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Die Gartenlaube (1881)/Heft 25

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[405]

No. 25.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artoria.
1.

„Signori – una barca! Hôtel Europa! Hôtel Bellevue! Hôtel Aurora!“ so rief es hundertstimmig in tollem Durcheinander vor dem breiten Quai des Bahnhofes von Venedig, dort, wo der Strom der Reisenden sich über die große Treppe von der Einsteighalle nach dem Canal hinunter ergießt.

Mancher, der seit seiner Schulzeit die Lagunenstadt als auf Pfählen stehend zu denken gewohnt war, bekam doch bei dieser Gelegenheit die erste Vorstellung von ihrer gänzlichen Droschkenlosigkeit und stand verblüfft dem dicht vor ihm beginnenden schwarzen Gondelgewirr gegenüber, eine Beute der zugreifenden Facchini, die ihn und seine Habe auf’s Schnellste dem großen Canal zur Weiterbeförderung überantworteten.

Bereits Localkundige wußten sich solchen ungebetenen Liebesdiensten energisch mit ein paar kurzen Worten zu entziehen. Virtuose hierin schien ein älterer Herr mit grauem Filzhut zu sein, der gänzlich unbelästigt an einem Gascandelaber stand und mit scharfen Augen über das Menschengewimmel hinsah, ohne bis jetzt den Gondolier, den er wünschte, gefunden zu haben.

Das seitwärts von ihm stehende junge Paar überließ ihm diese Sorge offenbar gern; die Blicke der schönen Dame im eleganten Reisekleid streiften neugierig über das belebte Bild hin.

„Nun, das ist ein hübscher Anfang des malerischen Venedig, Herr Björnson!“ sagte sie scherzend zu ihrem Begleiter, einem hochgewachsenen blonden Mann. „Auf brettervernagelte Palastfenster war ich gefaßt – aber nicht auf diesen ebenso langweiligen, wie unsauberen Bach und die ganz modernen, nüchternen gelben Hausmauern da drüben. Erröthen Sie nicht, mir sagen zu wollen, dies sei der große Canal?“

Der junge Mann lachte gleichfalls, was seinen ernsthaften Zügen einen sehr liebenswürdigen Ausdruck gab.

„Er ist es wirklich, Fräulein Leontine, wenn auch nur in seinen bescheidensten Anfängen. Warten Sie nur! Wenn wir dort um die Ecke biegen und bald der erste Palast auftaucht, wenn wir dann unter dem Rialtobogen in die stolzeste Straße der Welt einfahren, dann sollen Sie mir Abbitte thun.“

Jetzt fing der alte Herr an mit einem weiter draußen haltenden Gondolier telegraphische Zeichen zu wechseln.

„Da haben wir ihn ja, meinen ehrlichen Alten von der Giudecca, der mir vor zwei Jahren mit soviel Grazie die Honneurs der Stadt machte. He, Antonio! Siehst Du, Leontine, er hat mich auf der Stelle erkannt.“

Rufend und winkend zwängte der sonnverbrannte Graubart seine Barke durch die übrigen durch, aber die Augen der jungen Dame wandten sich ihm nicht zu, sondern blickten, wie unangenehm überrascht, nach einer anderen Gondel, welche mit schnellen Ruderschlägen von seitwärts heran glitt und soeben anlegte.

Eine lange mit tadelloser Sorgfalt gekleidete Figur erhob sich darin und grüßte, nicht ohne leichte Verlegenheit, nach dem Quai herauf.

„Ei, Herr Nordstetter!“ rief der alte Herr erstaunt.

„Wie Sie sehen, Herr Baron! Darf ich vielleicht bitten, sich meiner Gondel zum Hineinfahren zu bedienen? Das gnädige Fräulein wird besser darin sitzen, als in dieser alten da.“

„Aber sagen Sie mir –“ der Baron faßte den Rockknopf des Herausgestiegenen – „wie in Himmelsnamen – ja so!“ unterbrach er sich vorstellend, „Herr Maler Björnson – Herr Banquier Nordstetter!“ Die Genannten tauschten einen sehr gemessenen Gruß. „Also, wie kommen Sie hierher?“ fuhr der alte Herr fort. „Ich dachte, Sie wollten geradeswegs nach Rom, als wir uns neulich in Riva trennten?“

„Das war auch meine Absicht,“ erwiderte Herr Nordstetter mit etwas unsicherer Stimme, „aber schon unterwegs in Verona hörte ich von allen Seiten soviel von der bevorstehenden Kaiser-König-Zusammenkunft hier, daß ich beschloß, sie mitzunehmen und acht Tage später nach Rom zu gehen. Es war vielleicht gut, daß ich Ihnen vorausreiste; denn die Stadt ist bereits so überfüllt, daß man kein comfortables Quartier mehr findet. Ich habe große Mühe gehabt zwei Zimmer im Grand Hôtel an der Riva für Sie freizuhalten. Darf ich Sie hingeleiten?“

Er verbeugte sich vor der jungen Dame und sah sie erwartungsvoll an.

„Darüber muß Papa entscheiden,“ erwiderte Fräulein Leontine sehr kühl und mit jener nachlässigen Kopfbewegung, welche das ausschließliche Geheimniß junger, verwöhnter Damen ist, „er hat uns soeben noch einen Vortrag über die wünschenswerthen Lagen von Venedig gehalten –“

„Aber er konnte nicht hoffen, in der wünschenswerthesten noch unterzukommen,“ rief Baron Willek vergnügt, „haben Sie besten Dank, lieber Freund, für Ihre Fürsorge!“

Während er die Facchini mit den Koffern der Gondel zu dirigirte und Herr Nordstetter in beflissener Hülfeleistung den eleganten Reisekorb und die Juchtentasche vom Candelaber, wo sie bisher geruht hatten, ebendahin beförderte, wandte sich die junge Dame mit einem vielsagenden Blick nach ihrem Begleiter um. Er [406] war keine gewöhnliche Figur, das Gesicht gehörte zu denen, welche durch Schnitt und Ausdruck sich aus der großen Menge hervorheben und deshalb von Jedem leicht in der Erinnerung behalten werden. Seine Züge waren offen und freundlich, aber unter der breitgewölbten Stirn funkelten ein paar stahlblaue Augen von ungewöhnlicher Energie, und die frühe Falte zwischen beiden Brauen konnte sich gewaltig vertiefen, wenn der Anlaß dazu vorlag. Im Augenblick war sie kaum zu bemerken; der junge Mann sah mit etwas ironischem Lächeln Herrn Nordstetter's diensteifrige Bemühungen und wandte sich dann zu seiner Nachbarin.

„Wer ist denn diese vom Himmel gefallene Vorsehung, die Sie so plötzlich hier in Beschlag nimmt? Eine Bekanntschaft von früher, gnädiges Fräulein?“

„Nur von einer Woche in Riva,“ flüsterte sie, „ein F…er Banquier, der dort viel mit uns zusammen war. Er ist sehr reich und langweilt sich -“

„Und möchte, wie es scheint, diesem Uebel abhelfen,“ sagte Erich Björnson sarkastisch. An Weiterem verhinderte ihn das Neuherantreten des Genannten, der ihm mit vieler Höflichkeit den vierten Platz in der Gondel anbot.

„Ich danke sehr,“ erwiderte hastig der junge Mann, „mein Quartier liegt in der entgegengesetzten Richtung. Ich werde mit dem Alten dort fahren,“ setzte er hinzu, indem er dem Fräulein die Hand zum Einsteigen bot und dann noch einen Moment mit gezogenem Hute neben dem schwarzen Fahrzeug stand, während Leontine sich in die Kissen zurücklehnte und den leichten Gazeschleier ihres Reisehütchens wieder fest um das Gesicht steckte.

„Adieu, Herr Björnson, hoffentlich auf baldiges Wiedersehen – hier oder dort!“ rief sie lachend, „das heißt in unserem Hotel oder auf Ihrem Atelier, wo wir Sie überfallen werden. wenn Sie nicht Wort halten.“

„Darüber seien Sie außer Sorgen, gnädiges Fräulein!“ rief er mit glänzenden Augen. „Das Worthalten ist mir in meinem Leben noch nicht so angenehm erschienen, als in diesem Falle. Ich darf Sie nicht länger aufhalten – auf Wiedersehen!“

Er trat grüßend einen Schritt zurück; das Ruder zog an, und in der nächsten Minute glitt die Gondel, wie mit eigener Bewegung begabt und nur von dem Ruf des Gondoliers gelenkt, hurtig und geschickt zwischen den vielen übrigen Fahrzeugen auf den dunklen Wassern nach dem Rialto zu

Erich Björnson stand noch eine Weile mit dem Gefühl eines Menschen, dem plötzlich die Flüchtigkeit auch der reizendsten Reisebekanntschaft klar wird, und sah dem weißen flatternden Schleier nach. Da zog sie hin, und ein Anderer saß jetzt an seiner Stelle ihr gegenüber; er konnte das leise aristokratische Parfüm ihrer Nähe einathmen und die elegante Einfachheit des weichen grauen Reisekleides mit dem männerartig übergeklappten Paletot und der kleinen dunkelrothen Cravattenschleife bewundern, gerade wie er es seither gethan hatte. Aber pah! Woher sollte der nüchterne Geschäftsmensch die Augen nehmen, um zu sehen, wie köstlich dies Alles mit dem blassen Ton ihres Gesichtes harmonirte und mit den tiefgesteckten blauschwarzen Flechten unter dem kleinen dunklen Reisehut! Woher sollte ihm die künstlerische Empfindung kommen für die Feinheit dieser Profillinie, deren leisen Hebungen und Senkungen nachzugehen allem schon Beschäftigung für lange Stunden gab, selbst wenn die Augen nicht das gewesen wären, was sie in Wirklichkeit waren, ein Paar blauer, schwarzumsäumter, räthselhafter Sterne, die so melancholisch kalt und traurig bleiben konnten, um sich dann plötzlich im Gespräch und Scherz glänzend zu erhellen, als lägen Schätze von Begeisterung und Zärtlichkeit auf dem Grunde der Seele verborgen, bis man die undurchdringliche Scheidewand wieder merkte, die das Hineinsehen verwehrte. All das stand noch so lebendig vor ihm, und nun – dort zog sie hin; dort flatterte der weiße Schleier noch einmal auf und verschwand dann um die Ecke eines kleinen Canals.

Plötzlich zu sich kommend, warf der junge Maler einen Blick rundum und sah den alten Antonio eben im Begriff, da er nicht gehört wurde, sich mit allem Respect fühlbar bemerklich zu machen.

„Ja, Alter, ich komme!“ rief Erich dem graubärtigen, treuherzigen Spitzbubengesicht freundlich zu, warf sein Köfferchen in das Fahrzeug und schwang sich selbst hinterdrein. „Wahrhaftig, ich hatte noch keine Zeit, Euch guten Abend zu sagen. Ist aber schön von Euch, daß Ihr noch lebt; hoffe, die ganze Casa Bertucci folgt Eurem Beispiel. Was macht Donna Erminia?“

Der Alte schüttelte langsam den Kopf. „Es geht ihr nicht gut, Herr; sie ist geduldig, wie eine Heilige, aber der Husten, der böse Husten! Haben Sie schon ein Lämpchen ausglimmen sehen, immer schwächer und schwächer, daß man immer denkt nun verlischt es?“

„Und das Kind, die Ninette?“

„Das Kind?!“ Antonio machte ein krauses Gesicht. „Nun die ist hübsch groß geworden in den sechs Jahren, seit Sie nicht hier waren. – Stali-i-i-i,“ tönte sein langgezogener Ruf zu einem voranfahrenden Steinschiff hinüber, und im nächsten Augenblicke hatte sie ebenfalls ein kleiner Seitencanal zwischen seine düsteren Häuserwände aufgenommen. – –

Die Drei in der andern Gondel waren sich ein paar Augenblicke schweigend gegenüber gesessen. Leontine’s Augen hatten die Richtung über die Köpfe der beiden Herren hinaus genommen und umfaßten – ob mit Vergnügen oder Gleichgültigkeit, konnte man nicht wissen – das eigentümliche und in allen Wendungen sich gleich bleibende Bild des venetianischen Seitencanals: düstere, fensterarme Facaden, dann und wann eine hochgeschwungene Bogenbrücke dazwischen; die eine Häuserreihe tief im Schatten, der obere Theil der anderen grell von der Sonne beschienen, Wäschestücke an den Fenstern, droben ein dreieckiges Stückchen Himmelblau hereinleuchtend – aber welche Tinten in Architektur, Wasser und Luft!

Herr Nordstetter, welcher durch seinen angesetzten Zwicker vom Vordersitze aus recht wohl Erich’s minutenlanges Nachstarren bemerkt hatte, brach endlich das Schweigen.

„Wer ist denn dieser junge Mann?“ fragte er. „Ein Künstler vermuthlich?“

„Ein sehr bedeutender sogar!“ parirte Fräulein Leontine mit einiger Lebhaftigkeit die etwas geringschätzige Frage.

In spe, mein Kind,“ fügte ihr Papa vorsichtig hinzu. „Bis jetzt sind seine künftigen Bilder nur große Entwürfe und Skizzen, allerdings von ganz außergewöhnlichem Talent, aber ob er ein Publicum für seinen eigentümlichen Stil findet, das fragt sich.“

„Du vergißt das Bild auf der Wiener Anstellung, welches ihm mit einem Male einen Namen gemacht hat.“

„Es giebt zweierlei ‚Namen‘ in Deutschland, einen blos ehrenvollen und einen lucrativen. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, daß er den Weg zum letzteren auch finden möge; bis jetzt sieht es mir nicht darnach aus.“

Herrn Nordstetter’s etwas nachdenkende Miene hatte sich bei den letzten Worten des Barons bedeutend aufgeklärt; er sagte mit dem Tone ungeheuchelten Wohlwollens.

„Er scheint ein sehr angenehmer junger Mann zu sein.“

„Das ist er in der That,“ meinte der Baron, „eine liebenswürdige Menschennatur, die Einem das Herz von Grund auf erwärmt, so voll und stark und ungebrochen, wie diese Nordländer eben sind, im Gegensatz zu unserer von Pessimismus angefressenen Jugend, die schon mit neunzehn Jahren über das Elend der Welt seufzt. Ich sagte es ihm gestern in Verona im Amphitheater; er stand da, wie der breitschulterige blauäugige Totilas, der in modernem Anzug gekommen ist, sich die alten Stätten wieder einmal anzusehen.“

Herr Nordstetter hatte seine guten Gründe, auf solche historische Excurse, wie sie der Baron liebte, nie einzugehen; es war ihm überdies sehr gleichgültig, was der blauäugige Totilas jemals in Verona zu schaffen hatte, wenn ihm nur sein Ebenbild in Venedig nicht in die Quere kam.

„Und zu welchem Zweck ist Herr Björnson hier?“

„Zunächst, wie wir Alle, diese merkwürdige Zusammenkunft Franz Joseph’s und Victor Emanuel’s mit anzusehen, dann, wenn es wieder still geworden ist, um Studien zu machen für ein großes ‚Begräbniß Tizians‘, welches er in B. vollenden will. Ich habe die Photographie der Skizze gesehen – ausgezeichnet!“

Herrn Nordstetter’s Stirn wurde immer heiterer.

Der junge Mann war also gänzlich ungefährlich, und es bestand kein Grund zu Befürchtungen, wie sie sich ihm vorhin beim unerwarteten Anblick des so heiter plaudernden Paares aufgedrängt hatten. Er hatte sich in der vorhergehenden Woche in Riva der Erkenntniß nicht verschließen können, daß seine Person ohne den goldenen Hintergrund seines F…er Hauses und der fürstlichen Villa am Rheine gar nicht den überwältigenden Effect machte, welchen er seit seinem zweijährigen Wittwerstand in der heimathlichen Gesellschaft zu bemerken gewohnt war, ja, er hatte von der [407] jungen Dame hier und da eine nonchalante Behandlung erfahren müssen, die ihm eben so neu, wie merkwürdig vorkam. Gerade diese kühle Indifferenz gegen Nordstetter und Compagnie war aber die Angel gewesen, an welcher sein für weibliche Zuvorkommenheit so unempfindliches Herz hängen blieb, und die aristokratische Schönheit des Mädchens im Verein mit ihrem Geist und ihrer Grazie verstrickten ihn tiefer und tiefer, sodaß er sehr bald ganz ungewohnte leidenschaftliche Wünsche im Grund seines Herzens fühlte und in Riva ganze Stunden damit zubrachte, rauchend auf der Seeterrasse zu sitzen und es sich auszumalen, wie ganz anders eine solche Frau aus altadeligem Hause die Honneurs seiner prachtvollen Salons werde zu machen wissen, als seine gute selige Katharina, welche, der Anpassung an die großen Verhältnisse unfähig, mit ihrer rundlichen, so verzweifelt bürgerlichen Figur stets als lebendiges Pasquill auf die ganze Herrlichkeit in all dem Sammt und Gold herumgewandelt war.

So, gerade so wie Leontine sollte seine künftige Frau sein, und er hatte jetzt beim Hineinfahren in die Lagunenstadt, während er das reizvolle blasse Gesicht ihm gegenüber immer wieder voll Entzücken betrachtete, dasselbe Gefühl, wie es vor ihm die mächtigen Kaufherren Venedigs empfunden haben mochten, wenn sie im Begriff waren, eine kostbare levantinische Ladung hinter den schwerverklammerten Thüren zu bergen, welche der stolzesten Architektur ihrer Paläste als bedeutungsvolle Basis dienen.

Leontine streifte flüchtig unter ihrem Schleier heraus dann und wann das erregte Geschäftsgesicht ihres Gegenüber; auch ihr war die Bedeutung der kommenden Tage völlig klar, und ihr Herz schlug in peinlicher Empfindung, wenn sie überlegte, was wohl schlimmer sein möge, das Ja oder das Nein?

„Zuletzt eine reiche Heirath,“ hatte bis dahin das Programm ihres schönheits- und luxusbedürftigen Lebens im Stillen gelautet, es mußte diesen Schluß nehmen oder eines schönen Tages zu plötzlichen Beschränkungen herabsinken. Der Papa lebte seit einer Reihe von Jahren in der festen Hoffnung auf eine glänzende Partie seiner Tochter bedeutend über seine Verhältnisse, und nun, in ihrem sechsundzwanzigsten Jahre fing ihm manchmal an, für das so sicher vorausgesetzte Ziel bange zu werden. Leontine besaß einen sehr entwickelten Geschmack, und unter ihren zahlreichen Verehrern wollte sich nie Einer finden, der geistreich, liebenswürdig – und sehr reich gewesen wäre.

Redete der Papa einmal Einem das Wort, der neben der letzteren Eigenschaft einige minder erfreuliche besaß, so war stets die lachende Antwort. „Ach, Papa, dazu ist es noch in zehn Jahren Zeit; gönne mir noch ein wenig, mich zu amüsiren! Es ist ja doch das Einzige, was man vom Leben hat.“

Seit mehr als einem Jahre aber bot sich gar keine Gelegenheit mehr zu solchen Antworten, Leontine war, wenn sich die „Gesellschaft“ im Herbste wieder zusammenfand, schön und gefeiert. wie immer, aber die Atmosphäre um sie veränderte sich unmerklich; sie fing an, zu den stehenden Figuren zu gehören, und ihr „originelles Wesen“ wurde mehr betont, als dem Papa lieb war zu hören. Sie hatte mit raschem Entschlusse angefangen, ihr bisher nur dilettantisch bewiesenes Maltalent der Kunst zuzuwenden „für den äußersten Fäll“, wie sie im Stillen sagte, aber sie allein wußte auch, wie hart dem verwöhnten Sinne die strenge, immer gleiche Arbeit ankam und wie ohne eigentliche Ueberzeugung sie dabei blieb. Der Frühjahrsausflug nach Riva hatte ihr eine neue „Möglichkeit“ eröffnet, und es kam ihr manchmal vor, als stehe sie jetzt dicht vor ihrem Schicksale, und eine Bangigkeit überfiel sie bei dem Gedanken. Da reiste Nordstetter von Riva ab, und nun hier in der Lagunenstadt wieder dieselbe Situation, nur statt der früheren gleichgültigen, weltverachtenden Stimmung ganz neue merkwürdige Regungen im Herzen und Erinnerungen an drei so köstliche Reisetage! Es bedurfte schon der festen Willenskraft, die hinter dieser feingewölbten weißen Stirn wohnte, um alles Dies streng in sich niederzuhalten. Ihre Blicke fielen wieder auf das gelbliche Gesicht mit den frühen Falten und ausdruckslosen Augen, das in seinem Entzücken unerträglich geistlos aussah. Daß ihm in diesem Augenblicke die dunkle Prachtfacade eines hohen Palastes als schlimmer Hintergrund diente, dafür konnte es nichts – aber sie schauerte vor dem Gedanken: „Und dieser soll Dein Mann werden“, so heftig zusammen, daß sie rasch den Shawl um die Schultern zog und mit beklemmter Stimme sagte: „Es wird kühl hier.“

„Die Seufzerbrücke,“ tönte es in diesem Momente sonor vom Vorderende her; die Gondel glitt in die enge Durchfahrt zwischen Dogenpalast und Staatsgefängniß hinein, und ihr Führer wies nach oben, wo der schmale bedeckte Todesweg sich von einem Bau zum andern herüberschwingt.

Leontine wandte einen seltsamen Blick aufwärts. Es war in diesem Augenblicke, wie überhaupt in manchen Fällen, gut, daß die menschliche Brust kein Fenster hat, Herr Nordstetter würde sonst mit großem Befremden in derjenigen seiner gehofften Zukünftigem eine tiefe Sehnsucht bemerkt haben, ebenso mit dem Leben fertig zu sein, wie die Vielen, welchen vor Zeiten die kleine Brücke hier als Eingang in die Ewigkeit diente.

Ein paar Ruderschläge noch, und die Gondel flog hinaus in das sonnige, lärmende Treiben der Riva dei Schiavoni; dort wiegten sich Dampfer und vielmastige Indienfahrer auf dem Meere, und eine Unzahl schwarzer Gondeln schoß dazwischen auf und ab Von den flachen Inseln glänzten Thürme und Kuppeln herüber – Alles war Luft, Bewegung und Heiterkeit.

„Das ist Venedig,“ sagte Baron Willek wohlgemuth, als die Gondel hielt und er seiner Tochter die Hand bot, „ich weiß wenig Anblicke, die mir das Herz so von Grund aus erfreuen – hoffentlich werden wir eine schöne Zeit hier verleben.“




2.

Nicht weit vom Rialto entfernt, liegt am Canal Grande ein kleiner Palast. Die vordere elegante Zimmerreihe hat eine prächtige breite Terrasse nach dem Canale, rückwärts aber, nur erreichbar durch die tausend kleinen Gäßchen, welche Venedig wie ein Netz von Adern durchziehen, liegt der eigentlich interessante Theil der Casa Bertucci – das ist die bescheidene Wohnung der Vermietherin, Donna Erminia Steiner, der Wittwe eines österreichischen Hauptmanns, welche das vordere Haus in Pacht genommen hatte. Die dem Canal zugekehrte Vorderfronte senkt ihre sculpturbedeckte Facade düster und einförmig in die Wellen.

Auf der sonnigen Rückseite dagegen hatte sich ein buntes, mannigfaltiges Leben angesiedelt. Allerlei Anbaue, gelb getüncht, umgaben in harmloser Unregelmäßigkeit einen kleinen Garten voll so prächtigem Duft und Schatten, daß die entschiedene Liebhaberei deutscher Künstler für die Ateliers dieses Rückgebäudes sehr begreiflich erschien. Ton und Herkommen des Hauses brachten es mit sich, daß die hier auf längere oder kürzere Zeit Vereinigten als Colonie zusammenhielten, und das beharrende Element in allem Wechsel war der alte Bildhauer Bartels, der vor zwanzig Jahren „auf vier Monate“ das kleinste Stübchen im Hause gemiethet hatte und nach und nach, stets von seiner demnächstigen Abreise sprechend, in den Besitz des größten Ateliers und des einzigen Zimmers gelangt war, welches Donna Erminia im Vorderhause für sich reservirt hatte. Sein künstlerischer Wirkungskreis konnte sich, da er etwas Vermögen besaß, auf gelegentliche Portraitbüsten beschränken, die er mit großer Feinheit ausführte.

Die Production war überhaupt viel weniger seine starke Seite, als eine unbarmherzige Kritik, welche er mit großer Freigiebigkeit über die Mängel dieser Welt im Allgemeinen und die Kunstresultate der Casa Bertucci im Besonderen ausgoß. Die padrona di casa allein, die ängstliche kranke Frau, erfreute sich einer Ausnahmestellung; von ihr sprach er stets nur mit größtem Respect, ja manche seiner jungen Widersacher behauptete, so weit sein Herz überhaupt menschlichen Empfindungen zugänglich sei, habe es einst für sie geschlagen; der vor Jahren von ihr empfangene Korb habe seine Hochachtung vor ihrer Klugheit nur vermehrt und „ganz ohne“ sei die Sache auch heute nicht. Andere freilich machten geltend, daß der dicke Bartels in der Welt keinen Ort mehr finden würde, der so viel Annehmlichkeiten der Existenz mit so brillante Gelegenheiten zu kritischen Bemängelungen vereinigte, wie Venedig, und daß hieraus allein seine Vorliebe für diese Stadt sich erkläre: genug, er war und blieb da.

„Es ist doch Alles noch gerade so, wie vor sechs Jahren,“ sagte Erich lächelnd vor sich hin, als er am Mittage des folgenden Tages, von seinem ersten Ausgange zurückkehrend, in den Garten eintrat, der sich unter den Fenstern der Casa Bertucci ausdehnte. Die schwärzliche Lattenbank unter der Hänge-Esche war nicht jünger geworden, so wenig, wie dem flötenspielenden Faun auf dem Postamente daneben eine neue Nase für seine abgeschlagene gewachsen war. Aber wie eine liebe Heimath grüßte den jungen [408] Künstler der altbekannte Raum, und die Zeiten, wo er hier in stetem Ringen und Vorwärtsstreben, unter Entbehrungen aller Art, alle Kräfte der Seele nach einem Ziele gespannt, mit eiserner Beharrlichkeit gearbeitet hatte, wurden in ihm wieder lebhaft.

Er war etwas geworden seitdem; er hatte seinen eigenen Stil und mit ihm die Mittel gewonnen, seinem innersten Wesen Geltung zu verschaffen, wenn er auch bereits einzusehen begann, daß dem Einzelnen nur Einzelnes möglich ist. Aber die geheimnißvolle Kraft, welcher die wahren Kunstwerke halb ohne Zuthun des Künstlers entspringen, war mächtig in ihm; eine unbegrenzte Fülle von Schöpfungen stand vor seinem inneren Auge; er brauchte nur ein langes Leben, um sie an’s Tageslicht zu fördern.

Diese freudige Fülle des Daseins sprach deutlich aus seinen Gesichtszügen und dem kühnen durchdringenden Blick; sie gab ihm den Nimbus des Interessanten und gewann ihm rasch die Herzen. So war es ihm gelungen, in diesen Tagen der Fremdenüberfüllung ein Unterkommen in der Casa Bertucci zu finden. Es war gewesen, als sei ein Sohn zurückgekehrt; über Frau Erminia’s abgezehrtes Gesicht war ein freudiges Lächeln bei seinem Anblicke geflogen; der dicke Bartels hieß ihn mit einem Strom von Kraftausdrücken willkommen, und Ninette, „das Kind“, schwieg zwar, aber die großen, freudig glänzenden Augen des schönen Mädchens begrüßten warm genug den alten Freund, der seinerseits Mühe hatte, die Erinnerung an das knabenhaft kecke vierzehnjährige Ding von damals mit dieser holdselig erblühten Jungfrau in’s Reine zu bringen.

Seitdem hatten Ninette’s braune Augen den fröhlichen Glanz behalten; sie sang, wo sie stand und ging, und die blasse Mutter sah von ihrem Lehnstuhle unter dem Rosenlorbeer, wo sie die Tagesstunden über den milden Sonnenschein in ihre kranke Brust einsog, schmerzlich lächelnd auf ihren Liebling, den sie, wie sie sich wohl sagte, so bald schon allein auf der Erde lassen mußte.

Vor sechs Jahren, dachte sie bei sich, ja, da war es anders gewesen; da hatte Erich am liebsten seine freien Nachmittage mit ihr und dem Kinde drüben am Lido Muscheln suchend zugebracht – wie ein Sohn war er ihr gewesen; sie hatte oft daran gedacht, seit die Nina so schön und lieb heranwuchs – und jetzt? Jetzt fühlte sie, daß er ein Anderer geworden war, und sicher nicht umsonst sah er so nachdenkend aus und schritt nun da drüben schon eine halbe Stunde im Laubgange auf und ab, ohne sie und Nina auch nur ein einziges Mal anzureden.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Spaziergang durch Tunis.

Wir stehen vor den Thoren von Tunis, jener von buntem Völkergewimmel erfüllten Stadt an dem sonnenbeglänzten stolzen Golf der nord­afrikanischen Küste, zu der hinüber sich seit Monaten die Blicke Europas mit erhöhetem Interesse wenden; steht doch die europäische Diplomatie im Begriffe, die Fahne französischer Oberherrschaft in den Mauern der bisher einem willkürlich waltenden Bey untergebenen Stadt aufzupflanzen. (Vergl. „Gartenlaube“ Nr. 18: „Die Franzosen in Afrika“.) Der gegenwärtige Moment dürfte nicht ungeschickt gewählt sein, um die deutschen Leser mit dem Schauplatze der „tunesischen Frage“, mit Land und Leuten der Stadt des vielbesprochenen Muhamed Essadak im Vorübergehen bekannt zu machen.

Vom großen See El Bahira führt uns eine außer­ordentlich breite Straße, an beiden Seiten von wenigen niedrigen Häusern besetzt, in zehn Minuten bis Bab Hart, der Porta della Marina. Dort draußen herrscht wenig Leben, man be­merkt nur einige griechische und arabische Cafés, das griechische und französische Consulat, das erst im letzten Winter eröffnete Grand Hôtel, welches neben dem alten Hôtel Bertrand das einzige comfortable Gasthaus in Tunis ist, und zwei oder drei ausgedehnte Gebäude, ganz nach dem Muster unserer Miethscasernen errichtet. Am lebhaftesten geht es in den einstöckigen Hallen der Tunesischen Tabaksregie her, wie auch die daneben befindliche Holzbude, in welcher, eben­falls unter Regie, Haschisch theuer verkauft wird, von Besuchern nicht leer zu werden pflegt. Vor dem Thore hält ein Dutzend Wagen, meist zu Reisen über Land benutzt, denn nur wenige Straßen der eng gebauten Stadt sind für Fuhr­werk zugänglich.

Im Begriffe, durch das Marinethor in die Stadt zu treten, werden wir von unzähligen ambulanten Verkäufern, von Stiefelputzern, Fremdenführern etc. auf das Zudringlichste belästigt. Die Dreistesten weisen wir mit einem unzweideutigen Erheben des Stockes ab. Mit Mühe brechen wir uns Bahn durch das Gewühl auf dem kleinen Marineplatz, welches vom Ausgang bis zum Unter­gang der Sonne ungeschwächt fortdauert; Vorsicht ist geboten, um nicht von den durch die Menge einherschreitenden Kameelen, Pferden und Eseln getreten zu werden.

Welch buntes Trachtenbild auf dem Marineplatze! Das Treiben einer orientalischen Großstadt, der zweiten Stadt des afrikanischen Continents, ent­faltet sich vor unsern Blicken.[1] Hier der bedacht­same turbantragende Araber, dort der europäisch gekleidete Christ, meist die rothe Mütze mit blauer schwerer Seidenquaste auf dem Haupte. Der schwarze Mann vom Sudan und vom Congo, der gebräunte Maroccaner, der Algeriner und Tripo­li­taner, Beduinen aus dem Innern der Regent­schaft, armselig gekleidete Hamals (Lastträger), tief verschleierte Mo­hamme­da­ne­rinnen und mun­tere Jüdin­nen in ihren engen Bein­kleidern und spitzen gold- und silber­gestickten Mützen eilen an einander in mannig­faltigstem Wirrwarr vorüber.

Der Verkehr auf den Hauptstraßen ist ein sehr lebhafter, am stärksten im Bazar, dem Mittel­punkte der Stadt, welchen wir jetzt durch die Straße Sidi Morgiani zu erreichen streben. In dieser Gasse, sauber gepflastert, doch nicht so reinlich wie das maurische Quartier, reiht sich Laden an Laden. Ein Doppelposten von Zaptiehs zeichnet die Wohnung des Zahnarztes Seiner Hoheit des Bey aus; alle Morgen empfängt Muhamed Essadak diesen Leibchirurgen, um sein edles Gebiß auf’s Genauere untersuchen zu lassen. Mit 25,000 Piaster jährlich ist diese Arbeit wohl genugsam bezahlt.

Nach etwa zehn Minuten Gehens vom Marine­platze aus betreten wir den Bazar. Er besteht aus theils mit Holzwerk, theils mit Mauersteinen überwölbten Hallen, unter welchen sich zu beiden Seiten die kleinen, nur wenige Meter tiefen und nur durch leichte Holz­wände von einander ge­schiedenen Läden an einander reihen, die meistens im Be­sitze von Italienern sind. Wir betreten zunächst den Suk (Bazar) der Frucht­verkäufer „Datteri! Prima qualità!“ ruft es von links; ein jovialer, wohlgenährter Herr, inmitten seines Krams von Datteln, Rosinen, Apfelsinen und Bananen mit über einander geschlagenen Beinen kauernd, die Rechte an dem von der Decke herabhängenden ver­knoteten Strick, welcher das Aufrichten erleichtert, macht uns durch diesen Beweis seiner Sprachkenntniß auf die unleugbare Vorzüglichkeit seiner Waare auf­erksam; in Wahrheit sind die Orangen un­über­trefflich und die Datteln von Tunis anerkannt die besten. Man folgt gern dieser Einladung, nimmt auf Bänkchen oder Teppichen vor dem Laden Platz, schaut Alles an und genehmigt auch ein Schälchen des auf arabische Manier zubereiteten starken Kaffees, ohne da­durch noch im Geringsten zum Kaufen verpflichtet zu sein. Im folgenden Suk, dem der wohl­riechenden Essenzen, Oele und Kerzen, ist die ganze Luft geschwängert von herrlichen Düften. Schon an der Kleidung der Ladeninhaber erkennt man unschwer die bevorzugte Kaste reicher Handels­herren; ist doch auch ihr Standort ein bevorzugter; denn sie hausen dicht an der großen Moschee. Neben ihren Essenzen verkaufen diese Herren auch die vielgesuchte Hennah, grünliche, dem Thee ähnliche Blätter zum Färben der Nägel und Hand- und Fußflächen; man sieht sie überall in großen Körben aus Strohgeflecht aufgestapelt. Wir gelangen alsdann in den Bazar der Tuch- und Kleiderhändler, und hier ist das Menschengewühl am ärgsten. Des Morgens eilen hier die Klein­händler und Verkäufer von alten Sachen, von Gewehren, Pistolen, Handjars, Uhren etc. rastlos unter fortwährendem möglichst lautem Anpreisen ihrer Verkaufsartikel auf und ab, während das kauflustige Publicum zumeist an beiden Seiten dicht­gedrängt vor den Läden sich aufhält; unbe­helligt dadurch, nur hin und wieder nach Kunden spähend, nähen und flicken die Schnei­der, oft zu zehn Personen in ihren engen Buden.

[409]

Suk el turk. Thor von Tunis. Die Kasbah, Citadelle. Sidi Machres. Straße in Tunis.
Platz am Dar el Bey.   Das Thor Bab Gedu.   Canal in Goletta.
Ansichten von Tunis. Nach Photographien und Skizzen von P. R. Martini auf Holz gezeichnet von A. Göring.

[410] Der Europäer, welcher zum ersten Male diese Bazars besucht, findet hier tausenderlei Gegen­stände, welche zum Kaufe einladen; denn es sind noch zu besuchen die Bazars der Waffen­schmiede, der Teppichhändler, der Sattler, der Schneider, der Tischler und Drechsler und die unabsehbaren Reihen der Schusterläden Doch eilen wir schneller vorwärts in ein ruhigeres Stadt­viertel, wo wir Zeit gewinnen, einige der uns begegnenden Personen genauer in’s Auge zu fassen!

Welch seltsame Figur, dieser bis auf einen Schurz um die Lenden ganz nackte Mann von gebräunter Hautfarbe, mit wirrem Kopfhaar und verzerrten Gesichtszügen, eine Lanze in der Rechten tragend! Alle Passanten bezeigen ihm eine gewisse Ehrfurcht, und dies beweist, daß wir einen Marabut, einen Heiligen, vor uns haben. Der arme Mensch ist närrisch, und die Muselmanen nehmen seine Krankheit für göttliche Erleuchtung und verehren ihn als von Gott begnadigt und mit übernatürlichem Wissen begabt. Nach seinem Tode baut man ihm an der Stelle, wo er ge­storben, eine Grabcapelle, welche alsdann, je nach dem Grade der Heiligkeit des betreffenden Marabut, von den Gläubigen mehr oder minder stark besucht wird. Es giebt viele Hunderte dieser Capellen in und um Tunis, von verschiedener Größe, und die größte derselben, Sidi Machres, ist ausgedehnter als die Hauptmoschee der Stadt und immer besucht von Betenden. Selbst mitten im Bazar der Sattler befindet sich das Grab eines Marabut, der zufällig dort gestorben; hier hat man sich wegen der Enge der Gasse begnügt, anstatt der Grabcapelle nur einen sargähnlichen Kasten aufzustellen, der mit den Farben des Propheten, grün, roth und weiß, angestrichen ist. Der Christ thut gut, diesen sonderbaren Heiligen aus dem Wege zu gehen, um sich nicht Unan­nehm­lichkeiten von Seiten der Muselmanen auszu­setzen.

Auffallend sind die Soldaten und Polizisten des Bey durch ihre zerlumpte und abgeschabte Kleidung und ihr Herumlungern, ja selbst An­betteln der Fremden. Sind sie arbeitsam, so finden sie Beschäftigung bei Handwerkern, wo man sie, besonders in Schusterbuden, in nichts weniger als kriegerischer Thätigkeit antrifft. Sie werden jämmerlich besoldet und müssen vielfach des Nachts im Freien campiren, auch stricken manchmal die Braven.

Wie sehr sticht gegen diese Diener des Bey der Araber aus dem Innern ab, mit seiner stolzen Haltung, dem hohen Wuchs und dem von der Sonne stark gebräunten Gesicht! Er zieht die weißen Stoffe in seiner Kleidung vor, welche sonst wenig von derjenigen der Städter abweicht; er ist fast immer mit Waffen versehen, wenn er nach Tunis kommt; denn Waffen darf hier jedermann tragen, ob Muselman, Christ oder Jude. Und außer ihnen erblickt man zahlreiche andere typische Gestalten; dort trägt ein Landmädchen in ärmlicher Tracht den Wasserkrug vom Brunnen; hier an der Straßenecke entlockt ein fahrender Musikant seltsame Töne seiner zweisaitigen Guitarre, und, einsam dastehend, blickt trotzig in das bunte Menschengewimmel hinein ein Sprosse des räuberischen Khrumirstammes, der es ver­ursachte, daß die Tunisstadt soeben mit dem Schrecken des Krieges bedroht wurde.

Vornehme Araberinnen sieht man nur selten auf den Gassen, und alsdann nur in Begleitung mehrerer Dienerinnen; sie tragen über dem schwarzen Gesichtsschleier noch ein ebenfalls schwarzes Tuch, welches sie mit beiden Händen in der Weise aus einander halten, daß sie nur den Boden, welchen sie gerade betreten, zu erblicken im Stande sind. Alle Mohammedanerinnen sind vom Kopfe bis zum Fuße in weite weiße Gewänder gekleidet. Die Jüdinnen dagegen ver­hüllen nur den Oberkörper und lassen das Antlitz und die Arme frei; die Beine sind mit engen, meist reich gestickten Hosen bekleidet. Außerhalb der Stadt gehen auch die Araberinnen unverschleiert einher und verwenden zur Kleidung einförmig blaue Stoffe; sehr beliebt ist bei ihnen, wie auch bei den Männern, das Tättowiren der Unterarme und Beine, und die Frauen schmücken außerdem die Knöchel mit weiten Metallringen.

Doch gehen wir weiter! Vor uns liegt ein freund­licher Platz, umgeben von rein­lichen Gebäuden; einige ver­einzelte Palmen wiegen ihre Kronen in der milden Luft; ein reich verziertes Minaret, eines der schönsten in der Stadt, ragt über einer hohen Mauer hervor, welche uns den Blick auf das Innere des Dar el Bey (des Hauses des Bey) verwehrt. Hier wohnt der jetzige Bey, Muhamed Essadak oder el Sadak, nur zur Zeit des Fasten­monats; gewöhnlich nimmt er für den Winter seinen Aufenthalt in einem dicht am Bardo, seiner eigent­lichen Residenz, gelegenen Palaste und verbringt den Sommer in dem kühleren Goletta. Es ist nicht der Mühe werth, den Dar el Bey mit seinen verschossenen Teppichen und ge­brech­lichen Möbeln zu be­suchen, und so folgen wir der breiten Straße, an einigen Kirchhöfen vor­über bis zum Thore. Rechts von uns dehnen sich die verfallenen hohen Mauern der Kasbah, der Festung, aus; links befinden sich die Bureaus für die Wasser­leitung, welche hier mündet und die ganze Stadt reichlich mit gutem Trinkwasser versieht.

Wir haben von hier einen schönen Blick auf die Stadt, da wir uns auf dem höchsten Punkte der­selben befinden; zu unseren Füßen das Häuser­meer, darin viele Kuppeln von Moscheen und Marabutgräbern und Minarets in großer Menge; dahinter der weite Salzsee el Bahira, in dessen Mitte ein kleines Eiland mit einem Schlosse; Flamingos in Unzahl beleben den See; jenseits erblicken wir die Stadt La Goletta, den Hafen von Tunis, links davon, höher gelegen das Araberdorf Sidi bu Said, ferner San Luigi, die zum Andenken an den auf dem Kreuzzuge 1270 ge­storbenen Ludwig den Heiligen errichtete Capelle, und das hügelige Ruinenfeld Carthagos; zur Rechten steigen Gebirge in pittoresken Formen zu ziemlich bedeutender Höhe an.

Schauen wir uns aber auch außerhalb der Ring­mauer ein wenig um! Sie umgiebt die ganze Stadt, und ihre Thore, deren eines wir soeben passirten, werden mit Anbruch der Nacht sämmt­lich geschlossen; die Schlüssel müssen dem Ferik, d. h. dem Gouverneur der Stadt, dessen großer Palast nicht fern vom Dar el Bey gelegen ist, allabendlich abgeliefert werden: ein Brauch aus früheren Zeiten zum Schutze gegen räuberische Ueberfälle unruhiger Nachbarn, der noch heute mit großer Sorgfalt beobachtet wird.

Ein reizend freundliches Bild wird uns zu Theil; eine heitere Landschaft breitet sich zu unseren Füßen aus. Nach dieser Seite fällt der Hügel, auf dem wir stehen, steiler ab, als zum el Bahira. Unten links liegt ein großer, seichter See, Sebcha Tsetjumi genannt, rechts und hinter dem See eine im Winter in saftigem Grün prangende, wohl­angebaute Ebene, durchschnitten von der Eisen­bahn und einem antiken Aquäduct; etwa eine halbe Stunde von dem Thore entfernt erkennen wir den Bardo, die Residenz, einer kleinen Stadt ähnlich, und noch weiter ab große Villenanlagen, die sogenannte Manuba. Den Horizont umfängt das Gebirge von Saghoan, und dicht zu unseren Füßen liegt ein Dörfchen seßhafter Araber mit kleinem Minaret, dessen winzige Hütten sich in mächtigen Cactushecken verstecken; auch Nomaden haben ihre Zelte unmittelbar vor den Thoren der Stadt aufgeschlagen. Zum Bardo führt in einigen Minuten die Eisenbahn, doch gestattet Seine Hoheit Muhamed Essadak Pascha Bey das Befahren derselben nur in den Morgenstunden. Das Innere des Palastes wird wenigstens theilweise gern gezeigt; interessant ist dort der Thron­saal, eine Collection von Portraits europäischer Fürsten und einige Schlachtenbilder; im Empfangs­saale fällt die Menge Uhren auf, eine merkwürdige Liebhaberei des Bey; alle sind ver­staubt und unbrauchbar, auf vielen klebt noch das Zettelchen mit Preisangabe.

Alle Sonnabend hält der Bey im Bardo öffentlich Gericht; eine mehrere Meter lange Pfeife in der Hand, umgeben von seinen Räthen, macht er kurzen Proceß: nicht ein Federstrich wird gethan, genau wie bei den Sitzungen der Polizeirichter in der Stadt, und unmittelbar auf den Spruch folgt die Vollstreckung. Nicht selten hat man das traurige Schauspiel, ganz dicht vor den Thoren des Bardo an der Heerstraße nach Schluß der Gerichtssitzung eine Reihe Gehenkter inmitten einer gaffenden Menge schweben zu sehen.

Der jetzige Bey ist gegen siebenzig Jahre alt, für sein Alter übrigens äußerst rüstig und wohlerhalten. Er ist mit großem Pompe umgeben, wenn er sich öffentlich zeigt, wie ich beim Geburts­feste des Propheten zu beobachten Gelegen­heit hatte; bei diesem Anlasse geht er, von Ministern und Generalen begleitet, vom Dar el Bey zu Fuße nach der großen Moschee zum Gebete, während Militär vor dem sich ziemlich gleichgültig verhaltenden Volke Spalier bildet. Gewöhnlich fährt er in einem mit vier prächtig auf­ge­schirrten weißen Maulthieren bespannten Wagen, welchen Mamelucken umschwärmen. Als Curiosum sei hier bemerkt, daß der Oberst der Leib­garde aus unserer Mark Brandenburg stammt; er heißt Krüger und ist der Sohn eines Bier­brauers: schon im Jahre 1831 kam er nach Tunis, trat zum Islam über und ist mit seinem Loose sehr zufrieden; einen komischen Eindruck macht es, den alten Herrn in seiner gold­strotzenden Uniform das echte märkische Platt­deutsch mit consequenter Verwechselung des „Mir“ [411] und „Mich“ sprechen zu hören; denn gänzlich hat er die Muttersprache nicht vergessen, obwohl er des Lesens und Schreibens unkundig ist. Ich mußte unwillkürlich an unsern Feldmarschall Wrangel denken, als ich „Krüger Bey“ zum ersten Male sah.

Unsern Spaziergang fortsetzend, winden wir uns kreuz und quer durch die engen, doch sauber gepflasterten Gäßchen der Vorstadt mit ihren niederen, nach der Straße zu fensterlosen, meist einstöckigen Häusern; hier wohnen arme Leute. Dort in einer breiteren Gasse wird eine Art Nachmittagsbazar abgehalten; abgetragene Kleidungsstücke, zerbrochene, im Schutte aufgelesene Hausgeräthe, altes Eisen und tausenderlei werthlose Nichtigkeiten bilden die Verkaufsartikel; unter dem Publicum bemerken wir auffallend viele Soldaten, Lastträger und Neger. Trotz allen Gedränges und Lärmens herrscht eine gewisse Ordnung, aufrechterhalten nicht etwa durch Polizisten, sondern vielmehr durch Käufer und Verkäufer selbst. Nicht weit davon sehen wir einen großen Kreis Neugieriger auf einem freien Platze, und man macht uns gern Raum, als wir zu erspähen versuchen, was es hier Sehenswerthes giebt. Es ist ein Schlangenbeschwörer, welcher sich producirt; sein Gefährte begleitet die Vorstellung mit einer eintönigen Musik, welche er auf der zweisaitigen Guitarre hervorbringt. Der Zauberer hält bald mit ihm Wechselreden, bald spricht er zu den Umstehenden, fortwährend mit seinem halben Dutzend Schlangen von respectabler Länge beschäftigt; dann sucht er das nach seiner Versicherung giftigste Reptil aus und steckt dessen Kopf in seinen Mund: siehe da! es läßt ihn unverletzt. Er erzählt grausige Geschichten von der Gefährlichkeit dieser Schlangen, von durch ihren Biß Getödteten, von der ihnen innewohnenden Zauberkraft und ihrer übernatürlichen Weisheit. Wir werfen einige Charruben in den Kreis und setzen unsern Weg fort, um bald durch eine ähnliche Gaukelei aufgehalten zu werden. Hier erzählt ein wild aussehender, ärmlich gekleideter Mann dem Volke die Heldenthaten des Abd el Kader, und Alle lauschen seinen Worten mit gespannter Aufmerksamkeit; auch er hat einen Musikanten bei sich, der die kurzen Pausen mit Gesang und Spiel ausfüllt. Der Erzähler begleitet seine Rede durch entsprechende Gesten, wechselt oft seinen Platz, ja, springt umher, wenn er z. B. den Beginn des Kampfes mit der überlegenen Feindesschaar ausmalt, und kennzeichnet das Niederschmettern derselben durch unnachahmlich energische Armbewegungen.

Die Straßen werden ansehnlicher; die Häuser sind nun höher, reicher verziert, die Portale schön decorirt und die Thorflügel geschmackvoll geschnitzt. Dicht vergitterte Fenster lassen uns mit Recht vermuthen, daß sie zu den Frauengemächern, den Harems, gehören. Wir befinden uns in einem Stadttheile, der von vornehmen und reichen Arabern bewohnt wird. Allein bald ändert sich die Scene auf die crasseste Weise. Welch entsetzlicher Schmutz in den immer enger werdenden Gäßchen! Welch betäubende, widerliche Gerüche dringen uns aus den niederen Pforten entgegen! Kein Zweifel: wir befinden uns im Judenviertel. Den unglaublichsten Schmutz kann man als das auffallendste Merkmal dieses häßlichsten aller Stadttheile von Tunis bezeichnen. Die Männer sind ebenso gekleidet wie die Mohammedaner, doch viele der Jüngeren ziehen die europäische Tracht vor, nur die Scheschieh, die rothe Mütze mit langer Seidenquaste, beibehaltend, während die Weiber es lieben, sich mit den buntesten Farben aufzuputzen, und natürlich nicht verschleiert sind; das Familienleben concentrirt sich auf den Höfen der Häuser, doch ist auch da nicht viel Erbauliches zu sehen, und wir sind froh, alsbald bei Bab Carthagena auf die breite Straße zu stoßen, welche uns zum Marinethor zurückführt.

Prächtig sinkt die Sonnenscheibe im Westen hinab. Wunderbare Farben glühen am Horizonte, und ein leiser Seewind spielt in den Blättern der Palmen und Bananen, während von den Minarets die Gläubigen zum Gebete gerufen werden. Der Christ verläßt um diese Tageszeit nicht mehr sein Quartier, ebenso der Ebräer, und bald sind die Straßen wie ausgestorben: nur selten huschen eilige Gestalten durch’s Dunkel, der Herr seinem die Laterne tragenden Diener folgend. Nur ein Gebäude im Christenquartier, von außen unscheinbar und häßlich, vereinigt in seinen Sälen zuweilen die Blüthe der europäischen und einheimisch jüdischen Gesellschaft bis spät in die Nacht hinein; es ist das Local der „Società filarmonica“, einer erst seit Kurzem zum Zweck der Pflege der Tonkunst bestehenden Gesellschaft. Auch in zwei kleinen, doch eleganten Cafés befindet sich oft noch bis Mitternacht ein Kreis von späten Gästen, und selbst die Araber kommen dorthin gern und häufig; mit dem Biere, welches sich nunmehr schon bis an die Grenzen der Wüste Bahn gebrochen, haben sie sich allerdings noch nicht befreundet; der Wein ist ihnen verboten, und öffentlich scheuen sie die Uebertretung dieses Verbots; so halten sie sich denn an Mastica, wie sie Anisette benennen, an Wermuth und vielerlei andere Arten Liqueur.

Wie rauh ist Tunis durch die politischen Vorgänge in diesem Jahre aus seiner Ruhe aufgerüttelt worden! Welchem Schicksal geht es entgegen? Diese Frage bewegt alle Gemüther, und der Araber kann und will es nicht glauben, daß sein Loos dasselbe werden solle, wie dasjenige der Stammesgenossen jenseits der algerischen Grenze. Er ist stolz auf sein Tunis, die herrliche Jungfrau, welche schon oftmals umworben wurde, doch „immer frei bleiben wird“. Vielleicht straft die Vorsehung diesen Glauben Lügen, und wiederum verschwindet ein Stück Originalität vom Erdboden.

P. R. Martini.




Das neue kaiserliche Paket- und Zeitungspostamt in Leipzig.


Um sich eine Vorstellung zu machen von der riesigen Thätigkeit der deutschen Reichspost, braucht man sich nicht die Rechnungsabschlüsse eines Jahres mit den stolzen Zahlenreihen von Hunderten von Millionen zu vergegenwärtigen; ein viel anschaulicheres Bild von dem imposanten Thätigkeitsgebiete der deutschen Reichspost gewinnt man, wenn man eine ganz kurze Spanne Zeit festhält und innerhalb des so gewonnenen Kreises die kolossale Arbeit des rastlos wirkenden Apparates überblickt. In einer Minute versendet die deutsche Reichspost bei Tag und Nacht 2247 Briefe, 1072 Zeitungsnummern, 57 außergewöhnliche Zeitungsbeilagen, 198 Pakete, 125 Postanweisungen, 10 Postauftragsbriefe und 21 Postnachnahmen; in jeder Secunde gehen von der deutschen Post nicht weniger als 55 Sendungen ab. Das ist der gewaltige Verkehr, wie er sich bei dieser Reichsanstalt im verflossenen Jahre gestaltete, und der gegenwärtig noch immer im Wachsen begriffen ist.

In hervorragender Weise tritt nun Leipzig in diesem Postverkehre auf; denn es nimmt nach der Reichshauptstadt Berlin im Verhältniß zu seiner Einwohnerzahl den ersten Rang unter den deutschen Postanstalten ein. Allein durch seinen Zeitungspostverkehr – es werden jährlich circa 10 Millionen Zeitungsnummern abgesetzt – übertrifft es Länder wie Griechenland, Portugal, Norwegen etc. Sein Postwesen ist in den letzten Jahren geradezu riesig gewachsen.

Bis zum Jahre 1863 bestand in Leipzig eine einzige Postanstalt, das „Königliche Oberpostamt“ am Augustus-Platz, welches, in den Jahren 1836 bis 1838 erbaut, anfangs Raum genug bot, um außer den Post- noch verschiedene andere sächsische Behörden aufzunehmen. Der Postverkehr wuchs aber, besonders seit 1871, in welchem Jahre die „Deutsche Reichspost“ entstand, derartig, daß das große Postgebäude, trotz mannigfacher Erweiterungsbauten, nicht mehr genügte. Es mußten in den verschiedenen Stadttheilen Zweigpostanstalten errichtet werden,[2] aber auch diese reichten nicht [412] mehr aus, da namentlich der Packereiverkehr in Folge der Einführung des ermäßigten Einheitsportos für Pakete – vom 1. Januar 1874 an – sich ganz erheblich steigerte und zwar vornehmlich auch dadurch, daß die Post in erhöhtem Maße zur Versendung der sogenannten „Buchhändlerpakete“ benutzt wurde.

Im Jahre 1877 betrug die Zahl der in Leipzig eingegangenen und für den Ort bestimmten Paketsendungen mit und ohne Werthangabe 925,685 Stück, mithin täglich durchschnittlich 2536 Stück. Es mußten daher im Interesse des Publicums weitere Einrichtungen getroffen werden, und um dem gesteigerten Verkehre volle Rechnung zu tragen, wurde der Bau eines zweiten großen Postgebäudes beschlossen und ausgeführt. Am 16. October 1880 wurde das „Kaiserliche Paket- und Zeitungspostamt“, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen, dem öffentlichen Verkehre übergeben.

Es ist ein stattliches, im Renaissancestil ausgeführtes Gebäude, welches wir an der Spitze dieses Artikels in kleinem Bilde wiedergeben, und dessen Front sich gegen die Hospitalstraße richtet, während der östliche Flügel an die Stephan-Straße angrenzt.

Das kaiserliche Paket- und Zeitungspostamt in Leipzig: Der Verleseraum.
Für die „Gartenlaube“ aufgenommen von H. Heubner.

Die Ausführung des Plans wurde vom Postbaurathe Zopf geleitet. Der langgestreckte Mittelbau, aus Parterre und einer Etage bestehend, wird an beiden Seiten durch Pavillons abgeschlossen. Die beiden Seitenflügel des Hauptgebäudes enthalten im zweiten Stocke Dienstwohnungen. Zwischen dem Hauptgebäude und den Pavillons befinden sich die Einfahrten in den großen Hof, dessen Rückseite durch das große Posthaltereigebäude begrenzt wird.

Dem Paketpostamte werden sämmtliche für Leipzig und seine Vororte eingehende Pakete zum Zwecke der Zustellung an die Empfänger in Leipzig, beziehentlich zur Vertheilung an die Zweigpostanstalten zugeführt.

Treten wir nun durch das geschmackvolle Mittelportal in die Parterreräume, die speciell dem Packereiverkehr dienen, ein, und thun wir einen Blick in den Organismus, mittelst dessen dieses Postamt seine große Aufgabe löst! Denn eine gewaltige Aufgabe muß es genannt werden, jährlich weit über eine Million Pakete in gewissenhaftester Weise den Empfängern zuzustellen. Daß, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, die strengste Ordnung herrschen, die zweckmäßigste Einrichtung getroffen und tüchtig gearbeitet werden muß, versteht sich von selbst.

Wir begeben uns zunächst durch den Niederlagsraum für die von den Empfängern abzuholenden Pakete in die nach dem Hofe gelegenen Räume. Hier ist die Paket-Abnahmehalle, und eben fahren von der Bahn kommende Postwagen am Perron vor. Die Pakete werden sofort ausgeladen und in das Paketeingangsverzeichniß nach Aufgabe-Nummer und Aufgabe-Ort eingetragen, wobei zugleich die nach den Vororten Leipzigs – nach Lindenau, Connewitz, Gohlis etc. – bestimmten Pakete abgesondert werden. In großen Korbwagen werden hierauf die Güter in den „Verleseraum“ gefahren und dieser ist es, welchen uns unser untenstehendes Bild vorführt.

Es fällt uns auf, daß wir keine Begleitadressen sehen. Dieselben werden aber von der deutschen Reichspost als Briefsendungen befördert und sind in besonderen Briefbeuteln oder Briefpaketen – den sogenannten „Kartenschlüssen“ – bereits früher eingegangen, dann durch einen Beamten in Betreff des Portos oder der verrechneten Francos geprüft oder – technisch gesprochen – „entkartet“ worden. Wohlgeordnet und auf der Rückseite mit der Nummer des Bestellreviers, in dem der Empfänger wohnt, versehen, harren nun diese Begleitadressen hier im Verleseraum der ankommenden Pakete.

Jetzt beginnt das Verlesen, in Folge dessen Pakete und Adressen den bestimmten Revieren überwiesen werben, da aber eine große Anzahl Geschäftsleute die für sie bestimmten Güter selbst abholen läßt, so werden diese Pakete – über ein Drittel des Eingangs – gleich hier in dem Verleseraum von den andern gesondert und in einem hierzu bestimmten Raume – der Paketausgabe – untergebracht. Die übrigen Pakete werden nun in Korbwagen, welche die Nummer der verschiedenen Reviere tragen, in den rechts an den Verleseraum anstoßenden Niederlagsraum für die zu bestellenden Pakete gefahren.

Es ist dies ein großer achtzig Schritt langer Raum, der durch mächtige Regale in zwanzig Abtheilungen oder Reviere getheilt ist, welche den zwanzig Postbestellbezirken, in welche Leipzig eingetheilt ist, entsprechen. In diese Reviere werden nun die Pakete vertheilt und in den Regalen genau nach der Nummernfolge geordnet niedergelegt, während für die Werthpakete eine besondere [413] Abfertigungsstelle eingerichtet ist, ebenso werden die steuerpflichtigen Pakete besonders behandelt.

Von diesem großen Niederlagsraum aus führen sechs Thüren auf den längs derselben hinlaufenden Perron, an welchen zu bestimmten Stunden, täglich dreimal, die Postpaketbestellwagen herangeschoben werden. Von hier erfolgt nun die letzte Verladung, und die Pakete werden direct ihren Eigenthümern zugeführt. Alle diese Verrichtungen folgen aber so schnell auf einander, daß die eine Stunde vor der festgesetzten Abfahrtszeit der Bestellwagen eingehenden Pakete noch mit zur Bestellung gelangen. In der Post giebt es eben keine Pause; Tag und Nacht wird hier gearbeitet.

Dreimal füllt und leert sich dieser gewaltige Raum, des Morgens, des Mittags und in den späteren Nachmittagsstunden. Fluth und Ebbe wechseln hier ganz regelmäßig mit einander ab, und am Morgen ist die Fluth am stärksten, so daß der mächtige Raum oft bis obenan mit Gütern aller Art gefüllt ist.

Da lagern Pakete in allen Formen und Arten auf und neben einander. Hier ein zierliches Paket an eine Modistin, daneben

Das kaiserliche Paket- und Zeitungspostamt in Leipzig: Der Zeitungsverpackungssaal.
Für die „Gartenlaube“ aufgenommen von H. Heubner.

die Wäschkiste für einen Studenten, auf ihr eine sogenannte „Futterkiste“ für einen Soldaten; dort ragt ein schwarzer Cellokasten hervor, an den sich eine wohlverpackte Jagdbüchse anlehnt. Wohin man auch sieht, nichts als Schachteln, Kisten, Koffer, Körbe, Fäßchen, Pakete aller Art. Draußen am Perron halten die Bestellwagen. Beamte und Unterbeamte haben vollauf zu thun. Ein reges Leben herrscht in der Halle – die Ebbe beginnt. Bald ist alles eingeladen; die Postillone besteigen ihre Plätze, und mit der Minute fahren die zwanzig Wagen ab, einer nach dem andern dem betreffenden Stadtpostbezirk zu. Jetzt ist alles leer, aber bald füllen sich die Räume wieder, und so wiederholt sich unablässig dieses bunte Treiben.

Zu gewissen Zeiten treten aber auch Springfluthen ein, nämlich zu Weihnachten und zu den Meßzeiten. Gewöhnlich sind hier siebenzehn Beamte und mit Einschluß der Paketbesteller achtunddreißig Unterbeamte thätig, bei Eintritt der Hochfluthen aber reicht das vorhandene Personal nicht aus; dann müssen zahlreiche Hülfsarbeiter zur Bewältigung der riesigen Arbeit angenommen werden. Aber selbst bei dem regsten Verkehr – im Jahre 1880 gingen 1,335,096 für den Ort bestimmte Pakete, mithin täglich 3708 Stück ein – herrscht die größte Ordnung, und ganz besonders muß hervorgehoben werden, daß die Pakete mit der möglichsten Schonung behandelt werden. Kommt aber doch einmal eine Irrung vor, so wird dieselbe baldigst aufgeklärt. Meist ist das Publicum selbst daran schuld; denn die Adressen sind mitunter unvollständig oder so schlecht geschrieben, daß sie nur schwer gelesen werden können, und öfter ist auch die Verpackung eine ungenügende. Man erleichtere also durch festes Einpacken, durch genau und deutlich geschriebene Adressen, namentlich auch dadurch, daß man die Pakete selbst mit vollständiger Adresse versieht, den Postbeamten ihre schwierige Aufgabe!

Jetzt aber steigen wir in die obere Etage, um dem Zeitungspostamte unsern Besuch abzustatten. Diese Abtheilung versendet nur die bei der Post bestellten in Leipzig erscheinenden Zeitschriften, zur Zeit 250. Außerdem hat sie für Leipzig und dessen Vororte die in Oesterreich, Baiern und Württemberg erscheinenden Zeitschriften zu besorgen und ist die einzige Postanstalt, die den Zeitungsverkehr zwischen Deutschland und Italien, sowie den Zeitungsverkehr mit dem deutschen Postamte in Constantinopel vermittelt. Auch hier ist Tag und Nacht keine Ruhe. In mächtigen, oft centnerschweren Ballen kommen die Zeitungen bei der im Parterre gelegenen Zeitungsabnahmestelle an und werden nun mittelst eines Fahrstuhls in den im ersten Stockwerke befindlichen achtzig Schritte langen und vierzehn Schritte breiten Zeitungsverpackungssaal gebracht und dort gegen Quittung übernommen. Der große weite Raum – unser Bild zeigt ihn – ist in zwei Abtheilungen getheilt. Die kleinere ist zur Vertheilung und Verpackung der politischen Blätter bestimmt; die andere größere, durch siebenzehn Fenster erhellte Abtheilung nimmt die wissenschaftlichen, die illustrirten Blätter, die Fachzeitungen etc. auf und steht mit den daranstoßenden Bureaus der Beamten in unmittelbarer Verbindung.

Der Saal ist mit einer großen Anzahl numerirter Regale, deren jedes wieder in viele Fächer getheilt ist, gefüllt. Der ganze Zeitungsverkehr ordnet sich nämlich nach den Eisenbahnverbindungen in 167 Course.

Ein solcher Cours umfaßt nun alle die an der betreffenden Linie gelegenen Postanstalten. Hier ist also z. B. das Regal mit dem 79. Cours Altona-Kiel. Ueber den Fächern lesen wir nun der Reihe nach die Namen: Albersdorf, Arnis, Ascheberg, Barmstedt, Bordesholm, Bornhöved, Bramstedt, Büsum, Burg auf Fehmarn, Cismar etc. Eben wird eine illustrirte Zeitschrift expedirt: da heißt es so und soviel Exemplare nach Albersdorf, so und soviel nach [414] Arnis, nach Ascheberg etc., bis alle die Tausend und aber Tausend Exemplare, die bei der Post bestellt sind, zur Vertheilung gekommen sind.

Gewöhnlich sind bei der Vertheilung einer jeden Zeitung ein Beamter und ein Unterbeamter thätig. Der Beamte, welcher für die richtige Vertheilung verantwortlich ist, verliest die Namen der Postanstalten und die Zahl der abzugebenden Exemplare, während der Unterbeamte die Nummern in die genannten Fächer legt. Das Geschäft wird oft gleichzeitig von dreizehn Beamten und zwanzig Unterbeamten vorgenommen, um die Zeitungsfluth, die in circa 8000 Fächern untergebracht werden muß, zu bewältigen. Die stärksten Tage sind der Donnerstag und der Freitag, weil an diesen die wöchentlich erscheinenden Blätter ihre Auflieferungstage haben, zur Zeit kommen an diesen beiden Tagen 85,700 Exemplare zur Versendung. Aber auch an den andern Wochentagen gehen viele Tausende von Zeitungsnummern nach allen Himmelsrichtungen ab.

Ist die Vertheilung vorbei, so werden die in den einzelnen Fächern liegenden Zeitungen der verschiedensten Art, zu einem Paket vereinigt, mit der Adresse des betreffenden Postortes versehen und nach Eisenbahncoursen geordnet, abgesandt. Solche Pakete gehen täglich 2186, Donnerstags und Freitags aber gegen 8000 Stück ab.

An den Fächern ließen sich nun ganz interessante Studien anstellen. Kann man doch daran, welche Blätter und wie viel Zeitungen in den einzelnen Gegenden gelesen werden, den Culturzustand dieser Ortschaften annähernd ermessen. Ein vollständig zuverlässiges Material erhält der Statistiker auf diesem Wege zwar nicht, da ja ein großer Theil der Blätter auf anderem Wege, durch Buchhandlungen etc., versendet und verbreitet wird; aber annähernd richtig wird das Bild doch sein. Wissenschaftliche Blätter gehen vorzugsweise in die größeren Städte, die Centren der Bildung; auch einzelne Landstriche, z. B. Thüringen, zeigen viel Bedürfnisse darnach; religiöse Zeitschriften finden am Rhein und in Schlesien, aber auch in Gebirgsgegenden großen Absatz; Ungarn und Galizien beziehen besonders Modejournale; auch die industriellen Verhältnisse üben hierbei großen Einfluß aus. Aber weiter Eingehendes erfahren wir nicht; denn die Post, diese große Vertrauensanstalt, hütet mit Sorgfalt ihre Geheimnisse.

Viel zu thun giebt es auf dem Zeitungspostamte zur Zeit des Quartalwechsels. Da gehen circa 30,000 einzelne Bestellzettel ein, von denen mancher 20 bis 30 verschiedene Zeitungen verlangt. Was giebt es da nicht zu rechnen! Wie viel neue Vertheilungs- und Versendungslisten sind dann wieder aufzustellen! Steht doch dies Zeitungspostamt mit circa 4000 Postanstalten in unmittelbarer Abrechnung. An den Tagen, wo die wenigsten Zeitungen zur Versendung kommen, haben die Unterbeamten die Herstellung der Umschläge zu besorgen, und daß dies keine kleine Arbeit ist, geht daraus hervor, daß allein in der Zeit vom 16. October 1880, dem Tage der Eröffnung, bis Ende Februar 1881 365 Rieß Packpapier verbraucht wurden.

Die Tausend und aber Tausend Blätter, die heute zur Post gegeben werden, sind bereits morgen früh in Hamburg, Frankfurt, München, Breslau in den Händen der Abonnenten. Und dieser riesenhafte Verkehr, im vergangenen Jahre 9,828,882 Stück, wird allein von dreizehn Beamten und zwanzig Unterbeamten besorgt. Respect vor einer so großartigen Leistung!

Wie ganz anders war’s doch noch zu [Friedrich Schiller|Schiller]]’s Zeit! Da brauchte eine zur Post gegebene Zeitung von Weimar nach Rudolstadt vier volle Tage. Die Botenfrau ging schneller, als der Postwagen fuhr, und so vertrauten ihr Schiller und Lotte ihre Pakete und Zeitungen lieber an, als der Post.

Wir steigen nun hinunter in den großen Posthof.

In langen Reihen stehen hier die wohlbekannten gelben Postwagen, des Augenblickes wartend, da sie in Dienst gestellt werden. Rechts und links sehen wir Werkstätten für Wagenbau, und das große Poststallgebäude schließt den Hof ab. Es enthält im Parterre und im ersten Stockwerk Stallungen für 160 Pferde, im zweiten Stockwerke die Wohnräume für die Postillone, und wer etwa denken sollte, diese Species wäre im Aussterben begriffen, der irrt gar sehr. Bekanntlich ritten in Berlin vierzig Postillone an der Spitze des Zuges, der die junge Prinzenbraut einholte. Sie sahen gar stattlich aus, diese lustigen strammen Posttrompeter – in der früheren gelben Uniform wäre es effectvoller gewesen. In Berlin ist also kein Mangel an Postillonen, aber auch in Leipzig ist ihre Zahl im Wachsen begriffen. Gegenwärtig sind ihrer 70 – sage siebenzig – in Dienst, welche täglich mit 105 Pferden 435 Fahrten nach den Bahnhöfen und in die einzelnen Stadtpostbezirke zu machen haben. Allerdings, die Art, die einst Lenau besang, ist es nicht mehr. Der Postillon von heute ist nicht der „Schwager“ aus früherer Zeit; denn er hat nicht mehr lebensfrohe Passagiere, sondern todte Pakete zu fahren.

Leipzig hatte noch bis zum Jahre 1873 eine Personenpost nach Pegau; dieselbe fuhr am 19. October des genannten Jahres zum letzten Mal ab. Auch sonst im deutschen Reiche vermindert sich fortwährend die Zahl der Personenposten, da sie durch die Eisenbahnen mehr und mehr überflüssig werden. Während im Jahre 1872 durch die Post noch 5,558,214 Reisende befördert wurden, ist dies 1876 nur mit 3,987,054 und 1879 mit 2,750,333 Reisenden der Fall gewesen. Immerhin noch eine stattliche Zahl! In Zukunft wird diese Zahl wieder etwas wachsen, da die „fahrenden Landbriefträger“ auf ihren Touren auch Passagiere mitnehmen dürfen und zwar nicht etwa blind, sondern ganz ordnungsmäßig gegen ein bestimmtes Fahrgeld, welches die Postverwaltung diesen modernen Postillonen als Nebeneinnahme überlassen hat.

C. Stötzner.




Franz Dingelstedt.
Von Wilhelm Goldbaum.


Einen Tag über wehte von dem grauen Gemäuer des Wiener Burgtheaters die Trauerfahne, einen Tag und nicht länger; denn das Theater ist wie das Leben: es duldet kein betrachtendes Stillstehen. Aber an diesem Tage sind zehn glanzvolle Jahre des Burgtheaters mit dem Manne in das Grab gelegt worden, von dem jene zehn Jahre Richtung und Inhalt empfangen, und dieser Mann war Franz Dingelstedt.

Das literarische Leben Deutschlands hat von Franz Dingelstedt manche fruchtbare Anregung erhalten; das ist längst vorüber, und es fragt sich, ob die deutsche Literaturgeschichte das Andenken des „kosmopolitischen Nachtwächters“ auf lange Zeit hinaus bewahren wird. Die Wiener Gesellschaft, diese witzige, leichtlebige, in den Reizen schöner Sinnlichkeit schwelgende Gesellschaft, stand fünfzehn Jahre hindurch unter dem Zauber der überlegenen Persönlichkeit Franz Dingelstedt’s, doch die Gesellschaft ist sehr vergeßlich; sie errichtet keine Mausoleen; denn sie lebt nur vom Augenblicke und für den Augenblick. Das deutsche Theater aber wird in seinen Annalen dem Namen Dingelstedt’s ein goldenes Blatt widmen, ist es doch wenigen Männern zu gleichem Danke verpflichtet wie ihm, der recht eigentlich erst der deutschen Schaubühne das Bewußtsein beibrachte, daß sie, von ihren sittlichen und pädagogischen Zwecken abgesehen, das Auge des Zuschauers nicht dürfe zu kurz kommen lassen, da es der natürliche Vermittler ist zwischen Scene und Parterre, zwischen Schauspieler und Publicum.

Von der schönen Stelle in der schönen Kaiserstadt, wo er wohnte – Stadt und Vorstadt scheiden sich dort durch einen Gürtel grüner Oasen, und das Auge fliegt über den Stadtpark fort an dem herrlichen Thurm von Sanct Stephan empor – bewegte sich der imposante Trauerzug hinter dem Sarge Dingelstedt’s, Schauspieler, Schriftsteller, Cavaliere und Finanzmänner in reicher Mischung; am Grabe sprachen für das Burgtheater Adolf Sonnenthal, für die Literatur Johannes Nordmann bewegte Abschiedsworte. Aber nicht mit der Stimmung am Grabe und nicht mit Regungen, welche die Stunde weckt, ist erschöpft, was über Franz Dingelstedt zu sagen ist; denn in sein Andenken theilen sich nicht blos Diejenigen, welche die letzten anderthalb Decennien gemeinsam mit ihm verlebten – er gehört der Geschichte des gesammten deutschen Schriftthums und der Geschichte des gesammten deutschen Theaterlebens an; seine Wirkungen wie sein Ruf reichten weit hinaus über das Weichbild Wiens, dem er nicht durch Geburt [415] angehörte und auch nicht durch locale Aneignung, da er bis zu seinem Ende ein „Kosmopolit“ geblieben ist im besseren und auch im weniger guten Sinne dieses Wortes.

Der Literarhistoriker freilich hat es nicht leicht, dem Todten gerecht zu werden, wenn er nicht den Muth besitzt, sich Franz Dingelstedt in zwei Gestalten vor das Auge zu rücken, in der Gestalt des „Nachtwächters mit den langen Fortschrittsbeinen“, wie ihn einst Heinrich Heine nannte, und in derjenigen des Hofrathes und Barons Franz von Dingelstedt mit den zahlreichen Orden. Ja, für den Literarhistoriker ist eigentlich nur der „kosmopolitische Nachtwächter“ vorhandenen; denn in dem deutschen Schriftthume werden Dingelstedt’s Lieder in dem Maße Geltung behalten, als sie zur Physiognomie der politischen Lyrik gehören, jener politischen Lyrik, die vor vierzig Jahren das Zeichen und den Anstoß gab zu freierem Denken und Streben in Deutschland. Neben Herwegh und Prutz, Freiligrath und Hoffmann von Fallersleben hat Dingelstedt als Dichter seine Stelle; mit ihrem Andenken wird das seinige leben und sterben. Was er später an Gedichten und Romanen schuf, war rasch vergänglich. Aber um Gerechtigkeit zu üben, muß man die Persönlichkeit Dingelstedt’s psychologisch zu erfassen suchen, und tieferer Betrachtung zeigt sich dann auch schon in den Anfängen die Brücke, welche vom „kosmopolitischen Nachtwächter“ zum Hofrathe und Freiherrn hinüberführte.

Es hat vielleicht niemals einen geistreicheren Pessimisten gegeben, als Franz Dingelstedt. Er spottete über Alles und nahm sich selbst davon nicht aus. Als er, ein gemaßregelter Gymnasiallehrer im Hessenlande, zur Feder griff, war es die Misère der deutschen Kleinstaaterei, welche seinen Spott erregte; er geißelte sie in den „Liedern eines kosmopolitischen Nachtwächters“. Pathos und Humor, Gemüthstiefe und Verstandesschärfe vereinigten sich in diesen Liedern, um ihren Schöpfer mit Einem Schlage zum berühmten Manne zu machen. Damals war gar bald ein Märtyrer, wer in Deutschland ein aufrichtiges Wort öffentlich zu sagen wagte, und so wurde Dingelstedt fast ohne sein Hinzuthun zum gefeierten Dulder. Aber in dem hochgewachsenen, von dem heißen Bemühen um jedwede Art von Eleganz und Weltläufigkeit erweckten Manne hatte sich nicht sowohl der Schmerz über das politische Elend seines Volkes, als vielmehr die eingeborene Skepsis zum poetischen Ausdrucke durchgearbeitet. Diese Skepsis war es auch, welche wenige Jahre später denselben „Nachtwächter“ in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ jene vernichtenden W. W.-Briefe (Wiener Währungsbriefe) schreiben ließ, in denen er mit gleicher Formvollendung in der Prosa die literarischen und gesellschaftlichen Zustände der nämlichen Stadt, die ihn jetzt so pietätvoll zum Grabe geleitet, erbarmungslos zersetzte.

Und wieder nach zehn Jahren war er Hoftheaterdirector, wobei es ihm nicht widerstrebte, die Formen des Hofmannes zu beobachten, obwohl unter der glatten Oberfläche stets von Neuem das Mißvergnügen über Alles und über Alle, über sich und die ganze Welt in den geistvollsten Aperecus hervordrang. Man hatte ihn eben mißverstanden, da man seine Nachtwächterlieder als politisches Glaubensbekenntniß angesehen, mißverstanden, da man in seinen Romanen und Novellen, in dem ersten Roman „Unter der Erde“, wie in dem letzten, „Die Amazone“, nichts als den selbstlosen Schaffensdrang einer genügsamen Dichterseele erblickt, mißverstanden endlich, da man ihn, weil er in Hofdienste trat und sich adeln ließ, des Abfalles beschuldigt hatte. Als Dichter von mehr formaler als schöpferischer Kraft, zum Politiker in jeder Beziehung untauglich, hatte er nichts gewollt und erstrebt, als kraft seines Geistes sich selbst eine bequeme Lebensbahn zu schaffen und allen Anderen, Groß wie Klein, Vornehm wie Bürgerlich, die Ueberlegenheit zu beweisen, welche sich aus dem Vereine einer blendenden literarischen Vielseitigkeit mit eleganter Weltläufigkeit ergiebt. Getäuscht hat er Niemanden als vielleicht sich selbst; denn es ist gewiß, daß er schließlich mit der Gestaltung seines Lebenslaufes keineswegs zufrieden war und daß er, je mehr ihm das Dasein sich neigte, sich selbst herber belächelte, als die Anderen. Soll man daraus einen Tadel herleiten, daß er nicht künstlich zu geben trachtete, was er von Natur aus nicht besaß? Daß er nicht sittliches Pathos, nicht politische Ueberzeugungstreue heuchelte, da sein ganzes Wesen ihn drängte, ästhetische Befriedigung zu suchen und in feinster Aeußerlichkeit, statt in formloser Vertiefung aufzugehen?

Die Menschen, welche mit ihm verkehrten, wissen, daß er sich selbst nicht verkannte. Es war ihm oft zum Weinen, während er lächelte, und wie alle Pessimisten konnte er wahrhaft grausam sein gegen die Anderen, die er tief unter sich zu sehen vermeinte, ohne daß ihm irgend welche böse Absicht die Worte eingab.

Ein Schauspieler kam, um sich zu beschweren, daß der Theaterdiener ihm alle Rollen abgefordert.

„Haben Sie ihm die Rollen gegeben?“

„Gewiß, Herr Director; er sagte: auf Befehl.“

„Nun, dann sind Sie ja außer aller Verantwortung.“

Heinrich Laube entwickelte ihm einst seine theatralischen Zukunftspläue mit feuriger Beredsamkeit. Dingelstedt hörte aufmerksam zu; dann unterbrach er plötzlich den Sprecher:

„Mir scheint, Sie nehmen die Sache ernst?“

Ein hervorragendes Mitglied des Burgtheaters kam, um Beschwerde zu führen, daß ihm ein anderes Mitglied eine Rolle weggeschnappt hatte. Kaum hatte er begonnen, so fiel Dingelstedt ihm in die Rede:

„Sie wollen mir Grobheiten sagen; da haben Sie Tinte, Feder und Papiere schreiben Sie Alles auf! Da können Sie mir mehr sagen, und Ihnen wird leichter werden.“

Der tägliche Verkehr mit großen und kleinen Schauspielern und Schauspielerinnen, die Sorge um die Scheinwelt der Decorationen und Coulissen sind eben nicht geeignet, die Anlage zum Spotte in einem hervorragenden literarischen Manne zu mindern, wie sie auch die dichterischen Gaben, die er besitzt, eher zu zerstöreu als zu fördern vermögen. Es ist kaum irgend etwas charakteristischer für das gleiche Maß von Ironie, mit welchem Dingelstedt sich selbst und die Anderen bedachte, als das Wort, das er einst einem Journalisten sagte, der von ihm für eine lobende Recension bedankt sein wollte: „Sie glauben gar nicht, mein Freund, wie viel Lob ich vertragen kann.“

Und trotz alledem war in diesem malitiösen Spötter bis in die letzten Tage seines Lebens ein stark patriotischer Zug, der bisweilen fast ergreifend zum Ausdrucke kam. Hatte die Politik ihm niemals unmittelbar die Seele bewegt, so wurde er sich doch in verstärktem Maße seines Deutschthums bewußt, da in diesen jüngsten Zeiten die Slaven in Oesterreich sich ungeberdig in den Vordergrund drängten, und in einer poetischen Mahnung an seine Enkel schrieb er halb stolz, halb müde:

„Ein babylon’scher Sprachenbrei,
Was soll Großvaters Deutsch dabei?
Doch Ihr erlebt, wenn’s Gott gefällt,
Daß deutscher Geist beherrscht die Welt.
Dann ruft Ihr hoch- und wohlgemuth:
In uns auch fließt das deutsche Blut.
Der Großpapa, nun manches Jahr
Schon todt, ein deutscher Dichter war.“

So geht, wie immer er auch beschaffen sein mag, durch des Dichters Herz der Riß der Welt. Und ein deutscher Dichter war Franz Dingelstedt trotz der Verwandlung aus dem „kosmopolitischen Nachtwächter“ in den österreichischen Baron. Die Orden und Decorationen vermodern mit seinem Leibe in dem kühlen Verließ unter der Erde, aber es wird ja nicht immer so sein, daß es einem Dichter als undeutsch erscheinen wird, in Oesterreich zu leben. Heute mag es diesen Anschein haben; denn es ist wenig Anlaß zu nationalem Stolze für die österreichischen Deutschen vorhanden. Doch der Dichter ist ein Prophet. Wenn’s Gott gefällt, so erleben die Enkel, daß deutscher Geist die Welt beherrscht - und ein liberaler deutscher Geist! Denn leider darf man sich nicht verhehlen, daß es eine illiberale Zeit war, die traurige Jugendepoche Dingelstedt’s, die Epoche der Blüthe des deutschen Bundes, welche manche glänzende Begabung nach kurzem Aufleuchten zerstörte oder von der rechten Bahn ablenkte. Sie ist verantwortlich für Alles, was Dingelstedt seinem Volke schuldig blieb. Er besaß, wenn wir ihm auch eine eigentlich schöpferische Kraft bereits absprachen, manches was zum Poeten gehört: ein wunderbares Formgefühl, eine leicht erregbare Empfindung, eine vortreffliche Darstellungsgabe, ein hohes Maß von Bildung – nur die Fähigkeit, zu dulden, fehlte ihm. Und gerade die mußte ein deutscher Dichter vor vierzig Jahren besitzen um nicht zu irren. Sie sind ja nun Alle todt bis auf Zwei, die in jenen Zeiten gesungen und gelitten. Innerhalb eines Jahrzehnts sind sie hingegangen, zuerst Prutz, dann Hoffmann von Fallersleben, Herwegh, Freiligrath, nicht „ohne Spur“, wie Herwegh ergreifend klagte, aber allerdings mit „stückweis gebrochenem Herzen“. Nur Gottfried Kinkel lebt und Einer, der nicht ganz [416] dieselbe Bahn mit ihnen wandelte, Emanuel Geibel. Das „Elend“, welches Dingelstedt’s „Kraft brach“, war ein glänzendes Elend, beschienen vom Lampenlicht, durchweht von Hofluft, die noch selten einem deutschen Dichterleben gedeihlich war. Nicht mehr als Parias, als Märtyrer mit dem Kainszeichen auf der Stirn wandeln unsere Poeten durch die Welt, und das ist gut, aber sie werden auch zu Hof- und Weltmännern niemals taugen, und auch das ist gut; denn der Dichter gehört dem Volke, dessen Lust und Leid zu singen er berufen ist. Kein Minnesold, aus den Höhen der Gesellschaft empfangen, mag sich mit dem Dichterlohne vergleichen, den das Volk zu spenden hat. Mit Unsterblichkeit lohnt das Volk; mit Orden und Titeln lohnen die Könige. Was bliebe einst vom Hofrath, vom Baron, wenn das deutsche Volk sich nicht mehr an den Dichter in diesem Hofrath und Baron erinnerte?

Wenn indessen auf dem Dichterpfade Franz Dingelstedt’s nicht alle Knospen aufsprangen, wenn man nach „Nachtwächters Stillleben“ und „Nachtwächters Weltgang“ lang und bang zu warten hatte, bis hier und da wieder ein Ton, so rein und so fein wie ehedem, von Dingelstedt’s Lippen kam, so hat er dagegen als Theaterdirector jeder Erwartung genügt, wenn nicht alle übertroffen. Und hier darf man, ob man auch im Uebrigen vielleicht das Verdienst um das Theater nicht in der ersten Linie der Verdienste um Cultur und Literatur erblicken mag, von dem hessischen Schulmeister sagen, daß er einen schier phänomenalen Weg gemacht. Man braucht in dieser Richtung nur anzudeuten, um Dingelstedt gerecht zu werden.

Als dramatischer Schriftsteller hat er sich mit einer Tragödie „Das Haus der Barneveldt“ herausgewagt; Viele meinen, dieselbe lasse tief bedauern, daß Dingelstedt nicht auf der Bahn des dramatischen Schriftstellers ausharrte, Andere stellen das Stück nicht hoch, und ihnen scheint die Factensprache des Repertoires völlig Recht zu geben. Dem sei indessen wie ihm wolle! War Dingelstedt kein Bühnendichter, so war er doch ein Bühnenleiter von seltenem Können. Und man begreift deshalb, warum die Großen und Vornehmen dieser Erde des Zauberkünstlers habhaft zu werden suchten, der die Welt des Scheines und der Bretter mit neuem Glanze belebte, warum andererseits die Finsterlinge ihm, dem „kosmopolitischen Nachtwächter“ von damals, die Gunst der Höfe zu rauben, zu vergiften trachteten. Als er in München mit Dönniges und General von der Tann zu den Günstlingen des Königs Max gehörte, ward durch das Baierland von den Ultramontanen der lateinische Spruch verbreitet:

A duobus D
Et uno T
Liberi nos, Domine!
(Von zweien D
Und einem T
Befreie uns, o Herr!)

In Weimar nannte ihn die knirschende Auflehnung eingerosteter alter Bühnenpraktiker nicht anders als „Herr von Dünkelstedt“. Auch in Wien hat er bei aller Glätte sich niemals in vollen Einklang mit den Stimmungen des Hofes zu setzen vermocht, weil er nicht seine ganze Persönlichkeit gegen die höfische Gunst dahin geben wollte und weniger zu geben dem Hofmanne nicht erlaubt ist, zumal wenn er eine demokratische Vergangenheit vergessen zu machen hat. Dingelstedt ist Director des Wiener Opernhauses gewesen, als er Director des Burgtheaters sein wollte, und Director des Burgtheaters, als er mit seinem ganzen Ehrgeiz darnach strebte, die Leitung beider Bühnen in seiner Hand zu vereinigen. Erst als die tödtliche Krankheit seine Kraft aufzuzehren begann, nahte ihm die Erfüllung seines Traumes; er sollte sich ihrer nicht mehr erfreuen.

Seines Traumes? Hat der Pessimist überhaupt geträumt?

Nun er ist immer just das nicht gewesen, was er gerade sein wollte, Baron, aber nicht Mitglied des Herrenhauses, Hofrath, aber nicht Intendant, Günstling der Großen, aber nicht Diplomat. Darin bestand sein Leid, das ewige Ach und Weh seines Ehrgeizes, und es ist schlechthin unräthlich, seine Ironie und Selbstverspottung als etwas zufällig Individuelles anzuschauen. Er hat mehr gewollt als gekonnt, weil man so verstockt war, ihm den „Nachtwächter“ nicht vergessen zu wollen, weder oben noch unten. Von oben betrachtete man ihn mit Mißtrauen; von unten hieß man ihn nicht selten einen Renegaten. Die Leute sehen einem ja nicht in’s Herz; sie wissen nicht, was darin vorgeht. Aber Hindernisse dort und hier zu finden, dort, wo man in dem engen Cirkel der Gymnasiallehrerexistenz nicht verbleiben wollte, hier, wo man trotz aller äußeren Ehren nicht als voll angesehen wird, das macht bitter, hart gegen sich und Andere. Nennt man sich nicht rund heraus den „Pechvogel aus Kurhessen“, so persiflirt man im Voraus seinen eigenen Tod.

„Gebt mir ein Dutzend Trauerspiele,
Die ich zum Einschlaf stets bedarf,
Zündhölzchen, Bürsten, Gänsekiele,
Mir niemals, Andern oft zu scharf,
Den Schwamm, Vergangnes auszuwischen,
Ein Glas, aus dem man Lethe trinkt,
Auch Kölner Wasser zum Erfrischen,
Wenn’s drunten wie hier oben stinkt!“

Der Dichter verpfändet eben mit den ersten Liedern, die er seinen Volke singt, seine Zukunft; er gehört sich selbst von dem Augenblicke nicht mehr an, da sein Volk ihm seine Lieder nachsingt. Und wenn er dann auch sich in den berühmten Theaterdirector verwandelt, wenn ihm anscheinend alle Blüthenträume gereift sind, er fühlt doch in seinem Innern, daß er sich selbst fremd geworden:

„So wärme dich am fremden Herde;
Denn einen eignen hast du nicht,
Und sprich von deiner Muttererde,
Wo man in fremden Zungen spricht.“

Auch der andere von den beiden großen deutschen Theaterdirectoren der letzten dreißig Jahre, Heinrich Laube, war mit seinem Wirken auf die Kaiserstadt an der Donau angewiesen, weil nun einmal hier das erste deutsche Bühneninstitut vorhanden und der Sinn der Wiener Bevölkerung wohl mehr als der in irgend einer andern Großstadt dem Theater zugewendet ist. Auch Heinrich Laube hat seinen vollen Antheil an der Bühne des Burgtheaters. Aber Laube ist eine Art Puritaner, wo Dingelstedt der farbendurstige, abwechslungsdedürftige Weltmann war. Laube hat die innere Nöthigung empfunden, seine Acclimatisirung an Wien zu erklären, und es ist oft beinahe erheiternd, wie er sich zu erweisen bemüht, daß in seiner schlesischen Heimath ein engerer geistiger Zusammenhang mit Wien als mit Berlin bestehe. Dingelstedt ist solchen Reflexionen scheu aus dem Wege gegangen, nur bisweilen brach es ihm wie ein Ton ängstlicher Sehnsucht aus der Seele, sei es, daß er, wie in den „Liedern aus der Fremdenlegion“, den Schmerz des Heimwehs vorausahnend empfand:

„Wohin uns auch das Schicksal treib’,
Es dorre uns die Hand am Leib,
Die gegen dich zum Muttermord
Sich hebt, trotz Werbung und Accord –“

sei es, daß er, wie am 1. August 1866, dem Könige von Preußen mit ergreifendem Pathos zurief:

„König von Preußen, du mußt sterben,
Als deutscher Kaiser aufzustehn!“

Heinrich Laube hat Talente entdeckt und sie sprechen gelehrt. Sonnenthal, Lewinsky, die Wolter. Es blieb in dem „Jungdeutschen“ immer etwas Lehrhaftes aus seiner Theologenzeit; die Bühne galt ihm als eine Kanzel. Franz Dingelstedt, der die Sängerin Fanny Lutzer zur Frau nahm und von Anfang an dem operistischen Elemente auf dem Theater zuneigte, hat die Bühne zu einer Augenweide gemacht, ohne das wirksame Element des Wortes dabei zu verkürzen; er erzielte lange vor den Meiningern die glänzendsten scenischen Massenwirkungen in der Wiener Hofoper, und als er zum Burgtheater übertrat, brachte er die Intentionen des Weltmannes mit, der nicht blos gut und richtig, sondern auch sein und belebt sprechen hören will, dem es nicht genügt, die Einbildungskraft des Parterres durch ärmliche Andeutungen zu spannen, sondern der es vorzieht, der Illusion auf halbem Wege entgegenzukommen, und ihr nicht zumuthet, ein Boudoir oder einen Salon sich vorzustellen, die ebenso gut eine Küche oder ein Vorzimmer sein könnten.

In der ganzen Art seines Kunsttriebes war es begründet, daß Dingelstedt im Burgtheater das Conversationsstück zu üppiger Blüthe brachte, und es verschlägt dabei wenig, daß er L’Arronge und Moser in den Kreis hineinzog. Der Theaterdirector, welcher die Gegenwart vernachlässigt, ist kein geschickter Mann, und wenn diese Gegenwart nun einmal die Grenzen zwischen Lustspiel, Posse, Schwank zu verwischen liebt, so begeht sie eine ästhetische Sünde, nicht er. Es bleibt dennoch ein Ruhm Dingelstedt’s, daß in dem Burgtheater auch mittelmäßige Stücke durch die Kunst der Darstellung wirksam erhalten werden. Nicht weniger schief ist es, zu behaupten, Dingelstedt’s Theaterleitung sei parallel mit dem [417]

Khrumir. Tunesischer Soldat. Landmädchen. Straßenmusikant.

Vornehme Tunesen.
Tunesische Volkstypen.
Nach Photographien und Skizzen von P. R. Martini auf Holz gezeichnet von G. Nestel.




Verfalle des deutschen Bühnenwesens gegangen, indem sie das Hauptgewicht auf Schaustellungen und Aeußerlichkeiten gelegt habe.

Ueber das Maß dessen, was zum vollen Genusse des Gebotenen unerläßlich war, ist das Burgtheater doch nicht hinausgegangen, und in der Wiener Hofoper, welche Dingelstedt durch vier Jahre leitete, bei Aufführung des „Tannhäuser“ und „Lohengrin“, war die Entwickelung von Pracht und Pomp völlig angebracht. Der Verfall des deutschen Theaters hat andere Gründe; die großen Schauspieler starben aus, und der Nachwuchs begabter dramatischer Dichter ist dürr und spärlich. Das zu ändern liegt nicht in eines Theaterdirectors Hand.

Wohl aber wird unvergeßlich bleiben was Franz Dingelstedt [418] dem deutschen Theater durch Musterausfführungen, Neubearbeitungen und Inscenirungen geleistet hat. Kaum war er vom württembergischen Hofrath und Bibliothekar zum Intendanten des baierischen Hof- und Nationaltheaters emporgestiegen, so veranstaltete er jene vielbesprochenen und vielbesuchten Musteraufführungen der dramatischen Meisterwerke Goethe’s, Schiller’s und Lessing’s, an denen die hervorragendsten Schauspielkräfte Deutschlands sich beteiligten. Und als er – man lese darüber seine reizenden „Münchener Bilderbogen“ nach – mit dem Reugelde eines Adelstitels in München verabschiedet ist, führt er, zum Generalintendanten in Weimar ernannt, zur Feier des Schiller-Tages den ganzen Cyclus der größeren Dramen Schiller’s auf, zur Feier des Shakespeare-Jubiläums dann auch die historischen Dramen des unvergleichlichen Briten. Da hat er denn, wie auch später in Wien, gezeigt, was es mit den vielangefochtenen Aeußerlichkeiten auf der Bühne für eine Bewandwiß hat. Ohne sie und die seine Nachhülfe in der Bearbeitung, welche ihm zu danken ist, wären die Shakespeare’schen Historien geblieben, was sie bis dahin waren. Anachronismen, an denen die Gegenwart sich nicht mehr zu erwärmen vermochte. Er hat Großartiges auch mit Goethe’s „Faust“ geplant, den er für die Bühnenaufführung trilogisch einrichten wollte. Der Tod ist rauh dazwischen getreten, und es blieb nichts als der Umriß in der „Faust-Studie“ übrig, den ich ihn einst selbst mit hinreißender Beredsamkeit vor einem auserlesenen Publicum entwickeln hörte; denn er war auch ein Vortragsmeister von seltener Virtuosität, und wenn er sprach, so zeigte sich erst, wie er zu lehren verstand.

Die Trauerfahne ist längst wieder von dem grauen Gemäuer des Burgtheaters verschwunden. „Die Raben flattern aus, aber zu früh,“ sagte Franz Dingelstedt auf seinem schmerzensreichen Krankenbette, als zahlreiche Anfragen über sein Befinden einliefen. Jetzt flattern sie nicht mehr, aber auch er ist fort. An einem Frühlingsmorgen ward der Siebenundsechszigjährige hinweggenommen. „Wer wird sein Nachfolger werden?“ fragt man sich in Wien; denn es giebt kein volksthümlicheres Institut in der Donaustadt als das Burgtheater, und keine artistische Sorge ist dort größer als diejenige um das alte Haus am Michaeler Platze. Ja, wer wird Dingelstedt’s Nachfolger werden? Wer kann es werden? Was er der deutschen Literatur geschenkt, das liegt beschlossen in einer schönen Gesammtausgabe von zwölf Bänden; was er dem deutschen Theater gewesen, soll erst noch von berufenem Munde gesagt werden. Als in Wien vor Jahr und Tag eine Autographen-Festschrift erschien, da schrieb er – es war gerade um die Zeit, da er Grillparzer’s Lustspiel „Weh dem, der lügt!“ zu neuem theatralischen Leben erweckt hatte – auf seinem Krankennette die Worte nieder: „Weh dem, der liegt!“ Das war der alte Pessimist, der an sich und die Welt nicht glaubte. Aber die Welt hat an ihn geglaubt, die Welt nämlich, welche die Wände des Burgtheaters umschließen, und das ist die gesammte deutsche Theaterwelt. Und diese Welt darf zweifeln, daß Franz Dingelstedt einen Nachfolger finden werde, der es ihm gleichthut. Dichter und Theaterdirector in Einer Person - wo findet sich heutzutage diese Vereinigung, die das Geheimniß war von Franz Dingelstedt’s fruchtbarem Wirken?




Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.

1. Geschichtliche Entwickelung der Volkshygiene.

Als Cyrus für sein Heer Aerzte besorgen wollte, rieth ihm sein Vater Kambyses: „er sollte lieber Wächter der Gesundheit anstellen und Vorkehrungen treffen, daß seine Leute nicht krank würden; nur mit gesunden und lustigen Soldaten ließen sich Siege erfechten, die Aerzte aber lieferten nur Flickarbeit.“ Noch in der Kriegsführung unserer Tage pflegt sich als die weitsichtigere die nach diesem Grundgedanken handelnde Heeresleitung zu bewähren, und ebenso wenig wie den Feldherren war dieser Gedanke den weisesten Gesetzgebern des Alterthums fremd.

Es gilt einen gedrückten, durch erbliche Aussatzkrankheit verkommenen Stamm in ein Rassevolk ersten Ranges, in eine selbstbewußte, erobernde Nation umzuwandeln – und Moses nimmt nicht einen Troß von Aerzten, Wickelfrauen und Krankenpflegern mit auf seinen Wüstenzug, sondern er drillt die sich ihm Anvertrauenden nach den raffinirten Maßregeln der ägyptischen Sanitätsgesetzgebung. Jehovah selbst überwacht jeden Satz der Gesundheitslehre; sein Zorn scheucht den durch unreine Berührung Angesteckten aus dem Vorhofe des Tempels; sein Fluch trifft den gegen die Reinigungsvorschriften, die Speiseordnung, die Wohnungspolizei und Krankenisolirung sich vergehenden Frevler. Der priesterliche Sanitätspolizist dringt in alle Geheimnisse des Hauses und der Familie ein; von der Geburt bis über das Grab hinaus verfolgt er jede menschliche Handlung; vom Lebensgenuß des Einzelnen, von persönlichen Rechten und Freiheiten ist nicht die Rede.

Und doch fehlen die helleren Farben der Hoffnung und Verheißung in diesem aus Drohung und Abschreckung gewebten Wohlfahrtsgesetz nicht ganz, indem der Gesetzgeber als Lohn seiner Befolgung Wohlergehen und ein langes Leben hinstellte. Einer nationalen Auffassung, welcher die Aussicht, das Alter der Patriarchen zu erreichen und dabei gesund zu bleiben, sogar die Verheißung eines besseren jenseitigen Lebens ersetzte, mag es auch leicht erschienen sein, die tief eingreifenden, über dem Leben lastenden Gesundheitsvorschriften blindlings zu befolgen.

Eigenthümlicher Weise preist auch unter den griechischen Gesetzgebern der Begründer einer despotischen, alle persönliche Lebensfreude unterjochenden Volksgesundheitslehre am lautesten das hohe Alter als ein besonderes Verdienst: Lykurg, der die spartanischen Mädchen durch Wettlauf und Turnen zur kräftigeren Entwickelung zwingt, der über das Knabenalter die härtesten Züchtigungen, über den Mann die Entfremdung von der Familie verhängt, der sich nicht scheut, die Vernichtung kränklicher und schwächlicher Neugeborenen als Staatsgebot auszusprechen, fordert für das Greisenthum nicht etwa nur Schonung, sondern höchste Verehrung. Das Alter soll hier direct als etwas Verdienstliches angesehen werden und zwar nicht nur etwa wegen seiner durch die Nestorjahre erworbenen Weisheit, sondern auch weil es sich so lange im Widerstande gegen das demütigende Loos der Sterblichkeit zu erhalten wußte.

Daß „nur im gesunden Körper ein gesunder Geist wohne“, war der Grundgedanke des mehr vergeistigten Griechenthums, wie es sich besonders in Athen entwickelte. Die edle Harmonie der leiblichen und seelischen Natur, die Entfaltung des ganzen Menschen in Rüstigkeit, Schönheit und Gesundheit strebten die Gesundheitsgesetze dieses zur Erfüllung solcher Wünsche wie geborenen Volkes an. Mit den Gymnasien in unmittelbarer Verbindung standen die öffentlichen Bäder, deren durchdachter Comfort noch heute Gegenstand unseres Neides sein könnte; den Fremden und Herbergesuchenden beschützte kein geringerer Gott, als Zeus selbst; der Mensch sollte dem Menschen als ein den Göttern geweihtes Heiligthum gelten. Aber keine Spur des Ueberganges findet sich zwischen dem Gesundheitsideal des freien Bürgers und der elenden Lage des arbeitenden Sclavenproletariats. Selbst nach den winzigsten Andeutungen einer volkswirthschaftlichen Schätzung des Arbeiterlebens (wie sie uns in so hoher Entwickelung als bewußtes Streben der amerikanischen Sclavenhalterei entgegentrat) suchen wir bei den Griechen vergebens. Wie der eingeborene Sclave in den Werkstätten und Steinbrüchen schnell abgenutzt wurde, ohne daß ein Gesetz sein Leben und seine Gesundheit schirmte, so wanderte der kriegsgefangene Barbar und der Verbrecher in Ketten nach den Bergwerken, um nach Plutarch’s Ausdruck „als ein ausgestoßenes und nicht mehr mitgezähltes Opfer der menschlichen Gemeinschaft, in ungesunden und verpesteten Räumen zu Grunde zu gehen“.

Und eine gleiche Unebenheit zeichnet die öffentliche Gesundheitspflege des republikanischen und kaiserlichen Roms aus. Hier mußte Alles, was sich auf sie bezog, groß, in die Augen fallend sein, mußte vor Allem den Zweck erfüllen, seinen Schöpfer populär zu machen. „Drei Dinge sind es,“ meint Strabo, „welche von den Griechen vollkommen vernachlässigt, von den Römern dagegen ohne Scheu vor Kosten mit mühevollster Arbeit zweckmäßig ausgeführt wurden: der Bau der Cloaken, der Wasserleitungen und der großen Verkehrswege.“

Um ihr durch lange Benutzung verstopftes Canalisationsnetz zu reinigen, gab die Stadt im Jahre 184 vor Christo auf einmal 1000 Talente (3,600,000 Mark) aus, und wie genügend auch die

[419] Wasserversorgung schon von Alters her gewesen war, so ergossen sich zur Zeit der ersten Kaiser die jungfräulichen Quellen des Gebirges, meilenweit in unterirdischen Röhren oder auf gewaltigen Bogenreihen in die Stadt geleitet, sogar in wahren Strömen aus kunstvoll gewölbten Grotten; sie breiteten sich wie Deiche in reichverzierten Marmorbehältern aus oder stiegen plätschernd in den Strahlen prächtiger Springbrunnen auf, deren kühler Hauch die Sommerluft erfrischte und reinigte. Und nicht dieses Rom, „die Stadt“ allein oder nur einige besonders reiche Provinzialstädte waren es, die von dem Geschick der Römer zu Verkehrsanlagen und Wasserbauten Nutzen zogen: noch in unseren Tagen stoßen wir allenthalben aus Aquäducte, Brücken und Durchlässe, Dämme, Trockengräben etc. – Beweise des Fleißes römischer Legionen und des hygienischen Tactes ihrer Führer.

Dabei sprachen aber die Anlage der Gassen und das Innere der gemeinen Wohnhäuser selbst in der Hauptstadt des Weltreiches allen Gesundheitsvorschriften Hohn. Die Häuser wurden übermäßig erhöht und waren trotzdem übervölkert; Brände und Epidemien fanden schnell und leicht Verbreitung. Wenn die Gluth des Sommers die erste Feige reifte, wenn der Leichenbesorger mit seinen schwarzen Trabanten immer häufiger auf den Straßen gesehen wurde, und Väter und Mütter für ihre Kinder zitterten, dann entfloh, wer es nur irgend ermöglichen konnte, der von mörderischen Fiebern geplagten Stadt und suchte höher und gesünder gelegene Orte auf; denn allen Kunstbauten zum Trotz wußte man sich machtlos gegenüber den bösen Ausdünstungen der nahen Sümpfe und den Folgen der häufigen Ueberschwemmung des Tiberflusses. Man gab die aus Municipien und Colonien, ja dem ganzen Erdkreise zusammengeströmten, heimath- und besitzlosen Volksmassen den stets wiederkehrenden Fiebern ohne Widerstandsversuch preis.

Als dann noch später das Kaiserthum durch Aufruhr der Feldherren, Sturz der Kaiser, durch ihre eigenen und ihrer Verwandten elende und absurde Leidenschaften zerrissen war, da half es wenig, dem Fieber, dem Getreidebrand und der Pest Altäre zu errichten: das stolze Rom entvölkerte sich durch Hungersnöthe und Volkskrankheiten, es sank zu einem elenden Nest herab und galt selbst den herandrängenden Barbaren als Ort des Schreckens, als Herd schnelltödtender Seuchen.

Alles, was im Alterthum für die Volkshygiene geschehen war, kam ohne directe Mitwirkung der Heilwissenschaft zu Stande. Obwohl Hippokrates in seinem merkwürdigen Buche „über die Luft, das Wasser und die locale Vertheilung der Krankheiten“ manchen beachtungswerthen Wink gegeben hatte, waren seine kaum verstandenen Lehren selbst dem Gedächtniß der Nachfolger schnell entschwunden. Die gesellschaftliche Stellung der Aerzte in Rom war aber eine so klägliche, daß wohl schwerlich jemals einer der stolzen Aedilen und Censoren daran dachte, ein ärztliches Gutachten über Gesundheitsanlagen einzuholen.

Und noch bis in das spätere Mittelalter hat die Heilkunde kein Bewußtsein ihrer höheren Aufgaben erlangt, geschweige einen Einfluß auf die Gestaltung der öffentlichen Wohlfahrt ausgeübt. Zunächst erleidet vielmehr der uns beschäftigende Gedanke eine eigentümliche Gestaltung durch das Christenthum; dann drängen Nothstände aller Art Kaiser, Könige und Großstädte dazu, Sanitätsgesetze zu erlassen; es vereinigen sich die kleinen Gemeinwesen, besonders auch die Zünfte, um auf volkstümlicher Grundlage Einzelnes zu bessern, besonders auch um die Verfälschung der Lebensmittel zu bekämpfen.

Die Geringschätzung des menschlichen Einzeldaseins, wie sie das Evangelium als eine seiner Hauptlehren aufstellt, schien der ursprünglichen kirchlichen Auffassung mit einer zur Schau getragenen Verachtung irdischen Wohlbehagens gleichbedeutend. Wo es als höchstes Verdienst galt, allein in niedrigen Höhlen zu vegetiren, den Leib durch Fasten und Kasteiungen zu peinigen, das Glied auszureißen und fortzuwerfen, welches Aergerniß erregte – da blieb für Lehren leiblicher Wohlfahrt kein Raum. Nach jener Mißauffassung erklärte aber die Lehre Christi nicht blos der Pflege der eigenen Gemächlichkeit den Krieg, sondern sie brandmarkte auch das von den Heiden und Juden so geliebte lange Leben als eine schwer erträgliche Bürde; sie verwarf die Ausnützung des Einzeldaseins durch den Staat als Schädigung des besseren Theiles im Menschen; sie schien überall die Keime staatsfeindlicher Grundsätze zu enthaltene denn Tausende lernten das Leben verachten und wegwerfen um ihrer Ueberzeugung willen; der Elitestand des Mittelalters – als welchen der Clerus sich gern betrachtet sah – zog sich von der Eheschließung und Familiengründung gänzlich zurück, ganze Volksclassen wurden systematisch dazu erzogen, das Beten und Faullenzen über das Arbeiten zu stelle und dem Gemeinwesen ihre Kräfte zu entziehen.

Die Humanität ging rein in Werken des Mitleids auf; der dem Menschen unentreißbare Trieb, zu bessern, klammerte sich peinlich und buchstäblich an das Wort „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern nur die Kranken“; Tröstung und Bekehrung der letzteren waren des höchsten Himmelslohnes gewiß. Und während man das Kranksein als die bequemste Brücke zum heißersehnten Jenseits pries, die Leidenden, welche bereits auf diesem Wege waren, hätschelte und beneidete, stieß man oft die, deren letztes Stündlein Voraussichtlich noch fern war, hartherzig in immer tieferes Elend hinein und kümmerte sich am wenigsten um die Verhütung der Krankheiten. So gründete die Kirche zwar jene zahlreichen Gertraudten- und St. Georgs-Hospitäler für die Aussätzigen – aber jede Maßregel zur Bekämpfung des Aussatzes verwirft sie schon deshalb, weil derselbe als eine um der Sünde willen von Gott eingesetzte Strafe galt.

Es ist aber hundertfach erwiesen, daß der kirchlichen Auffassung nichts armseliger und unseliger erschien, als Jemanden mit der Kunst und Pflicht, ein gesundheitsgemäßes Leben zu führen, bekannt zu machen. Dafür, daß die von geistlicher Oberhoheit abhängigen Staaten des Mittelalters und der Neuzeit mit dem, was wir als öffentliche Wohlfahrt und Gesundheitspflege bezeichnen, Fühlung weder fanden noch suchten, bedarf es der Aufzählung von Beispielen nicht. Auch würde es zu tief in Einzelheiten führen, die stückweisen Bestrebungen Karls des Großen, Kaiser Friedrichs des Zweiten und Anderer, oder die Gesundheitsordnungen aufzuzählen, durch welche sich Paris, Venedig, Wien und andere größere und kleinere städtische Gemeinwesen vor den schlimmsten Uebelständen zu schützen suchten.

Erst der grause Schrecken der mittelalterlichen Pest, besonders des schwarzen Todes ruft vom Jahre an die ärztliche Wissenschaft und Kunst zur Theilnahme an der Volksgesundheitspflege wach. Wie kindlich und platt uns auch heute die Verordnungen der damaligen medicinischen Facultäten erscheinen, wie komisch wichtigthuend sich auch der vornehme hochstudirte Arzt noch lange von der persönlichen Berührung mit ansteckenden Kranken fernhielt, so leuchtete doch einsichtigen Staatslenkern der Gedanke, daß rechtzeitig vorzusorgen vielleicht der bessere Theil des ärztlichen Wissens sei, schon frühe ein und fand in den zahlreichen unter Beihülfe der Heilkünstler verfaßten Medicinaledicten des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts seinen Ausdruck.

Während die Menge der Gesundheitsfragen sich von Tag zu Tag vermehrte, verflochten sich die hier angedeuteten Wurzeln der heutigen Volkshygiene und fanden in der Eigenart der einzelnen europäischen Staaten einen verschieden günstigen Boden. Die Kirche hält noch heute in Italien die bedeutendsten Mittel der Armen- und Krankenpflege in Händen; sie verfolgt noch immer confessionelle Zwecke und identificirte besonders vor den neueste Anstrengungen der Staatsregierung viele Zweige der Gesundheitspflege mit der Wohlthätigkeit. – Das Beispiel der Hauptstadt nachahmend, setzte man in Frankreich in einigen großen Städten Gesundheitsräthe ein; die große Mehrzahl der Städte und das flache Land blieben dabei vollkommen außer Betracht, sodaß gerade hier unser Jahrhundert enorm viel nachzuholen hatte. – In England allein entwickelte sich die Gesundheitspflege auf der breiteste und sicherste Grundlage, auf dem Boden des allgemeinen Verständnisses für das Praktische und der communalen Selbstregierung. – Die in Deutschland durchgeführten Einrichtungen medicinpolizeilichen Inhalts konnten als ernstlich gemeinter Ersatz einer staatlichen Gesundheitspflege nicht mehr gelten, als die Anschauungen über das Verhältniß zwischen dem Einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft sich unter den Folgen der französischen Revolution gänzlich umzugestalten begannen.

Der moderne Staat beansprucht freilich noch heute die besten Kräfte Aller für sich, aber er muß gleichzeitig zur Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit das Wohlsein aller Staatsbürger wollen. Es ist seine Aufgabe, dasselbe zu erhalten und zu vermehren durch die Gewährung der einzigen mögliche Mittel, das heißt die Bildung zu fördern durch öffentlichen Unterricht und die Gesundheit durch die öffentliche Gesundheitspflege.

[420] Durch diese Auffassung befreien wir uns von dem Mißbehagen, das uns beim Gebrauch des Ausdrucks nicht selten beschleicht, wenn wir das schöne Problem einer wahren Humanität bald als erdrückende Fessel in der Hand des despotischen Gesetzgebers, bald als Maske eines eigensüchtigen gleißnerischen Pharisäerthums, bald als Angriffswaffe in der Faust des Socialdemokraten mißbraucht sehen.

Im Publicum ist man vielfach geneigt, den Gedanken, daß auch Deutschland sich zum eigenen Heil mit der Volkshygiene als Staatseinrichtung zu befassen habe, erst in der Zeit unseres letzten nationalen Aufschwunges entstehen zu lassen. Hier liegt ein Unrecht gegen die Patrioten einer früheren Periode vor. „Die Einrichtung eines eigenen preußischen Medicinalministeriums,“ schreibt Virchow am 21. Juli 1848 in seiner ‚Medicinischen Reform‘, „halten wir nicht für notwendig. Dagegen verlangen wir die Einrichtung eines deutschen Reichsministeriums für öffentliche Gesundheitspflege.“ In die deutsche Reichsverfassung von 1871 tritt die Schöpfung eines Mittelpunkts für dieselbe durch den unscheinbaren Satz ein. „Der Beaufsichtigung seitens des Reiches und der Gesetzgebung desselben unterliegen die Maßregeln der Medicinal- und Veterinär-Polizei.“ Auf ihm beruht die unter vielen Widersprüchen und Bedenken zu Stande gebrachte Errichtung unseres gegenwärtigen Reichsgesundheitsamtes.

Welche Ziele und Aufgaben kann sich mit Rücksicht auf die Vorgeschichte, mit dem vollen Bewußtsein der unendlichen Combinationen, denen das Leben des heutigen Culturmenschen unterworfen ist, eine solche Behörde wohl stecken? – Kann es ihr genügen, durch zahlenmäßige Feststellungen einen Ueberblick der verfügbaren Menschenmasse zu erhalten, auf welche der moderne Staat, um wehrhaft zu sein, rechnen muß – oder festzustellen, wie lange derselbe über die ihm unmittelbar dienstbargewordenen Kräfte disponiren kann und wann dieselben abgenutzt sind – also Recrutirungs-, Beamten-, Invaliditäts- und Armenstatistik zu treiben? Ist die Aufgabe eines solchen hygienischen Centrums erschöpft, wenn es die alten Lieblingsgesetze der Volksgesundheit, die gegen Lebensmittelverfälscher, Brunnen- und Flußverunreiniger von neuem beräth und den Zeitverhältnissen anpaßt? – Ist das Ideal eines Staatsgesundheitsamtes erreicht, wenn es die krankmachenden Einflüsse des Landesklimas zu ergründen sucht oder dafür sorgt, daß gute Aerzte ausgebildet werden?

Wir besitzen eine Denkschrift des deutschen Gesundheitsamtes, in welcher es den Gedanken von der Gegenleistung des Staates in weiteren Grenzen anerkennt. Man beabsichtigt danach, den Gesundheitsschutz der Kinder in den Schulen und der Arbeiter in den Fabriken, den Schutz der Geisteskranken zu übernehmen, Bestimmungen gegen die Ausbeutung der niederen Classen und der Halbgebildeten durch den Geheimmittelschwindel zu erlassen u. dergl.

Am wohlthuendsten berührt das durch die ganze Schrift sich hindurchziehende Bekenntniß, daß man sich einer besondern Verantwortlichkeit des Staates den seuchenartigen Krankheiten gegenüber bewußt ist und Alles zu thun verspricht, um ihr unheilvolles Auftreten dem Vaterlande zu ersparen. Da dieser von uns im Vorstehenden absichtlich nur gestreifte Gegenstand gleichsam den Kern und Probirstein aller staatlichen Wohlfahrtsgesetze darstellt, verlohnt es sich wohl, ihm eine eigene gedrängte Betrachtung zu widmen. Davon im nächsten Artikel!




Blätter und Blüthen.

Für die kranken Kinder der Armen. „Gründet Feriencolonien –“ durch die gesammte deutsche Presse geht dieser Mahnruf an den Mildthätigkeitssinn der wohlhabenderen Bürger, dem auch wir uns freudig anschließen. Es gilt, schwächliche Schulkinder armer Stadtbewohner für die Zeit der Sommerferien aus der Luft der engen Straßen und dumpfen Wohnräume zu entfernen und ihnen in der freien Natur, in der Stille eines Landsitzes startenden und erquickenden Aufenthalt zu bereiten. Tausende und aber Tausende unserer Kinder erliegen langsam zehrenden Krankheiten, welche jedem künstlichen Mittel trotzen und die nur weichen können vor der Macht der allheilenden Natur. Die Aerzte wissen es selbst am besten, und sie verschreiben daher ein Heilmittel aus einer von den Städten gar weit entfernten Apotheke, deren „duftige Kräuter noch in der Mutter Erde Wurzeln“: sie verordnen den Aufenthalt in der freien Natur. Glücklich, wer seine Kranken in diese große Heilanstalt bringen kann! Ihm ist in den meisten Fällen die Rettung seiner lieben Kleinen sicher - aber nur Reiche und Wohlhabende sind in so beneidenswerter Lage. Laßt uns dagegen die Arbeiterviertel unserer Großstädte einmal betreten! Dort wanken auf dem sonnenerhitzten Pflaster, in der staubigen Luft zu Hunderten die kleinen schwächlichen Gestalten, Spuren frühzeitiger Leiden in den blassen, mageren Gesichtchen. Die krankheitsschwangere Luft der unsauberen Gassen hat ihre Gesundheit untergraben, und nur ein längerer Aufenthalt auf dem Lande kann ihnen die verlorene wiedergeben; das wissen die liebevoll sorgenden Eltern sehr wohl – aber in dem angstvollen Ringen mit dem gleichenden Dämon der Krankheit sinken machtlos ihre Arme, denn Geld kostet die vielverheißende Cur, Geld – und die Eltern der Kinder – sind arme Leute.

Aber hört! Es giebt ein Mittel, die fahlen Kinderwangen mit jugendfrischen Farben zu röthen und Thränen von Mutteraugen zu trocknen: trotz Armuth und Noth ermöglicht man den kleinen Patienten die oben angedeutete Wohlthat eines gesunden Sommeraufenthaltes.

Vor einigen Jahren traten wohlthätige, warmfühlende Menschen zusammen, die es sich zur Aufgabe machten, Feriencolonien zu gründen, d. h. die armen schwächlichen Kinder während der Ferienzeit in ruhigen Bergdörfern oder in gesunden Landsitzen unter der Aufsicht ihrer Lehrer oder Lehrerinnen zu verpflegen.

Mit geringen Mitteln, welche ihnen die öffentliche Mildtätigkeit spendete, begannen diese Wohltäter der Kindheit ihr segensreiches Wirken und errangen überraschende, wunderbare Erfolge. Erfrischt an Körper und Geist, von dem Gefühl des Dankes gegen die barmherzigen Helfer beseelt, kehrten die Kleinen in ihre Heimath zurück, und die Aerzte bestätigten überall die wundersam günstige Einwirkung des ländlichen Aufenthaltes auf die untergrabene Gesundheit, die Lehrer aber priesen einstimmig den versittlichenden Einfluß der Feriencolonie auf das Gemüt der Kinder.

Bald folgten diesem guten Beispiele fast alle großen Städte nicht allein Deutschlands, sondern nahezu der ganzen civilisirten Welt, und zwar überall mit demselben guten Erfolge. Die „Gartenlaube“ wird auf diesen Gegenstand in Kurzem ausführlich zurückkommen und ihren Lesern die Feriencolonien in Bild und Wort vorführen. Heute aber, wo es gilt, diese wohlthätige Einrichtung da zu erhalten und zu verbreiten, wo sie die ersten Wurzeln bereits geschlagen, sie da neu zu pflanzen, wo ihr Segen noch unbekannt ist, heute wenden wir uns zur Förderung der Sache an den weiten Leserkreis der „Gartenlaube“. An die alten Freunde der Feriencolonien richten wir das Gesuch, in ihrer Wohltätigkeit nicht zu erlahmen, an diejenigen aber, welche dem Unternehmen bis jetzt noch kühl gegenüber standen, die warme Bitte, ihr Herz menschenfreundlichem Fühlen zugänglich zu machen.

Niemand, der dazu irgend wie im Stande ist, sollte an dem Opferstock der Feriencolonie vorübergehen, ohne sein Scherflein für die gute Sache beigetragen zu haben. Und brauchen wir noch zu versichern, daß jede diesem Zwecke zugewandte milde Gabe sich reichlich lohnen wird? Die dem frühzeitigen Siechthum und vorschnellen Tode entrissene Generation, sie wird einst dem Volke die Schuld abtragen, nicht nur durch ihrer Hände rüstige Arbeit, sondern auch durch die dankbare Gesinnung, die ihren Gemeinsinn stärken und ihre Herzen mit warmer Nächstenliebe erfüllen wird.

Die Redaction.




Eine Vorbereitungsschule für Weltreisende soll in Folge einer Anregung des internationalen geographischen Instituts zu Bern begründet werden. Nach dem vorlegenden Project wird der Unterricht vor Allem praktische Ziele verfolgen. Die Schüler sollen mit ihren Lehrern Ausflüge machen, über welche sie dann Berichte zu erstatten haben. Am Schluß eines jeden Cursus wird eine drei- bis viermonatliche Reise nach den Küstenländern des Mittelländischen Meeres angetreten, auf der die Schüler in selbstständiger Beobachtung fremder Länder und Völker sich üben sollen. – Daß eine Anzahl so geschulter Reisender sowohl der Wissenschaft wie dem Handel einen nicht zu unterschätzenden Nutzen bringen würde, liegt auf der Hand. Zu wünschen ist es deshalb, daß die civilisirten Staaten das Project auf das Nachdrücklichste unterstützen




Es ist nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Verlagshandlung.

  1. Die Einwohnerzahl von Tunis wird auf etwa 140,000 See­len, worunter unge­fähr 25,000 Juden und 15,000 Christen, an­gegeben, doch fehlt jegliche Statis­tik, und leicht[WS 1] könnten jene Ziffern zu niedrig ge­griffen sein.
  2. Wie groß trotzdem der persönliche Verkehr des Publicums im Hauptpostamte blieb, davon giebt eine Zählung, welche vom 21. bis mit [412] 23. April 1873 vorgenommen wurde, den deutlichsten Beweis. Es betrug die Zahl der in diesen drei Tagen an den Schaltern etc. behufs des Postverkehrs erschienenen Personen 18,289, also durchschnittlich für einen Tag 6069 Personen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eicht