Die Gartenlaube (1880)/Heft 6
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No. 6. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
„Wer will was vom Pechler Kaspar?“ rief auf einmal der Alte, indem er zwischen den Grabkreuzen auftauchte, sodaß er zwischen Nannei und den Vorsteher zu halten kam. Beide waren überrascht von dem unvermutheten Anblick, um so mehr als das Aussehen des Rußigen ein ganz ungewöhnliches war. Seine Augen funkelten; seine Wangen und seine Glatze glühten, als ob er neben seinem Schweelofen säße, über sein Gesicht aber war trotz allen Rußes ein solcher Ausdruck von Lustigkeit ergossen, daß der Vorsteher, der seinen Mann kennen mochte, einen Schritt zurücktrat.
„Was hast?“ sagte er, indem er ihn bedenklich musterte. „Bist übergeschnappt oder hast einen Rausch?“
„Noch nicht,“ rief Kaspar, „aber es kann sich heute schon noch so etwas herauswachsen. Hast Du nach mir verlangt, Vorsteher? Mir ist es recht; ich habe auch gerade zu Dir gewollt. Ich bin gelaufen wie ein Wiesel; der Weg vom Wald her zum Dorfe muß heut' um die Hälfte kürzer sein, oder meine Füße sind um so viel länger geworden.“
Auch Nannei schien die Besorgniß des Vorstehers zu theilen.
„Was ist denn, Vater?“ sagte sie, indem sie ihren Arm unter den seinigen schob. „Ich wollte mich gerade auch auf den Weg machen zu Dir,“ sagte sie, „komm, gehen wir mit einander!“
„Das thun wir auch,“ rief der Pechler laut lachend, schlug sich aber sogleich wie abmahnend auf den Mund.
„Bst!“ fuhr er fort, „wer wird die armen Seelen beleidigen und auf dem Friedhofe so laut lachen! – Komm, Vorsteher, komm hinaus auf den Hof, auf die Gass'n! Ja, auf die Gass'n – da ist es mir am liebsten, und weil Du doch vom Gemeindediener geredet hast, laß es gleich ausläuten, damit fein gewiß das ganze Dorf zusammenläuft!“
Der Vorsteher hielt es für das Klügste, den offenbar sinnverwirrten Menschen bei Seite oder vor Allem aus dem Friedhof hinauszubringen, der zum Schauplatz solcher Auftritte wohl am allerwenigsten geeignet war. Er gab dem Pechler ein Zeichen, voranzugehen. Dieser schritt auch, Nannei fest am Arm führend, aufrecht und mit lachendem Gesicht durch die Menge auf die Straße, wo in nicht großer Entfernung das Pfarrhaus sich aus den grünen Wipfeln des Baumgartens erhob.
Nannei wollte unwillkürlich den Alten schnell in einen Seitenweg ziehen und so aus den Augen der Menge entfernen, er aber widerstrebte so entschieden, daß sie ihr Vorhaben aufgeben und zusehen mußte, wie er mitten auf der Straße stehen blieb und auch den Vorstand zum Stehenbleiben anhielt.
„So,“ rief er, „das ist gerade ein rechtes Platzl, wo Jedes Alles sehen und hören kann, und jetzt ist es an Dir, Vorsteher, daß Du den Anfang machst. Du bist neulich die Hauptperson gewesen, wie Ihr Alle zusammen geholfen habt, das Mädel da herunterzusetzen – Du hast gesagt, es wär' eine Schand' für den Kogelhof, wenn sie dem König den Buschen übergeben thät', weil sie ein lediges Kind ist – jetzt mach's wieder gut und bitt sie um Verzeihung!“
„Mach, daß Du nach Haus kommst, alter Fabelhans!“ entgegnete der Vorstand und versuchte den Ring von Menschen zu durchbrechen, der sich rasch um die Gruppe gebildet hatte und bereits immer dichter zusammenschloß.
„Bitt sie um Verzeihung, sag' ich!“ rief der Kaspar wieder, „denn das Nannei ist kein lediges Kind.“
Diese Worte wirkten so überraschend, wie eine bei Nacht auflodernde Flamme, welche plötzlich die ganze Umgebung erhellt und in ganz neuen Farben und Umrissen erscheinen läßt. Ausrufungen des Staunens, des Zweifels und des Spottes ertönten durch einander; auch der Vorsteher verweilte noch einen Augenblick und rief:
„Also ist sie kein lediges Kind?! Meinetwegen! Ich bin zu der Zeit, wo sie auf die Welt gekommen ist, auswärts im Dienst gewesen; ich weiß nichts von ihr, als was mein Vater mir erzählt hat. Du hast Dich schon damals um sie angenommen; ich vergönn' Dir's, wenn Du's herausgebracht hast, daß sie etwa gar eine verloren gegangene Prinzessin ist.“
„Lach nur! Du hast nicht so weit daneben geschossen,“ sagte der Pechler, indem er unter seiner Jacke ein dunkles, wollenes Umschlagtuch hervorzog, wie sie in manchen Gegenden von den Frauen über Brust und Schulter getragen und unter den Armen hindurch auf dem Rücken geknüpft zu werden pflegen. Zugleich hob er einen goldenen Fingerring in die Höhe und ließ ihn in der Sonne funkeln.
„Da, schaut her!“ rief er. „Das ist ein Trauring; den hat das fremde Weib, der Nannei ihre Mutter, gehabt. Sie ist also eine verheirathete Frau gewesen und die Nannei ist kein lediges Kind.“
Schnell hatte der Vorsteher den Ring erfaßt und betrachtete ihn, während Nannei, im höchsten Grade ergriffen, [90] ebenfalls die Hand darnach ausstreckte, um das erste Zeichen und Andenken einer unbekannten Mutter zu besehen und zu begrüßen.
„Das ist wirklich ein Trauring,“ sagte der Vorsteher bedächtig. „Es stehen inwendig eine Jahrzahl und vier Anfangsbuchstaben. Aber das beweist nichts. Das fremde Weib kann wohl den Ring bei sich gehabt haben, wer aber weiß, ob er ihr gehört hat oder wo sie ihn aufgeklaubt hat. An der Hand hat sie ihn nicht gehabt, das weiß ich ganz gewiß; mein Vater hat mir gesagt, daß sie gar nichts an sich gehabt hat, kein einziges Kennzeichen.“
„Und doch beweist der Ring Alles,“ rief der Pechler wieder, während Nannei den Ring aus den Händen des Vorstehers riß und unter ausbrechenden Thränen an die Lippen drückte. Es war etwas in ihr, was ihr sagte, daß es keine Täuschung sei, daß sie wirklich ein Kleinod in Händen halte, das einmal die längst vermoderte, theure Mutterhand geschmückt hatte.
Wie in unbekannte Gegenden und Zeiten entrückt, vernahm sie kaum, wie der Pechler weiter erzählte, das Tuch sei dasjenige, welches die fremde Frau bei ihrer Ankunft getragen. Es sei das einzige Kleidungsstück, das von ihr übrig geblieben, welches seine selige Alte zu sich genommen und aufbewahrt hatte, nicht um es zu gebrauchen, sondern um es für das Kind aufzuheben als dessen einziges Erbe und Erinnerungszeichen. Im Laufe der Jahre, da man dem Mädchen seine Abkunft verschwiegen und es wie ein eigenes Kind behandelt hatte, und zumal nach dem Tod der Pechlerin war das Tuch völlig in Vergessenheit gerathen und hatte tief am Boden der Truhe gelegen, wo die wenigen besseren Habseligkeiten des ärmlichen Hausstandes verwahrt waren. Erst Nannei's Flucht und die Frage nach ihren Eltern hatten den Pechler wieder an dessen Vorhandensein erinnert. Heute nun, nach dem Begräbniß des Kogelhofer's, war es ihm wieder in den Sinn gekommen; er wollte der Nannei, wenn sie heimgekehrt sein werde, das Tuch zeigen und übergeben, und hatte deshalb den Morgen benutzt, die Truhe und deren vergessene Schätze zu durchstöbern. Er hatte das alte, doch noch wohl erhaltene Tuch zum ersten Male näher betrachtet und zu seiner nicht geringen Ueberraschung bemerkt, daß dasselbe bei der Berührung ein eigenthümliches knisterndes Geräusch hören ließ; er hatte näher nachgeforscht und bald entdeckt, daß das Geräusch von dem oberen Theile des Tuches herrührte, wo an der dickeren Stelle, die in der Regel an den Nacken zu liegen kam, ein rauschendes Stück Papier eingenäht zu sein schien. Rasch hatte er die Naht entfernt und mit wachsendem Staunen ein dünnes Päckchen wahrgenommen, in welches der Trauring und noch ein Papier, das wie ein Brief aussah, gewickelt war. „Und so wird's wohl sein,“ schloß er seine Erzählung, „daß, wie Du immer sagst, Vorsteher, die Maus da keinen Faden abbeißt und daß die Nannei kein lediges Kind ist, und was da auf dem Papier geschrieben steht, da wird vielleicht auch darin zu lesen sein, wer ihre Leute gewesen sind.“
„Das kann schon sein,“ sagte der Vorstand, indem er das Blatt nach allen Seiten betrachtete. „Das kann ich zwar nicht lesen, weil's nicht deutsch ist, aber da ist ein Siegel darauf, wie auf einem Zeugniß. – Da kommt der Herr Pfarrer aus der Kirch'; der wird es uns wohl lesen und ausdeutschen können.“
Der Pfarrer, der inzwischen in der Sacristei sein Kirchengewand abgelegt hatte, trat hinzu und hörte nicht ohne steigende Verwunderung, was sich zugetragen und welch' unerwartete Wendung in dem Schicksal eines bis zur Stunde unbedeutenden und unbeachteten Mädchens sich zu vollziehen schien.
„Das ist französisch,“ begann er, nachdem er das Papier näher geprüft hatte, „und in Wirklichkeit ein vom Pfarramt St. Sulpice in Algier in aller Form ausgestellter Trauschein über die richtig vollzogene Vermählung der Demoiselle Rose Blanchard mit Jules Baron de Steinerling auf Stein, Sergeantmajor im dritten kaiserlich französischen Regiment Chasseurs d'Afrique. – Seltsames Schicksal!“ rief der Geistliche. „Ich erinnere mich wohl, im Taufbuch den Eintrag meines Vorfahrs gelesen zu haben, daß er das neugeborne Töchterchen einer unbekannten Frau getauft, die nicht mehr zu sprechen vermocht, aber durch das Kreuzzeichen, das sie noch sterbend auf das Antlitz gezeichnet, sich als katholische Christin erwiesen habe. – Und sieh,“ begann er wieder, „da unten ist eine Bestätigung des Regimentscommandos beigefügt, daß Monsieur Jules de Steinerling in einem Gefecht mit den Arabern gefallen, und daß dessen Wittwe sich nach Deutschland begeben wolle, um die Verwandten ihres Mannes dort aufzusuchen.“
Feierliche Stille lag auf der versammelten Menge. In den leicht erregbaren Gemüthern war die erst so lustig spottende Stimmung allmählich in Verwunderung übergegangen; nun fehlte nicht viel, daß Allen die Augen übergingen, hatte doch sogar der Vorstand bei der Rede des Pfarrers langsam den Hut abgenommen, weil es ihm vorkam, als wenn er in der Kirche wäre.
Am wenigsten vermochte der Pechler Kaspar selbst seine Ergriffenheit zu verbergen und zu bemeistern. Er weinte und schluchzte durch einander. Er und seine gute Alte waren es ja doch gewesen, die das Mädchen erhalten und erzogen – ihre Liebe zu dem armen Waislein hatte sich nun glänzend gerechtfertigt, und auch sein Verlangen nach Vergeltung an allen Denen, die seinem Liebling weh gethan und ihm so rauh auf's Herz getreten, war gesättigt – gründlicher, als er in seinen kühnsten Träumen es zu erwarten vermocht hatte.
Jedes war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß die Hauptperson des ganzen Ereignisses einen Augenblick dabei völlig außer Acht gekommen war. Der Pfarrer war es, der zuerst ihre Abwesenheit bemerkte, der Pechler aber hinwieder war der Erste, der errieth, warum und wohin sie sich entfernt haben mochte. Wortlos, sich mit dem Aermel das Gesicht abtrocknend, trat er zur Thür des Kirchhofes ... unweit des Beinhauses, vor dem weißen Rosenstrauch, knieete Nannei auf dem Rasen.
Das Herz hatte sie getrieben, der armen unglücklichen Mutter zuerst in's Grab hinunter zu erzählen, daß nun aller Makel von ihrem Andenken genommen war, und ihr jetzt erst so recht die volle ewige Ruhe hinunterzuwünschen.
Der Pechler war an der Schwelle stehen geblieben. Viele Neugierige hatten nachgedrängt, aber Niemand störte die Betende.
Gab es doch viel Anziehenderes und Wichtigeres zu thun, nämlich in möglichster Schnelligkeit nach allen Seiten hin zu verbreiten, daß die Pechler-Nannei vom Kogelhof ihre Eltern gefunden habe, freilich alle Beide schon als Verstorbene; daß sie eine heimliche Baronin und der alte Baron Steinerling von Stein, den jedes Kind in der Umgegend kannte, ihr Großvater gewesen sei.
Es galt nun, überall die Bruchstücke alter Erinnerung zusammenzutragen und daraus ein Luftgebäude zusammenzufügen, wie das Alles habe kommen können, und sich über und über zu verwundern, wie die Geschichte so lange verborgen geblieben. Namentlich die Weiber konnten sich nicht genug erzählen, wie sie schon immer geglaubt hätten, in der Nannei müsse etwas Besonderes stecken, weil sie in vielen Dingen so eigen gewesen. Sie wußten sich nun wohl zu erinnern, wie sie oft ein so vornehmes Geschau gehabt, als wäre sie eine verwunschene Prinzessin und hätte sich nur als Bäuerin verkleidet. Man erinnerte sich nun auch auf einmal ganz genau, daß man sie immer besonders gern gehabt, daß man ihr nie etwas in den Weg gelegt und daß nur der Vorsteher es gewesen, der in seiner übertriebenen Geschäftigkeit sie gekränkt habe.
Auch die Gestalt ihres Vaters, des jungen Baron Steinerling, trat immer deutlicher aus dem Nebel der Vergangenheit hervor. Man besann sich auf sein Aussehen und daß er immer mit seinem Vater, der ihn hart und streng gehalten, auf gespanntem Fuß gelebt habe und auf einmal in die weite Welt gegangen und verschollen sei. Alles, der Vater voran, hatte ihn vergessen und längst für verstorben und verdorben gehalten.
Auch darüber kam man bald in's Reine, daß das Vergnügen des Alten über diese unerwartet wiedergefundene Enkelin kein besonders großes sein werde; waren doch seine Härte und sein Geiz es gewesen, die den Sohn vom Hause getrieben, war er doch seit dieser Zeit noch geiziger geworden und stand seit seiner Verheirathung mit der reiche Bräuers-Wittwe so stark unter deren Botmäßigkeit, daß sich mit Bestimmtheit voraussehen ließ, welcher Empfang der Bauernmagd zu Theil werden würde, wenn sie sich als Enkelin und Erbin bei ihm vorstellte. Je verwickelter aber die Zukunft gegenüber der entwickelten Vergangenheit sich gestalten mochte, desto anziehender war das ganze Ereigniß, das ohne Zweifel auf Menschenalter hinaus den hervorragenden Mittelpunkt der Dorfchronik zu bilden bestimmt schien.
[91] Dennoch sollte bald noch mehr Denkwürdiges in derselben zu verzeichnen sein.
In den Verhältnissen des Kogelhofes lag der fruchtbarste Keim dazu; denn daß die Frage über Besitz und Erbschaft des Hofes nicht mit dem im ersten Augenblicke vom Landrichter abgegebenen Spruche zu Ende sein konnte, lag Jedermann vor Augen. Hätte Lenz in seiner Aufregung länger gezögert, so würde er noch mit angesehen haben, wie der vorsichtige Beamte, um ja Niemanden zu beeinträchtigen, es für gut befunden hatte, das ganze Besitzthum, ungeachtet des Widerspruches der Firma Rab und Geier, der einstweiligen Aufsicht und Verwaltung des Oberknechtes, eines alten, als treu und verlässig bekannten Mannes, zu übergeben und dann das Amtssiegel an alle hauptsächlichen Behältnisse, Kisten und Kasten anzulegen, in welchen Geld oder etwaige Aufschreibungen des Alten oder wohl gar ein von demselben hinterlassenes Testament enthalten sein konnten.
Auch schien dem klugen Manne nothwendig, über den schnellen Tod des Bauers und insbesondere über dessen Veranlassung Nachforschungen zu pflegen; stand doch fest, daß der Krämer, der jetzt als Erbschaftsprätendent auftrat, den Alten bedroht und daß die ihm in's Ohr geflüsterte Drohung wirklich eine so gewaltige Wirkung hervorgebracht hatte, daß man dahinter irgend ein bedeutsames Ereigniß vermuthen mußte.
Deshalb hatte der Landrichter auf die nächste Zeit eine eigene Tagfahrt auf den Kogelhof angesetzt, in welcher der Rücklaß selbst „festgestellt, inventirt, reserirt, extradirt“ und jede andere damit zusammenhängende Frage gelöst werden sollte; deshalb waren dazu auch alle Personen geladen, von welchen irgend ein Aufschluß zu hoffen war. Insbesondere war Lenz befohlen worden, trotz seines Unwillens und Widerwillens, sich dabei einzufinden, weil ja bei ihm, als dem vermeintlichen Sohne und Erben, die nächste Aufklärung gesucht werden mußte.
Auch Nannei war unter den Geladenen.
So kam es, daß am bestimmten Tage der Kogelhof der Sammelplatz einer ziemlich zahlreichen Gesellschaft war, deren Mitglieder dem Kommenden mit sehr verschiedenen Empfindungen entgegensahen.
In der unangenehmsten Stimmung war wohl der Krämer, Firma Rab und Geier, der im ersten Augenblicke den Kogelhof schon fest in seinen Krallen zu haben geglaubt hatte und jetzt den Aufschub peinlich empfand, wenn auch ein begründeter Zweifel über den endlichen, für ihn günstigen Ausgang, wie er meinte, vernünftiger Weise nicht denkbar war. Dennoch mußte er an sich halten und heiter erscheinen – lag es doch in seinem Vortheil, sich den Anschein zu geben, als ob auch er die möglichste Gründlichkeit der Verhandlung auf das Lebhafteste wünsche; man hätte sonst glauben können, er habe Ursache, ein genaueres Eindringen in die Verhältnisse zu fürchten.
Sein Aerger stammte übriges aus mehreren Wurzeln, und nicht die geringste unter diesen war es, daß er inzwischen daheim eine Entdeckung gemacht hatte, die seine Pläne, selbst wenn ihm die Durchführung gelungen wäre, von fremder Seite her über den Haufen zu werfen drohte.
Als er eben einmal in der Ladenthür unter der goldenen Firma gestanden und dort von einem Nachbar den Glückwunsch wegen der großen Erbschaft huldvoll in Empfang genommen, war seine freudige Stimmung durch ein Gepolter unterbrochen worden, das aus dem etwas dämmerigen Hintergrunde des Ladens kam und ihn zugleich mit dem neugierigen und glückwünschenden Nachbar auf den dunklen Schauplatz desselben rief. In dem anstoßenden Gewölbe, wo die verschiedenen Specereien und Flüssigkeiten in größeren Kisten und Fässern aufbewahrt waren, ward ihm ein Anblick, der ihn beinahe in eine Steinsäule verwandelt hätte, um so mehr als auch der nachbarliche Gratulant Zeuge derselben geworden war. Der Commis und seine Tochter waren dort beschäftigt gewesen, eine Partie aus einem Syrupfaß abzufüllen, und hatten den unbewachten Augenblick für günstig gehalten, sich über die Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe zu trösten. Er, mit dem Trichter in der Hand, hatte sich von der Staffelei zu ihr herunter gebeugt und dabei übersehen, daß die braune Flüssigkeit nicht in das dafür bestimmte Geschirr, sondern durch den Trichter ihm auf die Brust floß; sein immer tieferes Herniederbeugen und ihr steigendes Emporstrecken hatte zuletzt zu Kuß und Umarmung geführt – darüber kam das Gestell, auf welchem Maxl stand, in's Schwanken; es fiel polternd um, und vor des keuchenden Krämers Blicken zeigte sich auf Philomena's weißer Ladenschürze das Brustbild Maxl's mit wahrhaft lithographischer Genauigkeit abgedrückt. –
Nicht minder erregt und befangen, wenn auch aus ganz anderen Gründen, war Lenz. Hatte er schon dem Befehle des Gerichtes mit Widerstreben gehorcht, so war die Peinlichkeit seiner Empfindung noch gewachsen, als er dadurch nicht nur genöthigt war, all den bekannten Leuten unter die Augen zu treten, sondern als ihm auch mit jedem Schritte die Neuigkeit von der mit Nannei vorgegangenen Aenderung begegnete. Die wenigen Tage des Unglücks und der Trennung hatten hingereicht, um ihn über seine Stellung zu Nannei und seine Gefühle für sie in einer Weise aufzuklären, daß keine Täuschung mehr möglich war. – Jetzt war ihm auf einmal klar, daß er sie lieb gehabt, so lange er sie gekannt – daß, wenn sie einmal mit einander gehadert, dieses von seiner Seite immer nur deswegen geschah, weil er zwar manchmal geglaubt, daß auch sie ihm gewogen sei, sie ihn aber meist so hochmüthig und von oben herab behandelt hatte, daß er an ihrer Gesinnung immer wieder irre geworden. Jetzt gestand er sich zu eigener Qual, daß, wenn er sich einmal im Stillen als Bauer auf dem Kogelhofe gedacht, die Bäuerin immer Nannei so ähnlich gesehen hatte, wie deren Spiegelbild, und daß er sich oft mit dem Gedanken geängstigt hatte, was wohl sein Vater sagen werde, wenn er mit einem solchen Heirathsplane angerückt käme.
Das war nun für immer vorbei.
Nicht genug, daß er nun arm geworden und in dieselbe Schmach verfallen war, die er ihr vorgeworfen, war sie noch obendrein reich und vornehm geworden und dadurch zwischen ihr und ihm eine Kluft entstanden, über die es keine Brücke gab. Es war kein Wunder, wenn sein Gemüth mit Bitterkeit überfüllt war und wenn er das Ende der Verhandlung, sollte sie noch so schlimm ausfallen, sehnlichst herbeiwünschte. Dann wollte er in der Caserne im Soldatenstande das Vorgefallene, Reichthum, Heimath und Liebe vergessen und, wenn dann einmal seine Zeit ausgedient sein würde, in die Welt gehen, um daheim ebenfalls vergessen zu werden.
Das Einzige, was aus dem stürmischen Meere seines Gemüths wie eine ruhig grünende Insel hervorragte, war das Begebniß mit dem Päckchen Geld, das, während er auf der Waldblöße gelegen, ihm in den Hut geworfen worden war.
Er haßte, er verachtete alle Leute seiner Bekanntschaft, die ganze Einwohnerschaft des Dorfes und der Gegend war ihm widerlich; er hatte die hämischen Bemerkungen über sein Schicksal nur zu wohl gehört; die lachenden Blicke der Vorübergehenden waren ihm nicht entgangen, und sein Groll hatte die Schadenfreude, wo sie vielleicht in Wirklichkeit nicht vorhanden war, hineingelesen. Jenes Geschenk aber bewies unwiderleglich, daß doch noch Jemand in der Nähe sein mußte, der sich um ihn kümmerte, der für ihn sorgte – ein reines Herz, das dies Alles ohne Eigennutz that; sonst würde dasselbe nicht auf seinen Dank verzichtet haben. Vergebens ging er alle Möglichkeiten in Gedanken durch, den Geber zu errathen, und wenn auch manchmal Nannei vor seine Seele trat, mußte er den Gedanken immer gleich als Thorheit zurückweisen. Hatte er sie doch so bitter gekränkt, daß er unmöglich denken durfte, sie habe sich dafür auf solche Weise gerächt! Der letzte Gedanke drückte noch den allerschärfsten Stachel in sein Herz; denn immer stieg dabei das Bild vor seiner Seele empor, auf welche unedle Art er selber, als sie seinen Uebermuth zurückgewiesen, an ihr Rache genommen.
Nannei war trotz des Außerordentlichen, das sie betroffen, ruhig und gefaßt; sie war es um so mehr, da sie von dem Vorgefallenen weitere Folgen weder wünschte noch erwartete. Sie hatte ihre Mutter gefunden; sie hatte nun einen Punkt, an den ihre Gedanken sich heften, einen Gegenstand, auf den sie ihre Sehnsucht richten konnte, und war zufrieden. Es war nicht in ihrem Sinne, einer besseren und höheren Standesclasse anzugehören; sie wollte ihr Leben lang bei dem Loose, das ihr zu Theil geworden, verbleiben, und wenn auch ihre Zufriedenheit mit demselben in den letzten Tagen einen Stoß erlitten hatte, war das völlig wieder ausgeglichen. Sie wollte keine Ansprüche an die neugefundenen Verwandten erheben; die feste und stolze Art ihres Wesens ließ es nicht zu; sie meinte, nicht an ihr läge es, sich bei denselben zu melden, sondern sie selbst müßten kommen, sie aufzusuchen, [92] wenn ihnen an dem neuen Familiengliede etwas gelegen sei. Natürlich hatte sich der Pechler eifrigst dagegen verwahrt; ihm war die für Nannei erlangte Genugthuung noch immer nicht hinreichend: er sah sie schon im Geiste in der vierspännigen Kutsche sitzen, mit dem bordirten Bedienten auf dem Bock und dem gemalten Wappen auf dem Kutschenschlage – er sah auf dem Straßenrand die Bauern, von denen sie verhöhnt worden war, wie sie dastanden, mit abgezogenen Hüten, die boshaften Gesichter vom Schmutze der Räder bespritzt. Er hatte nicht geruht, bis sie ihm endlich gestattete, an ihrer Stelle zum Baron Steinerling von Stein zu gehen, ihm die ganze Geschichte, wenn er sie noch nicht erfahren haben sollte, zu erzählen, ihm die gefundenen Beweisstücke zu zeigen und von ihm zu hören, wie er die Sache aufnehme und was er zu thun gesonnen sei. Diese Antwort sollte dann über Nannei's Zukunft entscheiden; wenigstens versprach sie dem Alten, vor seiner Rückkehr die Heimath nicht zu verlassen und überhaupt keinen entscheidenden Schritt zu thun.
Der Tag der Erbschaftsverhandlung auf dem Kogelhofe schien dazu der geeignetste; dort wollte Nannei ihn erwarten, dahin sollte er mit den Nachrichten kommen, wenn er nicht, wie er sich einbildete, gleich mit dem Baron angefahren käme.
Was Nannei am allermeisten beunruhigte, war, daß aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vermieden werden konnte, Lenz zu begegnen. Ihm konnte ein solches Zusammentreffen unmöglich erwünscht sein, weil das Schicksal zur gleichen Zeit, in der es sie emporgehoben, ihn niedergeworfen – ihr selber schlug das Herz stark bei dem Gedanken, und sie wußte nicht, ob sie nach dem Geschehenen ihm gegenüber auf ihrem Groll beharren oder sich so benehmen solle, als ob zwischen ihnen gar nichts Besonderes vorgefallen sei. Es erschien ihr schließlich als das Klügste, sich so viel wie möglich zurückzuziehen und eine Begegnung ganz zu vermeiden. Hoffentlich ließ der Pechler nicht gar zu lange auf sich warten; dann hielt sie ja ohnehin nichts mehr an dem Orte fest, den sie für immer verlassen sollte und den noch einmal wieder zusehen sie doch mit geheimer Freude erfüllte.
Sie machte sich ein Vergnügen daraus, so weit es ohne aufzufallen möglich war, das ganze Haus in allen Räumen zu durchwandern und sich dort der bei fröhlicher Arbeit verlebten Stunden und Jahre zu erinnern. Es war wohl natürlich, wenn sie auch dem Stalle einen Besuch abstattete und aus diesem auf die Tenne trat, die jetzt mit weitgeöffnetem Thore die Balkenwände und Heulager in vollster Schmucklosigkeit zeigte, und doch von ihrer Erinnerung noch mit all den Kränzen des Festes behangen, das für sie einen so unseligen Ausgang gehabt hatte.
Nachdenklich stand sie einen Augenblick an dem Platze still, an welchem Lenz so keck gegen sie das Wort geführt hatte. Sie lebte den ganzen Vorfall in der Erinnerung noch einmal durch, und zwar so lebhaft, daß sie zuletzt glaubte, Lenz wirklich vor sich zu sehen. Allmählich nahm das Gedankenbild immer mehr Gestalt und Wirklichkeit an – wie aus einem Halbschlafe erwachend, fuhr sie erschreckt zusammen: denn Lenz stand leibhaftig vor ihr.
Vermutlich hatten ihn ähnliche Abschiedsgedanken dahin geführt, oder er suchte die Zeit bis zur Ankunft der Gerichtspersonen sich zu vertreiben und gleichfalls den Gaffern aus dem Wege zu gehen.
Auch Lenz gewahrte Nannei sofort, und wie sie, machte er eine halbe Wendung zur Flucht; aber sie blieben beide und standen sich eine Weile gegenüber, ehe ihnen die beklommenen Atemzüge Luft und Rede gestatteten.
Die geographische Forschung ist heute bereits in ein Stadium getreten, welches Reisenden wie Stanley es bald schwierig machen dürfte, ein bisher unbetretenes Gebiet zu finden, auf dem sich durch kühnes Vordringen allein noch Lorbeeren pflücken lassen. Zwar giebt es noch unzählige geographische Fragen, welche der Lösung harren, allein weitausgedehnte unerforschte Gebiete sind, außer in Asien und Centralafrika, nicht mehr vorhanden, und bald wird auch der Schleier, der das Herz des „schwarzen Continents“ noch verhüllt, gelüftet sein, denn Reisen und Forschen ist jetzt das Losungswort einer großen Schaar muthiger, wissenschaftlich gebildeter Männer. In unserer Zeit, in welcher eine Reise um die Welt für Jedermann, wenn er nur das nöthige Geld dazu hat, eine sehr einfache Sache ist, in der Vertreter von Völkern der entferntesten Erdtheile in unserer Mitte nur noch wenig Aufsehen erregen, in welcher außerdem durch Vorträge und populäre Zeitschriften aller Art, durch Museen und Privatsammlungen die Kenntniß von deren Gebräuchen und Sitten in die weitesten Kreise getragen wird – in einer solchen Zeit muß ein Forschungsreisender etwas ganz Außergewöhnliches leisten, wenn die allgemeine Aufmerksamkeit auf seine Person gelenkt werden, wenn sein Name in Aller Mund sein soll.
Professor Nordenskjöld hat als wissenschaftlicher Führer des schwedischen Expeditionsschiffes „Vega“ eine solche Leistung vollbracht. Ihm ist es gelungen, ein Unternehmen verhältnißmäßig rasch und ohne jeden Unfall glücklich zu vollenden, dessen Ausführung drei Jahrhunderte mit einem Aufgebot von großen Mühen und Kosten sowie mit Aufopferung einer reichlichen Zahl von Menschenleben vergeblich angestrebt, und welches noch vor wenigen Jahren Akademiker und hervorragende Geographen als ein unausführbares, unmögliches Beginnen bezeichnet haben. Er hat zum ersten Mal bei seiner Umseglung Asiens und Europas das sibirische Eismeer in seiner ganzen Erstreckung durchfahren, und die ganze civilisirte Welt feiert soeben die der Heimath zustrebenden Helden in gebührender Weise.
Freilich hat der Mann, dessen wohlgelungenes Portrait diesen Artikel begleitet, eine zwanzigjährige Vorbereitung, ein eifriges und eingehendes Studium der Polarregionen und die ganze Kraft seines eisernen Charakters, den weder vorübergehende Mißerfolge noch dadurch hervorgerufene Angriffe irre machen konnten, nöthig gehabt, um das große Werk auszuführen.
Adolf Erik Nordenskjöld ist am 18. November 1832 zu Helsingfors in Finnland geboren. Nachdem er in seiner Vaterstadt studirt, mußte er wegen einer bei der Promotionsfeier gehaltenen Tischrede, in welcher er dem Wunsche nach Wiedervereinigung seines engeren Vaterlandes mit Schweden lebhaften Ausdruck verliehen hatte, seine Heimath verlassen, um der ihm von Seiten der russischen Machthaber drohenden Verfolgung zu entgehen. Er wandte sich nach Stockholm, wo der junge Forscher, alsbald zum Professor der Mineralogie und zum Custos des mineralogischen Museums ernannt wurde; einem in späteren Jahren von seiner Vaterstadt erhaltenen Rufe, dort als Lehrer an der Universität zu wirken, konnte er, weil ihm die russische Regierung die Bestätigung versagte, nicht Folge leisten. Inzwischen hatte Nordenskjöld schon 1858 begonnen, sich an der Untersuchung der Polargegenden zu betheiligen. In diesem Jahre sowie 1861, 1864 und 1868 war er in Spitzbergen; 1870 forschte er in Westgrönland. 1872 wurde er Leiter der großen schwedischen Expedition nach Spitzbergen, welche er, vermittelst speciell zu diesem Zwecke mitgenommener Rennthiere, von dort aus weiter nach dem Nordpol zu führen hoffte. Allein das Unternehmen gelang nicht, und er mußte, ohne gegen Norden bedeutend vorgedrungen zu sein, nach einer Ueberwinterung zurückkehren.
Durch diesen Mißerfolg und durch die mannigfach herbe Beurtheilung, die seine Bestrebungen in Schweden fanden, keineswegs entmuthigt, wandte Nordenskjöld jetzt seine Thätigkeit einer anderen Seite der Polarforschung zu, aus der für ihn und die Mitwelt weitaus greifbarere und für das praktische Leben nutzbarere Resultate erstehen sollten.
Die Sucht nach Erwerb hat immer fördernd auf den Gang der geographischen Entdeckungen eingewirkt. So wurde bald, nachdem Magelhaens den Stillen Ocean zum ersten Mal durchkreuzt und damit erwiesen hatte, daß Columbus nicht, wie dieser selbst bis an sein Lebensende geglaubt, die Ostküste Asiens, sondern eine neue Welt entdeckt hatte, verschiedentlich versucht, das Wunderland China mit seinen Schätzen auf kürzerem Wege von Europa
[93]aus zu erreichen, als die Route um das Cap der guten Hoffnung und durch den Indischen Ocean ihn bot.
Die Fährt nördlich um Amerika, die sogenannte Nordwestpassage, hatte sich der Eisverhältnisse wegen als unmöglich herausgestellt, und so bemühte man sich, im Norden der alten Welt durch das Sibirische Eismeer nach dem erstrebten Ziele zu gelangen. In vier verschiedenen Perioden wiederholten sich diese Versuche, bis es endlich Nordenskjöld gelungen ist, diesen Theil des arktischen Oceans zu durchkreuzen.
Zuerst waren es englische Seefahrer, welche China auf diesem Wege zu erreichen hofften; ihnen folgten im siebenzehnten Jahrhundert Schiffe unter der Flagge Hollands, welches damals auf dem Gipfel seiner Seemacht stand und eifersüchtig auf die Erfolge der Engländer wurde. Wenn nun auch diese Bestrebungen nicht zum eigentlichen Ziele führten, so hatten sie doch die Entdeckung von Spitzbergen mit seinen damals an Walfischen noch so reichen Gewässern und mit seinen großen Herden von Walrossen und anderen Thranthieren, sowie die Auffindung der großen Doppelinsel Nowaja Semlja zum Resultat. Weiter vorzudringen gelang den Seefahrern der damaligen Periode nicht; ohne für die Eisfahrt geeignete Schiffe, ohne Erfahrung darin, welche Mittel man bei einer Ueberwinterung in subarktischen Gewässern zu ergreifen hat, um die Gesundheit zu erhalten, fielen sie zahlreich dem Scorbut und der Kälte zum Opfer, unter ihnen auch der größte Seefahrer der damaligen Zeit, Willem Barents, dessen einsames Grab Nowaja Semlja wurde.
Wenige Jahre später begannen nun auch die Russen bei Eroberung Sibiriens an der Entschleierung der sibirischen Nordküste zu arbeiten, wobei sie freilich mehr durch die Sucht nach dem Erwerb der kostbaren Pelzwaaren und der im Boden verborgenen Elfenbeinschätze, als durch die Idee der Auffindung eines Seeweges nach dem Stillen Ocean geleitet wurden. Es finden sich nämlich auf der nordsibirischen Küste und den ihr vorgelagerten Inseln bekanntlich reiche Lager von Mammuthzähnen, die ein werthvolles Elfenbein liefern. Selbst wohlerhaltene Leichname solcher vorweltlichen Elephanten hat man zu wiederholten Malen dem ewig gefrorenen Boden dieser Gebiete entnommen, und das Fleisch, obwohl Jahrtausende alt, wurde trotzdem von Hunden noch gefressen. Wie diese Mammuthreste hier so massenhaft sich ansammeln konnten, das ist freilich noch ein ziemlich ungelöstes Räthsel.
Unter ganz namenlosen Schwierigkeiten drangen kühne Männer theils zu Schlitten, theils mittelst elender Schiffchen an [94] der unwirthlichen nordsibirischen Küste entlang. Nicht wenige derselben erlagen dem Hunger und der Kälte oder fielen durch die Hände ihrer eigenen Genossen, welche, müde der unerhörten Drangsale, durch Ermordung ihres Führers, der sie immer weiter in das unbekannte, öde Gebiet vordringen ließ, dem drohenden Tode zu entrinnen hofften. Einem jener Männer, welche das, was ihnen an Mitteln und Ausrüstung abging, durch unentwegten Muth und Eifer für die Sache ersetzten, dem Kosaken Deschnew, gelang es sogar, bis zur später sogenannten Bering-Straße vorzudringen und damit die Trennung der alten von der neuen Welt festzustellen, aber sein Bericht blieb in russischen Archiven verborgen, er selbst verscholl, und so kam es, daß Bering im vorigen Jahrhundert die Straße, welche seinen Namen trägt, noch einmal entdecken konnte.
Im Laufe der Zeit traten auch russische Regenten der Sache näher und ließen durch wissenschaftlich ausgerüstete Expeditionen Vermessungen und Untersuchungen in diesen Gegenden vornehmen, und den Abschluß der langen Reihe dieser Unternehmungen bildete endlich eine von der Regierung ausgesandte Expedition, welche in den Jahren 1820 bis 1823 den östlichen Theil der sibirischen Küste und die neusibirischen Inseln untersuchte und vermaß. Zugleich hatten die Führer der Expedition den Befehl, den immer und immer wieder auftauchenden Gerüchten von der Existenz eines Landes im Norden von Sibirien auf den Grund zu kommen. Allein soweit auch Baron von Wrangell durch Schlittenreisen während dreier Winter von der Küste über das gefrorene Meer nach Norden vorzudringen suchte, immer kam er nach Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten schließlich wieder an offene Stellen, die seinem weiteren Vordringen ein Ziel setzten und ihn zur Umkehr zwangen. Damit gab die russische Regierung jeden weiteren Versuch, Entdeckungen an dieser Stelle vornehmen zu lassen, auf, und die von Wrangell und seinen Vorgängern gelieferten Berichte über die Mühseligkeiten aller Art, die sie bei ihren Reisen hatten auszustehen gehabt, schienen auch den Muthigsten von weiteren Untersuchungen abschrecken zu müssen. Selbst die Auffindung des sagenhaften Landes durch Walfischfänger, welche, durch die Bering-Straße nach Norden ihre Jagdbeute verfolgend, 1867 zuerst das lange gesuchte Wrangell-Land in Sicht bekamen, konnte die Frage der Benutzbarkeit des sibirischen Eismeeres als Verkehrsstraße nicht in Fluß bringen. Der berühmte Petersburger Akademiker von Baer, welcher die nordwestlichen Theile des großen russischen Reiches eingehend durchforscht hatte, bezeichnete nach seinen Erfahrungen das ringsum fast ganz von Land umschlossene Seebecken des Karischen Meeres im Osten von Nowaja Semlja als einen ewigen Eiskeller, in dem sich das alljährlich im Winter gebildete Eis, vermehrt durch den Eisgang der beiden größten Ströme Sibiriens, des Ob und des Jenissei, naturgemäß ansammeln und stopfen müsse, von Baer's Autorität bewirkte, daß man diesen Meerestheil beträchtliche Zeit hindurch als eines der eisreichsten Gebiete der Erde ansah. Nach einer langen Periode der Ruhe sollte hier die Praxis über die Theorie einen glänzenden Sieg davontragen.
Norwegische Fangschiffer hatten durch die immer größer werdende Armuth der von ihnen besuchten Gebiete an jagdbaren Thranthieren sich veranlaßt gesehen, neue Jagdgründe aufzusuchen; sie hatten im Sommer 1869 sich in das „unnahbare, unschiffbare“ Karische Meer gewagt und waren, nachdem sie in dem berüchtigten „Eiskeller“ lustig herumgefahren, mit reicher Ausbeute nach Norwegen zurückgekehrt. Dieselben Thatsachen wiederholten sich in dem folgenden Sommer und lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit der Geographen auf sich. Die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, unter Weyprecht und Payer hatte einen Vorstoß in nordöstlicher Richtung in jene wissenschaftlich noch nie untersuchten Gebiete zum Ziel, allein ein Unstern ließ das Schiff schon sofort nach dem Eintritt in die arktische See von schweren Eismassen umschlungen und nach vierzehnmonatlicher aussichtsloser Trift in nördlicher Richtung dem Franz-Josephsland zugetrieben werden.
Um diesen Zeitpunkt war es, als Nordenskjöld seine Aufmerksamkeit der Frage nach der Schiffbarkeit des Sibirischen Meeres zuwandte.
Unterstützt durch einen reichen Rheder zu Gothenburg, gelangte er 1875 in einem kleinen Segelfahrzeug durch die Karische See ohne sonderliche Mühe nach der Jenisseimündung, welche er im folgenden Jahre abermals, diesmal mit einem Dampfer, durch das fast eisfreie Meer erreichte. Damit war der Bann, der auf jenen Gegenden geruht und die Entwickelung der Exportfähigkeit Sibiriens so schwer beeinträchtigt hatte, gelöst. Handelsfahrzeuge aus Deutschland, England und Norwegen folgten den Spuren des kühnen Forschers und haben im Hochsommer der letzten Jahre den überseeischen Güterverkehr nach dem Ob und Jenissei mit ziemlichem Glück vermittelt, wenn auch einige Unglücksfälle vorgekommen sind, die ihren Grund in der noch immer ungenügenden Kenntniß des richtigen Fahrwassers hatten.
Nordenskjöld blieb nicht bei diesem Erfolge stehen; war die Karische See nicht absolut unnahbar, so konnte wohl auch der östliche Theil des Sibirischen Meeres für ein stark gebautes, wohlausgerüstetes Schiff nicht so gefährlich sein: der Entschluß, die nördliche Umsegelung der alten Welt zu versuchen, war damit in ihm zur Reife gelangt. Außer dem Gothenburger Rheder Oscar Dickson und dem russischen Goldwäschereibesitzer Alexander Sibiriakoff, die beide schon große Summen für die Erschließung Sibiriens verwendet hatten und die gern bereit waren, das Project durch reiche Mittel zu unterstützen, interessirte sich auch der König von Schweden, Oscar der Zweite, für das geplante Unternehmen. Die drei genannten Personen trugen zu gleichen Theilen die Kosten desselben, und am 25. Juli 1878 verließ der Dampfer „Vega“ mit Nordenskjöld und einem Stab tüchtiger Gelehrten, die ihn theilweise schon auf seinen früheren Reisen begleitet hatten, sowie mit einer auserlesenen Mannschaft in Begleitung von drei anderen Schiffen die heimischen Gewässer, um am 6. August ohne sonderliche Schwierigkeiten die Jenisseimündung zu erreichen. Hier trennten sich die Schiffe; „Vega“ fuhr, den kleinen Dampfer „Lena“ im Gefolge, weiter nordostwärts, während die beiden anderen nach Einnahme neuer Ladung nach Europa zurückkehrten.
Am 20. August umdampften die beiden Entdeckungsschiffe die nördlichsten Küstenstrecken der alten Welt und erreichten, ohne wesentlich von Eis, das man überall durch die Sommerwärme stark verwittert fand, belästigt zu sein, die Lenamündung. Die „Vega“ setzte von hier ihre Entdeckungsfahrt, ostwärts steuernd, fort, die „Lena“ dagegen dampfte den Fluß gleichen Namens nach Jakutsk hinauf; von dort aus gelangten die ersten und für lange Zeit auch die letzten Nachrichten von der erfolgreich ausgeführten Umsegelung des größeren Theiles der sibirischen Nordküste nach Europa. Auf Grund dieser Nachrichten durfte man fast mit Sicherheit im September oder October das Eintreffen einer Depesche von Japan erwarten, welche die glückliche Ankunft der „Vega“ in Jokohama meldete; waren doch die Hauptschwierigkeiten ohne Mühe überwunden. Allein Nordenskjöld traf nicht dort ein – er war verschollen und blieb es bis zum Mai 1879. Nur dunkle, im Herbst 1878 durch nach San Francisco heimkehrende Walfänger verbreitete Gerüchte machten es wahrscheinlich, daß er unmittelbar am nördlichen Eingang zur Beringstraße kurz vor Erreichung des lang ersehnten Zieles eingefroren sei. Sibiriakoff und Bennett, der Besitzer der großen Zeitung „New-York Herald“, rüsteten Expeditionen aus, um die Verschollenen aufzusuchen und ihnen, wenn nöthig, Hülfe zu schaffen.
Inzwischen war die „Vega“ von der Lenamündung bei schönstem Wetter ostwärts gedampft, bald jedoch wurde das Meer so von Eis erfüllt, daß, Nachts wenigstens, die Reise nicht fortgesetzt werden konnte. Für das tiefgehende Schiff wurde das Fahrwasser sehr seicht, sodaß bei der gänzlichen Unbekanntschaft mit demselben und bei den starken Nebeln die Fahrt nur sehr langsam vorwärts ging. Zeitweise mußte tagelang an einer Stelle liegen geblieben und abgewartet werden, bis die Eisverhältnisse sich günstiger gestaltet oder die Nebel sich verzogen hatten. Da die Fahrt meist dicht an der Küste entlang ging, wo allein eine benutzbare Fahrrinne im Eis sich fand, während dasselbe weiter seewärts immer undurchdringlicher wurde, verwandte man die unfreiwilligen Aufenthalte eifrigst dazu, mit Booten an's Land zu gehen und dasselbe zu durchforschen. Trotz aller dieser Hindernisse war man am 27. September soweit nach Osten gelangt, daß man nur noch 200 Kilometer, die man unter günstigen Verhältnissen an einem Tage hätte zurücklegen können, von der Beringstraße entfernt war. Allein es kam anders, als man erwartet hatte. [95] Die Nacht hatte man, wie gewöhnlich, vor Anker liegend verbracht, um bei Sonnenaufgang die Reise weiter fortzusetzen; während das Schiff still lag, war jedoch Windstille und etwas Frost eingetreten, welcher die umherschwimmenden Eisstücke zu einer festen Masse verband, und als es sich nun gar bei mühsamem Vordringen durch die Treibeisfelder herausstellte, daß das Fahrwasser für das Schiff zu flach wurde, fand man sich plötzlich im Eis gefangen. Noch dachte man freilich an keine Ueberwinterung. Einige Stunden südliche Winde hätten die Eismassen vertrieben und das Schiff frei gemacht. Aber statt der erwarteten südlichen wehten hartnäckig nördliche Winde, welche das Eis um das Schiff mehr und mehr häuften, sodaß man sich bald darüber klar wurde, daß eine Ueberwinterung nicht mehr zu vermeiden, welche denn auch, da die „Vega“ für diesen Fall durchaus vorbereitet war, glücklich überstanden worden ist; kein Scorbutfall, nicht die geringste Krankheit ist während der 295 Tage, während welcher das Schiff im Eis fest saß, vorgekommen; die gesammte Mannschaft hat sich vielmehr, Dank der vortrefflichen Ausrüstung, des guten Proviants und der Maßregeln des in Bezug auf arktische Ueberwinterung so erfahrenen Leiters der Expedition, trotz der bis – 46° C. steigenden Kälte stets wohl befunden. Nicht wenig mag dazu – so äußerte Nordenskjöld selber gegen den Schreiber Dieses, als er mit ihm in Japan zusammentraf – der Umstand beigetragen haben, daß das Winterquartier der „Vega“ unter der verhältnißmäßig geringen Breite von 67° lag, eine mehrwöchentliche Nacht also, welche nach den gemeinsamen Aussagen aller Polarreisenden, die in nordischen Regionen überwintert haben, so äußerst drückend auf den Gemüthszustand des Menschen einwirkt, hier nicht mehr durchlebt zu werden brauchte.
Der Umstand, daß eine Ueberwinterung stattgefunden hat, ist für die Wissenschaft weitaus förderlicher gewesen, als wenn Nordenskjöld schon im Herbst 1878 Japan erreicht hätte. Außer den sehr werthvollen magnetischen und meteorologischen Beobachtungen, die für die Kenntniß des Klimas jener Gegend große Bedeutung haben, sind von den gewonnenen Resultaten die kartographische Aufnahme der Küstengebiete und vor allem die gründliche Erforschung der bisher noch fast unbekannten Bewohner des Landes, der Tschuktschen, zu nennen. Nicht blos, daß das Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse dieses Volkes genau studirt worden sind: die nunmehr heimgekehrte Expedition bringt auch eine reiche Wörtersammlung der Tschuktschensprache und eine große Anzahl von Hausgeräthen und Kleidungsstücken dieses Volkes mit. Der nach früheren Reiseberichten für sehr wild, heimtückisch und kriegerisch geltende Volksstamm erwies sich als ein äußerst friedfertiger und gutmüthiger. Die Expedition stand mit den Leutchen auf bestem Fuß; letztere betrachteten das Schiff gleichsam als Wirthshaus, an dem keiner vorbeizog, ohne vorgesprochen zu haben und durch irgend eine Kleinigkeit erquickt oder mit einem europäischen Artikel beschenkt worden zu sein. Obwohl natürlich Schnaps der begehrteste Gegenstand war, für den man Alles gethan hätte, wurde derselbe doch nur sehr spärlich und nie als Tauschartikel, sondern nur als Geschenk benutzt. Größere Ausflüge in das Innere des Landes durften mit Rücksicht auf die unsichere Lage des Schiffes, welches bei jedem der sehr häufigen Stürme loskommen und fortgetrieben werden konnte, nicht unternommen werden.
Am 18. Juli 1879 entließen endlich die durch die milden Lüfte des arktischen Sommers gelockerten Eismassen das Schiff aus ihren Fesseln. Kann man es den Männern der „Vega“ verdenken, daß, als sie am 20. Juli das in der Beringstraße liegende Ostcap Asiens, den Abschluß der Nordostpassage, mit Salutschüssen begrüßten, ein gewisser Stolz ihre Herzen schneller schlagen ließ?
Ehe man Japan erreicht, wurde noch auf der östlich von Kamtschatka liegenden Beringsinsel um eines höchst interessanten Gegenstandes willen ein mehrtägiger Aufenthalt gemacht. Auf diesem Eiland hatte Bering, als er dasselbe im Jahre 1741 auffand, große Heerden von durch ihre Größe an Walrosse erinnernden Geschöpfen gefunden, die in keinem andern Theile der Welt wieder angetroffen worden sind. Die Thiere, welche so zutraulich, daß sie sich von Menschen berühren ließen, und vollkommen wehrlos waren, sind, da ihr Fleisch sehr schmackhaft und ihre dicken Speckschichten für Thranthierjäger sehr verlockend gefunden wurden, in den siebenundzwanzig Jahren nach ihrem Bekanntwerden vollständig ausgerottet worden, was um so leichter geschah, als die Männchen bei den getödteten Weibchen blieben und harpunirte Thiere durch die andern vertheidigt wurden. Es war nun schon lange ein Wunsch der Zoologen, von dieser Seekuh, von der in Petersburg nur eine rohe Zeichnung und einige Schädelknochen aufbewahrt wurden, vollständigere Reste zu haben. Der Expedition ist es gelungen, fünf fast vollständige Gerippe dieser Thiere auszugraben und mitzubringen.
Am 2. September 1879 meldete endlich der Telegraph der ganzen civilisirten Welt das glückliche Eintreffen Nordenskjöld's in Jokohama. Hier wurde die „Vega“ in's Trockendock gebracht, um gestrichen und für die Fahrt durch die Tropen bequemer und luftiger eingerichtet zu werden; das Schiff hatte übrigens durch die Ueberwinterung und Eisfahrt keinen Schaden gelitten. Der verhältnißmäßig lange Aufenthalt in Japan wurde, nachdem die zahlreichen Festlichkeiten, die von Europäern und Landeskindern zu Ehren der schwedischen Expedition veranstaltet wurden, vorüber waren, zu Ausflügen in das Land, sowie zur Anlegung höchst werthvoller Sammlungen aller Art benutzt. Unter vielen Anderem bringt die „Vega“ eine Sammlung von mehreren Tausenden seltener japanischer Werke wissenschaftlichen und geschichtlichen Inhalts mit, welche Nordenskjöld im Hinblick auf die immer größer werdende Vernachlässigung der heimathlichen Literatur Seitens des so überaus rasch vorwärts schreitenden japanischen Volkes vor dem Untergang gerettet hat und die dereinst äußerst wichtige Documente für die Entwickelungsgeschichte dieses Volkes liefern werden.
Nach vorübergehendem Aufenthalt in den chinesischen Gewässern, denen der Philippinen, in Singapore, auf Ceylon, wo überall reiche Sammlungen namentlich zoologischer Natur gemacht worden sind, ist die Expedition durch den Suezcanal wieder in Europa eingetroffen. So groß ist die wissenschaftliche Ausbeute derselben, daß wahrscheinlich ein eigenes Gebäude errichtet werden wird, um dieselbe in ihrer Gesammtheit aufzunehmen.
Wenn nun auch das Unternehmen keineswegs den Beweis erbracht hat, daß die Reise in jedem Jahr durch geeignete Dampfer ausführbar ist, so ist doch vor Allem daran festzuhalten, daß durch dasselbe der sogar in die Wissenschaft übergegangene Aberglaube von einem unwegsamen sibirischen Eismeer glücklich in die Rumpelkammer verwiesen worden ist. Daß der Weg in seiner Gesammtheit von wirklicher Bedeutung für den Handel werden wird, daran glaubt Nordenskjöld selbst nicht, er hofft aber, daß mit der Zeit, wenn man erst die nöthigen Erfahrungen über diese Gewässer gesammelt haben wird, die Seeverbindung zwischen Jenissei und Lena, vielleicht auch zwischen Lena und Japan als Handelsweg verwendbar sein wird, sollte auch eine Hin- und Rückreise zwischen Lena und Europa in einem Sommer nicht immer möglich sein.
Mag man über die praktische Seite der Reise denken, wie man will – einer späteren Zeit wird es vorbehalten sein, über dieselbe ein definitives Urtheil zu fällen – das wissenschaftliche Ergebniß ist jedenfalls ungemein reich ausgefallen, und wahrlich, verdient ist die Ehre, mit der Nordenskjöld und seine Genossen jetzt allgemein begrüßt und empfangen werden.
Der kühne Forscher ruht und rastet jedoch nicht; schon jetzt hat er sich für die nächsten Jahre ein neues Reiseziel gestellt. Er beabsichtigt eine Expedition nach den neusibirischen Inseln zu unternehmen, um das nachzuholen, was bei der diesmaligen Fahrt ungünstige Eisverhältnisse, die eine Annäherung an diese Inseln nicht gestatteten, verhindert haben. Den schon erwähnten reichen Schatz von Resten vorweltlicher Thiere aller Art zu heben, welchen jene Inseln bergen, und so zur Entwickelungsgeschichte der Erde einen weiteren Baustein zu liefern, das ist jetzt sein dringendster Wunsch. Möge dem kühnen Reisenden vergönnt sein, auch noch dieses Ziel zu erreichen!
[96]
Es war eine sehr vornehme Versammlung, welche sich am 9. October 1879 zu Berlin in den Räumen des Herrenhauses zusammenfand – die erste ordentliche Generalsynode der altpreußischen Landeskirche. Unter den 194 Mitgliedern befanden sich Geistliche vom Landpastor bis zum Generalsuperintendenten, Adelige vom Landedelmann bis zum Grafen, Geheimräthe, Professoren, Beamte. Der unabhängige Bürgerstand jedoch war so gut wie nicht vertreten. Das erklärt sich durch die eigenthümliche Zusammensetzung der Synode: dieselbe geht, gemäß der soviel umstrittenen, durch Gesetz vom 20. Januar 1876 bestätigten neuen Kirchenverfassung für die evangelische Landeskirche Preußens, nicht aus directen Wahlen seitens der Gemeinden hervor, sondern beruht auf einem sogenannten Filtrirsystem: die Gemeindekirchenräthe wählen die Abgeordneten zu den Kreissynoden, diese deputiren zu den Provinzialsynoden, die letzteren zur Generalsynode. Dazu kommen 30 vom König zu ernennende Mitglieder, 6 theologische Professoren, 6 Kirchenrechtslehrer und 11 Generalsuperintendenten.
Schon als die Liste der Gewählten und Ernannten in den Zeitungen erschien, war man weit und breit in Deutschland auf ein besonderes Schauspiel gefaßt, und mit ungemeiner Spannung richteten sich die Blicke auf dieses rein kirchliche Parlament. Wußte man doch im Voraus, daß in der Mehrzahl seiner Mitglieder vorwiegend nur die streitbarste Orthodoxie vertreten, daß sie also selbst der gemäßigten liberalen Ansicht entschieden feindselig, der denkbar schroffste Ausdruck der jetzt auf politischem und kirchlichem Gebiete vor sich gehenden Rückschrittsbewegung sei. Das war jedenfalls interessant, wenn es auch unerfreulich und besorgnißerregend war. In der That gestalteten sich die Dinge in der Versammlung von vornherein so, wie jeder Kundige es sich gedacht hatte. Die stärkste Fraction war die der sogenannten „Positiv-Unirten“ (76) unter Führung des genügend bekannten Oberhofpredigers Kögel; an Zahl einander fast gleich waren die Partei der „Confessionellen“ (52) unter Leitung des Berliner Superintendenten a. D. Tauscher, und die von dem Hallenser Professor Beyschlag und dem Königsberger Schulrath Schrader geführte „Evangelische Vereinigung“ oder Mittelpartei (56). Verschwindend klein erschien das Häuflein der Liberalen, welche, 9 an der Zahl, gleiche Berechtigung aller auf dem Boden der evangelischen Kirche stehenden Glaubensrichtungen und Festhalten an der gegebenen Kirchenverfassung, sowie Fortentwickelung derselben im Sinne des Gemeindeprincips, das heißt einer ausgiebigen Betheiligung des Gemeindewillens und der Gemeindethätigkeit an den kirchlichen Angelegenheiten, als Programm aufstellten.
Durch einige Beschlüsse, welche die Synode gefaßt, hat sie sich allerdings einen Anspruch auf Dank erworben. Dahin gehört die nun endlich erfolgte würdigere Gestaltung der Emeritirungs- und Pensionsverhältnisse der Geistlichen. Aber auch eine anders geartete Versammlung würde sich dieser dringenden Pflicht sicher nicht entzogen haben. In allen Punkten dagegen, wo es auf Principien ankam, hat die Synode Entscheidungen kundgegeben und Maßnahmen beschlossen, die in weiten Kreisen des Volks, und durchaus nicht blos in ungläubigen, trotz aller geringen Erwartungen dennoch äußerstes Erstaunen und wahrhaften Unwillen erregten. Wenn ein Theologe von der mildgläubigen Richtung eines Beyschlag eine Aufzählung der wichtigsten Beschlüsse der Synode mit den Worten schließt. „Das Alles sind Thaten, die weder zum Segen der Kirche noch zum Frieden in ihr dienen können; dieselben müssen vielmehr den Widerstand aller freiergesinnten Kreise hervorrufen und einen Umschlag in den kirchlichen Verhältnissen vorbereiten helfen, von dem wir nur wünschen wollen, daß er nicht allzu schroff ausfalle,“ so muß wohl auf dem Gebiete kirchlicher Zurückschraubung Starkes geleistet worden sein, und das ist auch richtig; es ist Starkes geleistet worden, ja, das Stärkste, das überhaupt erwartet werden konnte.
Man hätte glauben sollen, eine erste Generalsynode würde es vor allen Dingen sich haben angelegen sein lassen, im Geiste der neuen Kirchenordnung die Rechte und Pflichten der Gemeinden weiter zu entwickeln. Im Gegentheil – die herrschenden Parteien boten Alles auf, um die den Einzelgemeinden soeben erst eingeräumten Befugnisse zu schmälern und womöglich illusorisch zu machen. Gerade diese Rechte sind ja hauptsächlich den Orthodoxen ein Dorn im Auge. Beschränkt wurde also zunächst das den Gemeinden königlichen Patronats verliehene Pfarrwahlrecht. Der brandenburgische Consistorialpräsident Hegel gab sich in jedem Worte als erbitterten Feind dieses Gemeinderechtes zu erkennen, wußte nicht genug von den bei Gemeindewahlen vorkommenden Verkehrtheiten und Skandalen zu erzählen und sprach offen aus, daß überhaupt nicht liberale Gemeinden, sondern nur orthodoxe Consistorien im Stande seien, geeignete Geistliche zu wählen. Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte man den Consistorien ein unbegrenztes Recht der Nichtbestätigung übertragen.
Angenommen wurden schließlich folgende Bestimmungen: Bewerbungen um ein kirchliches Amt dürfen künftig nicht mehr bei dem Gemeindekirchenrathe, sondern müssen bei dem Consistorium angebracht werden. Die Vorbereitungen zur Wahl hat der Gemeindekirchenrath unter Leitung des Superintendenten zu treffen. Hat die erste und die zweite Wahl die Genehmigung der Kirchenbehörde nicht erhalten, so kann die Stelle von dem Consistorium ohne weitere Concurrenz einer Gemeindewahl besetzt werden. Die letztgenannte Bestimmung war augenscheinlich an die Adresse der Berliner Jacobi-Gemeinde gerichtet, deren Kirchenrath drei Mal so tapfer und unbeirrt den Kampf für die von ihm erwählten freisinnigen Geistlichen geführt hat.[1]
Eine weise Festsetzung der neuen Kirchenordnung verpflichtet den Geistlichen, die Fälle, in welchen er ein Gemeindemitglied von der Abendmahlsfeier zurückzuweisen für nothwendig hält, dem Gemeindekirchenrath vorzulegen. Stimmt dieser zu, so ist die Zurückweisung auszusprechen, gegen welche dem Betroffenen der Recurs an die Kreissynode offen bleibt. Erklärt sich der Gemeindekirchenrath gegen die Zurückweisung, so wird dieser Beschluß zwar sofort wirksam, aber der Geistliche ist befugt, wenn er sich bei demselben nicht beruhigen will, die Sache zur Entscheidung an die Kreissynode zu bringen. Diese Bestimmung war herrschsüchtigen Pastoren längst gewaltig zuwider. Auf den Antrag des Herrn von Kleist-Retzow beschloß die Synode mit Zweidrittelmajorität, daß es fortan dem Geistlichen allein zustehen solle, ein Gemeindemitglied von der Theilnahme am Abendmahl auszuschließen. Ebenso wurde ein Disciplinargesetz angenommen, in welchem unter den Strafen für Verletzung kirchlicher Pflichten auch die Ausschließung vom Abendmahl figurirt.
Die Pfarrwahlangelegenheit der Berliner Jacobi-Kirche bot den Heißspornen eine zu günstige Gelegenheit, einen Druck auf die kirchlichen Oberbehörden auszuüben, als daß sie dieselbe nicht nach allen Seiten hin hätten ausnützen sollen. Ohne daß ein Name genannt worden wäre, wußte Jeder, daß es sich um den Fall des damals bereits erwählten, aber noch nicht bestätigten Prediger Werner handle, als ein Pastor aus der Provinz Sachsen allen Ernstes verlangte, es solle die Anschuldigung gegen einen Geistlichen wegen Irrlehre nicht allein durch Handlungen in unmittelbarer Ausübung des Amtes, sondern auch durch außeramtliche Erklärungen oder Schriften begründet werden können. Umsonst warnten besonnene Redner vor diesem Attentat auf die wissenschaftliche Freiheit evangelischer Geistlicher; umsonst rief ein Berliner Consistorialrath den Gegnern zu: „Wir sind da auf [97]
einem Punkte angekommen, wo wir das Evangelische unter den Füßen verlieren“ – in geschlossenen Reihen erhoben sich die „Confessionellen“ und die „Positiv-Unirten“ für diesen unerhörten Antrag. Damit wäre denn die verhaßte Schriftstellerei liberaler Geistlicher ausgereutet: wer der Tinte nicht Herr werden kann, mag den kleinen Katechismus abschreiben oder Leitartikel für die „Neue evangelische Kirchenzeitung“ à la Stöcker liefern!
Aber es sollte noch besser kommen. Einmal im Zuge, scheute man sich nicht, der Freiheit der theologischen Wissenschaft selber kräftige Streiche zu versetzen. Nicht genug, daß man bei Revision der theologischen Prüfungsordnung eine Hinzuziehung des Vorstandes der Generalsynode zu den Prüfungen forderte – damit Herr von Kleist-Retzow auch ein Wort mitzureden habe, von wem und in welcher Weise die Candidaten in Bibelauslegung und Glaubenslehre zu examiniren seien – man stellte sogar an den evangelischen Oberkirchenrath das Ansinnen, daß er bei seinem Gutachten über Bekenntniß und Lehre neu zu berufender theologischer Professoren den Generalsynodal-Vorstand bemühen solle. Begreiflicher Weise widersprachen zur Ehre ihres Standes beinahe alle in der Synode sitzenden gelehrten Theologen diesem Antrage; von den sechs Facultäts-Deputirten erklärten sich fünf für einfache Tagesordnung, auch die übrigen Professoren, mit alleiniger Ausnahme der ultragläubigen Herren Zöckler und Geß, hielten den Antrag für unannehmbar – angenommen ward er trotzdem. (Die Berliner theologische Facultät hat seitdem bereits sämmtliche theologische Facultäten zur Einsendung von Gutachten über diese Bedrohung der Lehrfreiheit aufgefordert. D. Red.)
Der Tag, an welchem dieser verhängnißvolle Beschluß gefaßt wurde, war der 31. October, der Geburtstag der deutschen Reformation! Welch ein Hohn! Wozu überhaupt noch theologische Facultäten? Sperrt die jungen Theologen in Seminare ein, laßt sie den heiligen Thomas von Aquino auswendig lernen, dressirt sie zum sacrificio del intelletto, und – Rom wird es euch
[98] Dank wissen, wie es sich die Hände reiben wird angesichts des angenommenen Antrages Kögel: das durch die Maigesetze eingeführte Staatsexamen der Theologen überall mit der ersten theologischen Prüfung zu verbinden und durch Mitglieder der theologischen Prüfungscommission abhalten zu lassen!
Nicht minder bedenklich müssen die Verhandlungen über die vorgeschlagene Trauordnung erscheinen. Es handelte sich um eine endgültige Ordnung der bisher nur vorläufig festgestellten kirchlichen Trauung nach Einführung der Civilehe. Die Vorlage des evangelischen Oberkirchenrathes sprach aus: die Trauung habe die rechtsgültig geschlossene Ehe zur Voraussetzung, solle aber derselben ohne Verzug folgen; kirchliche Pflicht sei, dieselbe nachzusuchen, keine Ehe zu schließen, der die Trauung versagt werden müsse, und vor der Trauung in die eheliche Lebensgemeinschaft nicht einzutreten. Die Traufragen, verschieden für eine dem Civilact sofort folgende und für eine erst später nachgeholte Trauung, sollten sich lediglich auf die christliche Führung der Ehe richten, und durch Parallelformulare sollte sowohl das alte „Zusammensprechen“ wie das seither gültige „Segnen“ freigegeben werden. Die Mehrheit der Synode hat diese Bestimmungen verschärft, mit der unverhohlensten Freude darüber, die verhängnißvollen Erschwerungen der Eheschließung aus der Reactionsperiode der fünfziger Jahre, welche die Civilstandsgesetzgebung beseitigt hatte, auf dem rein kirchlichen Gebiete wieder herstellen zu können. Ueberall zeigte sich das Bestreben, die Bedeutung der Eheschließung vor dem Standesamte möglichst abzuschwächen; man verwandelte die „rechtsgültig geschlossen“ Ehe in eine „nach bürgerlichem Recht erfolgte“; man sprach geflissentlich von einer „bürgerlichen Eheschließung“, als ob es daneben noch eine „kirchliche Eheschließung“ gäbe. Dem Oberkirchenrath ward für sein Entgegenkommen in Bezug auf die Trauformulare übel gelohnt: mit knapper Mühe rettete er neben dem stürmisch begehrten „so spreche ich euch hiermit zusammen“ das anspruchslosere „so segne ich hiermit euren ehelichen Bund“, welches Professor Cremer für eine „bloße Phrase“ erklärte. Heißt das dem Staatsgesetz die gebührende Achtung erweisen? Heißt das der beklagenswerthen Verwirrung der Gemüther, die in Ehesachen unleugbar vorhanden ist, erfolgreich entgegenwirken?
Dem Staate zu geben, was des Staates ist, war auch sonst keine lebhafte Neigung vorhanden. Das Verhältniß der Kirche zur Volksschule soll nach dem Willen der Synode in Zukunft in der Weise geregelt werden, daß der evangelischen Volksschule und, soweit möglich, auch den höheren Schulen der confessionelle Charakter gewahrt und deshalb die Zahl der Simultanschulen auf das unabweisliche Bedürfniß beschränkt werde; daß die Kreis- und Bezirksschulinspection möglichst nach der Confession der unterstellten Schulen geschieden werde; daß den evangelischen Geistlichen die Schulinspection in jedem einzelnen Falle nur mit Genehmigung ihrer geistlichen Behörde vom Staate übertragen und nur nach Anhörung derselben abgenommen werden dürfe; daß da, wo besondere Kreis- und Localschulinspectoren angestellt sind, das Recht der Kirche zur Geltung komme, durch ihre Behörden und Organe den Religionsunterricht zu leiten u. s. f. Die Grundsätze und Erfolge der Falk'schen Schulverwaltung fanden so wenig Gnade, daß der erste Correferent den traurigen Muth hatte, die rühmliche Unterrichtsverwaltung dieses Mannes mit dem Verdict „die sieben mageren Jahre“ abzuthun. Das war denn doch sogar dem anwesenden Cultusminister von Puttkamer zu stark, und er erklärte, keine Veranlassung zu haben, an den Grundsätzen zu rütteln, welche die Allgemeinen Bestimmungen vom October 1872 aufgestellt haben. Man weiß freilich vom Elbinger Simultanschulstreit her, was das im Munde des Herrn von Puttkamer zu bedeuten hat.
Unerquicklich und peinlich waren die Verhandlungen über die sogenannten Berlinischen Nothstände. Präsident Hegel legte ein langes Sündenregister des hauptstädtischen Magistrats vor, laut dessen derselbe sich der gröblichsten Unterlassungen und Vernachlässigungen der geistlichen Versorgung städtischer Krankenhäuser, Irrenhäuser und Correctionsanstalten schuldig gemacht hätte. Er verlangte nichts Geringeres, als daß die städtischen Behörden von Berlin im Wege der Staatsaufsicht „angehalten“ würden, die nöthigen Einrichtungen für eine Seelsorge im Einvernehmen mit der Kirchenbehörde zu treffen. Zwar führte der Vertreter des Cultusministers aus, daß die erhobenen Anklagen zum Theil auf unrichtigen Voraussetzungen, zum Theil auf Uebertreibungen beruhen; zwar fand der Präsident des Oberkirchenrathes selbst gerathen, eine motivirte Tagesordnung zu empfehlen; zwar wurde von amtlicher Seite darauf hingewiesen, daß zu dem begehrten „Anhalten“ die gesetzliche Unterlage fehle, umsonst: der Generalsuperintendent Büchsel intonirte einen erneuten Nothschrei, und mit großer Mehrheit wurde der Antrag Hegel angenommen, welcher auf den ungläubigen Berliner Magistrat die Censur und Execution des Ministers herabwünscht. Verwunderlich bleibt dabei nur eins. Gerade die orthodoxe Richtung ist auf das Eifrigste bemüht, die Kirche selbstständig und von der Bevormundung des Staates frei zu machen – ist das der Weg, der Kirche die Achtung des Volkes zu verschaffen, daß ihre obersten Beamten bei der ersten besten Verlegenheit nach polizeilicher Hülfe rufen? (Der Berliner Magistrat hat übrigens alsbald in einer gründlichen Widerlegung gegen die Anschuldigungen Hegel's öffentlich protestiert. D. Red.)
Es ist unmöglich, an dieser Stelle die Reden und Thaten der Generalsynode ausführlich und vollständig wiederzugeben. Auch ist zur Kennzeichnung des dieselbe beherrschenden Geistes die vorstehende flüchtige Skizze mehr als genügend. Das Bündniß der beiden strenggläubigen Parteien, der Positiv-Unirten und der Confessionellen, gab der Synode von Anfang bis zu Ende Ziel und Richtung. Die geringe Zahl der Liberalen, welche sämmtlich der Provinz Preußen angehörten, reichte zur Stellung selbstständiger Anträge nicht hin und kam für den Gang der Verhandlungen kaum in Betracht. Aber auch die äußerst gemäßigte und zahme Mittelpartei, welche noch auf der außerordentlichen Generalsynode von 1875 die ausschlaggebende gewesen war, mußte den Wechsel kirchlicher Strömungen und Stimmungen bitter genug erfahren.
Die „Confessionellen“, deren Dreistigkeit all ihr Gerechtigkeitsgefühl unterjocht hatte, würden am liebsten die Mittelpartei bei den Vorstandswahlen ganz unberücksichtigt gelassen, bei den Discussionen ganz mundtodt gemacht haben, aber der diplomatischen Klugheit einflußreicher Mitglieder der positiv-unirten Fraction gelang es, das Aeußerste abzuwenden und jener numerisch zweitgrößten Gruppe eine bescheidene Mitwirkung zu gewähren. Damit dieselbe nicht unbequem würde, einigte man sich zu der stillschweigend geübten Praxis, durch Schlußanträge den Rednern der Mittelpartei – das Wort abzuschneiden. So erging es dem Professor Beyschlag bei der Berathung über das Staatsexamen der Theologen, obgleich er der einzige noch auf der Liste stehende Redner war und gerade in dieser Sache allen Anspruch auf Gehör hatte, ebenso bei dem zweimaligen Angriffe auf das Pfarrwahlrecht der Gemeinde, bei dem ungeheuerlichen Antrag, die theologischen Facultätsberufungen vom Generalsynodalvorstand abhängig zu machen etc. Im politisch-parlamentarischen Leben würde ein solches Verfahren vor dem ganzen Lande als schreiende Ungerechtigkeit gebrandmarkt werden.
Den Führern der Mittelpartei kann das Zeugniß nicht versagt werden, daß sie auf diesem heißen Boden, wo sie die einzigen Vertheidiger humaner Cultur waren, wacker und mit Anstand gekämpft haben. Sie haben dem ungestümen Vordrängen einer massiven Gläubigkeit nach Kräften Widerstand geleistet, zum Schutze der Wissenschaft und der Gemeinderechte manches tapfere Wort gesprochen, Uebereilungen und Unbesonnenheiten der überfrommen Brüder möglichst hintertrieben.
Aber was die verbündeten Parteien fest und entschieden wollten, das setzten sie auch durch. Ihre Sprache wurde immer deutlicher; ihre Zwecke traten immer unverhüllter hervor. Dadurch geschah es, daß die Temperatur der Synode, anfangs sogar Männern der Mittelpartei behaglich, allmählich drückender und schwüler, zuletzt schier unerträglich wurde. Hatte man zu Anfang der Verhandlungen einander von Fraction zu Fraction Anträge zuvor mitgetheilt und Verständigung über dieselben gesucht, so unterließ man bald diese überflüssige Höflichkeit, und Ueberraschung, Ueberrumpelung, Niederwerfung wurden die taktischen Maßregeln der gläubigen Streiter.
Hierfür gilt das Zeugniß eines competenten Berichterstatters, des Professors Beyschlag, welcher in seinem in den „Deutsch-evangelischen Blättern“ erstatteten Referat nicht umhin kann, folgendes Geständniß zu machen: „Wenn Präsident Hermes (am Schlusse der Synode) von dem Geiste der Liebe sprach, der in der Synode gewaltet und vermöge dessen wir keine Triumphe [99] oder Niederlagen der Parteien gekannt und allseitiges Vertrauen sich eingestellt habe, so geziemt es uns nicht, das in bewegtem Moment gesprochene Wort zu kritisiren, aber wir müssen bekennen, daß wir sowohl für die Oberkirchenbehörde wie für unsere eigene Gruppe diesen Eindruck je länger, je weniger empfangen haben. Gewiß haben Viele in der Synode jenes Ziel redlich angestrebt, und längere Zeit hindurch hatte auch ein dahin gehender Geist die Ueberhand, schließlich ist dennoch ein anderer Geist, nicht mehr derjenige der Verständigung, der Besonnenheit, der leidenschaftslosen Würdigung der Gegengründe, uns in den Verhandlungen und Beschlüssen der Synode entgegengetreten, und unter dem Eindruck dieses Geistes sind wir geschieden.“
Das mit Spannung erwartete Schauspiel ist zu Ende; im Herrenhause ist es wieder still geworden. Aber der Nachhall folgt noch lange dem Ja und Nein, dem Für und Wider, dem Hin und Her des ersten großen evangelischen Concils. Die Orthodoxen heben natürlich die Synode in den Himmel, die Liberalen aber klagen sie überall einer schmach- und unheilvollen Verleugnung des protestantischen Geistes an. Herüber und hinüber wogt der Streit in der Presse, welche insofern noch besonders bei den Beschlüssen betheiligt ist, als die Synode selbst aus Anlaß einer Privatpetition des Grafen Bismarck-Bohlen eine Resolution wider die „unchristliche“ und zu Gunsten der „die christliche Weltanschauung vertretenden“ periodischen Presse angenommen hat.
Vielleicht die schärfste Kritik hat die Synode durch einen geharnischten Protest des „Deutschen Protestantenvereins“ erfahren, welcher in dessen weiterem Ausschusse am 26. November 1879 beschlossen wurde. Derselbe endet mit einer Aufforderung an die Mitglieder der evangelischen Gemeinden, den Gefahren für die letzte Möglichkeit einer Pflege religiösen Sinnes, wie sie der Ausfall der Synode in sich birgt, entschlossen entgegenzutreten: „durch lebhafte Betheiligung an den kirchlichen Wahlen, durch standhafte Uebung und Verteidigung ihrer verfassungsmäßigen Rechte, durch entschiedenes und tatkräftiges Bekenntniß der Grundwahrheiten des Christenthums“.
Möchten doch solche Rufe nicht verhallen wie eine Predigt in der Wüste! Schon zeigt der entschieden liberale Ausfall der eben vollzogenen Kirchengemeindewahlen in Berlin und sehr vielen preußischen Städten, daß das Bewußtsein der hereindrohenden Gefahren zu erwachen und seinen Protest einzulegen beginnt. Im Uebrigen muß abgewartet werden, ob die entscheidenden Behörden nicht in letzter Stunde doch Bedenken tragen werden, alle jene waghalsigen Beschlüsse der Synode zu sanctioniren. Daß ihnen anfängt bange zu werden vor den Geistern der Unbotmäßigkeit, des bornirten Eifers, der Unduldsamkeit, die unter ihren Augen groß geworden sind, beweist die durch das Berliner Consistorium im Widerspruch mit seinem Präsidenten endlich ausgesprochene Bestätigung des Predigers Werner für die Jacobi-Gemeinde.
Den orthodoxen Heißspornen steht augenblicklich manche Gunst der Verhältnisse zur Seite, und sie wollen das Eisen schmieden, so lange es warm ist. Nicht zum ersten Male aber werden sie erfahren, daß die Bildung des Jahrhunderts, der Geist der Humanität und Versöhnung doch mächtiger ist als der engherzige Geist der Herrschsucht und Ausschließung, der Intoleranz und Verfolgung Andersdenkender. Oder sollte Jemand wirklich so naiv sein, der Welt einreden zu wollen, daß in jenem so vertraulichen synodalen Beieinander priesterlicher und aristokratischer Gesinnungs- und Strebensgenossen die Religions- und Lebensansichten von achtzehn Millionen protestantischer Preußen und ihrer machtvollen Intelligenz zum Ausdruck gekommen seien?
Ein kleiner Friedhof! An der Mauer
Stand Kreuz und Denkmal groß und klein,
Dazwischen auch ein altersgrauer,
Bemooster, helmgezierter Stein.
Das Moos vom grauen Stein ich fort,
Und als ich lange schon gegraben,
Las endlich ich das ernste Wort.
„O forsche nicht!“
Ein Frevel schien mir, was ich that;
Wehmütig ward es mir zu Sinne;
Der unbekannte Todte bat:
„O lasse ruhn mich müden Recken,
Und wolle nicht aus Neugier wecken,
Was mit mir hier begraben liegt –
O forsche nicht!
Was kann’s Dir Nachgebornem frommen,
Wann ich in diese Welt gekommen
Und wann ich wieder von ihr schied?
Ob ich für Ehr’ und Pflicht gestritten,
Ob Treu’ und Eid ich brach entzwei,
Was kümmert’s Dich – es ist vorbei.
O forsche nicht!“
Seither vergingen Jahr’ und Stunden,
Ohn’ daß ich ihn vergessen kann,
In Böhmen einst im grünen Tann.
Und treff’ ich auf ein Menschenwesen,
Dem schwere Zeit grub Runen ein,
Denk’ ich des Worts, das ich gelesen
„O forsche nicht!“
Hätte es zu den Zeiten Schiller’s bereits Seewasser-Aquarien gegeben, so hätte er seinem „Taucher“ gewiß nicht die Worte in den Mund gelegt:
Die mit Schaudern gesehenen „Salamander, Molche und Drachen“ sind für uns ebenso reizende wie unschuldige Wesen; Niemand fürchtet sich vor „stachligen Rochen“, ja die Nachkommenschaft, welche der „entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne“, liefert, wird von zarten Damenhänden gepflegt, wie ehedem Mops- und andere Schooßhündlein.
Wir haben eben, besonders seit Einrichtung des Berliner Aquariums, immer besser gelernt, den Kindern der salzigen Fluth auch in kleinerem Maßstabe bei uns Wohnung zu bereiten und ihnen die richtigen Lebensbedingungen zu schaffen. Für die größeren Provinzialstädte ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie ihr eigenes See-Aquarium besitzen werden, dessen gar nicht so beträchtliche Anlagekosten sicher sehr bald ein dankbares Publicum ersetzen wird. Wer Gelegenheit findet, Leipzig aufzusuchen, der kann im Garten des vielgenannten „Schützenhauses“ sich überzeugen, wie reizvoll auch eine in geringeren Dimensionen geschaffene Anlage dieser Art wirkt, wie reichhaltig sie sich ausstatten läßt, wie bedeutsam sie für die Bereicherung unserer Anschauungen von der Natur, namentlich aber für die Zwecke des zoologischen Unterrichts einer Universitätsstadt sein muß. Und daß sich selbst dem Wunsche des Privatmanns Gelegenheit [100] bietet, Besitzer eines kleinen See-Aquariums innerhalb seiner Häuslichkeit zu werden, hat Karl Vogt im vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“ (S. 38) entwickelt. Auf der beigegebenen Illustration sind mit künstlerischem Geschick einige Thiergruppen aus einem Seewasser-Aquarium zusammengestellt, deren Vertreter zu den beliebtesten und interessantesten Meeresbewohnern gehören und bei naturgemäßer Behandlung mit Leichtigkeit in kleineren Becken zu erhalten sind.
„Da kroch's heran,
Regte hundert Gelenke zugleich“
würde der Edelknecht des Dichters beim Anblick des fleckigen Polypen, der links im Vordergrunde des Bildes seine Arme nach uns ausstreckt, ausgerufen haben. Es ist die unschädliche Moschus-Eledone (Eledone Moschata), ein dem bekannten Tintenfisch (Sepia officinalis), dem gemeinen Vielfuß (Seepolyp, Octopus vulgaris) und dem Papiernautilus (Argonauta Argo) nahe verwandter Kopffüßler aus dem Mittelmeer, der trotz seines zähen und nach Moschus duftenden Fleisches doch von der ärmeren italienischen Bevölkerung gern gegessen wird.
Bemerkenswerth sind die an den „hundert Gelenken“, das heißt Fangarmen, befindlichen zahlreichen Saugnäpfe, mit denen das Thier seine Beute festhält und zugleich die Kriechbewegungen (durch Ansaugen an feste Körper) zu vermitteln weiß. Jene allen thierischen Wesen, vom Menschen bis hinab zu den Infusorien, so bedeutungsvollen Momente, Hunger und Liebe, kommen auch bei unserm Polypen zur vollen Geltung. Mit bewundernswerther Schnelligkeit stürzt er aus der selbstgeschaffenen Steinhöhle auf den vorüberziehenden Kruster oder Fisch; mit großer Gier umschlingen die Arme das fette Muschelthier, um es kunstgerecht auszuweiden und aufzufressen. Das Liebesgekose unter diesen Polypen kann dem Kosen der Tauben dreist zur Seite gestellt werden. Mit einiger Berechtigung darf man bei der Eledone von „Seelenstimmungen“ sprechen. Innere Erregung, Furcht und Zorn kommen durch wüthende Blicke und plötzliche braunrothe Verfärbung zum Ausdruck, die nach eingetretener Beruhigung dem gewöhnlichen Grau weicht. In höchster Gefahr, etwa beim Betasten durch Menschenhand, wird das Thier sogar „borstig“, indem plötzlich auf der Haut dunkle spitze Erhebungen entstehen, die ihm wahrscheinlich in den Augen des Feindes ein furchtbares Ansehen verleihen sollen.
Neben der Eledone bemerken wir im Vordergrunde unseres Bildes zwei Exemplare jener prachtvollen Actinien, von denen ein Dichter sagt:
„Da kein Blumenschmuck entsproßt der Tiefe des Meeres,
Gab die güt’ge Natur Thieren die Blumengestalt.“
Es ist eine bekannte Erfahrung, daß Personen, welche zum erste Male eine Flora dieser Seerose und See-Anemonen vor sich haben, nur schwer überzeugt werden können, daß all die rothen und grünen Gewächse wirklich Thiere und nicht Pflanzen sind. Fast klingt es wie Verleumdung, wenn wir diese träumerischen, sanften Wesen, die, wie die echten Kinder der Blumenwelt, sich sehnsüchtig nach dem Lichte wenden, mit dem Namen „Raubthiere“ bezeichnen, und dennoch trifft der Ausdruck zu. Wehe der Beute, die in die Nähe der Actinie kommt! Aus ihren Armen (Tentakeln) giebt es kein Entrinnen. Kaum berührt der Wurm eine Spitze der scheinbaren Staubfäden, so ist er auch schon von allen Seiten umwunden und gepackt, um im nächsten Augenblicke hinabgewürgt zu werden. Wie sich manche Blüthen zu gewissen Zeiten schließen, so auch die Actinie, wenn sie ihre Beute erhascht hat; sie hat ihre Schönheit eingebüßt; sämmtliche Arme verschwinden in der Tiefe des häutigen Stieles, und an Stelle der strahlenden Blume erblicken wir ein zusammengeballtes schlingendes Thier, ein merkwürdiges Gegenstück zu den „fleischfressenden Pflanzen“. Wie viel und wie oft die im Meere lebenden Actinien Nahrung zu sich nehmen, entzieht sich der Controlle; im Aquarium werden sie aus Gesundheits-Rücksichten zur Genügsamkeit erzogen und erhalten nur wöchentlich ihre Ration Regenwürmer oder gehacktes Fleisch. – Einige Seerosen wie z. B. die Actinia mesembrianthemum der Nordsee, sind mit Schutz- und Trutzmitteln ausgerüstet, die in der „Thierwaffenkunde“ kaum ihres Gleichen finden. Es sind Nesselkapseln, mikroskopische Organe, die in Thätigkeit gesetzt werden, sobald sich etwas Verdächtiges naht. Schon in der Entfernung von 2 bis 3 Cm. schleudert die Actinie dem Feind aus jenen Kapseln lange weiße Fäden entgegen, die ihn zurückschrecken oder umspinnen und festhalten. An ein „Verschießen“ der Munition ist dabei kaum zu denken, da in einem einzigen Arme mehr als vier Millionen „geladene“ Patronen liegen; die Anthea cereus besitzt im Ganzen 6450 Millionen Geschosse, welche überdies für den Fall ernster Kriegsgefahr schnell ersetzt werden können.
Recht dankbare und anmuthige Bewohner des Aquariums sind die auf unserm Bilde im Hintergrunde schwebenden glockenförmigen Ohrenquallen (Medusa aurita), die wegen der brennenden Nesselfäden, mit denen sie gleich den Actinien versehen sind, auch Meernesseln genannt und als solche von Badenden mit Recht gefürchtet werden. Schleiden wendet auf die Medusen das Heine'sche Wort an:
„Glatte Herren, glatte Frauen,
Ach, wenn sie nur Herzen hätten!“
Sie haben ein solches weder im anatomischen, noch im figürlichen Sinne; sie sind nur wandernde Mägen, die zu Tausenden gesellig die Meeresfluthen durchziehen. Und doch webt sich um das zarte Geschöpf ein poetischer Nimbus. In regelmäßigen Rhythmen zieht sich der bläulich schimmernde, völlig durchsichtige Körper zusammen und steigt in sanften Linien nach oben; es scheint, als wolle sich die Qualle unter einem feingewebten Schleier verbergen, dessen Rand mit vielen zierlichen Quasten und Anhängseln geschmückt ist. Mit Vorliebe bewegen sich die Medusen auf der Grenze zwischen Wasser und Luft; ja es ist, als wollten sie ihren lautlosen Flug über das Element hinaus fortsetzen, denn oft hüpfen sie vermittelt einer kräftigen Zusammenziehung aus der Salzfluth empor. So sanft das Leben der Qualle, so poetisch ist ihr Tod. Leise und ohne die herzschlagähnlichen Bewegungen sinkt das sterbende Thier zu Boden und ist in kurzer Zeit im wahren Sinne des Wortes aufgelöst. Niemand kann sich rühmen, die Leiche gefunden zu haben. Selbst die durch den Zufall an den Strand geworfene Qualle ist unter dem Einfluß der Sonne bald verdunstet, nicht ohne die zarten Umrisse ihrer regelmäßigen Gestalt in Form einer Rosette im Sande zurückgelassen zu haben.
Die merkwürdigen Geschöpfe im Hintergrunde unserer Abbildung sind zwei Pfeilschwanz- oder Molukkenkrebse (Limulus polyphemus), welche des eigenthümlichen Körperbaues und des stielartigen Schwanzes wegen von den Franzosen la casserole genannt werden. Die Oberseite des Thieres besteht aus zwei an einander liegenden glatten gewölbten Schilden, auf welchen die nur schwer aufzufindenden Augen liegen. An Waffen fehlt es auch diesem Geschöpf nicht. Mit sechs Paar Scheeren ausgerüstet, weiß es dieselbe in ernsten Kämpfen und beim Spielen mit anderen Bewohnern des Beckens energisch in Anwendung zu bringen. Die höchst interessanten Turniere zwischen der Eledone und dem Limulus enden indeß meist mit einer kläglichen Niederlage des letzteren; denn auf den Rücken geworfen, vermag er sich nur selten wieder aufzurichten; um den in den Sand gestreckten Streiter vor einem sicheren Tode zu bewahren, ist es deshalb eine tägliche Aufgabe der Wärter, die zappelnden Casserolen zu neuem Leben – umzuwenden.
Das palmenähnliche Gebilde rechts oben in der Abbildung ist ein Röhrenwurm, die gebänderte Schraubensabelle (Spirographis Spallanzanii). In dem durch ausgeschwitzte Kalktheilchen oder angesetzte Sandkörnchen gebildeten „Stamm“ wohnt das furchtsame Thier und streckt seine Kiemenfäden in Form einer spiralförmig gewundenen Blätterkrone nach oben. Letztere ist außerordentlich empfindlich, denn schon bei der leisesten Berührung der Wasseroberfläche oder der Glasscheibe vor ihrem Behältniß verschwinden alle Sabellen in der Röhre.
Wenn es für jeden Naturfreund eine unerschöpfliche Quelle sinniger Freuden ist, den Lebensäußerungen der Meeresgeschöpfe zu folgen und sie verstehen zu lernen, so ist es nicht minder anziehend, das Entstehen einzelner derselben zu beobachten. Wir finden hierzu eine ebenso bequeme wie dankbare Gelegenheit in den Eiern des Katzenhaies (Scyllium catulus), die an den Küsten als „Seemäuse“ oder unter anderen populären Namen bekannt sind. Wie die Abbildung zeigt, hängen die hornartigen durchsichtigen Kapseln an vielfach gewundenen, raukenartigen Anhängseln, die von den vier Ecken des seltsam geformten Eies ausgehen.
Es liegt ein eigener Reiz darin, das neugeborene Wesen, bei dem, wie bei allen Embryonen, Kopf und Auge sich zuerst entwickeln, wochenlang in seinem zierlichen Gefängniß sich regelmäßig
[101][102] winden und zucken zu sehen. Es schwimmt, dehnt und reckt sich Tag und Nacht, bis nach eingetretener Reife sich die Kapsel öffnet und den wohlgebildeten, noch blaß gefärbten Katzenhai seinem Element übergiebt. Die jungen Thiere fallen regungslos auf den Grund und verharren dort einige Zeit auf ein und derselben Stelle, ohne etwas von der späteren Raublust zu verrathen. Erst bei der Fütterung werden sie lebendig, denn auch auf sie findet das Horazische Wort Anwendung:
Die Pilgerin, welche diese Wanderschaft angetreten, hat jetzt ihren Lebensweg beschlossen. Frau Gräfin Ida Hahn-Hahn weilt nicht mehr unter den Lebenden, pflegt nicht mehr die Seelen der sündigen Magdalenen im Kloster der Gutenbergstadt. Schon lange gehörte sie zu den Vergessenen, und doch schrieb sie Romane auf Romane; alle aber blieben jenseits der Schwelle unserer Nationalliteratur und wurden nur in jenen Kreisen gelesen, in welchen auch die Erzählungen Bolanden’s ein begeistertes Publicum fanden, in den katholisch-kirchlichen Kreisen, und nur ein Legendenforscher von Fach würde genaue Auskunft über diese neue wunderthätige Production geben können.
Werfen wir einen kurzen Blick auf das merkwürdige Leben, dessen Wiege gleichsam hinter den Theatercoulissen stand, während der Sarg in der Klostergruft ruht. (Vrgl. dazu Jahrg. 1867, Nr. 42.)
Es war am Ende der vierziger oder bei Beginn der fünfziger Jahre – ich besinne mich nicht mehr genau auf die Zeit – als ich mit einigen Genossen ein auf freiem Felde bei Altona aufgeschlagenes Theater besuchte. Es waren weniger die Vorstellungen, die uns anzogen, als ein besonderer damit verknüpfter Umstand. An der Casse dieses Theaters stand nämlich neben dem Cassirer ein würdiger Herr mit dem Schnurrbart, einigen Ordenszeichen und vornehmer Haltung: es war der Director des Theaters, der in Schleswig-Holstein von Stadt zu Stadt zog und überall seine Wanderbühne aufschlug. Dieser passionirte Theaterfreund und Theaterdirector war Niemand anders als der Graf Karl Friedrich von Hahn-Hahn (Genaueres über ihn siehe Jahrg. 1873, Nr. 28, 29), ein Intendant auf freiem Felde und aus freier Hand, niemals zur Leitung einer Hofbühne, auch nicht der allerkleinsten, berufen, trotz seiner Ahnen, Orden und der ruhmvoll mitgemachten Feldzüge gegen die Franzosen in den Befreiungskriegen. Wer indeß gekommen war, um sich über den Mann lustig zu machen, über den eine Fülle von Anekdoten cursirte, wer mindestens auf einen tragikomischen Eindruck rechnete, der mußte sich enttäuscht finden gegenüber der würdevollen Erscheinung des „Theatergrafen“, der seinen Beruf mit solcher Sicherheit und, man möchte sagen, mit solcher Ueberzeugungstreue ausübte.
Die Tochter dieses Sonderlings war Gräfin Ida, die Romanschriftstellerin, und da nach Schopenhauer die Töchter von den Vätern den Geist erben, so waren in dieser Erbschaft, die ja nicht cum beneficio inventarii angetreten werden konnte, gewiß auch einige Capricen und Seltsamkeiten von Hause aus mit eingeschlossen. Gräfin Ida war am 22. Juni 1805 in Tressow im Mecklenburgischen geboren, und wenn sie auch ihre erste Jugend im väterlichen Hause zubrachte, so hatte sie doch in den späteren Jahren derselben keine feste Heimath.
Der Vater war in den Feldzügen abwesend und dann durch seine Theaterleidenschaft auf ein unstätes Leben hingewiesen. Diese Passion zerrüttete auch die Vermögensverhältnisse der Familie, und so mochte es anfangs als ein besonderes Glück erscheinen, als Comtesse Ida sich im Jahre 1826 in Greifswald mit einem reichen Vetter, dem Grafen Friedrich Wilhelm Adolf Hahn, vermählte. Doch fand sich die junge Gräfin nicht in die Bande einer standesmäßigen Ehe, die ihrer reichen Phantasie, ihrem unruhigen Geist keine Anregung bot, um so weniger, als der Gatte nur Sinn für Pferde und Hunde hatte. Die Ehe wurde im Jahre 1829 wieder geschieden. Während des Scheidungsprocesses wurde von der Gräfin ein Kind geboren, ein Mädchen, das ohne alle Fähigkeiten blieb, weder gehen noch stehen oder etwas mit den Händen greifen und halten konnte. Gräfin Ida konnte sich jetzt ihrer doppelten Passion hingeben: der Literatur und den Reisen. Es war damals die Epoche der George Sand’schen Romane, die in ganz Europa Sensation erregten. Gräfin Hahn-Hahn war eine geschiedene Frau wie die George Dudevant; sie war also von selbst auf die Pathologie der Ehe hingewiesen. Es lag damals allerlei in der Luft von kühnen, wenn auch unklaren Emancipationsbestrebungen; die Hahn-Hahn faßte diesen in der Luft liegenden Stoff mit aristokratischen Glacéhandschuhen an. Das Recht des Herzens vertrat sie nicht als ein allgemeines Recht, sondern mehr als ein Privilegium der bevorzugten Stände. Ueberhaupt bewegte sie sich im Kreise des Salons wie die attischen Tragöden im Kreise der Götter und Heroen; es gab da nichts von der Bedürftigkeit des Daseins; die ganze Selbstherrlichkeit der Leidenschaft kam zu uneingeschränktem Recht mit allen ihren Wunderlichkeiten. Trotz des oft bizarren französirenden Stils dieser Romane, trotz der oft seltsamen Capriccios, in denen sie sich ergehen, darf man doch behaupten, daß keine deutsche Schriftstellerin der George Sand im Ausdrucke der Herzensempfindungen und der poetischen Sprache der Leidenschaft so nahe gekommen ist, wie die Hahn-Hahn, so groß immerhin die Kluft sein mochte, welche die aristokratische Schriftstellerin von der demokratischen schied. Aus eigenem Erlebniß schöpfte sie den Stoff zu ihren Dichtungen; sie hatte ja die Unbefriedigung einer liebeleeren Vernunftehe kennen lernen und empfand, als sie freigeworden, die Schranken dieser Freiheit, welche die Gesellschaft von allen Seiten ihr entgegenstellte. Dieser „Gesellschaft“ warf sie den Fehdehandschuh hin in ihren Schriften wie in ihrem Leben.
Sie hatte inzwischen „den Rechten“ gefunden, einen Mann, der, durch kein eheliches Band ihr verknüpft, ihr doch Jahrzehnte lang zur Seite stand, wie Immermann der Gräfin Ahlefeldt in kürzerem Freundschafts- und Liebesverkehr: es war Baron Bystram, ein Mann von männlichem Aeußeren und edler Bildung. Daneben aber machte sie eine glühende Leidenschaft durch, einen kurzen Liebesroman, der aber für ihr poetisches Schaffen die höchsten Anregungen bot.
Sie, die Aristokratin, verliebte sich in einen der hervorragenden Führer der damaligen liberalen Partei, den Juristen Heinrich Simon, einen Mann von stattlicher Erscheinung und energischem Charakter, der in jener Epoche der constitutionellen Bewegung fast die gleiche Berühmtheit erlangt hatte, wie der Verfasser der „Vier Fragen“. Diese Liebe fand glühende Erwiderung; die schlanke blonde Aristokratin übte auch einen berückenden Zauber auf den Volksmann aus, der sonst gerade durch seinen kalten scharfen Verstand sich auszeichnete und auch in seinen schöngeschnittenen Gesichtszügen einen gewissen marmorkalten Ausdruck hatte. Simon hielt um die Hand der Gräfin an; doch diese konnte sich nicht dazu entschließen, ihren Rang einem Bürgerlichen von jüdischer Herkunft zu opfern.[WS 1]
Gleichzeitig hatte Simon einem Mädchen eine tiefe Neigung eingeflößt, das sich ebenfalls später als Schriftstellerin einen Namen erwerben sollte. Es war dies seine Cousine, Fanny Lewald, welche ihre Liebe bis zu Simon’s Tode tief im Herzen trug; doch diese Liebe blieb unerwidert; die Mecklenburgische Gräfin hatte den Sieg davon getragen über die jüdische Kaufmannstochter der Kniephof’schen Langstraße in Königsberg, trotz der Verschiedenheit ihrer politischen Anschauungen von denjenigen, welche Fanny Lewald mit ihrem Vetter gemein hatte. Mehr noch als der literarische Gegensatz zwischen der capriciösen, vornehm lässigen Schreibweise der Gräfin Ida und dem abgeklärten Stil der Fanny Lewald, mehr noch als der Gegensatz zwischen der exclusiven romantischen Lebensauffassung der Gräfin und der aufgeklärten, verstandesmäßigen der Jüdin mochten es jene feindlichen Lebensbeziehungen sein, was der Fanny Lewald die Feder in die Hand drückte, mit der sie in ihrer „Diogena“ die Romane der Gräfin Hahn-Hahn mit so beißender Persiflage parodirte.
[103] Unter diesen Romanen steht in erster Linie „Gräfin Faustine“, die genialste Production dieser merkwürdigen Schriftstellerin. Die Heldin ist ein weiblicher Faust … und wie dieser unersättlich in seinem Wissensdurst, so ist sie es in ihrem Durst nach Lebensglück. Unbefriedigt in ihrer Ehe liebt sie einen andern Mann; indessen dies allein würde ihr noch nicht den Stempel einer Faustine aufdrücken, es ist alltäglich, wenigstens in Romanen; aber die Heldin liebt zwei Männer zugleich, und auch hierin, sowie in der Ausübung der Kunst findet sie keine Befriedigung. Sie wandert in den Orient und geht in ein Kloster: ein Weg, den auch die Dichterin selbst später einschlagen sollte, welche in diese „Faustine“ schon soviel aus ihrem eigenen Leben hineingeheimnißt hatte.
Wenn eine Frau einen reichen Geist, ein empfängliches Herz besitzt, so bietet die heutige Welt ihr kein anderes Ziel als die Weltentsagung. Das ist die Moral der „Faustine“. Wohl, so werden diejenigen Frauen glücklich sein, die sich zu beschränken wissen und nur bescheidene Ansprüche an das Leben stellen? Nein, antwortet die unerbittliche Richterin unserer Gesellschaft, auch diese sind es nicht, und in ihrem Roman „Clelia Conti“ beweist sie, daß auch aller sanft sich hingebenden Liebe und Treue nicht der ersehnte Lohn zu Theil wird. Ueber diesem mehr rührenden Bilde schwebt eine ironische Beleuchtung: das sind eure idealen Frauen, seht, wozu sie es bringen! Mein Ideal bleibt die geniale „Faustine“, welche dem Gesetz der Welt Trotz zu bieten wagt. Einen Reichthum weiblicher Charaktere hat die Gräfin Hahn-Hahn auch in ihrem Roman „Ulrich“ dargestellt; es ist viel echte Liebespoesie in demselben; aber der Held, ein häßlicher, geistreicher Mann, ist nicht viel mehr als ein Don Juan. So sind alle ihre Männer, entweder Don Juans, oder Tyrannen, rohe Wüstlinge; sie treten bei ihr ja nur als Liebhaber oder Ehemänner auf; irgend ein thätiges Wirken bewähren sie nicht, eine Bedeutung für das Leben haben sie nicht. Die Frauen dagegen sind Märtyrerinnen unserer Cultur, und in einzelnen Romanen, wie in „Zwei Frauen“, wird der Protest gegen das Gesetz der Gesellschaft, das Evangelium der Freiheit des Herzens mit großer Beredsamkeit verkündet. Die Willkür genialer Naturen steht über dem Gesetz: das ist das Dogma der Romantiker, welches unsere Schriftstellerin für sich acceptirt hat; das ist der Grundton, der auch durch ihre übrigen Romane: „Der Rechte“, „Cecil“, „Sigismund Forster“, „Sibylla“, „Levin“ u. a. hindurchklingt.
Gräfin Hahn-Hahn hatte mit ihrer Gegnerin, der Fanny Lewald, das gemein, daß sie eine eifrige Touristin war und eine große Zahl von Reiseschriften veröffentlicht hat: „Orientalische Briefe“, „Ein Reiseversuch im Norden“, „Jenseits der Berge“, „Erinnerungen aus und an Frankreich“ u. a. Ihrem ganzen Wesen war indeß ein unbefangenes Beobachtungstalent fern; sie blieb überall eingesponnen in ihre eigene Empfindungs- und Gedankenwelt; sie sah die Welt gleichsam durch den Schleier ihrer eigenen Seele. An genialen Einfällen, zu denen äußere Eindrücke die Anregung gaben, fehlt es nicht in ihren Reiseschriften; aber anschauliche Darstellung von Land und Leuten, abgesehen von poetisch beleuchteten Stimmungsbildern, würde man vergeblich in ihnen suchen.
Im Jahre 1845 nahm die Gräfin Hahn-Hahn einen dauernden Aufenthalt in Dresden, wo sie mit der Aristokratie, mit schriftstellerischen Collegen, wie Freiherr von Sternberg, verkehrte. Doch sollte das Behagen des Lebens ihr bald in trauriger Weise gestört werden. Augenleidend, ließ sie sich von Dieffenbach operiren; dennoch verlor sie 1848 das eine Auge. Im Jahre 1849 starb ihr innigster Freund Bystram, und die in Dresden so furchtbar ausbrechende Mairevolution zeigte am hellen Tageslicht der Geschichte Elemente, die ihr in hohem Grade widerwärtig und feindselig waren.
Aus jener Dresdener Epoche haben wir die Aufzeichnungen einer mit der Gräfin Hahn-Hahn gesellschaftlich verkehrenden Dame, die uns von der vierzigjährigen Frau das folgende Portrait entwirft: „Sie hatte bereits das eine Auge eingebüßt, und ihre zarten, feinen Gesichtszüge waren durchaus nicht mehr ansprechend zu nennen. Eine fast durchsichtige Hautfärbung und das erhabene, klug und tief blickende Auge verliehen ihrer Physiognomie den Ausdruck geistiger Begabung und eines mehr als gewöhnlich regen Seelenlebens. Ihre Figur, groß und sehr schlank, war sehr mager, sodaß ihre eigentlich graziösen Bewegungen zuweilen eckig und der feste Tritt ihres schmalen Fußes wohl bisweilen allzu männlich erscheinen konnte. Dem Fuße gleich, war ihre Hand ebenfalls lang und schmal, und sie widmete diesen beiden Theilen ihres Körpers eine ganz besondere Aufmerksamkeit, wie sie denn auch mit Vorliebe Hände und Füße, den ihren gleichend, an ihren Heldinnen zu schildern pflegte. Sie trug damals ihr mattblondes Haar gescheitelt; ihre Nase war fein, der Mund frisch und trotz der schmalen scharfgeschnittenen Lippen von einem so wohlwollenden, freundlichen Zuge oft umschwebt, daß die innere Güte des Herzens sich wie ein rosig Licht über ihr ganzes Gesicht zu verbreiten schien.“
Der Ausbruch der revolutionären Bewegung, deren Gewaltsamkeit sie in nächster Nähe bedrängte, trug wesentlich dazu bei, den Entschluß in ihr zu reifen, ihrer „Faustine“ erdichtetes Schicksal zum eigenen, zur Wahrheit ihres Lebens zu machen. Der Tod Bystram's konnte sie in diesem Entschlusse nur bestärken. Hierzu kam, daß sie in Dresden die Bekanntschaft eines der geistvollsten Vorkämpfer des streng kirchlichen Princips machte, der bald darauf den Mainzer Bischofsstuhl besteigen sollte.
Gewandt mit Wort und Feder, heimisch in allen Bewegungen der Zeit, für seine Zwecke benutzend, was sich irgend in den Dienst der Kirche zwingen ließ, war Freiherr von Ketteler ganz dazu angethan, eine Frau von romantischen Neigungen im Augenblick, wo ihr eigenes Leben des festen Haltes zu entbehren anfing und die ihr widerwärtige revolutionäre Richtung in Deutschland in den Vordergrund trat, zur Proselytin zu machen.
So trat die Gräfin Hahn-Hahn im Jahre 1850 zur katholischen Kirche über und vermehrte die Zahl der Bekehrten, an denen unsere Literatur allzu reich ist. Einer Nachricht zufolge ist sie zuerst 1852 zu Angers in ein Kloster eingetreten; jedenfalls kam sie bald darauf nach Mainz, wo sie als Klosterfrau ein katholisches Magdalenen-Stift leitete. Dreißig Jahre lang, bis zu ihrem jetzt erfolgten Tode, lebte sie in der schönen Rheinstadt in klösterlicher Zurückgezogenheit. Nicht blos dem Salonleben, auch den touristischen Launen hatte sie entsagt, keineswegs aber dem literarischen Schaffen.
Das lag nicht im Sinne des Mainzer Bischofs, der selbst ein so geharnischter Kämpe mit der Feder in der Hand war, wie viele seiner Vorgänger es mit dem Schwerte waren. Er wollte ein so reiches Talent nicht versumpfen lassen; es sollte befruchtend wirken im Dienste der Kirche. Und so erfuhr die Welt aus der Schrift „Von Babylon nach Jerusalem“ die große Wandlung im Leben der Dichterin: es war ziemlich das letzte Werk der Hahn-Hahn, von dem man in literarischen Kreisen Notiz nahm; die folgenden wurden mehr durch die kirchliche Propaganda verbreitet. Sie hatte ja ihr letztes Wort gesprochen; die goldschimmernde Legende in etwas „preciösem Stil“ wurde jetzt ihre Muse. Sie schrieb Gedichte „unserer lieben Frau“ gewidmet, im Sinne jenes Marien-Cultus, den Brentano und später sogar Daumer gepflegt hatten; sie verfaßte ein „Leben des heiligen Augustinus“, „Bilder aus der Geschichte der Kirche“, ein „Büchlein vom guten Hirten“ und Aehnliches; doch auch dem Roman wurde sie nicht untreu; was sie indeß für die Unterhaltung frommer Seelen schrieb, hatte für die Weltkinder kein Interesse. Alle Romane habe denselben Refrain: die Flucht aus eitler Weltlust, aus den Schmerzen des Lebens, aus verwirrten Verhältnissen in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche. Wir erwähnen von diesen Romanen „Maria Regina“, „Doralice“, „Zwei Schwestern“, „Peregrin“, „Die Erbin von Cronenstein“ und andere.
Mochte es der Einsiedlerin von allen Entsagungen, die sie sich auferlegen mußte, nicht als die schlimmste erscheinen, daß diese Werke kein Echo mehr fanden in der deutschen Literatur, die ihr doch einst einen schönen Kranz gewunden, daß Nebenbuhlerinnen, die sie früher tief unter sich sah, sich jetzt im Lichte des Ruhmes sonnen konnten, welches ihr nicht mehr scheinen durfte? Sollte sie niemals in ketzerischen Augenblicken sich zurückgesehnt haben in die Zeit jener genialen Sünden, in den Wogenschlag des socialen und literarischen Lebens, der sie einst so hoch getragen? Wer kann es wissen?
Die Literaturgeschichte aber wird die fromme Pilgerin nicht vergessen; sie wird sie, gegenüber dem nüchternen und breiten Realismus der Gegenwart, als eine Dichterin anerkennen, welche,
[104] mit schönem Talent, mit warmer Empfindung ausgestattet, über die Kämpfe des Herzens und der Leidenschaft einen poetischen Hauch zu breiten wußte, den wir bei den kaltblütigen Zergliederungen, wie sie viele neuere Schriftstellerinnen lieben, vermissen. Es giebt zwar keine unter diesen, die von Babylon nach Jerusalem wandern wird, aber auch die „Faustinen“ sind ausgestorben in einer ernüchterten Zeit. Darum legen wir gern der letzten „Faustine“ einen Kranz auf die Gruft.
Instinct oder Ueberlegung? Der Restaurateur der Südbahnstation Steinbrück in Untersteiermark übersiedelte vor einigen Jahren nach dem neun Meilen entfernten Laibach, wo er wieder die Bahnhofrestauration übernahm. Hierher hatte er auch seinen Hund mitgenommen, ein unschönes Thier, welches man in keine bestimmte Rasse einreihen konnte und das sich auch durch keine besonderen geistigen Eigenschaften auszeichnete; kurz vor der Uebersiedelung war er zur Pflege vorübergehend anderweit untergebracht gewesen. Da ihm die vollste Freiheit gelassen ward, so wurde es anfänglich auch nicht beachtet, daß er jetzt halbe Tage lang fortblieb; nur wurde es mit der Zeit auffällig, daß er blos Nachmittags verschwand und Abends sich pünktlich wieder einstellte. Man forschte ihm immer nach, konnte aber trotz aller Bemühungen seinen Verbleib nicht entdecken, bis seine Schliche durch einen Conducteur aufgedeckt wurden; dieser hatte Folgendes bemerkt.
Wenn die Passagiere des um ein Uhr Nachmittags durch Laibach nach Wien fahrenden Postzuges aus den Waggons stiegen, um am Büffet eine Erfrischung einzunehmen, so schlich sich der Hund unbemerkt in einen gerade leerstehenden Waggon und setzte sich ruhig unter das Sitzbrett. In dieser Lage verhielt er sich bis Steinbrück vollkommen ruhig; hier, wo sämmtliche Passagiere ausstiegen, um zu diniren, konnte es ihm nicht schwer fallen, sich unbemerkt aus dem Waggon zu entfernen, worauf er um den Bahnhof herum und erst von der Straße aus in die Restauration hineinging, sodaß es aussah, als käme er aus dem Orte. Die Bediensteten, die den Hund wohl kannten, glaubten, er sei für die Dauer in der Familie zurückgeblieben, in welche ihn sein Herr vor der Uebersiedelung nach Laibach gegeben, werde daselbst schlecht gehalten und wolle sich daher hier schadlos halten.
Gegen Abend, nach einem Aufenthalte von circa drei Stunden, verschwand er wieder und benutzte, wie später erforscht wurde, den Nachtzug, um nach Laibach zurückzukehren. Diese Spazierfahrten zwischen den beiden Orten setzte er durch ein halbes Jahr ungestört fort und schien einen solchen Gefallen daran zu finden, daß er sich schließlich wöchentlich zwei- bis dreimal auf die Reise machte, bis sein räthselhaftes Verschwinden durch jenen Conducteur aufgedeckt wurde. Man legte ihn nunmehr an die Kette und die Reisen hatten ein Ende.
Ob es nun Anhänglichkeit an seinen früheren Aufenthaltsort war, ob es dort bessere Mittagskost gab oder ob es nur das Vergnügen an Spazierfahrten war, was ihn bewog, seiner neuen Heimath von Zeit zu Zeit untreu zu werden, lassen wir dahingestellt sein; wir müssen nur die Schlauheit bewundern, mit der er sich so lange Zeit vor Entdeckung zu wahren wußte, und daß er nie das Ziel seiner Reise verfehlte, nie über Laibach oder Steinbrück weiterfuhr. Was sagt die Südbahngesellschaft zu einem solchen „blinden Passagier“?
Gr. in Kiel. Der österreichische Dichter Carlopago (Karl Ziegler) ist bereits 1877, fünfundsechszig Jahre alt, in Wien gestorben. Gewiß ist es ein trauriges Zeichen unserer von mancher lärmenden Mittelmäßigkei|t bewegten Zeit, daß ein unbedingt so tiefsinniger und gedankenvoller, durch hohe Schönheit edelster und reinster Formen ausgezeichneter Dichter so bald in Deutschland vergessen werden konnte. Eine Gesammtausgabe seiner vortrefflichen Gedichte fehlt leider. Nach einem etwaigen Nachlaß haben wir uns erkundigt. Es befindet sich ein solcher allerdings in den Händen der Angehörigen und harrt nur eines Verlegers, der des Schatzes sich annehmen will.
Frau Dr. R. in Stettin. Sie klagen, daß beim Einbinden der Jahrgänge unserer „Gartenlaube“ die doppelseitigen Bilder stets auf’s Traurigste verstümmelt würden, indem die Mitte bis zur Unsichtbarkeit eingeklemmt werde. Das ist ein Uebel, welches zu verhindern jeder ordentliche Buchbinder im Stande ist; er braucht nur das betreffende Blatt auf Falz zu setzen. Die unbedeutende Mehrausgabe von ein paar Pfennigen, welche Ihnen daraus erwächst, kann dabei nicht in Betracht kommen. Also – geben Sie nur Ihrem Buchbinder künftig bestimmte Weisung!
J. A. –s in Livorno. Von E. Werner´s „Vineta“ existiren Uebersetzungen in’s Englische, Italienische und Holländische. Sie können dieselben durch jeden Sortimentsbuchhändler beziehen.
Marie Louise in Rußland. Adam Politzer, Professor der Ohrenheilkunde in Wien.
Mattei in Triest. Reiner Schwindel!
Fr. A. in Jersey-City. Nicht zu verwenden! Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.
M. E. in Hop. Vor R. B–r in B. b. Dr. hüten Sie sich! Fragen Sie doch einen Arzt!
Hausfrau aus alter Zeit. Wurde als ungeeignet bereits vernichtet.
gingen ein: Verlagshandlung der „Gartenlaube“ M. 200; Sammlung der Grubenarbeiter etc. in Berggieshübel M. 15; die Deutschen des Risorgimento in Bari M. 40.32; Verein ehem. Studirender von Langensalza und Eimbeck und Gäste M. 11; Resultat einer Wette in Reval 3 Rubel; C. Reuter in Oberndorf M. 4; ein Unterofficier des ehemaligen Kurhessischen Leibgarde-Regiments M. 50; Sammlung unterm Weihnachtsbaum des Gesangvereins „Germania“ in Basel M. 60.25; fünf junge Deutsche in Havre M. 16; Reinertrag einer Theatervorstellung des Vereins „Bürger-Harmonie“ in Beetzendorf M. 102; Sammlung bei der Christbaumfeier des deutschen „Liederkranz“ in Basel M. 80.64; H. Walter in Pilgramshain M. 3.50; vom kleinen Rudolph M. 3; H. T. M. 30; G. T. in Wöhl M. 2.62; Ertrag einer Aufführung des Turnvereins in Weißenburg M. 211.15; F. R. Gerstenberg in Greiz M. 3; O. H. in L. M. 4; J. L. in Berlin M. 5; aus Hamm M. 6; P. Zuleger in Auerbach M. 6; J. B. M. in H. M. 10; A. Blume in Freiburg an der Unstrut M. 3; L. D. in A. M. 5; H. Kempf in Offenbach M. 5; Butzansky in Starkmühle bei Brand M. 1.50; aus Hattstedt M. 3; C. H. und M. S. M. 5; Sammlung der Schulkinder in Kresdorf M. 15.75; R. V. in A. 4.65; eine fröhliche Tischgesellschaft im Fürstenkeller in Camburg M. 3.50; A. Q. in Oberfrohna M. 3; Ad. T. M. 1; A. R. M. 1.50; Je. W. T. M. 8; A. H. M. 2; C. Meißner M. 3; Ludw. Zoch in Dresden M. 3; Ungenannt M. 10; „Ein zweifelhafter Punkt“ M. 1; Dr. H. in M. M. 5; Rosalie Zaencker in Weimar M. 2; Dorchen und Emil in M. M. 3; A. H. in Schwanebeck M. 1; Dr. Z. in Straßburg M. 5; L. in Borna M. 2.5; Th. Witschel in Dresden M. 1; Laura B. in Neustadt bei St. M. 10; Aug. Schwarz in Hamburg M. 20: Ebba, Rudi und Hilda 20 Franken; B. Wachsmann in Suderode M. 3; N. N. in Gerbke M. 3; J. K. in M. M. 2; Agnes Keller in Reichenbach M. 20; S. Simon in Suhl M. 10; A. Schönberg in Emden M. 4; Sam. Reischer in Galatz M. 10; Frau Seeger in Merkwitz M. 5; M. E. in Augsburg M. 16; Mönchbacher in Bourdonnay M. 3; J. S. in J. M. 4; R. in Saarlouis M. 5; Frl. Rose Menslage M. 3; Fr. Erfurt u. Comp. in Dalhausen M. 20; H. W. in London M. 10; Dr. A. in Prag M. 3; G. B. M. 1; G. C. in O. M. 10; Bahnhof Barnstorf M. 16.75; A. B. C. in Coburg M 10; Ungenannt M. 2.50.
gingen ferner ein: Aus Trebnitz M. 30; Verein Club in Zehdenik M. 5; Braun u. Leidner in Münsterschwarzach M. 10; Benedict H– nl– in München M. 4; ein Leser 50 Pf.; Lehrer Hofmann, Priv. Semler, Frau Dietrich jun., Frau Dietrich sen., Frau Schuster, sämmtlich in Nürnberg, M 7; C. M. in Thorn M. 5; Bruno Winderlin in Moskau M. 50; R. v. St. in Prenzlau M. 5; Amalie Quellmaltz in Oberfrohna M. 3; Frau Marie von Köchritz in Liegnitz M. 10; Dr. med. Paetsch M. 10; Wächter in Hamburg M. 4; Ungenannt M. 5; Ed. Methlow in Berlin M. 15; Rixenfatters in Schwerin M. 5; M. G. in Saalfeld M. 10; H. Pruskowsky in Tornell M. 3; le Meer in Danzig M. 3; T. in Lichterfelde M 3; C. K. in Weimar M. 6; H. Kempf in Offenbach M. 5; Paul Wendler in Hamburg M. 5; C. R. jun. M. 3; C. C. in Torgau M 10; W. Wolf in Kempten M. 4; Dr. M. P. in H–n M. 10; Jul. Michaelis in Berlin, M. 10; Oberförster Schmidt in Morgenröthe M. 10; Ch. Pr. in Hbg. M. 20; Libausche Commerzbank M. 20; Frau A. S. M. 10; Dr. K. M. 10; H. H. in Eilenburg M. 5; M. Frisack in Rostock M. 10; ein guter Deutscher aus Frankfurt am Main in St. Petersburg M. 10; Clemens Ule in St. Petersburg M. 100; A. Schneider in St. Petersburg M. 25; Frau Carl Cron in Mannheim M. 5; Th. Knesing in München M. 20; H. G. in Frankfurt am Main M. 6.50; E. von C. 15 Rubel; R. in Landsberg an der Warthe M. 1; T. S. in G. M. 15; Bergverwalter Krug in Gladenbach M. 8; von M. 25 Gulden holländisch; W. H. in St. Petersburg M. 20; Fr. St. in Themar M. 3; R. Etzold in Metz M. 3; J. H. in Stuttgart M. 6; Arno Günzel in Dresden M. 2; Weihnachts-Sammlung des „Vereins Deutscher Lehrerinnen im Deutschen Daheim“ in London M. 40.80; Fr. Helene Ackermann in Weimar M. 3; Ungenannt in Lenzkirch M. 5; C. Rehm in Passau M. 3; T. B. in Hamburg M. 18; L. R. und T. R. in B. M. 2; C. Ed. Aeschlimann 3 Rubel; Onkel und Neffe Clasen 3 Rubel; Fräul. Natalie von Köppen 3 Rubel; Caroline und Marie Aeschlimann 2 Rubel; Olga Andropom 1 Rubel; Leseverein zu Kappel M. 6; Lenz-Knipp in Zittau M. 6; Th. Nolting in Dorum M. 5; B. Neuhäuser in Hamburg M. 6; A. von H. und N. M. 10; Sammlung bei einem Geburtstage durch Ad. Kramer in Berlin M. 6.75; A. B. C. in Coburg M 10; Sammlung der Grubenarbeiter etc. in Berggieshübel M. 15; Unbekannt M. 2.50; Ad. T. M. 1; A. R. M. 1.50; Je. W. T. M. 8.
- ↑ Nachdem der sehr zahlreichen Jacobi-Gemeinde die von ihr vollzogenen Wahlen zunächst des Prediger Hoßbach und sodann des Domprediger Schramm in Bremen nicht bestätigt worden waren, entschied sie sich in ihrer dritten Wahl für den Prediger Werner in Guben. Sofort begann auch gegen diesen ausgezeichneten Mann die heftig betriebene Agitation der orthodoxen Rädelsführer und das übliche Manöver des Protestes mit einer verschwindenden Minorität von Unterschriften (531 Männer und 590 Frauen von mehr als 30,000 Mitgliedern). Aber auch gegen Werner konnte nichts vorgebracht werden, als eine Bezugnahme auf herausgerissene Stellen aus früher außeramtlich von ihm veröffentlichten wissenschaftlichen Schriften. Auf diesen Einwand ist jedoch dieses Mal die Mehrheit des brandenburgischen Consistoriums nicht eingegangen; es hat die Wahl bestätigt. Ein weiter unten mitgetheilter Beschluß der Synode wurde also in diesem Falle nicht berücksichtigt. Als ein Symptom aber der augenblicklich in den orthodoxen Kreisen sehr hochgeschwollenen Stimmung kann es dienen, daß sie nunmehr beim Oberkirchenrath Hülfe gegen das ihnen so nahestehende Consistorium suchen und von der obern Instanz peremtorisch die Vernichtung des Bestätigungsbeschlusses verlangen.D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Siehe hierzu die „Berichtigung“ in Nr. 20.