halb vergessene Wünsche und Gedanken in seinem Innern – nicht laut genug, um zu Worte zu kommen, aber bewußt genug, um die Anziehungskraft, welche das liebe Mädchen stets auf ihn geübt, in sanfter Macht wirken zu lassen. Beide empfanden kein Bedürfniß weiterzusprechen, nachdem Wort und Blick so wohlthuend getauscht worden; still wandelten sie neben einander her, Fügen im Vollgefühl eines innerlichen Ausruhens nach Tagen, die ihm ewig wechselnde Stimmungen aufgedrängt.

Inzwischen hatten Mutter und Sohn einen ziemlichen Vorsprung gewonnen und waren im Begriffe die Höhe zu ersteigen, welche zum Aussichtspunkte führte. Vom höchsten schmalen Plateau ragte die Thurmspitze des Kirchleins über dunklen Föhren auf.

Genoveva, etwas ermüdet vom weiten Gange, ließ sich auf einen Block zum Sitzen nieder und blickte hinab zum nahen heiteren Thalgrunde, der mit vereinzelten Häusern und Höfen übersäet war. Die rothen Eckthürmchen eines schönen Edelsitzes inmitten dieser zerstreuten Gehöfte verliehen dem Bilde besondere Frische; am Saume des Waldgebietes drängte sich die lichtgrüne Ache mit Schäumen und Brausen durch ein enges Felsenbett dem Inn entgegen, und gleich einem Wall ragten westwärts die Wilden Kaiser in golddurchschimmertem Blau. Die Sonne stand bereits so niedrig, daß jeder Grashalm glitzerte und gleißte; ein Funkeln ging über die in Farben erglühende Welt.

„Die Sonne ist Dir hold,“ sagte Genoveva, indem sie den Kopf nach Siegmund wendete, der ihr zur Seite stand. Sein Blick war aber nicht auf das in Gold und Purpur niedergehende Tagesgestirn gerichtet; er stand abgekehrt, der vom Inn durchflossenen Thalseite zugewendet; dort dämmerten die unter tiefblauen Schatten schon beinahe verschwindenden Umrisse der Moosburg. Als der Mutter Auge ihn traf, füllte sich das seine mit blitzenden Tropfen. Er warf sich plötzlich vor ihr auf die Kniee, umschlang sie mit beiden Armer und rief in leidenschaftlicher Inbrunst:

„Meine herrliche Mutter!“

Beider Blicke tauchten in einander mit einem Ausdruck heißer, tiefer Zärtlichkeit, für die es keine Sprache in Worten giebt.

Erst als nahende Stimmen und Tritte zwischen den Tannen vernehmlich wurden, ließ er die Mutter aus seinen Armen.

„Wir sehen uns wieder!“ sagte Genoveva in einem Tone, welcher den Knaben durchschauerte. „Bis dahin laß’ uns an Einem fest halten: Mein Leben gehört Deinem Glück, das Deinige – der Ehre!“

„Der Ehre!“ wiederholte er stark, indem seine schlanke Gestalt sich hoch aufrichtete. „Ich gelobe Dir, Mutter, daß Du auf mich stolz werden sollst.“

Er stand von Licht umflossen. Alle Höhen ringsum entzündeten sich im Purpur der glorreich niedergegangenen Sonne. Schweigend hatten sich die Uebrigen den Beiden zugesellt, und auch nachher, als die vereinte Gruppe die kleine Wegstrecke nach dem höchsten Plateau gemeinsam zurücklegte, wurden nur wenige Worte laut.

Als Genoveva, der Fügen nun zur Seite ging, um die Capelle bog, um den hier jäh abfallenden Berghang zu erreichen, bezeichnete sie ihrem Begleiter durch einen Wink der Augen einen Mann, welcher mit Hacke und Spaten in dem zu einer Art von Garten abgesteckten Viereck arbeitete, welches spärlich mit Feldfrüchten angebaut war. Der schon ziemlich bejahrte, aber noch rüstige Mensch trug eine braune Kutte aus grobem Loden und richtete den barhäuptigen kahlen Scheitel auf, als er nahende Schritte vernahm. Sobald er Genoveva ansichtig wurde, warf er sein Arbeitsgerät aus den Händen und lief mit weiten Schritten in das der Capelle angebaute kleine Küsterhaus.

Genoveva hob den stolzen Kopf und sah Fügen an.

„Nun,“ sagte sie mit bitterem Lächeln, „mein Anblick versteinert wenigstens nicht, gleich dem der Medusa.“

(Fortsetzung folgt)




Schule und Haus.

Von Waldemar Sonntag.


Die Erziehung der heutigen Jugend hat eine gewisse Aehnlichkeit mit der Pädagogik des Alterthums, insofern sie die engen Grenzen einer häuslichen Angelegenheit überschritten hat und zu einem Gegenstande der öffentlichen Aufmerksamkeit und Fürsorge geworden ist. Demgemäß wird unter den Erziehungsfactoren derjenige am meisten genannt und am eifrigsten der Beurtheilung unterzogen, dessen Bedeutung am weitesten in die öffentlichen Dinge hineinragt: die Schule.

Beinahe in allen Volksvertretungen der deutschen Staaten macht sich der Kampf um die Selbstständigkeit der Schule geltend. Auf der einen Seite wiederholt die Kirche ihre grundsätzlich niemals aufgegebene Forderung, der Schule Plan und Richtung auch in solchen Lehrgegenständen vorzuschreiben, die nicht unmittelbar mit dem Religionsunterrichte zusammenhängen; auf der andern Seite bemühen sich freisinnige Männer, denen der Clerus ein wenig geeigneter Führer zu edler Bildung zu sein scheint, die Unterrichtsstätten dem Schatten der Kirche zu entziehen.

Dem aufmerksamen Beobachter will es aber scheinen, als ob über die Frage: wie haben sich Schule und Kirche aus einander zu setzen? die Bedeutung einer anderen Erziehungsfrage allzu gering geschätzt werde, der Frage: wie haben Schule und Haus sich in ihrer gemeinsamen Erziehungsarbeit zu ergänzen? Es thut Noth, daß neben der Schule auch das Haus seine unerschrockenen Fürsprecher und besonnenen Hüter finde. Darum seien im Bewußtsein redlicher Absicht einige Bemerkungen über das normale Verhältniß der Schule zum Hause, des Hauses zur Schule hier gewagt – Bemerkungen, die keinen andern Anspruch machen als den, flüchtige und wohlmeinende Andeutungen zu sein.

Daß die öffentliche Schule zu einer gedeihlichen Entwickelung der Geistesgaben, wie zur wirksamen Ausbildung des Charakters so gut wie unentbehrlich sei, wird heute allgemein zugestanden, und nur mit verschwindenden Ausnahmen der öffentliche Unterricht dem privaten vorgezogen. Hat doch die Erkenntniß, daß der öffentliche Schulunterricht die unvergleichlich zweckmäßigste Grundlage tüchtiger Mannesbildung sei, sich sogar in solchen Kreisen Bahn gebrochen, welche dieser Einsicht bisher zu widerstreben schienen. In ganz Deutschland ist es mit Genugtuung bemerkt worden, daß der Kronprinz von Preußen seine beiden ältesten Söhne dem Gymnasium in Kassel zum regulären Unterricht anvertraut hat.

Also in die Schule müssen nun einmal unsere Kinder. Der Tag, all welchem wir sie zum ersten Mal in das große Haus mit der weiten Thür führen, pflegt als ein festlicher vom Hause begangen zu werden. Es schmeichelt unserer Eitelkeit mit Recht, den Beziehungen unseres Lebens diejenige zur Schule hinzufügen zu dürfen, und die Kleinen kommen sich wichtig genug vor, wenn sie mit dem nagelneuen Ranzen und der neugierig beschauten Fibel, die ihnen noch ein Buch mit mehr als sieben Siegeln ist, freudig die große Reise in die Schule antreten. Allein schon der zweite Tag belehrt sie, daß die Sache nicht so lustig weiter geht, wie sie anfing, sondern daß des Stillsitzens und Aufmerkens kein Ende mehr ist. Wie groß muß das Vertrauen sein, das der Staat von den Eltern für die Schule in Anspruch nimmst indem er fordert, daß sie ihre Lieblinge Tag für Tag stundenlang der Obhut derselben in einem Alter übergeben, in welchem die Unmündigen noch der gewissenhaftesten leiblichen Pflege und sittlichen Führung bedürfen! Neben das Wort des Vaters tritt nun als ebenbürtig das Geheiß des Lehrers, und die Hand der Mutter wird durch die der Lehrerin abgelöst. In dieser ersten Zeit des Schulbesuchs kommt es vor allen Dingen darauf an, daß die Schüler zu den Personen der Lehrer ein annähernd ähnliches Verhältniß des Vertrauens und der Hingebung gewinnen, wie es den Kindern ihren Eltern gegenüber angeboren ist, und daß sie in den ohnehin meist schmuckarmen und [591] poesielosen Schulstuben nicht alles dasjenige vermissen, was man ihnen in den Räumen des Elternhauses sorgsam zu Theil werden ließ.

Andererseits hat die Schule das Recht, zu verlangen, daß ihre Einrichtungen und Anordnungen seitens der Eltern, welche derselben ihre Kinder übergeben haben, genau und unweigerlich respectirt werden. Sie kann sich nicht gefallen lassen, daß die Tochter zu spät zum Frühunterrichte erscheint, weil die Frau Mama nicht zur rechten Zeit aufgestanden ist; sie darf nicht dulden, daß der Sohn die Nachmittagslectionen versäumt, weil der Herr Papa einen guten Freund zu Tisch bei sich sah. Verständige Eltern werden derartige Unzulänglichkeiten thunlichst vermeiden und für möglichsten Einklang des Lebens im Hause mit dem in der Schule kräftig eintreten. Sie werden namentlich Werth darauf legen, mit den Lehrern ihrer Kinder persönlich bekannt zu werden.

Zwar sind derartige Annäherungen eine Sache des Tactes und der Rücksichten der gesellschaftlichen Sitte. Nichts ist den gewöhnlich in ihrer Zeit sehr beschränkten Lehrern unerwünschter, als die unablässig wiederholten Besuche zudringlicher Väter und sentimentaler Mütter, die in jeder Schulstrafe, die ihren Sprößlingen zudictirt worden ist, ein ganz besonderes Unrecht wittern und sich mit Bitten und Thränen bemühen, die gestrengen Herren zur Zurücknahme verfügter Maßregeln oder zur Nachversetzung zurückgebliebener Söhne und Töchter zu bewegen. Nichts ist für gerechte Männer widerwärtiger, als fortwährend mit Kleinigkeiten behelligt, mit unbegründeten Klagen überlaufen, mit Zumuthungen, deren Gewährung gegen Pflicht und Gesetz ist, beunruhigt zu werden. Allein andererseits kann den Lehrern nichts willkommener sein, als von Zeit zu Zeit, insbesondere aus Anlaß wichtiger Fälle, Fühlung mit den Eltern derjenigen Kinder zu gewinnen, die täglich zu ihren Füßen sitzen. Einerseits genügt oft eine Andeutung des Vaters, dem Lehrer Aufschluß über eine Charakter-Eigentümlichkeit des Sohnes zu geben, deren richtige Beurteilung demselben bisher entgangen war. Nicht selten reicht andererseits ein Wink des erfahrenen Lehrers aus, den Eltern Auskunft über die besonderen Fähigkeiten ihrer Kinder und Rath über die daraus zu bauenden Lebenspläne zu ertheilen.

Unbedingt ist zu erwarten, daß verständige Eltern auf regelmäßigen Schulbesuch der Kinder und möglichst uneingeschränkt Theilnahme an allen von der Schule dargebotenen Unterrichtsgegenständen halten. In beiden Beziehungen wird namentlich in solchen Häusern gesündigt, wo die Töchter es verstehen, das leicht bewegte Herz der Mutter zu übertriebener Nachsicht und Aengstlichkeit zu rühren. Bald ist es zu warm, bald ist es zu kalt; heute sind Kopfschmerzen da und morgen Zahnschmerzen im Anzuge; einmal wurde ein bedenklicher Husten gehört; ein andermal sollte die Schwester einer Mitschülerin an den Masern erkrankt sein. Die Begünstigung einer derartigen Verweichlichung des jugendlichen Körpers rächt sich oft für das ganze Leben. Außerdem aber behaupten mißtrauische Mitschülerinnen, und nicht jedesmal mit Unrecht, daß die Zahnschmerzen ihrer kleinen Freundin sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit einstellen, so oft Repetitionen in der Geschichte bevorstehen, und daß die nervösen Kopfschmerzen, wegen welcher die Mama schon den Arzt bemüht hat, fast immer mit der Ablieferung eines französischen Exercitiums zusammenfallen. Man glaubt gar nicht, bis man es bei den eigenen Kindern erlebt hat, wie erfinderisch die Jugend in Schulnöthen ist und wie muthig selbst niedliche kleine Mädchen der Wahrhaftigkeit ein Schnippchen schlagen, zum Entsetzen der Mutter, die noch vor Kurzem in Gesellschaft mit erhobener Stimme versichert hatte, daß „ihre Helene niemals die Unwahrheit sage“. Mit der Befürwortung der Dispensation von einzelnen Schulstunden sollte man ebenfalls zurückhaltend sein. Allerdings kann der Fall eintreten, daß Kinder in gewissen Lectionen, z. B. im Singen, durchaus leistungsunfähig sind, oder daß die Rücksicht auf den Gesundheitszustand wünschenswert macht, schwächliche und in schnellem Wachsthum begriffene Mädchen von sitzenden Beschäftigungen, wie Handarbeiten und Zeichnen, zu befreien. Allein der Gewinn solcher Erleichterungen, die ebenso häufig von der Bequemlichkeit wie von der Notwendigkeit gefordert werden, pflegt ein problematischer zu sein. Nur selten gestattet der Lectionsplan, daß die dispensirten Schüler die freien Stunden zur Muße und Erholung ausnutzen. Entweder sie müssen stumme Zuhörer der singenden Classe sein, oder sie gehen nach Hause, um nach kaum einer Stunde wieder zur Stelle zu sein. Wer hätte noch nicht beobachtet, daß muntere Quartaner, deren belegte Stimme sie angeblich am Mitsingen verhinderte, auf dem Schulwege durch kniehohen Schnee wateten, und daß zarte Schülerinnen, deren „Augenschwäche“ ihnen Nähen und Häkeln verbot, in später Abendstunde über heimliche Perlenstickereien gebückt saßen? Hier sollte der Rath gefälliger Hausärzte den Wünschen schwacher Mütter nicht allzu weit entgegen kommen.

Doch fordern wir Strenge in der Behandlung der Kinder der Schule gegenüber, so heischen wir auch von der Schule peinliche Pflichterfüllung und zarte Rücksichtnahme den Kindern gegenüber. Niemand wird im Ernste behaupten wollen, daß alle Einrichtungen unserer Schulen das körperliche Gedeihen der ihnen anvertrauten Kinder in jeder Weise begünstigen oder auch nur ermöglichen. Die Classenzimmer sind vielfach zu eng und zu niedrig, als daß eine große Schaar von Schülern einen zuträglichen Aufenthalt darin fände. Die Ventilationsvorrichtungen sind an vielen Stellen so mangelhaft, daß die Luft nach wenigen Unterrichtsstunden total verdorben ist. Die Heizung ist hier und da so unzweckmäßig, daß die Lungen der Kinder dadurch Schaden leiden müssen, und mit der Einführung von technischen Neuerungen hat man es selbst in großen Städten kaum über das Stadium des Experimentirens hinausgebracht. Die Beleuchtung läßt zuweilen zu wünschen übrig; die Bänke und Tische entsprechen nicht überall ihrem Zwecke. Solche unleugbar vorhandenen Uebelstände sollten überall mit unerbittlicher Energie beseitigt werden; denn ihre Abhülfe gehört in der That zu den wichtigsten Aufgaben der öffentlichen Wohlfahrtspflege.

Eine brennende Schulfrage ist die der Ueberbürdung der Schüler und Schülerinnen mit häuslichen Arbeiten;“[1] sie beschäftigt nicht erst seit heute oder gestern die Welt. Seit Jahrzehnten wird sie im Familienkreise und am Biertische, in Volksversammlungen und in der Presse, in Directorenconferenzen und Parlamenten immer und immer wieder aufgeworfen, um von den Einen eifrig bejaht, von den Anderen heftig verneint zu werden. Der diese Zeilen schreibt, steht sich unbedingt und rückhaltlos auf die Seite Derjenigen, welche die Frage: ob Ueberbürdung oder nicht? bejahen. Er beruft sich dabei nicht nur auf Wahrnehmungen an seinen eigenen Kindern, sondern auch auf die Erfahrungen, die er als Gymnasiallehrer und Lehrer an einer höheren Töchterschule eine Reihe von Jahren hindurch gesammelt hat.

Die Anforderungen der Lehrpläne, vorzüglich der höheren Schulen, zu denen wir auch die sogenannten Töchterschulen rechnen, obgleich uns nicht unbekannt ist, daß dieselben wenigstens im Sinne der preußischen Verwaltung keine „höheren“ Schulen sind, wurden in den letzten Jahrzehnten so rapid gesteigert, daß die Schulen dieselben nur durch eine teilweise Abwälzung auf die dem Hause gehörigen Stunden bewältigen zu können glauben. Zwar fehlt es weder an gesetzlichen Untersagungen der Behörden noch an Warnungen der Directoren vor einer Ueberschreitung des zulässigen Maßes. Allein über dieses Maß gehen eben die Meinungen weit aus einander.

Ein zehnjähriges Mädchen hat sechs Stunden in der Schule gesessen und ist in Folge dessen abgespannt. Die Puppe winkt; der Garten lockt; die Mutter ruft zum Spaziergang – das Kind muß arbeiten. Da ist ein Aufsatz oder eine Abschrift anzufertigen, eine Uebersetzung zu machen; da sind Liederverse zu lernen, Vocabeln einzuschreiben, Exempel zu rechnen. Die schönsten Tagesstunden gehen hin, ohne daß das Kind eine tüchtige Bewegung im Freien, ein zerstreuendes Spiel im Hause vornehmen könnte.

In den mittleren und oberen Classen der Gymnasien sind die Ansprüche noch ungleich höher geschraubt: Halbwüchsige Jungen plagen sich bei der Studirlampe bis in die Nacht hinein mit lateinischen und griechischen Autoren herum. Es steht fest, daß das Familienleben durch die Uebermasse der Schularbeiten durchlöchert, getrübt, in gewisser Beziehung geradezu aufgehoben wird. Selbst die berühmten und hochgelobten freien Nachmittage am Mittwoch und Sonnabend werden durch Extra-Arbeiten beschnitten. Und wo bleiben die Musikstunden, zu denen der Geschmack der Gegenwart alle Mädchen und viele Knaben der gebildeten Stände verpflichtet? Es täte Not, daß man die schulfreien Sonntage dazu zu Hülfe nähme.

[592] Wie ist diesem Uebelstande abzuhelfen?

Immerhin wird eine genaue Controlle der aufgegebenen Arbeiten seitens der Directoren, sowie eine Verständigung der Classenlehrer unter einander über die häuslichen Arbeiten der Schule ersprießliche Dienste leisten. Wirksamer aber versprechen zwei andere Mittel zu werden, deren Anwendung nicht dringend genug empfohlen werden kann: Zunächst mögen die leitenden Stellen darauf bedacht sein, anstatt den Lehrplan von Jahr zu Jahr mehr zu belasten, denselben von allen Gegenständen, die nicht unbedingt zur Schulbildung gehören, frei zu machen. Auf unseren Gymnasien wird durchschnittlich viel zu viel Philologie getrieben; die Feinheiten der griechischen Grammatik z. B. gehören schlechterdings nicht in die Schule, auch nicht nach Prima. Philosophische Propädeutik und Logik mit Gymnasiasten zu treiben, will uns als purer Humbug erscheinen, und das massenhafte Einpauken von Jahreszahlen und Namen in den Geschichtsstunden ist fruchtlose Danaidenarbeit.

Sodann möge man dafür sorgen, daß die Schulstunden selbst eifriger und nutzbringender ausgebeutet werden! Fern sei es von uns, die Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue unseres Lehrerstandes auch nur mit einem Worte in Zweifel ziehen zu wollen. Allein die jetzt übliche Methode nöthigt ja die Lehrer geradezu, einen großen Theil fast jeder Stunde mit dem Durchsehen, Abfragen und Controlliren der häuslichen Arbeiten hinzubringen, während doch die Hauptarbeit in den Stunden, nicht aber zu Hause gemacht werden sollte. Jeder wackere Lehrer weiß, daß er eine lateinische Declination in einer einzigen Stunde mündlich sicherer einübt, als wenn er seinen Schülern zehn Beispiele zur häuslichen schriftlichen Ausarbeitung aufgiebt, die ohnehin meist gedankenlos und liederlich ausfällt. Zwanzig Homer-Verse, in der Stunde unter Anleitung des Lehrers geschmackvoll übersetzt, führen die Jünglinge in das Verständniß der griechischen Dichtung leichter und besser ein, als die bei vielfältiger Wälzung des Lexicons vorgenommene sogenannte Präparation eines halben Gesanges der Odyssee.

Wir behaupten mit gutem Bedacht, daß bei einer anderweitigen sehr wohl durchführbaren Vertheilung des Lehrstoffes zwischen Schule und Hans reichlich die Hälfte der Aufgaben, die durchschnittlich dem Hause aufgebürdet werden, den Kindern erlassen werden könnte, ohne daß die Leistungen irgend einer Schule darunter leiden würden.

Willkommene Unterbrechungen des täglichen Unterrichtes bilden die Ferien. Ferien – süßer Laut für jedes Knaben- und Mädchenherz, erlösendes Wort nach langer Plage und Haft! Welch eine Welt der Freiheit und Ungebundenheit thut sich in den Ferien für unsere Kinder auf! Auf alle Berge klettern die frei gewordenen Kleinen; in alle Höhlen kriechen sie; durch alle Büsche streifen sie.

Aber selbst in die herrlichen Ferien hinein verfolgt Schüler und Schülerinnen das Gespenst der Arbeit. Es mag zugegeben werden, daß unter gewissen Umständen Ferienaufgaben nothwendig und nützlich seien. Eine Repetition für Zurückgebliebene, eine Uebersetzung für einen Regentag mögen Eltern und Kindern zugute kommen. Aber Ferienarbeiten um jeden Preis, für Ostern so gut wie für Weihnachten und die Hundstage, scheinen zu den größten Verkehrtheiten zu gehören. Die Ferien sind nicht zur Arbeit, sondern zur Erholung und Zerstreuung bestimmt, und wenn die Kinder vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der freien Natur sich bewegen, ohne auch nur an Grammatik und Katechismus zu denken, so haben sie dazu ihr gutes Recht. Verständige Lehrer verzichten schon deshalb auf alle Ferienarbeiten, weil sie wissen, daß dieselben von der Sonne der Freiheit zu grell beleuchtet, vom Sturmwinde der Ungebundenheit zu unbarmherzig zerzaust werden, als daß das Auge seine Freude daran haben könnte.

Eine andere Frage ist die nach der passendsten Zeit für die Ferien, in erster Linie für die in die Sommermonate fallenden.

Es dürfte nicht leicht sein, in dieser Beziehung alle Wünsche unter einen Hut zu bringen; denn während diejenigen Eltern, die es auf einen mehrwöchentlichen Familienaufenthalt in einem Badeorte oder einer Sommerfrische abgesehen haben, der bequemeren und wohlfeileren Miethen wegen den Juli vom ersten bis zum dreißigsten vorziehen würden, dürften Andere, denen diese Rücksicht fern liegt, die Ferien von Mitte Juli bis Mitte August wünschen, noch Andere die in der Rheinprovinz üblichen sechswöchentlichen von Mitte August bis Ende September mit Freuden begrüßen. Ob eine allgemeine, für das ganze Land oder wenigstens eine ganze Provinz gültige Ferienordnung durchführbar wäre, ist nur nach sorgfältiger Prüfung mannigfacher, zum Theil einander widersprechender Interessen zu entscheiden. Die Rücksicht aber sollte überall auf häusliche Verhältnisse genommen werden, daß wenigstens in einer und derselben Stadt alle Schulen gleichen Ranges dieselbe Ferienzeit inne hielten. Zu welchen Unzuträglichkeiten muß es führen, wenn die Söhne und Töchter eines und desselben Hauses zu verschiedenen Terminen ihre Sommerferien beginnen, weil vielleicht Gymnasium, Realschule und höhere Töchterschule unter verschiedener Verwaltung stehen oder die Dirigenten dieser Anstalten nicht den guten Willen haben, sich untereinander zu verständigen! Eine fatale Zersprengung des Familienzusammenhanges ist die unausbleibliche Folge eines derartigen Particularismus.

Nicht minder lästig ist die an etlichen Orten außerordentlich weit aus einander gehende Zeitfolge der Lectionen. Uns sind Städte bekannt, wo das Gymnasium seine Unterrichtsstunden selbst im Sommersemester um 8 Uhr beginnen und ununterbrochen bis 1 Uhr fortdauern läßt, während Realschule und Töchterschule von 7 bis 11 und von 2 bis 4 Uhr unterrichten. Nicht wenige Eltern haben gleichzeitig einen Sohn auf dem Gymnasium, einen andern auf der Realschule oder eine Tochter auf der Töchterschule. Der Gymnasiast kommt nicht vor 11/4 Uhr zu Tisch nach Hause; Bruder und Schwester müssen bereits 13/4 Uhr wieder zur Schule gehen – wie in aller Welt soll da die Hausfrau eine geordnete und ungestörte Mittagsmahlzeit herrichten? Die Augen der Behörden sehen doch sonst Manches – warum nicht solche offenbare Willkürlichkeiten?

Der Reform bedürftig ist heute an vielen Schulen auch der Turnunterricht. Glücklicher Weise sind die gymnastischen Uebungen, die einst bei wackeren Männern – unglaublich zu hören! – staatsgefährlich erschienen, in ihrer heilsamen Nothwendigkeit für die Jugend längst anerkannt. Aber was wollen zwei wöchentliche Turnstunden bedeuten gegenüber den dreißig und mehr Lectionen, die auf geistige Uebungen verwendet werden? Jeden Tag eine den Leibesübungen gewidmete Stunde dürfte kaum eine übertriebene Forderung genannt werden. Nur lege man sie nicht in die schulfreie Nachmittagszeit, sondern gliedere sie dem anderen Unterrichte als gleichberechtigt ein! – „Das ist nicht möglich,“ rufen viele Lehrer, „woher sollte die Zeit kommen? Welchen Fächern sollten die Stunden abgenommen werden?“ – Es ist doch möglich, und wenn es heute befohlen wird, sehen wir es morgen ausgeführt, und übermorgen leuchtet Manchem ein, wie gut es geht. Ein Quintaner lernt in acht wöchentlichen lateinischen Stunden gerade so viel wie in zehn, und die beiden gewonnenen Stunden sind seinen Muskeln und Lungen zugute gekommen.

Eines der stärksten Bindemittel zwischen Schule und Haus bilden die schriftlichen Censuren. Das ist ein Freudentag für Klein und Groß, wenn die Unterschrift der Classenlehrer bezeugt, daß des Schülers Betragen gut, seine Aufmerksamkeit lobenswerth, sein Fleiß vorzüglich befunden worden sind. Dagegen Wehklagen und ärgerliche Scenen pflegen nicht auszubleiben, wenn das verhängnißvolle Blatt in ganzen Colonnen das entsetzliche „ungenügend“ bei alten und neuen Sprachen, Wissenschaften und Künsten wiederholt und die gefürchtete „besondere Bemerkung“ versichert, daß Max viel tüchtigere Leistungen aufzuweisen gehabt haben würde, wenn er nicht durch sträflichen Leichtsinn und unüberwindliche Trägheit sich und seine Lehrer um die Früchte seiner erfreulichen Anlagen betrogen hätte. In Bezug auf die Abfassung der Schulzeugnisse dürfte ein Wunsch am Platze sein, den sicherlich schon manche Eltern bei der Durchsicht dieser bedeutungsvollen Urkunden gehegt haben. Häufig werden die Prädicate ausschließlich durch Zifferbezeichnungen ertheilt: Religion zwei, Deutscher Aufsatz drei, Schreiben eins etc. Diese rein formale Censirung mag für die Kenntnisse und Fertigkeiten genügen, umsomehr, als das Zeugniß in der Regel ein erläuterndes Schema der Ziffern und ihres Werthes enthält. Minder angemessen erscheint diese Numerirung da, wo es sich um das Betragen der Kinder handelt. Betragen: drei – was, heißt das im Grunde genommen? Hier wäre sehr zu wünschen, daß die Schule sich zu einer kurzen Aeußerung über die charakteristischen Eigenschaften ihrer Schüler: z. B. „vorlaut und empfindlich“, „bescheiden, aber nicht lebhaft genug“, herbeiließe. Einige Anstalten sind in diesen: Punkte mit einen: nachahmungswerthen Beispiele vorangegangen.

Wer über das Wechselverhältniß, in welchem Haus und Schule stehen oder stehen sollten, seine Meinung ausspricht, der kommt [593]

Der Trompeter vom Invalidenhause.

Ballade von Fedor von Köppen zu der Originalzeichnung von H. Lüders.


Der Trompeter am Invalidenhaus
Tritt vor mit dem Glockenschlage;
Einst blies er zum Sturme beim Schlachtengebraus,
Heut klingt’s zur Retraite wie Klage. –

5
So Mancher, der mit ihm einst Ehren gewann,

Ist lange vor ihm geschieden
Zur großen Armee – nun kommen daran
Die letzten der Invaliden.

„Da bin auch ich in ihrer Zahl

10
Zur Reserve aufgehoben;

Bald blas’ ich Retraite zum letzten Mal,
Muß selbst mich stellen dort oben.

Und seh’ ich – o Freude! – Euch wieder da,
Ihr alten, liebwerthen Helden,

15
Dann will ich Euch, was hienieden geschah,

Getreu und redlich vermelden.

Denn Vieles hat sich verändert hier
Im Laufe von sechzig Jahren;
Die Alten werden sich wundern schier,

20
Wenn sie durch mich es erfahren.


Das Kreuz von Eisen, so hochgeschätzt,
Es ging nicht mit uns zu Grabe;
Es tragen’s blutjunge Burschen jetzt –
Sie achten’s als theuerste Habe.

25
Es reden von unsrer Victoria

Bei Leipzig nicht viel mehr die Jungen –
Sie reden von Sedan und Saint Privat
Und wie sie Paris bezwungen.

Und Eines noch – Cameraden, kommt her! –

30
Dies wird Euch noch besser gefallen –

Gebt Achtung, präsentirt das Gewehr!
Jetzt kommt das Beste von allen:

Prinz Wilhelm, der Cam’rad von Bar sur Aube,
Hat den Kaiserthron jetzt bestiegen,

35
Und unsere Jungen – ja wahrlich, Gott Lob!

Sie können noch kämpfen und siegen.“

Der Trompeter stützt’ auf die Krücke sich,
Ließ seine Trompete hangen;
Er lauschte, wie ferne so feierlich

40
Der Retraite Töne verklangen. – –


Drei Tage darauf an denselben Ort
Antreten die Alten wieder.
Es rief sie kein Horn, kein Commandowort –
Still ordnen sich Reihen und Glieder.

45
Man trägt einen Sarg zur Pforte hinaus

Bei gedämpftem Trommelschlagen:
Der Trompeter vom Invalidenhaus
Wird nach dem Friedhof getragen.


leicht in die Versuchung eines Kindes, dem der Wunschzettel zur Weihnachtsbescheerung unter den Händen länger und immer länger geräth. Die Leser und vielleicht noch mehr die Leserinnen würden kaum in Verlegenheit kommen, wenn die Aufforderung an sie gerichtet würde, die obigen Bemerkungen auf Grund ihrer eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zu ergänzen und zu vervollständigen. Allein das Gegebene möge genügen, um hauptsächlich einen Gedanken in möglichst helle Beleuchtung zu setzen, der zu guter Letzt mit um so größerer Unbefangenheit ausgesprochen werden möge, als er Vielen die amtlich oder privatim mit Schulen zu thun haben, nicht fremd und unsympathisch sein wird.

Durch unsere Zeit geht das Bestreben, für die Bildung der Jugend nicht weniger als Alles von der Schule zu erwarten. Diese in allen Tonarten wiederholte Verherrlichung der allein selig machenden Schule hat eine frappante Aehnlichkeit mit dem auf politischem Gebiete gegenwärtig stärker als je hervortretenden Bemühen, alles Heil des Volkes ausschließlich vom Staate zu begehren. Der Staat soll nicht nur die Sicherheit des Lebens und Eigenthums verbürgen, nicht nur die Unabhängigkeit des Vaterlandes schützen und den öffentlichen Verkehr vermitteln, sondern er soll womöglich auch das Versicherungswesen in die Hand nehmen, die wirthschaftlichen Angelegenheiten vom grünen Tisch aus regeln und jedem Bürger die Richtschnur seiner religiösen Ueberzeugungen vorschreiben. In ähnlicher Weise soll die Schule nicht blos auf Verbreitung nützlicher Kenntnisse und Fertigkeiten bedacht sein, sondern auch das ganze Erziehungswerk als ihr Monopol in Anspruch nehmen, den Unmündigen das eigene Denken ersparen und durch ihren alles beherrschenden Einfluß das gesammte Volksleben nach Gefallen lenken. Wenn diese Bestrebungen die Oberhand gewännen, so würden wir bald zu einer Schulallmacht gelangen, die nicht weniger bedenklich wäre, als die von bekannter Seite sehnlichst herbeigewünschte Staatsallmacht. Insbesondere würde dadurch die erziehende Mitwirkung des Hauses in beklagenswerther Weise beeinträchtigt werden. Schlimm genug, daß durch die socialen Zustände der Gegenwart das Haus ohnehin einen Theil seiner pädagogischen Macht eingebüßt hat! Ihm den Rest seiner Befugnisse schmälern, hieße die Wurzeln des nationalen Wohles an einer ihrer empfindlichsten Stellen beschädigen. Welche Schule, und sei sie die vortrefflichste, will sich anheischig machen, das Haus zu ersetzen, das Haus mit seiner Vatertreue und seiner Mutterliebe, seiner wohlthuenden Wärme, seinen heiligen Ueberlieferungen, seiner unbeschreiblichen Poesie, seiner Hingebung der Einzelnen an das Ganze und seiner Fürsorge des Ganzen für die Einzelnen? Was will die Schule leisten ohne die hülfreiche Unterstützung des Hauses? [594] Darum sollte sie sich wohl hüten, durch pietätlose Ausdehnung ihrer Macht auf die Competenzen des Hauses und willkürliche Uebergriffe in das Recht der Familie die freudige Mitwirkung der häuslichen Factoren zur leiblichen, geistigen und sittlichen Ausbildung der Jugend zu verscherzen und muthwillig den Haß auf sich zu laden, den jede Tyrannei unweigerlich nach sich zieht.

Wer die Bildersprache liebt, der mag das nahe Verhältniß, in welchem die Schule zum Hause und das Haus zur Schule steht, mit einer glücklichen Ehe vergleichen, in welcher die Schule die Rolle des ernsten, strengen, weitschauenden Vaters, das Haus die der milden, zärtlichen, selbstverleugnenden Mutter vertritt; beiden soll gleichermaßen das Wohl ihrer gemeinsamen Pflegebefohlenen am Herzen liegen, das Wohl der Stütze unseres Alters, der Hoffnung unseres Todes: das Wohl unserer Kinder.




Die Schätze der Rumpelkammer.

Von Victor Blüthgen.

Es gewährt einen eigenen Reiz, die Schätze eines Antiquitätenhändlers zu besichtigen. Der Duft einer oft viele Jahrhunderte weit zurückliegenden Vergangenheit umweht sie; die Phantasie des Geschichtskundigen belebt sich an ihnen, und der Geist einer Zeitepoche, den er in sich aufgenommen hat, gewinnt in tausend kleinen Formen Leib und Blut. Die Physiognomie des täglichen Lebens, wie sie diese Kannen, Krüge, Möbel, Spiegel, Nippsachen, Kleider- und Wäschestücke andeuten, führt dem Gefühle eine Zeit viel unmittelbarer nahe, als die Ueberlieferung ihrer Staatsactionen und großen Kriege; denn an den letzteren sind nur Einzelne betheiligt gewesen, vielfach solche, welche ihre Zeit überragten; dort spiegelt sich dagegen die große Masse wieder, mit ihrem Geschmacke, ihren Sitten und Gewohnheiten, ihrer Arbeit und ihrem Vergnügen.

Ein Gang durch Museen bringt zwar Aehnliches vor Augen, wie der Antiquitätenladen, allein da ist alles so glatt und der unmittelbaren Berührung entrückt. Hier darf ich anfassen und sogar für meinen Gebrauch kaufen, was mir beliebt; die Dinge stehen noch sozusagen mitten im Leben, und die Erde, der Staub, die geheimnißvolle Dunkelheit des Fundortes, die ganze Atmosphäre der armseligen Hütte oder des alten Schlosses haften noch an denselben. Und dazu der Reiz des Wechsels: heute ist etwas da, morgen nicht mehr; dafür ist anderes eingetroffen, frisch entdeckt oder auf eine interessante Weise, oft auf fein diplomatischen Umwegen, erworben. Das hört nie auf, belebt und fesselnd zu sein.

Die meisten Gegenstände, welche das Lager des Antiquitätenhändlers birgt, haben einen größeren oder geringeren Kunstwerth; nur ein mäßiger Theil fällt ausschließlich in die Kategorie der Raritäten und Curiosa. Naturgemäß sind ja diejenigen Bestandtheile der Häuslichkeit mit der größten Sorgfalt geschont worden und haben deshalb vorzugsweise den Wechsel der Zeiten überstanden, welche einen besonderen Werth hatten, und man muß sich dessen erinnern, wenn man sich auf Grund des Erhaltenen in das Aussehen einer bürgerlichen Wirthschaft früherer Zeit hineindenken will. Die geringwerthigen Sachen werden immer die verbreiteteren gewesen sein.

Gerade das aber, was an Kunstformen in Zeichnung, Malerei, Schnitzerei, getriebener Arbeit, Guß, Töpferei u. dergl. m. übrig ist, verleiht jenen Gegenständen einen allgemeineren Werth für das Leben der Gegenwart. Es ist bekannt, daß die Blüthe des deutschen Kunstgewerbes durch den dreißigjährigen Krieg ruinirt worden ist. Nicht nur, daß alles fremde Volk, das sich damals auf deutschem Boden tummelte, raubte und fortschleppte, verdarb und vernichtete, was kunstfrohe Jahrhunderte zuvor geschaffen, nicht nur, daß Deutsche selbst zur Gewinnung von Geldmitteln vielfach Kunstwerke aus Edelmetall auf den Metallwerth reducirten: vor allen Dingen wurde wenig Neues geschaffen, und der Sinn für die alte Kunst und die Ueberlieferung der Technik gingen allgemach verloren. Bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein dauerte der Todeskampf des altdeutschen Kunststils.

Eben weil die Ueberreste der Renaissance Deutschlands in Schmuck und Geräth, welche aus jener Zeit vor dem Unglückskriege stammen, uns so spärlich erhalten geblieben sind und zugleich doch den Höhepunkt der älteren deutschen Kunst bezeichnen, eben deshalb ist jeder Fund aus dieser Zeit so werthvoll. Jede noch unbekannte Form, und wäre sie nur an einem vereinzelt erhaltenen Stuhlbein erkennbar, bereichert unsern Vorrath an originalen Kunstideen und Kunstmustern, durch welche wir allmählich Kunst und Geschmack wieder in die Eintönigkeit unserer Wohnungen einzuführen vermögen.

Denn das achtzehnte Jahrhundert bringt uns keine deutsche Kunst wieder, sondern importirt nur den Kunstverfall Frankreichs nach Deutschland, vom Rococo bis zur Verwilderung im Barock, und nach der kurzlebigen Episode des antikisirenden französischen Imperialstils hört mit den Freiheitskriegen jedes künstlerische Schaffen im Gewerbe auf. Da beginnt jene dürftige Nüchternheit im Häuserbau wie in der Beschaffung der Möbel, Geräthe, Wäsche, des Schmuckes, welche mit der Dutzendfabrikation und der Thatsache endigte, daß man überall, vom äußersten Westen bis zum äußersten Osten Deutschlands, beim Mittelstande dieselben dürftigen, kunst- und geschmacklosen Stühle, Tische, Kommoden, Schränke, Spiegel, Papiertapeten, Rückenkissen und gehäkelten, gestärkten und gebläuten Schutzdeckchen finden konnte.

Die Uebung der Gewerbe vor zwanzig Jahren konnte füglich der Meister entbehren; dieselben durften ruhig spazieren gehen und irgendwo einkehren – die Gesellen, ja die Lehrjungen daheim waren für die Leistungen der Zeit genügend. Jetzt ist da Wandel geschafft und rasch fortschreitende Besserung unverkennbar; denn es ist – und diesmal dem Himmel sei Dank! – „Mode“ unter Gebildeten geworden, sich „stilgerecht“ einzurichten.

Weit zahlreicher, als die Renaissancesachen, sind die französirenden Formen des vorigen Jahrhunderts erhalten. Die besseren sind nicht ohne Reiz, wenn auch vieles nur um des Materials willen, wie die Porcellane und Schmucksachen; anderes ist wegen der sorgfältigen und feinen Arbeit kostbar. Jedenfalls ist der Reichthum an Formen außerordentlich. Manchen mag es reizen, neben Renaissancezimmern auch ein Zimmer à la Rococo auszustatten, dessen spielende, leichte und graziöse Art doch auch unsere Maler gern in Blldern wiedergeben, und man kann sich ein solches Zimmer unschwer in überkommenen, geschickt reparirten Originalbestandtheilen einrichten, welche an Preis den guten Renaissance-Arbeiten beträchtlich nachstehen und ebenso zum Theil den werthvollen Leistungen unserer neu aufblühenden Kunstindustrie.

Nicht diese Erwägungen aber sind es, die mich veranlaßten, dem Leser die Thür einer Antiquitätenhandlung aufzuschließen, sondern zwei andere Gesichtspunkte. Es handelt sich erstens darum, auf Geldwerthe aufmerksam zu machen, welche in so manchem Haushalt, bis in die ärmste Gebirgshütte hinein, als todtes Capital lagern und zum Theil ein Vermögen repräsentiren, das der Antiquitätenhändler unter Berechnung seines Profites mit Vergnügen flüssig macht; es handelt sich zweitens darum, zu verhüten, daß diese Capitalien, und mit ihnen unersetzliche Reste der Kunst unserer Vorfahren, aus Unkenntniß ihres Werthes zerstört werden.

Da steht irgendwo in einem einsamen Häuschen ein alter Krug, mit Figuren dran und bunt bemalt; es ist einer jener „Apostelkrüge“, von denen Kortüm’s „Jobsiade“ singt:

„Apostel nennt man große Krüge;
Darein geht Wein und Bier zur Genüge.“

Der Besitzer findet ihn ganz hübsch, aber welche freudige Ueberraschung würde es in einer Nothlage für ihn sein, plötzlich zu erfahren, daß man diese Krüge mit ein- bis dreihundert Mark bezahlt! Bei einer Hökerin steht ein alter Tisch mit eigenthümlich geformtem Fuß; der Tisch ist wurmstichig, zerbrochen; er soll zerhackt werden. Vielleicht kann diese Frau mit dem Erlös aus dem einzigen Tischfuß sich die Heizung für ein paar Monate kaufen. Irgendwo befindet sich ein alter bunter Porcellanofen mit Figuren dran; er taugt für seinen Zweck nicht mehr, und der Ofensetzer sagt: er sei nur zum Wegwerfen gut. So wird er denn ohne Umstände abgetragen, zerschlagen, auf dem Kehrichthaufen untergebracht. Und für ein paar dieser Figurenkacheln hätte der Antiquitätenhändler soviel bezahlt, daß die Besitzer sich den neuen Ofen davon hätten bauen lassen können. Die Bauern eines thüringer Dorfes fanden bei Verlegung einer Gruft auf dem Gottesacker eine alte kunstvoll gearbeitete Gnadenkette in Goldemail. Mein [595] Gewährsmann bekam sie zum Kauf angetragen, ließ aber den Leuten Zeit, sich über den Werth zu informiren; schließlich forderten sie fünfzehnhundert Mark. Er erwarb sie; sie repräsentirte das Zehnfache und mehr ihres Goldwerthes. Wie unvorsichtig oft Leute mit diesen Werthobjecten umgehen, davon bekam mein Gewährsmann ein drastisches Beispiel in die Hand. Er gab sich Mühe, aus einem Nachlasse etwas zu erwerben, der einer Wirthschafterin geworden, fand aber wenig Geneigtheit. „Hier, diese Dose will ich Ihnen schenken,“ rief endlich die Ungeduldige, „unter der Bedingung, daß Sie die Hand von dem Uebrigen thun!“ Und der Werth dieser Dose? – Tausend Mark.

Wenn nun auch die Ueberbleibsel aus früheren Jahrhunderten sämmtlich Werth haben, selbst zum großen Theil beschädigte Sachen, ja spärliche Reste, wie die Fetzen von gemusterten Zeugen, Spitzen, einzelne Möbeltheile, Beschläge u. dergl. m., welche Spuren von Kunst zeigen, so beabsichtige ich doch nicht, die Illusion zu erwecken, als wären mit jedem Stück Unsummen zu lösen. Der Werth ist ein sehr relativer und oft in kurzer Zeit wechselnder, je nach Angebot und Nachfrage. Gewöhnlichere und häufigere Sachen sind überhaupt billiger; so werden einfache Krüge und Gläser nur mit einer Mark bis zu einem Thaler bezahlt, die kostbaren, wie die genannten Apostelkrüge, Wappengläser, Kurfürstenkrüge und -gläser, die Kölner Pinten und andere mit hunderten. Die einfachsten alten Handtücher gelten vier bis zehn, die alten schönen Leinenhandtücher mit Spitzenbesatz bis fünfzig und mehr Mark.

Selbst der Antiquitätenhändler ist nicht immer sicher über den Werth einzelner Objecte; mein Gewährsmann verkaufte ein paar Gläser für fünfzig Mark und sah sie kurz darauf für zweihundert versteigern. Alte Portraits hatten früher wenig Werth; neuerdings hat sich derselbe durch einen sehr lustigen Umstand auffällig gesteigert: In Amerika ist es seit einiger Zeit bei einigen reichen Sonderlingen Mode geworden, sich – Ahnenbilder anzuschaffen. Natürlich weiß von diesen rasch reichgewordenen Ahnenlustigen ein großer Theil kaum etwas von seinem Großvater, aber der Amerikaner ist praktisch. Er kauft sich eine Anzahl alter Portraits zusammen, hängt sie auf – und die Ahnen sind da. Seine erfinderische Phantasie wird sich unschwer die Geschichte der einzelnen Personen und ihre Namen zurechtstellen, und schon der Enkel wird, die „Familientradition“ im Kopfe, ehrfurchtsvoll zu diesen altergebräunten „Vorfahren“ aufsehen. Große Mengen solcher alter Portraits werden von Hamburg aus nach Amerika exportirt.

Hoch im Preise stehen Metallarbeiten. So machen sich alte Rüstungen und Waffen, auch andere Eisenarbeiten, wie Gitter, sehr gut bezahlt, und reich gearbeitete Zinn- und Kupfersachen aus der Renaissance, namentlich Innungsgegenstände, werden zum Theil mit Silber aufgewogen. Weit kostbarer noch sind im Verhältniß die besseren Sachen in Edelmetall, besonders wenn sie Steinbesatz haben. Auch die guten alten Porcellane, das Meißner, Alt-Wiener, die von Sèvres und Wedgwood, das alte chinesische, sind sehr kostbar, vor allem Vasen, Figuren, Gruppen, Flacons; je älter sie sind, desto werthvoller schätzt man sie.

Es ist schwer, mit einem Blick über die Antiquitätenvorräthe einer bedeutenderen Handlung sich in der Mannigfaltigkeit der Gegenstände zurecht zu finden, die hier in Frage kommen.

Eine leicht unterscheidbare Gruppe bilden die Porcellane in Geschirren, Vasen, Figuren, die parallelen Arbeiten in Steingut, Majoliken, Fayencen. Den Löwenantheil in Steingut haben die Krüge, welche oft ihre Bestimmung als Hochzeits-, Trauerkrüge u. dergl. m. verrathen; das Uebrige sind zumeist urnenartige Sachen, Kannen, Schüsseln, unter welch letzteren die sonnenblumenartigen Taufschüsseln auffallen.

Von Glassachen sind besonders werthvoll die Gläser mit alter Emailmalerei, alte Fenstermalerei und gut geschliffene Sachen; sehr zahlreich treten die buntgemalten Gläser des vorigen Jahrhunderts auf, deren Farben aber nicht dauerhaft sind. Letztere Epoche zeichnet sich auf dem Gebiete der Uhren durch ungemeine Mannigfaltigkeit und oft durch die barocksten Formen aus, aber auch durch zuweilen äußerst künstliche Arbeit mit theurem Material; ebenso bietet diese Zeit die mannigfachsten Bijouteriewaaren, darunter Spielereien der wunderlichsten Art in Elfenbein, Silber- und Goldfiligran, geschnittenen Steinen u. dergl. m.

An Papiersachen fallen die zahlreichen Fächer aus dem vorigen Jahrhundert in’s Auge; daneben Bilderbogen mit Caricaturen. Von Büchern nehmen natürlich die geschriebenen, durch farbige Initialen oder gar bunte Handzeichnungen geschmückten aus der Zeit vor der Erfindung der Druckerkunst die erste Stelle ein.

Nun kommen Stoffe daran, Erbstücke an Taufkleidern, Hochzeits- und Festgewändern, die zuweilen durch Jahrhunderte von einer Generation der Familie zur andern gewandert sind, zum Theil wunderschöne Arbeiten der Handstickerei, auch andere durch die kunstvolle weibliche Hand geschmückte Gegenstände, ferner Gobelins, Spitzen, letztere unter Umständen enorm bezahlt, wie die Brabanter und Brüsseler.

Eine ganz eigene Kategorie bilden die Kirchensachen, in Metallgegenständen, Gewändern, Decken, Spitzen u. dergl. m., und sie liefern oftmals künstlerische Cabinetstücke von höchstem Werth.

An Möbeln sind aus der Renaissancezeit große Wäscheschränke, Hölzstühle, vielfach mit schöner Schnitzerei an der Lehne, auch beschlagene Truhen und Laden, namentlich Innungsladen, reichlicher erhalten, seltener die zierlicheren Schränke mit Malerei oder eingelegter Arbeit und Schnitzwerk. Zahlreicher sind die Möbel des vorigen Jahrhunderts mit ihren geschweiften und gerundeten Formen und den Bronzebeschlägen vertreten. Die gerundete Linie, ferner in der Verzierung die Muschel und das die Natur nachahmende, nicht stilisirte Blumenornament, sowie der Bronzebeschlag sind für diese Zeit charakteristisch. Beschädigte und nur in Bruchstücken erhaltene Exemplare lassen sich ergänzen und brauchbar gestalten, wie ich bei meinem Gewährsmann sah, der auch die Bronzebeschläge nachgießen läßt, und der Umstand, daß er an letzteren alljährlich für zwei- bis dreitausend Mark verbraucht, bezeugt, daß die Liebhaberei an diesen Möbeln ziemliche Verbreitung erlangt hat, ebenso, daß von Zeit zu Zeit veranstaltete Auctionen von für den Gebrauch hergerichteten Ueberresten des vorigen Jahrhunderts stets ein gutes Resultat erzielen.

Interessante Ergebnisse liefert ein Blick auf die Fundorte dieser Reste einer vergangenen Zeit; der Antiquitätenhändler auf der Suche operirt, indem er sich diese Ergebnisse zu Nutze macht, mit einem gewissen Plane. Am meisten versprechen Gegenden, welche von den großen Kriegen der beiden letzten Jahrhunderte verschont geblieben sind; so die höher gelegenen Gebirgsgegenden, Fichtelgebirge, Harz und andere, ferner diejenigen Striche, welche in der Nähe ehemaliger Stätten der Wohlhabenheit und Kunstpflege liegen, und hier wieder besonders Orte, welche mit denselben durch belebte Verkehrswege, namentlich Wasserstraßen, verbunden waren. Ziemlich häufig quellen die Schätze aus verborgenen Wandschränken alter Häuser und Schlösser, deren gar manche noch heute der Entdeckung harren. Mein Gewährsmann hat selbst mehrere solcher Verstecke aufgespürt, so einen überklebten Wandschrank mit zahlreichen Bronzesachen von Werth. Alte Münzen wurden mit Vorliebe in der Nähe der Feuerstätten, um Oefen, Kamine vergraben, wie noch heute die Goldgräber der Minen ihren Fund gern unter den Feuerstätten vor den Augen habsüchtiger Genossen schützen. Alten Hausrath, Kleidung, Wäsche u. dergl. bergen Rumpelkammern und Böden, letztere vorzugsweise – es ist sonderbar – in der Gegend der Schornsteine. Sehr bedeutsam als Fundorte sind die Sacristeien alter Kirchen und noch manches arme Kirchspiel besitzt da ein Vermögen, ohne es zu wissen. Die kostbarsten Sachen aber liegen in Grüften verschlossen, und die Ueberführung von Särgen und Resten aus Erbbegräbnissen und Kirchengewölben sollten nie ohne Bewachung vorgenommen werden; denn massenhaft wird hier verschleppt, gestohlen und durch heimliches Einschmelzen ruinirt. In einem thüringischen Orte fand man vor einiger Zeit ein paar der theuersten Perlen, wahre Prachtstücke, auf Gräbern verstreut, welche bei einer solchen Gelegenheit verschleppt worden waren.

Doch genug! Die vorstehenden Mittheilungen werden genügen, um die Aufmerksamkeit in weiten Kreisen auf die Schätze der Rumpelkammer zu lenken. Nur möchte ich im Interesse der Volksmoral und Unkundiger, welche ich gern vor Schaden bewahrt sähe, hinzufügen, daß eine freie Verfügung über solche Antiquitäten nur Denjenigen zusteht, welche ein directes Eigenthumsrecht an denselben, durch Erbschaft u. dergl., haben. Leider sind vielfach die Gesetze über „Funde“ im engeren Sinne für den Finder und den billigen Wunsch einer baldigen Verwerthung des Gefundenen so ungünstig, daß in ihnen für den armen Mann die Versuchung liegt, solche Sachen, die ihm ein Glückszufall in den Schooß wirft, heimlich zu veräußern und, was für die Kunst das Schlimmste ist, sie zuvor durch Einschmelzen unkenntlich zu machen.



[596]

Zur Poesie unserer Cavallerie-Attacken.

Eine Manöver-Plauderei zum Sedan-Tage.
Von Fedor von Köppen.
Mit Originalzeichnungen von Otto Fikentscher.

Es liegt doch viel Poesie in dem Soldatenleben. Man suche sie nur nicht auf den Casernenhöfen, wo das ABC des Gamaschen-Exercitiums gedrillt wird, nicht auf der Reitbahn, wo die jungen Recruten zum ersten Male ein Roß besteigen lernen!

Ulanen-Attack beim Manöver.

– aber schon die Feldmanöver, welche die Probe für die Kriegstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit der Truppen bilden sollen, leiten in die Poesie des Kriegslebens hinüber.

„Früh Morgens um vier, eh’ die Hähne noch kräh’n, da sattelt sein Roß der Ulan,“ um in der Vorhut dem ganzen Corps voranzureiten, das Terrain aufzuklären und den Feind aufzusuchen. Zwei Reiter, welche die vorderste „Spitze“ bilden, sprengen voran; ein dritter folgt als sogenannter „Verbindungsmann“ zwischen jenen und dem Vortrupp, und wenn die Reiter an der Spitze etwas Wichtiges vom Feinde entdecken, sprengt er sofort zurück und rapportirt dem Führer der Vorhut. In den überraschenden Fällen – wie ein solcher auf unserer untenstehenden Abbildung vorliegt – benachrichtigt er auch wohl den Führer durch einen Signalschuß. Die beiden Reiter der Spitze sprengen muthigen Herzens und scharfen, spähenden Blickes nach allen Seiten lugend auf der Landstraße voran durch Forst und Flur. „Nichts vom Feinde gesehen?“ ist die immer wiederkehrende Frage, mit welcher sie jeden Vorübergehenden anhalten oder auch den Bauer hinter dem Pfluge ausforschen, und der biedere Landmann, der in seinem Leben noch keinen kriegerischen Feind in seinen Fluren erblickt hat, schüttelt, fast verwundert über die merkwürdige Frage, das Haupt. Ist er doch gewohnt, in jedem Soldaten – gleichviel ob er die Mütze oder die Czapka, die Drilljacke oder den Tuchrock trägt – einen Landsmann oder „Gutfreund“ zu begrüßen.

„Nee, Fründschaff,“ antwortet er, „keenen Feind hab’ ich nich zu sehn gekriegt, blos die Hulaner. Wenn Ehr die meent, da stecken noch ’ne ganze Menge hinter dem Walde, die sind nicht weit weg von hier.“ Und in der That, zwischen den Föhren hindurch sieht man es

Die erste Begegnung mit dem Feinde.

[597]

Husaren-Attacke in Linie.

Ankunft im Quartier.

[598] schimmern und blinken; da flattern schwarz-weiße Fähnlein. Auch dort sind Ulanen, aber nicht von den Unseren; der verschiedene Anzug macht sie als Feinde kenntlich. Die beiden Reiter der Spitze halten die Rosse an, um schärfer zu beobachten; der Verbindungsmann feuert sein Pistol[2] ab; der Vortrupp im Hintergrunde schließt sich zusammen und macht sich gefechtsbereit. Aber noch kommt es zu nichts. Auch dem Feinde drüben kommt es vorläufig mehr darauf an, zu beobachten und zu erkennen, als zu fechten. Auch er hat sich, wie die Unseren, vorsichtig mit Spitze und Eclaireurs umgeben.

Von beiden Seiten bemüht man sich, diesen Schleier des Gegners zu lüften und dahinter zu schauen oder auch, wo dies nicht angeht, ihn gewaltsam zu zerreißen So gleicht die erste Begegnung mit dem Feinde einem Zeckspiele. Hier taucht plötzlich ein Reitertrupp auf und verschwindet dann ebenso plötzlich, um sogleich darauf an anderer Stelle wieder zu erscheinen; hier vorsichtiges Ausweichen, dort trotziges Stirnbieten! Hier und da kommt es auch wohl schon zu vereinzelten kleinen Attacken. Da jauchzt das Ulanenherz auf, wenn die lustigen Schaaren mit eingelegter Lanze, mit verhängten Zügeln, stiebenden Hufes über das Blachfeld dahinbrausen. Ja, wenn die bekannten Signale ertönen, die zum Uebergang aus dem Galopp in die schnellere Gangart den Fanfaro ndu die Carrière, auffordern, dann spitzt wohl auch der alte Gaul die Ohren, der vom königlichen Dienstpferde längst zum Philister degradirt ist und nun an Sonntagsreiter vermietet wird; wenn die Reiterlinie dann zur Attacke übergeht, wird Reiter und Roß mit fortgerissen in den sausenden Wirbelwind der Cavallerie-Attacke – ein Schicksal, das auf unserem ersten Bilde (vergl. Abbildung S. 596) dem wohlbeleibten Handlungsreisenden auf dem linken Flügel der attackirenden Ulanen bereitet ist.

„Wie, was?“ fragt der Ulan neben ihm in Reih und Glied, verwundert über die unerwartete Verstärkung durch den spießbürgerlichen, bügellosen Reiter in carirten Kattunbeinkleidern, ohne Lanze, ohne Säbel, „was? ein Commis-Volontöhr? Nur Muth, Männeken! Es wird gleich Appell geblasen.“

Und so ist es auch. Unser Ulan weiß wohl, daß die Friedensattacken nach den Manöverbestimmungen nicht weiter geführt werden dürfen, als bis auf fünfzig Schritt vom Feinde. Da wird auch unser geängsteter „Commis-Volontär“ wieder zum Athmen kommen.

Der weitere Verlauf des Manövertages bringt noch öfters Gelegenheit zu Cavallerie-Attacken in größerem Maßstabe, in Linie und en échelons, in geschlossener Colonne und in Schwärmattacken. Wer möchte sich dem imponirenden Eindrucke einer Cavallerie-Attacke verschließen, wenn die lange, schimmernde Linie der Reiter auf muthigen Rossen in vollem gestrecktem Laufe über die dampfende Ebene dahinstürmt zum sausenden, brausenden Choc! –

Auch unsere Dichter haben der Poesie der Cavallerie-Attacken sich nicht verschlossen; das beweist vor allen Schiller in der schönen Schilderung, welche der schwedische Hauptmann von dem Angriffe der Pappenheimer bei Neustadt und dem Tode ihres Führers, des Oberster Piccolomini, entwirft (10. Auftritt des 5. Actes von „Wallenstein’s Tod“), sowie in der begeisterten Rede des ersten Kürassiers in „Wallenstein’s Lager“:

„Die Pferde schnauben und setzen an;
Liege wer will mitten in der Bahn,
Sei’s mein Bruder, mein leiblicher Sohn,
Zerriß mir die Seele sein Jammerton,
Ueber seinen Leib weg muß ich jagen“ –

Aber sachte, sachte, hochverehrter Dichter-Kürassier! Hier scheint Ihr classischer Pegasus mit Ihnen durchzugehen und über die Formen der damaligen Cavallerietaktik hinwegzusetzen. Von einer solchen wilden Jagd konnte bei den Reiterangriffen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges gar nicht die Rede sein. Damals war die Hauptmasse der Reiterei nicht – wie heute – die blanke Waffe, sondern das Feuergewehr. Das Hauptgewicht des Reiterangriffs beruhte nicht – wie gegenwärtig – auf der gewaltigen, niederschmetternden Kraft des Anritts in vollster Geschwindigkeit und dem wuchtigen Einhauen mit der blanken Waffe, sondern wenn die Cavallerie attackirte, sei es gegen Reiterei oder Fußvolk, so ritt sie gewöhnlich höchstens im trägen Mittelgalopp – denn mehr konnten ihre schwerfälligen Pferde selten leisten – bis auf vierzig, fünfzig Schritt gegen den Feind heran. Dann wurde gehalten; die Carabiner wurden losgehakt, und es wurde Feuer gegeben. Erst einem Zieten und Seydlitz war es vorbehalten, der Cavallerie durch naturgemäße Verwendung die ihr gebührende bedeutende Stelle wieder zu erobern.

Der preußische Schlachtendichter C. F. Scherenberg schildert uns in seinem „Leuthen“ eine preußische Attacke aus dem siebenjährigen Kriege:

„Und über die schlanken Flanken Schenkel an Schenkel geklebt,
Helfend mit allen Hülfen der leichte Reiter schwebt,
Schmächtigend sich und stützend schier bis zum Verschwind,
Sich in sich verkriechend, zu schneiden den Wind,
Gangart aus Gangart, Schritt, Trab, Galopp, Carriére,
Bis weg von der Erde in’s Ventre à terre.

Und Alles, was darunter, muß über den Ritt;
Die Straßen steigen, verwolken und fliegen mit,
Bis Reiter, Roß und Straße eine Wolke, nichts mehr,
Ziehend über die Erde, ein Wetter tief und schwer,
Drinnen ein Brausen, Rauschen, wie strömend Wasser und Wind,
Bis wieder die brausenden Wetter die sausenden Reiter sind.“

So Scherenberg; wenn aber der Dichter seine Schilderung mit den gewagten Versen einleitet:

„Und es beginnt ein Reiten so bei Roßbach erst begann
Von dem wir nichts mehr kennen, als daß man’s nicht mehr kann –“

so erinnert sich der Verfasser dieses Aufsatzes, dagegen schon bei dem ersten Erscheinen des Scherenberg’schen Schlachtgedichtes „Leuthen“ (1852) Widerspruch erhoben und – obgleich damals selbst junger Officier bei der Infanterie – die Lanze für seine Cameraden zu Rosse eingelegt zu haben, indem er kühnlich behauptete, daß diese heute noch könnten, was ihre Vorfahren bei Roßbach und Leuthen geleistet.

Unsere Reiterführer, der alte Wrangel, Prinz Friedrich Karl, der „rothe Prinz“ – wie er nach der Uniform seines Zieten-Husarenregiments, die er mit Vorliebe trägt, genannt wurde sorgten auch bei den Friedensübungen dafür, daß der alte, frische Reitergeist und mit ihm die Poesie im Reiterleben nicht einschliefe. Vor Allem pflegte der Prinz von Preußen, unser jetziger Kaiser, den alten ritterlichen Geist bei der Cavallerie und hielt bei den Feldmanövern stets auf ein schneidiges Reiten. Verfasser erinnert sich, wie der Prinz an einem Manövertage einmal in der Kritik nachdrücklich hervorhob: „Man legt vieler Werth darauf, wohlgenährte und runde Pferde in der Schwadron zu haben und bei der Parade vorzuführen, aber, meine Herren, was helfen die runden Pferde, wenn sie bei der Attacke lahm gehen?“

Mit der „Kritik“, welche der älteste Officier oder bei seiner Anwesenheit auch der Kaiser selbst zu geben pflegt, sind die Feldmanöver des Tages geschlossen, nicht aber haben damit die Anstrengungen der Truppen, welche oft noch einen weiten und beschwerlichen Marsch bis in ihre Quartiere zurückzulegen haben, ihr Ende erreicht. Da die Cavallerie gewöhnlich die entfernteren Cantonnements angewiesen erhält und zur Schonung der Pferde auch nur im Schritte nach dem Quartiere reitet, während die Infanterie rüstigen Schrittes unter Sang und Klang die nächsten Wege einschlägt, so kommt es oft vor, daß die letztere der ersteren den Vortritt abgewinnt. Zuweilen passiren da auch kleine Mißverständnisse, wie ein solches das Motiv zu einem unserer Manöverbilder gegeben hat (vergl. S. 597):

Das Infanteriedetachement ist soeben angekommen, die Quartierbillets sind ausgetheilt und die Mannschaften schicken sich an, die ihnen zugewiesenen Quartiere zu beziehen; da erscheint plötzlich noch ein Trupp Ulanen am Orte. Der Unterofficier springt vom Pferde und meldet sich stramm und pflichtschuldigst bei dem Lieutenant des Infanteriedetachements mit so und so vielen Ulanen und Pferden als Einquartierung.

„Lieber Freund, das muß ein Irrthum sein. Hier liegen ja schon meine Mannschaften; hier werden Sie schwerlich noch Unterkommen für Ihre Leute und Stallung für Ihre Pferde finden Zeigen Sie doch einmal Ihre Ordre!“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

[599] „Ja, hier steht ja doch aber, daß Sie nach Glubberat sollen; das liegt ja noch eine Meile weiter von hier in jener Richtung. Dieses Dorf hier heißt ja Habbelrat.“

„Verzeihen der Herr Lieutenant: In Glubberat liegt unser Stab mit der ersten Schwadron. Ich selbst komme soeben von dort und bin von meinem Rittmeister hierher geschickt worden.“

„Unmöglich! Ich habe ja Ihren Stab mit der ersten Schwadron abbiegen sehen nach Gierat. Sie sollen nach Glubberat; glauben Sie mir nur!“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

Der Ulanenunterofficier schwingt sich wieder zu Rosse und reitet mit seiner Truppe von dannen, so wie er gekommen. Glubberat, Habbelrat, Gierat – so schwirrt es in seinem Kopfe wie ein Hummelschwarm. Ob er endlich das richtige von den drei verfänglichen Dörfern errathen und getroffen habe, das wissen wir nicht mehr. Unser Lieutenant richtet sich indessen mit seinen Mannschaften so bequem wie möglich in Habbelrat ein und wird bis zum Aufbruche am anderen Morgen nicht mehr in seinen Quartieren behelligt.

Die Schuld an dem kleinen Mißverständnisse traf übrigens, wie wir später erfuhren, nicht unseren wackeren Ulanenunterofficier, sondern einen Vorgesetzten, welcher in Namensverwechselungen allerdings das Mögliche leistete und welchem die benachbarte Lage der drei namensverwandten Dörfer Glubberat, Habbelrat und Gierat auf dem Manöverplan die größten Verlegenheiten bereitete. Er führte nach diesem Manöver unter seinen Cameraden den Beinamen „Herzog von Gierabbel“.

Unser Maler bringt uns noch das Bild (S. 597.) einer forschen preußischen Husaren-Attacke in Linie, und wir erlauben uns, als Commentar dazu und zugleich als einen kleinen Beitrag zur Poesie der Cavallerie-Attacken im Frieden die nachfolgenden Verse zu geben. Dieselben beziehen sich eigentlich auf die große Cavallerie-Attacke, welche Wrangel zum Schlusse des für seine Zeit epochemachenden Exercirens einer großen Cavalleriemasse (56 Escadrons mit 32 reitenden Geschützen) auf dem Tempelhofer Felde bei Berlin (im Herbst 1843) ausführen ließ.

„– – Es folgte der Choc; im Schritt fing er an, dann Trab, Galopp und Carrière,
Noch etwas verhalten den Hügel hinan, dann im sausenden Ventre à terre,
Die sprühenden Nüstern vorgestreckt, ein Strich vom Schweif zu den Mähnen;
Die Erde dröhnte; es wirbelt’ der Staub hoch auf von den sandigen Plainen –
Die Säbel hoch über den Häuptern gezückt, daß sie pfeifend die Lüfte durchschnitten –
Es war, als wäre des Zielen Geist in jeden Reiter geritten,
Je weiter, je wilder, die Zügel verhängt, Um jetzt mit der höchsten Gewalt,
Mit den vollen Kräften von Mann und Roß auf den Feind zu stoßen, und – H-a-l-t!
Erschallt das Signal, und festgebannt, eine Mauer, steht das Ganze.
,Präsentirt das Gewehr!‘ – die Hymne tönt: ,Heil dir im Siegerkranze!'“

Ja, sie haben's auch in der langen Friedensperiode nicht verlernt, unsere Reiter, gleichviel ob sie den blanken Küraß tragen oder den blauen Waffenrock, ob sie den Säbel schwingen oder die Lanze einlegen, und sie können's heute noch – das haben die Tage von Mars la Tour, Sedan und Orleans bewiesen. Der Geist der Zieten und Seydlitz ist nicht gestorben; er ist nur tiefer und weiter eingedrungen in unser Volk, welches bei aller Friedfertigkeit und Verträglichkeit doch die altgermanischen Tugenden der Wehrhaftigkeit und Waffentüchtigkeit bewahrt und bewährt.





Blätter und Blüthen.


Die Erdpyramiden des Finsterbachthales. (Mit Abbildung Seite 589.) Im südlichen Tirol zwischen Bozen, dem rhätischen Florenz, und Kastelrut, der einstigen römischen Burg, liegt die eigentümliche Landschaft, welche unser heutiges Bild dem Leser vorführt. Dort, wo der Finsterbach seine schäumenden Wellen dem Eisack zutreibt, erhebt sich an seinem rechten User der große Wald der Erdpyramiden: mächtige Säulen aus thonigem Porphyr, welche, in buntem Gewirr an einander gereiht, dastehen. Jeder dieser thönernen Kolosse trägt einen Felsblock als riesigen Steinhelm auf seinem Haupte, und manchen von ihnen krönt eine einsame Fichte, einem gewaltigen Federbusch vergleichbar. So lange nun ein solcher Riese mit dieser steinernen Sturmhaube geschützt ist, kann er sicher dem tobenden Unwetter trotzen. Gelingt es aber der Macht der Elemente, den Felsblock von der Spitze der Erdpyramide herunterzuwälzen, so erliegt sie bald dem zerstörenden Einflusse der Gewitter und stürzt krachend zusammen. Also besteht auch hier unaufhörlich seit Jahrtausenden der großartige Kampf, welchen Berge und Wolken gegen einander führen, und mächtiges, wild zerklüftetes Gerölle bezeichnet den fortschreitenden Sieg der „himmlischen Mächte“.

Dieser steinerne, stille Wald, der unsere Bewunderung erregt, sproß indessen nicht aus der Erde hervor, wie sein grüner, rauschender Nachbar; er wuchs vielmehr von oben nach unten. Einfach ist seine Entstehungsgeschichte. Die Wasser des schmelzenden Gebirgsschnees und der brausenden Gewitter lösen das thonige Gestein, aus dem hier die Hauptmasse des Berges besteht, allmählich auf, und nur dort, wo zerstreut feste Felsblöcke daliegen, wird die Unterlage derselben vor dem zerbröckelnden Einfluß der Witterung bewahrt. Jahraus jahrein wiederholt sich dieses Schauspiel, und der unermüdlich herabfallende Wassertropfen durchwühlt den Berg, bis all der Stelle desselben nur ein Wald der felsgekrönten Erdpyramiden in die Lüfte ragt.

Aehnliche Wundergestalten zaubert ja in höheren Alpenregionen der sengende Strahl der Sonne vor unsere Augen. Auch auf den Eisfeldern der Gletscher liegen zerstreut gewaltige Felsblöcke, welche dem Tagesgestirn wehren, daß es die unter ihnen liegenden Eismassen schmelze, und ehe der Sommer vergeht, entstehen dort oben die bekannten Gletschertische, die zu ihren Schwestern, den Erdpyramiden im Thale, grüßend hinabschauen.

Aber lassen wir unsern Blick weiter über die Landschaft des Finsterbaches schweifen! Hinter dem kleinen Dorfe auf der Höhe, mit dem schlanken Kirchthurm – es ist Mittelberg, ein beliebter Ausflugsort der Bozener – ragen gewaltige Felsmassen empor, die berühmte Dolomitgruppe des Schlern. Wüst und öde erscheint uns das steinige Hochplateau, einen grellen Gegensatz zu der benachbarten grünenden, von zahlreichen Heerden und munterem Sennervolke belebten Seisseralpe bildend. Und doch, wie oft weiß sich der nackte Berg in erhabene Schönheit zu kleiden! Wenn auf seine gegen Bozen steil abstürzende, zackig zerklüftete Wand die rothen Strahlen der Abendsonne fallen, dann entrollt sich ein purpurfarbenes, zauberhaftes Bild vor unseren Augen, und wir sehen entzückt, wovon wir in der Jugend gehört nunmehr in Wirklichkeit – „König Laurin's wunderbaren Rosengarten“. Da wird es lebendig in dem kahlen Berge; die alte deutsche Sage webt buntfarbig da drinnen. Wunderbare Bilder ziehen an unserem geistigen Auge vorüber. Aus den Spalten der glühenden Alpe tritt der Zwergkönig Laurin hervor und raubt die ritterliche Jungfrau. Da ziehen die Helden gegen den Berg, und die Rosen des Zwerges werden zertreten. Streit und Kampf, List und Verrath, Rache und Versöhnung klingen schließlich in gewaltigen Accorden zu einem epischen Gesange zusammen.

Glücklich, wer diese Wunder der heimischen Berge, wer diese sagenumwobenen Stätten sehen kann! Das Bild des Künstlers ist der schönen Wirklichkeit nicht ähnlicher als das Echo dem über den Bergen rollenden Donner; niemals vermag der Stift des Zeichners die Majestät der Alpenwelt vollständig wiederzugeben.






Noch einmal etwas vom Blumendünger. Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre haben die deutschen Versuchsstationen durch ununterbrochene Verbesserung der Untersuchungsmethoden festgestellt, daß alle grünen Pflanzen, von der einfachsten einzelligen Alge an bis zu den höchst entwickelten Dikotyledonen, in freier Natur von den vollständig desorganisirten Stoffen leben, welche die Atmosphäre, die Gewässer und der Boden ihnen darbieten. Die chlorophyllhaltige Pflanzenzelle steht zwischen den Gebilden der unorganischen Natur und denen des Thierreichs in einem wahrhaft wunderbaren Lichte, insofern sie in ihrem Inneren alle organische Materie erzeugt, aus welcher der Pflanzenkörper und auch der Thierkörper besteht; denn die Substanz des Pflanzenkörpers dient dem pflanzenfressenden Thiere zur Nahrung und dieses dem Fleischfresser. Alle die in dieses Gebiet einschlagenden Fragen wurden im Laufe der angegebenen Zeit experimentell erledigt, in der Absicht, durch Feststellung der materiellen Bedürfnisse der höher organisirten Pflanze, dem praktischen Feldbau mit Sicherheit lehren zu können, was Dünger sei, und dahin präcisirt, daß im großen Ganzen zur Ernährung der höher organisirten Pflanze nothwendig sind die vier Basen: Kali, Kalkerde, Talkerde, Eisenoxyd, ferner die vier Säuren: Kohlensäure, welche die Blätter ohne weiteres Zuthun von Menschenhand aus der Atmosphäre aufnehmen, Salpetersäure, Phosphorsäure und Schwefelsäure, welche die Pflanzen mit Hülfe der Wurzeln dem Boden und der Bodenflüssigkeit entziehen und für deren Wiederersatz der Landwirth ebenso sehr Sorge tragen muß, wie für den der genannten Basen; dazu noch das indifferente Wasser – im Ganzen also neun Oxyde. Vorausgesetzt, daß den Blättern behufs Aufnahme der Kohlensäure frische Luft genug zu Gebote gestellt wird, kann man alle übrigen noch erforderlichen Oxyde durch Auflösen von fünf Salzen in Wasser zu einer vollständigen Nährstofflösung vereinen, in welcher die Landpflanze ohne jeden Boden fortwächst und gedeiht. Die relativen Verhältnisse unter den einzelnen Salzen bleiben für alle Pflanzen dieselben, ertragen aber auch innerhalb gewisser Grenzen Abänderungen, ohne Vortheil und Nachtheil für die Pflanze.

Die Untersuchungen, von welchen hier die Rede ist, sind, wie man ersieht, bis zur neuesten Zeit Eigenthum der Fachjournale geblieben; sie finden sich vorzugsweise in der deutschen Zeitschrift „Die landwirthschaftlichen [600] Versuchsstationen“. Erst in den letzten Jahren sind Blumenzüchter darauf aufmerksam geworden, und es wird manchem derselben willkommen sein, die Vorschrift zur Mischung dieser Salze zu besitzen um das Salzgemisch in jedem Droguengeschäft sich herstellen zu lassen. Diese Vorschrift ist folgende: Man mischt das Pulver von vier Gewichtstheilen salpetersaurem Kalke mit einem Gewichtstheile salpetersaurem Kali, einem Gewichtstheile phosphorsaurem Kali, einem Gewichtstheile Bittersalz und einer äußerst geringen Menge eines Eisenoxydsalzes, am besten von phosphorsaurem Eisenoxyd.

Bei der Blumenzucht in Erde fällt dieses Eisensalz ganz weg, weil jede Erde viel mehr Eisenoxyd enthält, als die Pflanze bedarf; nur wenn die Pflanzen, ohne jeden Boden, in der wässerigen Lösung der Salze gezogen werden. ist der Zusatz des Eisensalzes geboten. Die Concentration der Lösung soll bei der Blumenzucht so beschaffen sein, daß ein Gewichtstheil von dem ganzen Salzgemisch in 2000 Gewichtstheilen Flußwasser enthalten ist. Auf 1000 Liter Wasser kommen also 500 Gramm oder 1 Pfund Salzgemisch.

Es besteht somit, wie in der Notiz Seite 56 „Gartenlaube“, Nr. 3, 1881, schon richtig angegeben, dieses Salzgemisch der Hauptsache nach in salpetersauren Salzen, wenn man blos die Gewichtsmengen in’s Auge faßt. Dabei aber ist zu bemerken daß bezüglich der Ernährung der Pflanze jedes der anderen Salze ebenso nothwendig ist, wie der Kali- und Kalksalpeter. Bei Benutzung der Pflanzensalze in größerem Maßstäbe ist daher zu rathen, Proben davon an einen Chemiker zur Analyse einzusenden und namentlich ermitteln zu lassen, ob die richtige Menge an saurem phosphorsaurem Kali und statt dessen nicht das gewöhnliche viel billigere phosphorsaure Natron vom Verkäufer benutzt worden ist.





Das Sedan-Panorama in Frankfurt am Main. (Mit Abbildung.) Unter dieser Bezeichnung ist am 2. September. v. J. in dem Palmengarten zu Frankfurt am Main ein Kunstinstitut eröffnet worden, welches in einem 1800 Quadratmeter großen Rundgemälde die denkwürdige Schlacht bei Sedan historisch-treu wiedergiebt. Das großartige Bild ist von Professor Louis Braun, München, in Verbindung mit dem Architekturmaler Frosch und Landschaftsmaler Biberbach mit künstlerischem Geschmack gemalt worden und nimmt unter den derartigen Kunstwerken Deutschlands vielleicht den ersten Rang ein.

Das Sedan-Panorama in Frankfurt am Main.

Beim Eintritt in den großen Rundbau, dessen Aeußeres den Lesern das nebenstehende Bildchen vorführt, befinden wir uns zunächst in einer Casematte, in der sich unseren Blicken ein Diorama darbietet. Es stellt am Ende des dunklen Ganges die Ruinen von Bazeilles, vom Mondlicht erhellt, dar. Von hier aus betreten wir das Podium des großen Panoramas, in welchem unter dem vollen Effecte des Sonnenlichtes das große Rundgemälde sich befindet. Wir stehen auf einem zwischen Frénois und Sedan gedachten erhöhten Punkte und haben den Stand der Schlacht etwa um die vierte Nachmittagsstunde vor uns. Was in nächster Nähe an Erdreich, Bäumen Sträuchern etc. zu erblicken ist, sind natürliche Gegenstände; wir können jedoch auch mit bewaffnetem Auge kaum unterscheiden, wo die Natur aufhört und das Gemälde beginnt. Im Vordergrunde erblicken wir die Vorstadt Tarcy, die Häusermassen von Sedan und hinter denselben am Horizont den Wald von Garenne, von dem sich, vertrieben durch die Abtheilungen des fünften und elften preußischen Armeecorps, französische Truppe auf die Festung zurückziehen. Auf der rechten Seite des Bildes sehen wir Balan, in welchem der Kampf noch in vollem Gange ist, die gegen Monelle vorrückende Reserve der Garde und der Sachsen, das brennende Bazeilles und die Dörfer Reminy und Port Maugy. Hinter den Batterien des zweiten baierischen Corps, welche ihre Feuerschlünde gegen Sedan richten, steht das deutsche Hauptquartier. Deutlich erkennt man hier den König von Preußen, Moltke und Bismarck während der Kronprinz mit seinem Stabe, von einer kleinen Ulanenabtheilung begleitet, auf der Straße nach Cheviègne der Stelle zureitet, auf welcher der König steht. Moltke weist mit der Hand gegen Floing hin; hier, jenseits der Maas, stürmen gerade die Schwadronen der französischen Cavalleriedivision Marguerite über die Höhe herab; schon ist beim ersten Anreiten ihr Führer gefallen, und General Gallifet hat sich an die Spitze gestellt. Aber in einer halben Stunde wird sich die Bravour der Verzweifelten an den sicher feuernden Linien der preußischen und hessischen Schütze breche und bald hierauf auf der Citadelle von Sedan die weiße Fahne erscheinen.

Das Gemälde giebt diese wichtigen Kämpfe, welche den Ausgang von Deutschlands neuer Größe bezeichnen so wahrheitsgetreu wieder, daß, um ein Beispiel anzuführen, gelegentlich eines Besuches des Panoramas am 20. October vorigen Jahres Kaiser Wilhelm beim Anblick der Scenerie sich sofort zu orientiren wußte. – So möge denn dieses Institut Alle, die es besuchen, an die schweren Stunden des heiligen Krieges und an Diejenigen erinnern, die auf jenen Gestaden für Deutschlands Ruhm und Ehre ihr Blut vergossen!




Oeffentliche Danksagung. In Folge unseres Artikels „Die deutsche Nähmaschine “ (Nr. 42, 1880), in dem einer unserer Mitarbeiter für diesen Zweig der inländischen Industrie eintritt, sah sich der neubegründete Verein der deutschen Nähmaschinen-Industriellen „Concordia“ in der liebenswürdigsten Weise veranlaßt, uns mehr als fünfzig Nähmaschinen zur Vertheilung an unterstützungswürdige und bedürftige Familien zur Verfügung zu stellen. Es waren namentlich Angehörige des Standes der Presse, also Schriftsteller-, Buchhändler- und Buchdruckerfamilien, welchen der obengenannte Verein seine Spende zugedacht hatte, und so haben wir denn diese von uns dankbarst angenommene menschenfreundliche und hochherzige Gabe nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der „Concordia“ zur Vertheilung gebracht. Manches Haus des Elends und der verzweifelnden Armuth wurde durch das werthvolle Geschenk zu einer Stätte der Freude und der neuaufblühenden Hoffnung. Leider aber war die Zahl der Bittsteller größer, als unser Vorrath an Nähmaschinen es trotz der Liberalität der freundlichen Geber sein konnte, und wir sehen uns daher genöthigt, allen Denjenigen, welche auf ein Bittgesuch bisjetzt unsere Antwort nicht erhalten haben, zu erklären daß ihr Anliegen zu unserm aufrichtigen Bedauern unberücksichtigt bleiben mußte.

Die Redaction der „Gartenlaube“.





Die wohlfeile Lieferungsausgabe von Johannes Scherr’s „Germania“ (Stuttgart, Spemann), welche nunmehr seit Monaten vollendet vorliegt, giebt uns willkommene Gelegenheit, wiederholt auf dieses mit Recht so glänzend aufgenommene Werk zurückzukommen. Was übersichtliche Gliederung im Aufbau des interessanten Stoffes, lebendige Frische und Farbe in der Darstellung, vor Allem aber eigenartige Bedeutsamkeit des Gedankeninhalts betrifft, hat die Culturgeschichte wohl kaum ein Werk aufzuweisen, welches sich mit dieser Scherr’schen Schilderung zweier Jahrtausende deutschen Lebens messen könnte. Ausgehend von der Schilderung der dämmernden Ur- und Vorzeit, von den poesiedurchwebten Tage unserer heidnisch-germanischen Vorfahren, führte uns das Scherr’sche Werk durch alle Entwickelungsstufen unserer Geschichte bis hinein in die ruhmreiche Gegenwart des auf den Feldern von Mars-la-Tour und Sedan erstandenen neuen deutschen Reiches und entrollt uns so ein farbenreiches Bild des geistigen und nationalen Werdens unseres Volkes. Ist es schon an und für sich ein volkspädagogisches Verdienst, einer Nation zur bessern Erkenntniß ihrer selbst den Spiegel ihrer Geschichte, zumal ihrer Culturgeschichte, vorzuhalten so ist es ein doppeltes Verdienst, wenn es in einer Zeit geschieht, die sich von der idealen Beschäftigung ernster und verständnißvoller Geschichtsbetrachtung mehr und mehr ab- und der Lösung materieller Ausgaben fast ausschließlich zugewandt hat. Im Kampf und Lärm des täglichen Lebens, im unausgesetzten Ringen nach den Zielen, welche unsere Zeit uns vorgesteckt hat, sollten wir niemals vergessen, daß es gut, ja nothwendig ist, dann und wann im Streite zu ruhen und lernend und forschend zurückzublicken auf den Weg, den unser Volk bis heute, bis zu der Culturstufe, auf der wir es gegenwärtig finden, zurückgelegt hat. Diesem heilsamen Zurückschauen auf den bisher vollendeten Entwickelungsgang des deutschen Lebens dient, wie kaum ein anderes Werk, Johannes Scherr’s „Germania“. Kräftig und schneidig und doch anheimelnd und warm in Sprache und Ton, ist das Scherr’sche Werk ein Volksbuch im besten Sinne des Wortes, und darum mag es auch an dieser Stelle dem deutschen Volke als eine gesunde Kost für Herz und Geist wiederholt empfohlen werden.





Kleiner Briefkasten.

J. Sch. in Lübeck. Folgende Mittheilung wird Sie interessiren: „Der gewesene Assistent der Wiener Universitätssternwarte, Herr Eduard Glaser, wird demnächst in Mission des ‚Institut de France‘ eine Forschungsreise nach Arabien antreten. Die Reise wird sich über ganz Inner-Arabien von Hadramaut bis zum Lande der Wahabi erstrecken und rein geographischen Studien, archäologischen und linguistischen Forschungen dienen. Herr Glaser lebt seit November 1880 in Tunis, wo er sich vollständig acclimatisirt und die Kenntniß der arabischen Sprache angeeignet hat.“

O. von M. in H-s. Wenn Sie dem Vereine für „Fremde in Noth“ in London (vergleiche Nr. 15, 1881) eine Spende zuwenden wollen thun Sie ohne Frage ein gutes Werk. Adressiren Sie: Herrn W. C. Laurie, 10. Finsbury Chambers, London Wall E. C.! Wollen Sie aber zugleich Ihre Bibliothek um ein stattliches Buch vermehren, so kaufen Sie das mit guten Photographien reich geschmückte „Tagebuch auf Reisen“, herausgegeben zu Gunsten des Bazars für „The Foreigners in distress“ von einem „Foreigner not in distress“ (London, Klokmann, Preis 20 Mark)! Das anspruchslos plaudernde Buch bildet eine Art Wegweiser durch die Sehenswürdigkeiten von Sicilien, Athen und Constantinopel und darf der guten Sache wegen, der es dienen will, immerhin der Beachtung empfohlen werden.

H. L. in Gk Alles Schwindel, Buch und Mittel!


Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir gedenken der wiederholt von uns zur Sprache gebrachten Frage der Ueberbürdung der Schüler demnächst in einer ausführlichen Darlegung aus fachmännischer Feder abermals näher zu treten. Man vergleiche übrigens unseren Artikel „Schule und Nervosität“ in Nr. 1 dieses Jahrgangs!
    D. Red.
  2. Gegenwärtig führt die gesammte deutsche Cavallerie mit Ausnahme der Kürassiere den Carabiner als Schußwaffe; die Kürassiere und von der übrigen Cavallerie sämmtliche Unterofficiere trugen Revolverpistolen. Otto Fikentscher, unser kürzlich verstorbener Freund, dessen letzte Zeichnungen wir heute unsern Lesern bieten, hat wohl von dieser veränderten Bewaffnung noch nichts gewußt als er dem feuernden Ulanen auf unserem Bilde statt des Carabiners die Pistole in die Hand zeichnete.
    D. Red.