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Die Gartenlaube (1880)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck verboten.  
Uebersetzung vorbehalten.
Ledige Kinder.
Erzählung aus dem oberbairischen Gebirg.
Von Herman v. Schmid.
1. Herum.

Der Einödhof zum Kogelbauern, der irgendwo in den oberbaierischen Bergen liegt, führt seinen Namen nicht umsonst.

Unmittelbar hinter dem Hause, das sich rückseits an eine breite, steilabfallende Felswand lehnte, als wenn es von derselben Schutz und Sicherheit erwartete, thürmte das Gestein sich zu einem hohen Gipfel empor, der im Munde des Volkes durch eine eigenthümliche Umbildung des Wortes Kegel als Kogel bezeichnet wurde. Das Haus selbst mit seinem doppelten, breiten Laubengang an dem obern, mit der hohen, fest geschlagenen Gräd[WS 1] um das untere Stockwerk lag auf einem grünen Grashange, als wäre es – nach einem Lieblingsausdrucke des Volkes – in eine Krippe[WS 2] hineingestellt. Ueber das kurze, duftige Gras erhoben sich einige schöne Bäume, besonders ein paar stattliche alte Linden, wie sie nach alter Sitte wohl bei keinem einzelnen Bauernhofe fehlen, und um den Anger herum, wie eine Einfassung, standen große hochgewachsene Kirschbäume, deren kleine Früchte sich eben hochroth zu färben begannen. Unter ihnen duckten sich niedrige Zwetschgensträucher; ihr Wuchs und die moosbedeckte Rinde ließ erkennen, daß ihr Standpunkt doch wohl zu hoch und kühl gelegen war, wenn auch der Kogel gleich einem riesigen Schirm die kältesten Windstriche abhalten mochte. Die Umgrenzung des Hofes nach der einen Seite wurde von einem Wäldchen gebildet, dessen alten hochstämmigen Fichten man es ansah, daß sie zu den Lieblingen des Besitzers gehörten und als solche in jeder Weise geschont wurden; nach der anderen Seite senkte sich der Abhang rasch einer beträchtlichen Tiefe zu, über deren von allerlei Sträuchern eingefaßten Rand hinweg sich eine weite Aussicht auf ein unten liegendes schmales Bergthälchen öffnete. Zwischen den Tannen desselben blitzte der blaue Spiegel eines kleinen Sees herauf; gegenüber bauten sich waldige Bergzüge über einander empor wie Stufen zu dem kahlen, langgestreckten grauen Felsengrate, der, die ganze Gegend beherrschend, sich wie ein behelmtes Riesenhaupt ansah; wohl eine geringere Einbildungskraft als die des sagenfreudigen Volkes hätte hingereicht, in den Linien desselben etwas wie die Züge eines menschlichen Angesichts, eines zur Hut für die ganze Gegend bestellten Wächters, zu erkennen, und so war es wohl zu erklären, wenn das Volk ihn den Wachterkopf nannte.

Der Kogelhof hieß also mit Recht eine Einöde; waren doch die zerstreuten Ansiedelungen anderer Bergbewohner stundenweit von ihm entfernt, und wenn die Insassen des Hofes Sonntags zu Hochamt und Predigt in die Pfarrkirche wanderten, mußte Einer schon ein gewandter Steiger sein, sollte er den Weg in anderthalb Stunden zurücklegen.

Mit der Oede und Einsamkeit war dem ländlichen Wohnplatze auch das Gepräge der Ruhe und Stille aufgedrückt. An gewöhnlichen Tagen war in und um denselben kein anderer Laut hörbar, als das Läuten der Kühe, die mit ihren dumpfen und doch wohlklingenden Schellen und Glocken auf den Abhängen weiden gingen, als der Ruf des Haushahnes, der sein weibliches Gefolge zusammenkrähte, der Schrei eines Geiers, der spähend über der Halde hing, oder der Ruf eines Raben, der bei eintretender Dämmerung seinem Waldneste zuflog. Mitunter klang wohl auch Jauchzen und Jodeln aus menschlicher Kehle über die Gegend hin, daß diese aufzuhorchen schien, wie verwundert über die Stimme, die ihr plötzlich geworden.

An einem Tage des beginnenden Herbstes, als bereits die Dolden der Vogelbeeren mit den Hagebutten an den Rosenwildlingen wetteiferten, sich lebhafter zu röthen, als die kälteren Nächte schon die Schlehen und die Beeren des Wachholders tiefer blau überhauchten, war der Ort äußerlich wohl derselbe, aber die Stille wie die Einsamkeit schien aus ihm gewichen zu sein. Von Zeit zu Zeit, vom Widerhall an den Bergen hin und her geschleudert, rollte der Knall von Schüssen durch die herbstlich klare Luft und verkündete, daß im Gehege der Berge die Jagdlust ihren Einzug gehalten und sich aufgemacht habe, den Berghirsch in den Wäldern aufzusuchen und der Gemse bis an ihre Felszinnen nachzuklettern. Wer aus dem Fichtenwäldchen trat, konnte schon von Weitem auch im Kogelhofe und dessen Umgebung eine ganz ungewöhnliche Bewegung bemerken; die Bewohner liefen eilfertig hin und wieder, als hätten sie einen besonderen Anlaß, die gewohnten ruhigen Geschäfte und Arbeiten des Tages bei Seite zu legen. Dazu ertönte manchmal vom Hofe her etwas wie fröhliches Lachen und Gesang, der sich aber nicht blos nebenher um die Arbeit rankte wie der Epheu um den Stamm, der nicht blos Schmuck oder flüchtige Verzierung war, sondern eine Hauptsache und eine eigene Thätigkeit für sich bildete.

An der Rückseite des Hauses führte über eine Quermauer ein Hochweg nach der Scheune, nicht eben von besonderer Breite; denn der Ertrag der wenigen Haberfelder, welche in der hohen [2] Lage noch zur Reife kamen, bedurfte keiner größeren Vorrichtungen noch Räumlichkeiten, um in Haus und Scheune untergebracht zu werden. Desto umfangreicher waren die Seitenabtheilungen, um die Mengen von Heu und Grummet zu versorgen, die als Futter zur Ueberwinterung des Viehes nöthig waren. Ein angenehmer Duft entströmte dem weit geöffneten und zurückgeschlagenen Thore und ließ dadurch den Inhalt der Scheunen errathen, der sonst kaum zu erkennen gewesen wäre. Die Seitenwände der Tenne waren mit Fichtenreisern so dicht besteckt, daß dieselbe wie ein großes grünes Gemach aussah, und die eintönige Farbe des Reisigs war wieder durch bunte, papierne Bandrosen, durch breite aus einander gerollte Leinwandstreifen von blendender Weiße unterbrochen; die blauen Köpfe von Astern oder die purpurnen der Dahlien waren hier und dort dazwischen gesteckt, wie lebendiges Edelgestein oder als blühende Haften, den Schmuck festzuhalten.

Das in der Tiefe gegenüber liegende Ausgangsthor der Scheune war geschlossen und zum Mittelpunkt oder Hauptstück der ganzen Verzierung benützt; auf ihm liefen die zierlich gefalteten weißen Streifen wie Strahlen zu einem Kranze zusammen, in dessen Mitte, aus flammenden Sonnenblumen gefügt, ein riesiges M prangte. Auf der Tenne selbst, die wie ein Ballsaal gekehrt war, stand eine Tafel, mit weißem, mächtigem Tischtuch gedeckt, an dessen Rändern die rothen Spitzen nicht fehlten, wie der einfache Geschmack der Landleute sie liebte. Die Gedecke zeigten, daß unter dem Geschirr des Hauses eingehende Musterung gehalten und manches Prachtstück hervorgesucht worden war, das vielleicht seit Urvätertagen nicht mehr von seinem Ehrenplatze gerückt worden. Es war klar, auf dem Kogelhofe wurde ein Gast erwartet, und das mußte ein viel bedeutenderer Mann sein als etwa ein Pfarrer oder Gutsbesitzer aus der Umgegend oder auch der Herr Landrichter, die auf einem Amts- oder Vergnügungsgang zum Kogelhof hinaufgestiegen kamen.

In der Tiefe der Tenne war ein Bauernbursche vollauf beschäftigt, an die ganze Ausschmückung noch die letzte bessernde Hand zu legen und mit dem Ausdrucke kecker Zufriedenheit in den Mienen das Ganze zu mustern, indem er hie und da eine Lücke in dem Tannenreisig enger zusammenzog, eine Blume feststeckte oder eine Falte in der Leinwand zurecht zupfte. Im Vordergrunde, auf der Schwelle des offenen Scheunenthores, saß ein Bauermädchen; sie hatte in der weißen Schürze einen Haufen Blumen vor sich liegen, aus denen sie mit geschickt wählender Hand einen mächtigen Strauß zusammenband. Es war nicht schwer zu errathen, woher die Blumen genommen waren; in geringer Entfernung, der Tenne gegenüber, von kleinen Holzstaketen eingezäunt, lag das Gartenviereck des Hauses, wo neben und zwischen den Beeten mit nutzbaren Kräutern der Salbei duftete, der Lavendel blühte, das Bandgras grünte und Rittersporn, Schwertl und „Gretl in der Staude“ sich breit machten. Der Strauß hatte bereits eine ansehnliche Größe erreicht, aber noch schien die Binderin nicht genug zu haben und hielt denselben vor sich hin, wie um zu bemessen, wo noch etwas von ihren Vorräthen angebracht werden könnte. Zu gleicher Zeit war der Bursche mit seiner Arbeit fertig geworden und stand nun müßig im Grund der Scheune; sein Blick war auf das Mädchen gewendet, kehrte sich aber rasch wieder ab, wenn dasselbe eine Bewegung machte, als ob es sich beobachtet wüßte.

Es war ein anmuthiges Bild, das die beiden Gestalten boten; jede für sich war schön und bedeutsam; beide mit einander mochten so nicht leicht wieder zu finden sein. Beide standen in der ersten Blüthe der Jugend; beide konnten gewissermaßen als Muster ihres Standes und Geschlechtes gelten. Der schlanke und doch derbkräftige Wuchs des Burschen trat durch die leicht anliegende Joppe aus grauem Lodentuch, den gestickten Gürtel, die kurze Lederhose und die stämmigen Beine mit den Wadenstrümpfen erst recht hervor, und das grüne Berglerhütchen mit Gemsbart und Spielhahnfeder saß auf dem braunen Kraushaar, als wäre es eigens für diesen hübschen, im Bewußtsein seiner Kraft etwas trotzigen Gesellen erfunden worden.

Auch das Mädchen war in die damals — es war vor mehr denn zwanzig Jahren — noch allgemein übliche Tracht der Bergler gekleidet, die jetzt fast nur noch bei alten Leuten und in abgelegenen Thälern gefunden wird, wohin Telegraph und Eisenbahn noch nicht gedrungen sind, sodaß mancher, der jetzt die Berge bereist, eine Enttäuschung erleben und den Erzähler im Verdacht haben kann, er tische ihm Fabeln und Märchen auf, welche die Wirklichkeit widerlegt. Der Anzug des Mädchens war nicht kostbar; die Trägerin gehörte offenbar nicht zu den Reichen der Gegend, aber alles an ihr war genau, anmuthig und mit sichtbar gutem Sinn geordnet. Auch im Sitzen standen ihr sowohl das schwarze Mieder mit dem silbernen Kettengeschnür, wie das franzenreiche seidene Brusttuch und das schwarze Halsflortuch mit filigraner[WS 3] Silberschnalle sehr wohl an. Das Mädchen hatte den Hut abgenommen und neben sich gelegt; er mochte ihr hinderlich gewesen sein, den Bindfaden um die Blumenstengel zu schlingen, den sie an einem Ende mit ihren blanken Zähnen hielt und etwas schwerfällig über sich hinweg zum Knoten schlang. Desto freier war das Gesicht zu sehen, ein Mädchengesicht, dem man nicht eben nachrühmen konnte, daß es von besonderer Schönheit sei, aber es lag in ihm ein angenehmer, freundlicher Ausdruck, der um den Mund als leichtes Lächeln schwebte, während um die Augen etwas wie ein Fältchen des Spottes und Muthwillens zuckte. So eifrig sie mit ihrer Arbeit beschäftigt war, fand sie doch auch Muße, manchmal flüchtig nach dem Burschen zu sehen. Es schien ihr eine Frage auf den Lippen zu schweben, die sie immer wieder zurückzuhalten für gut fand.

Dem Burschen währte endlich das Schweigen zu lange.

„Wie haben wir's denn eigentlich, Nannei?“ rief er, ohne seinen Platz zu verlassen. „Wird denn der Busch'n heut noch fertig, oder willst Dir auf morgen auch noch was aufheben? Wenn Du doch schon Kalender machst, mach fein viele Feiertäg' hinein!“

„Da müßt' ich mich erst besinnen,“ entgegnete Nannei aufblickend, aber ohne ihre Stellung zu verändern; „ich glaub', mit viel Feiertäg' wär' der Kogelbauer kaum recht zufrieden! Ich hab' auch an ganz was Andres denkt, Lenz. Ich hab' mich besonnen, was ich mit all dem Blumwerk anfangen soll. Ich hab' mir zu viel' abgebrockt und mein', es könnt noch einen zweiten großen und schönen Busch'n geben. Wär's nit das Gescheidteste, wenn ich noch einen binden thät' für die Königin? Denn wenn der König kommt, wird er wohl auch seine Königin bei ihm haben.“

„Seine Königin?“ rief der Bursche und brach in so lautes Lachen aus, daß dem Mädchen die Röthe des Zorns und der Beschämung in's Gesicht schoß. Sie ließ den Strauß sinken.

„No, was soll das hölzerne G'lachter bedeuten?“ rief sie und sah, als ob sie ihrer Frage Nachdruck geben wollte und wie zur Abwehr halb aufgerichtet, nach ihm hin.

„Mußt nit harb sein,“ entgegnete Lenz, nachdem er sich von seinem Lachen etwas erholt hatte; „aber so einen Diskurs, da müßt' eine Kuh lachen. Du bild'st Dir wohl ein, die Königin, eine so feine und vornehme Dam', steigt auch den Gemsen nach und kraxelt auf den Berg'n 'rum?“

„Ist das Alles?“ erwiderte sie kaltblütig; „ich hab' Wunder g'meint, was ich Dummes g'sagt hab'. Thut schon der Mühe ab, daß Du deswegen lachst, wie nit gescheidt — ich weiß freilich nit, wie es bei so hohen Herrschaften Brauch ist, aber dasselbe weiß ich — wann ich die Königin wär', ich müßt' da schon dabei sein — ich!“

Lenz konnte seine Lachlust noch immer nicht vollends bewältigen; die Antwort des Mädchens schien sie sogar noch zu steigern.

„Das glaub' ich wohl,“ pustete er heraus, „daß Du dabei wärst — wenn er Dich halt mitnehmen thät', der König!“

„O, das würde er wohl thun,“ versetzte Nannei mit der Zuversicht der Ueberlegenheit und setzte den Busch in einen Bierkrug aus weißem, mit blauen Blumen bemaltem Porcellan, der als ländliche Blumenvase auf dem Tische bereit stand. „Wenn ich's verlangen thät', müßt' er mich mitnehmen — das weiß ich, wenn ich auch nie keine Königin gewesen bin.“

„No, no,“ rief Lenz und steckte die Daumen beider Hände in den grünen Hosenträger, der sich unter der Joppe von dem schneeweißen Hemde kräftig abhob. „Du könntest vielleicht schon eine Königin abgeben. Anstellen thust Dich wenigstens, wie wenn Du als eine Prinzessin oder doch als Gräfin auf die Welt gekommen wärst. Du glaubst wohl, es müßt' Alles nach Deinem Kopf gehen?“

Das Mädchen hatte sich vollkommen erhoben und war dem [3] Burschen näher gekommen; beide standen sich gegenüber, fest einander anblickend: es war, als wollte jedes im Bewußtsein eigener Kraft die des anderen messen.

„Eigentlich ist das ein dummes Gerede,“ begann Nannei wieder, „aber ich mein', was vom König und von der Königin gilt, das gilt auch von Bauer und Bäuerin, und wenn ich auch nichts bin, als eine Bauerdirn, so mein' ich, es müßt' doch alles nach meinem Kopf gehen, wenn ich's haben wollt'.“

„Da möcht' ich schon zuschauen,“ rief Lenz und lachte wieder, noch spöttischer und ungläubiger als zuvor. „Ich bin nit Dein Bauer und Du nit meine Bäuerin, aber das möcht' ich erleben, ob ich thun müßt', was Du haben wollt'st. Im Gegentheil: Du mußt thun, was ich will, wenn ich's verlang'.“

„Freilich wohl,“ entgegnete sie stark und nicht ohne Hohn, „Du bist ja der Sohn vom Haus', der künftige Kogelbauer, und ich bin nur eine Magd.“

„So ist es nicht gemeint,“ rief Lenz; „es ist von einer ganz anderen Sach' die Red'.“

„So, von was denn sonst?“ erwiderte Nannei, indem sie ihn fast wie überrascht und unsicher ansah.

„Von dem, daß Du ein junges, schneidiges Dirn'l bist und ich ein junger, lebensfrischer Bub' ...“

„Wart' nur, wenn Du jetzt Soldat wirst, weil Du Dich hineingespielt hast, werden sie Dir die Frische schon ein bissel austreiben.“

„Wenn ich ein Narr wär'! Der Kogelhofer wird sich nit spotten lassen und für seinen einzigen Buben schon einen Mann stellen. Aber bei Dir, Nannei, da möcht' ich selber meinen Mann stellen und sehen, ob Du wirklich soviel Schneid' hast, als Du Dich anstellst. Komm einmal her und gieb mir ein Buss'l!“

Das Mädchen richtete sich auf, so hoch sie sich strecken konnte, und aus dem Auge traf ihn ein Blick, den man seiner sanften Bläue so wenig zugetraut hätte, wie dem heiteren Himmel einen plötzlichen Blitz.

„Sonst hast keine Schmerzen?“ fragte sie, indem das leise Beben ihrer Stimme ihre Erregung verrieth. „Die Buss'ln sind heuer nit geraten; mußt schon warten auf einen bessern Jahrgang.“

„Willst mir also keins geben?“ erwiderte Lenz. „Wenn ich mir's aber nehm'?“ fuhr er fort, indem er die Arme ausbreitete und Miene machte, auf sie loszugehen.

Sie aber stellte rasch den einen Fuß hinter den anderen, wie um feste Stellung zu haben.

„Das kannst ja probiren,“ sagte sie, „wenn Du wissen willst, wie tief von der Tennbrucken 'nunter ist auf den ebenen Boden.“

Sie war mit diesen Worten kaum zu Ende gekommen, als der Bursche schon vor ihr stand, ihr den Arm um den Leib schlang und mit der anderen Hand den zurückgedrängten Kopf an sich zu drängen suchte; dennoch war er ihr nicht zuvorgekommen, denn im nämlichen Augenblicke hatte sie seinen Arm von sich geschleudert und ihn zurückgestoßen, daß er schwankte und fast Mühe hatte, ihre Drohung nicht an sich verwirklicht zu sehen.

Was zuvor ein augenblicklicher Scherz gewesen, fing an, bedenklich zu werden.

Nannei war bis in den Mund kreideweiß geworden, aber sie stand fest aufgerichtet wie ein kundiger Fechter, der einem erneuten Angriff entgegensieht. Dem Lenz dagegen war die Gluth des Zornes in's Gesicht gestiegen, und er schickte sich an, sein Vorhaben mit Aufgebot seiner ganzen Stärke auszuführen. Noch ein Augenblick, so wäre der sonderbare Kampf in Wirklichkeit entbrannt – der laute Zuruf einer Männerstimme und die Stimmen vieler Leute verhinderten den Ausbruch. In der Erregung hatten Beide nicht bemerkt, daß bereits eine ziemliche Anzahl von Landleuten aus der Umgegend herangekommen war.

Allen voran, schon auf der Tennenbrück, stand ein alter Mann, der in lachender Verwunderung die Hände über dem Kopfe zusammenschlug.

„No, seid's so gut,“ rief er, „seid's so gut und rauft's gleich mit einander in aller Fruh! Wollt's vielleicht ein G'spiel aufführen, wenn der König kommt, und habt's Prob' gehalten?“

Der Mann war eine eigenthümliche Erscheinung. Während die anderen Ankömmlinge in der festtäglichen Landestracht gekommen und offenbar von der Neugier herbeigeführt worden waren, den König zu sehen, der, wie es hieß, heute im Kogelhofe frühstücken werde, schien er nicht daran gedacht zu haben, sein Aeußeres mit den Rücksichten auf einen so hohen Gast in Uebereinstimmung zu bringen. Er war unverkennbar in vollem Arbeiteranzuge gerade von der Arbeit weggelaufen. Ein Hemd von grobem Zwillich und Beinkleider von gleichem Stoffe bedeckten seinen Körper, beide aber waren wie das Gesicht berußt und mit schwarzen Schmierflecken bedeckt. Ein abgetragenes, rundes Lederkäppchen saß auf dem weißen, spärlichen Haar, und die Füße steckten in großen Holzschuhen, auf denen grobes Leder aufgenagelt war. Trotzdem war der Anblick des Alten kein widriger. Durch den Ruß hindurch waren die Züge eines freundlichen Angesichtes zu erkennen, und unter den weißen, starken Büschelbrauen blitzte ein dunkles Auge so lachend und munter, als wäre sein Leben das glücklichste und seine Arbeit die angenehmste und einträglichste der Welt.

Das Gesicht des Mädchens hellte sich bei seinem Anblick augenblicklich auf; sie rückte mit der einen Hand das Hütchen, das sie sich wieder aufgesetzt, in die rechte Lage und streckte ihm, näher tretend, die andere Hand entgegen.

„Grüß Gott, Vater!“ sagte sie, nicht ohne einige Verlegenheit über die eigenthümliche Stellung, in der er sie gefunden. „Ich hab' mich wehren müssen; der Lenzl hat woll'n –“

„Ja, ja,“ lachte der lustige Alte, „was der Lenzl woll'n hat, das hab' ich selber wohl gemerkt.“

Der Bursche unterbrach ihn. Mit der Zuversicht des Mädchens war auch sein Trotz gestiegen, und er schien nicht übel Lust zu haben, die unterbrochene Fehde jetzt mit dem Manne wieder aufzunehmen.

„Wenn's Dir etwa nicht recht ist, Pechler Kaspar, darfst es nur sagen, dann mach' ich Dir's recht.“

„Wär' schon ein rechtes Kraftstück'l,“ entgegnete dieser, „wenn Du über ein altes Mann'l wie mich herfallen thät'st.“

Der Bursche mochte die Berechtigung dieses Vorwurfs fühlen; sichtlich betroffen und wie zur Entschuldigung murmelte er halblaut vor sich hin:

„Sie ist ja selber schuld! An dem Buss'l wär' sie nicht g'storben, die hochgeistige Dingin!“

„Recht hat sie gehabt,“ sagte der Pechler, „und ich hätt' nicht geglaubt, daß ein junger, sauberer Bursch, wie der Kogelhofer Lenz, ein Buss'l nit anders zu kriegen weiß, als mit Gewalt. Du meinst wohl, weil Du einmal den Kogelhof bekommst, darfst Du übermüthig sein? Gieb Acht, gieb Acht, daß Du's nicht einmal klein beigeben mußt!“

Das Mädchen hatte ihn am Arme ergriffen und suchte ihn hinwegzuzerren. Sie hielt es zur Beendigung des Wortwechsels für das Beste, wenn sie die Beiden aus einander brachte.

„Komm mit in die Kuch'l, Vater!“ sagte sie, „es ist Zeit, daß ich nach den Nudeln schau'. Bringt der König auch den Wein mit, muß man ihm doch was Richtig's zum Essen aufsetzen.“

Der Rußige widerstrebte noch schwach, fügte sich aber doch. Die Leute waren allmählich immer näher gekommen, sodaß es gerathen schien, die Angelegenheit, von welcher die Wenigsten bisjetzt etwas begriffen haben mochten, nicht selbst offenkundig zu machen. Brummend folgte er Nannei in die Seitenthür, welche durch den Stall und von dort in den Vordertheil des Hauses und nach der Küche führte.

Hinter ihm füllte sich die Scheune mit einer großen Anzahl Menschen, die alle den Platz sehen wollten, wo der König ihnen die Ehre anthat, bei ihnen zu essen, und zugleich die Anstalten und Verzierungen bewunderten, die zu diesem Ende gemacht wurden. Es waren meistens Bauersleute in der Landestracht, Alte und Junge, Weiber, Mädchen und Kinder; es traf sich eben gut, daß sie ihre Neugierde mit einem anderen Zweck verbinden konnten. Es war ein abgewürdigter Feiertag, an welchem der Gebrauch forderte, eine Wallfahrt zum Sanct Laurenzi-Kirchlein zu machen, das unweit von einem Felszacken heruntersah. Doch fehlte es auch nicht an vornehmeren Leuten: mit den Fußgängern waren ein paar leichte Wägelchen angekommen, deren Insassen dem Bürgerstande – ja dem Adel angehörten.

Aus dem einen der Fuhrwerke kletterte nicht ohne Mühe ein wohlbeleibter, kurz gewachsener Mann, dem die Last seines Bauches und der kurze Athem jede solche Bewegung beschwerlich machte. Es gelang ihm nur mit Hülfe eines kleinen, aber behenden Mädchens, dessen Schönheit durch die unverkennbare [4] Aehnlichkeit mit dem Vater keineswegs besonders gefördert ward. Gleichwohl wäre ihre Erscheinung nicht gerade unangenehm gewesen, weil das Gesicht mit den wasserblauen Augen das unverkennbare Gepräge der Gutmütigkeit trug, wäre nicht der gute Eindruck des Gesichts durch den Körper wieder verwischt; denn die eine Seite war so stark gegen den Hals hinaufgeschoben, daß es unrecht gewesen wäre, blos von einer hohen Schulter zu reden, und daß der Begriff „Höcker“ dafür wohl der einzig richtige war.

Das andere Fuhrwerk trug einen noch bedeutsameren Insassen. Schon der Bauerknecht, der als Kutscher amtirte, zeigte durch die bordirte Schirmmütze und eine Art Livréerock, den er über die langen Lederhosen trug, daß sein Herr zu den eigentlichen Honoratioren der Gegend gehörte. Die Erscheinung desselben entsprach allerdings nicht ganz den Erwartungen, die sich mit dieser Stellung zu verbinden pflegen. Er sah etwas verkümmert und herabgekommen aus. Lang, schlank und von außerordentlicher Magerkeit, hatte er das Ansehen eines Menschen, der entweder kränkelt, oder der nöthigen Nahrung entbehrt. Zwar trug er einen Schnurrbart unter der spitzigen gebogenen Nase, der nach ungarischer Sitte herausfordernd gewichst und gesteift war, aber auch das reichte nicht hin, einen gewissen Ausdruck von Verschüchtertheit und Furcht zu verscheuchen, der an der ganzen Erscheinung haftete. Ein paar Knechte waren behülflich, die Pferde auszuspannen und die Wagen hinter das Haus zu schieben, zugleich aber das Gepäck des erstbeschriebenen Paares abzuladen, das durch seine Menge auf die Absicht eines längeren Verweilens schließen ließ.

In der Nähe hatten sich einige Bauersleute zusammengefunden, welche die Gäste betrachteten und nach gewohntem Bauernbrauch nicht unterließen, ihre Bemerkungen über dieselben zu machen.

„Da kriegt ja der Kogelhofer gar Einquartierung,“ sagte eine stattliche Bauersfrau, aus deren Haltung und Benehmen der Beweis des Wohlstandes und der Behäbigkeit noch mehr als aus dem goldenen Schmuck hervorleuchtete, den sie in Gestalt von Ringen und Ketten an Hand, Hals und Mieder trug. „Wer sind denn die Leute?“

„Wirst doch den dicken Krämer von Tölz kennen, bei dem Du schon hundertmal eingekauft hast?“ entgegnete lachend ihr Mann, bei dem die in's Knopfloch eingebundene Goldmünze den Vorsteher der Gemeinde erkennen ließ, in welche der Kogelhof eingepfarrt war. Im Gefühl seiner Würde hielt er sich für verpflichtet, da nicht zu fehlen, wo sein Landesherr das Bereich seiner Amtsgewalt betrat.

„Ist ja wahr,“ sagte die Bäuerin, „wo hab' ich denn nur meine Augen gehabt! Hätt' ihn ja gleich an seiner Tochter erkennen sollen, welche die Geldcasse überall mit herumschleppt, damit sich Einer über sie erbarmen und sie heirathen soll! Ich hab' sie zuletzt auf dem Fastenmarkt in Tölz gesehen; schöner ist sie nicht geworden seitdem.“

„Laß sie gehen!“ erwiderte der Vorsteher, „mußt Du überall Deinen Senf dazu geben? Sei froh, daß sie nit Deine Tochter ist, und sag' lieber, ob Du den anderen Herrn nit kennst!“

„Mit dem geht's mir wie Dir; ich mein' auch, ich hätt' ihn schon gesehen, weiß aber nicht, wo ich damit hin soll,“ war die Antwort der Frau.

„Da kann ich aushelfen,“ sagte lachend ein danebenstehender Bauerbursche. „Ich kenn' den Herrn, weil ich schon bei ihm im Dienst war. Das ist der Herr von Steinerling von Stein. Die Leute nennen ihn den Herrn Baron. Wenn er wirklich ein Baron ist, dann ist er jedenfalls einer von den nothigen; ich hab's bei ihm nicht länger ausgehalten als acht Tage.“

„Mir scheint, Du wirst jetzt auch liederlich, Hansgirgel,“ sagte der Vorstand mit einer Amtsmiene, „Du bleibst nirgends mehr länger als acht Tage.“

„O, ich blieb' wohl,“ lachte der Bursche, „aber der Herr von Steinerling hat jede Woche einen anderen Kutscher. Früher ist es ihm noch schlechter gegangen; da hat er nichts gehabt als ein kleines Haus — da, wo's der Kreuzstraße zugeht — das war jede Stunde zum Einfallen, wenn er's auch sein G'schloß genannt hat. Jetzt geht's ihm besser. Er hat die dicke Gabelbräuin, die reiche Wittib, geheirathet, die gern Frau Baronin geheißen hätt'.“

„So, der ist es?“ unterbrach ihn der Vorstand, „ich hab' schon davon gehört, daß sie so geizig sein soll.“

„Wie der helllichte Teufel,“ antwortete der Bursche. „Die zwiefelt den Herrn von Steinerling, daß er ausschaut, wie die theure Zeit.“

Der Bursche schien wohl geneigt, seine Kenntniß der Familie noch weitläufiger zum Besten zu geben, wurde aber durch die Annäherung des Herrn unterbrochen, der, um sich blickend und suchend, dem Hause zuschritt. Auch der kleine Dicke mit Tochter und Gepäck kam heran und trat Lenz entgegen, der eben auf die Fremdlinge und ihre Absicht aufmerksam geworden war und sie mit verwunderter und fragender Miene ansah.

„Wie ist es denn,“ fragte der Krämer, „kommt einem da Niemand entgegen, der Grüß Gott sagt? Wo steckt denn der Kogelbauer?“

„Müßt schon derweil mit mir vorlieb nehmen,“ sagte Lenz, „der Kogelbauer ist nicht daheim. Er hat mit dem König fort müssen auf die Gamsjagd, weil er die Steig' und Gäng' besser kennt, als die Jäger alle mit einander.“

„Ja, ja, das glaub' ich gern,“ rief der Dicke lachend, „das glaub' ich, daß der sich auskennt. Ist sein Lebtag ein alter Wildschütz gewesen.“

„Das thät' ich mir just schon ausbitten,“ entgegnete Lenz rasch, „möcht' schon wissen, wer meinem Vater was Unrechts nachsagen kann.“

„Was, Deinem Vater?“ rief der Mann erstaunt, indem er den Mantel, der ihm über die Schultern hing, abwarf und die Arme ausbreitete. „Also bist Du der Sohn, der Lenz?“

Ehe der Bursche sich dessen versehen und erwehren konnte, hatte der Dicke sein Vorhaben vollführt, hing ihm am Halse und drückte ihm einige derbschmatzende Küsse auf Mund und Wange und wo er eben damit zurecht kommen konnte.

„Da schau her, Philomena!“ fuhr er fort, als er endlich loslassen mußte, um Athem zu schöpfen, „das ist der Vetter Lenz. Weißt, mit dem Du so oft gespielt hast, wie Du noch ein kleines Dirndl warst. Geh, sag' ihm Grüß Gott! Gieb ihm auch einen Kuß! Unter so nahen Gefreundten braucht man sich nicht zu geniren.“

Lenz konnte sich nicht erwehren, mit halb unterdrücktem Lachen einen Schritt zurückzutreten. Er mußte unwillkürlich daran denken, wie er einige Augenblicke vorher in ähnlicher und doch so ganz anderer Lage gewesen war; er schien zu befürchten, daß Philomena nicht zögern werde, der väterlichen Aufforderung nachzukommen. Seine Besorgniß war aber grundlos. Das arme, verkümmerte Geschöpf hatte nicht den Muth, sich ihm zu nähern, wenn auch in den Augen etwas glänzte, was unverkennbares Wohlgefallen an dem schönen, geradegewachsenen Vetter verrieth.

(Fortsetzung folgt.)




Das Denkmal der Königin Luise für Berlin.

Am 10. März, dem hundertsten Geburtstage der Königin Luise, die nach der Prophezeiung des jugendlichen Freiheitssängers „zum Schutzgeist deutscher Sache“ geworden ist und deren hehres Bild auch zum zweiten Mal den über den Rhein ziehenden Heerschaaren Alldeutschlands als leuchtendes Panier voranschwebte, beschlossen die städtischen Behörden von Berlin, der edlen Frau, welche die Morgenröthe der Freiheit und den Tag der Erlösung nicht mehr schauen sollte, in einem der schönsten Theile des Thiergartens ein Denkmal zu errichten. Es ist eine Stätte, die schon durch Erinnerungen an die verewigte Königin geweiht ist. Als die königliche Familie nach fern von der Hauptstadt verlebten Jahren tiefster Trauer am 22. December 1809 wieder in ihre Residenz einzog, setzten Bewohner der Thiergartengegend „ihrer heimkehrenden Königin“ einen schlichten Denkstein auf einer kleinen Insel des Parkes, welche seitdem den Namen „Luisen-Insel“ trägt und alljährlich am 10. März von

[5]

Die Encke'sche Königin Luisen-Statue für den Thiergarten in Berlin.
Nach einer in Encke's Atelier für die „Gartenlaube“ gefertigten photographischen Aufnahme.


pietätvollen Händen in einen köstlichen Blumenwald verwandelt wird. Hinter dieser Insel erhebt sich auf freiem Platze, inmitten dichtbelaubter Baumriesen, das Denkmal Friedrich Wilhelm's des Dritten, jene um ihres herrlichen Frieses willen so außerordentlich populär gewordene Meisterschöpfung Friedrich Drake's, welche ebenfalls von der Berliner Bürgerschaft gestiftet und am 3. August 1849 enthüllt worden ist. Neben diesem Denkmal ihres Gatten soll das der Königin Luise seinen Platz finden, und dieser Umstand war für seine Composition maßgebend.

Die Wahl der städtischen Behörden fiel auf den Bildhauer Erdmann Encke, der durch die herrliche Idealfigur einer Berolina, welche die Siegesstraße unserer heimkehrenden Krieger im Juni 1871 schmückte, ein glückliches Talent für Formenschönheit und monumentale Würde bekundet hatte. Erdmann Encke, geboren am 26. Januar 1843 in Berlin, ist ein Schüler Albert Wolff's, der mit Drake zu den würdigsten Nachfolgern Christian Rauch's, des Altmeisters der Berliner Bildhauerschule, gehört. In den Traditionen dieser Schule hat sich auch Encke herangebildet. Aber er weiß mit den Hauptgrundsätzen derselben, einer strengen Durchbildung der Form und einer eindringlichen, realistischen Charakteristik, einen weichen, poetischen Zug zu verbinden, welcher die Formenstrenge angenehm mildert. Obwohl ihn seine individuelle Begabung deshalb vorzugsweise für die Idealplastik befähigt, hat der Künstler sowohl in dem Standbilde Jahn's für den Turnplatz in der Berliner Hasenhaide, wie auch in einer Anzahl Portraitbüsten einen vollentwickelten Sinn für das [6] Charakteristische der äußeren Erscheinung gezeigt. In einer Bronzestatue des ersten Kurfürsten von Brandenburg für die Façade des Berliner Rathhauses hat er bewiesen, daß er sogar den Ausdruck männlicher Energie und Entschlossenheit zu erreichen im Stande ist.

Am 22. März 1877, dem achtzigsten Geburtstage Kaiser Wilhelm's, hatte Encke sein Werk bereits so weit gefördert, daß das Hülfsmodell der Statue in der alten Capelle des Königsschlosses aufgestellt werden konnte. Als Kaiser Wilhelm am Festvormittag den Rittersaal verließ, in welchem ihm der König von Sachsen im Namen der deutschen Fürsten A. von Werner's Kolossalbild „Die Kaiserproclamation in Versailles“ überreicht hatte, fiel der Blick des greisen Herrschers auf das Ebenbild seiner verklärten Mutter, welches ihm aus einem Gebüsch dunkelgrüner Blattpflanzen entgegenleuchtete.

Encke ging alsbald an die Ausführung in Marmor, und heute ist seine Arbeit so weit gediehen, daß, nach dem Wunsche des Kaisers, die Enthüllung des Denkmals am 10. März dieses Jahres, dem Geburtstage der Königin, erfolgen kann. Der Aufbau desselben schließt sich eng an den des Drake'schen an. Um den cylindrischen Sockel schlingt sich ein Hochrelief, welches in lebensvollen Gestalten an der Vorderseite den Auszug in den Befreiungskampf und an der Rückseite die glückliche Heimkehr der Sieger schildert, während dazwischen einerseits die Mildthätigkeit gegen die Zurückgebliebenen, andererseits die Barmherzigkeit, welche Verwundete und Kranke pflegt, durch realistisch aufgefaßte Gruppen verkörpert werden.

Auf Grund der diesem Artikel beigegebenen wohlgelungenen Abbildung, der ersten künstlerisch ausgeführten, welche in die Oeffentlichkeit gelangt, mögen die Leser sich ein Urtheil über den unbeschreiblichen Formenreiz der edlen Gestalt bilden, der durch den majestätischen Fluß der in breite, ruhige Falten angeordneten Gewandung noch gehoben wird. Die Auffassung der Gesichtszüge wird freilich auf den ersten Blick manchen befremden. Der Künstler hat nicht die jugendliche, von holdem Liebreiz umflossene Fürstin dargestellt, wie sie in den Schilderungen ihrer begeisterten Zeitgenossen lebt, sondern die von der Last des Unglücks gebeugte Dulderin, deren Züge von tiefer Schwermuth erfüllt sind. Es ist die Gattin, welche um die gekränkte Ehre ihres Gemahls trauert, die Mutter, welche um die Zukunft ihrer Kinder sorgt, die deutsche Frau, an deren Herzen das Leiden und die Schmach ihres Vaterlandes nagen. Aber aus diesen gramerfüllten Zügen leuchtet noch siegreich der Abglanz jener seltenen Schönheit hervor, die auf alle, welche das Glück hatten, mit der Königin in Berührung zu kommen, einen so tief ergreifenden Eindruck machte.

Wenn wir uns das Bild der Königin vor die Seele rufen wollen, sind wir in erster Linie auf ihre eigenen Aeußerungen angewiesen, denn die Künstler ihrer Zeit haben uns so gut wie ganz im Stich gelassen. Wohl existiren zahlreiche Bildnisse der hohen Frau, Gemälde, Stiche, Zeichnungen und Büsten, aber dieselben widersprechen einander so sehr in den wesentlichsten Zügen, daß man keinem von ihnen ein Autoritätsrecht beimessen kann. Die deutsche Kunst befand sich in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts und in dem ersten des unsrigen bekanntlich in einem Uebergangsstadium, in jener Umwandlung aus dem kleinlichen Dosenstil des Rococozeitalters in die ernste, großartige Formensprache der Antike, durch welche sie ihre endliche Wiedergeburt feierte. Während die eine Hälfte der Künstler noch von dem Geist der Rococozeit beseelt war, berauschte sich die andere bereits an den erhabenen Vorbildern griechisch-römischer Kunst. Den Ersteren fehlte das Verständniß für das Große und Erhabene, den Anderen der Sinn für das individuelle Leben der Persönlichkeit. So kam es, daß die Kunst des Portraitmalers in jener Zeit gerade am wenigsten den Idealen der Bildnißmalerei entsprach, welche Holbein, van Dyck und Rembrandt durch ihre Schöpfungen für die Nachwelt gebildet haben. Während die Maler des Rococos alles Große in's Kleine zogen, den geistigen Gesammteindruck über der gewissenhaften Aufzählung der äußeren Eigenthümlichkeiten vernachlässigten, schufen die Vertreter des neuen Stils statt der Individuen Typen von allgemeiner Schönheit, denen es an individuellem Reize gebrach. Unter diesen Gesichtspunkten sind die meisten Bildnisse der Königin Luise zu beurtheilen, und aus ihnen heraus ist ihre große Verschiedenheit zu erklären. Nur die Büste Gottfried Schadow's macht eine Ausnahme davon. Der Altmeister der Berliner Bildhauerkunst war trotz seiner Neigung für die Antike doch zu sehr Realist, um nicht den Spuren der Natur so getreu zu folgen wie es ihm seine Kräfte erlaubten und der damalige Zeitgeschmack gestattete, welcher der Sucht, Alles zu idealisiren, entgegen kam. Im Jahre 1794, also kurz nach dem festlichen Einzuge der Kronprinzessin Luise in Berlin, modellirte sie Schadow, zugleich mit ihrem jungen Gatten, im kronprinzlichen Palast. Während die Büste des Letzteren später in Marmor ausgeführt wurde, ist uns die erstere nur in Gips erhalten. Nach fünf Jahren fertigte Schadow noch eine zweite Büste von der nunmehrigen Königin, welche von der früheren nur durch die Wendung des Kopfes, durch vollere Rundung der Wangen und freieren Gesichtsausdruck verschieden ist.

Dann war es noch einmal Rauch, der eine Büste der Königin modelliren durfte, kurz nachdem er aus dem königlichen Dienst entlassen worden war, um nach Italien, dem Lande seiner Sehnsucht, zu ziehen und dort seine künstlerische Reife zu empfangen. Die Königin strahlte im Glanze höchster weiblicher Anmuth und innigsten Familienglücks – sie hatte eben das dreißigste Lebensjahr vollendet – als Rauch in den Tagen vom 27. Juni bis zum 23. Juli in Charlottenburg ihre Büste fertigte. Aber sein Geist war nicht mehr ganz bei der Sache; er war ihm bereits in das Land der Künste vorausgeeilt. Nach seinem eigenen Urtheile gerieth er bei der Arbeit in's Steife und Trockene, und als die Marmorausführung sechs Jahre später, nach dem Tode der Königin, an den König gelangte, hatte dieser besonders an der Aehnlichkeit Mancherlei auszusetzen. Die berühmte Grabstatue, die Rauch nachmals für das Mausoleum in Charlottenburg schuf, macht noch weniger Anspruch auf Portraitähnlichkeit: sie ist eine Idealfigur, welche die Züge der Königin nur im Allgemeinen festhält.

Aber vielleicht entspricht gerade eine solche Idealisirung am meisten dem Bilde, welches enthusiastische Zeitgenossen, Goethe und Jean Paul an der Spitze, von der holden Königin entworfen haben. Wenn Jean Paul sie eine „gekrönte Aphrodite“ nennt, deren Sprache und Umgang ebenso reizend ist, wie ihre Musengestalt, so wird man geneigt sein, dies für eine poetische Hyperbel des dankbaren Dichters zu halten, welcher bei seiner Anwesenheit in Berlin in der Königin eine warmherzige Beschützerin und Verehrerin seiner Muse fand. Aber der besonnenere und kühlere Goethe hatte acht Jahre früher, als er die Prinzessin Luise und ihre Schwester während der Belagerung von Mainz, kurz nach ihrer Verlobung mit den preußischen Prinzen, im Hauptquartier zu Bodenheim sah, unter dem 29. Mai 1793 nicht minder überschwänglich geschrieben: „Gegen Abend ward uns, mir aber besonders, ein liebenswürdiges Schauspiel bereitet. Die Prinzessinnen von Mecklenburg hatten im Hauptquartier zu Bodenheim bei Seiner Majestät dem König gespeist und besuchten nach der Tafel das Lager. Ich heftelte mich in mein Zelt ein und durfte so die hohen Herrschaften, welche unmittelbar davor ganz vertraulich auf- und abgingen, auf das Genaueste betrachten. Und wirklich konnte man in diesem Kriegsgetümmel die beiden jungen Damen für himmlische Erscheinungen halten, deren Eindruck auch mir niemals verlöschen wird.“

Noch größer war der Enthusiasmus der Berliner, nachdem die beiden Prinzessinnen ihren Einzug gehalten hatten. „Im Jahre 1794,“ so schrieb nachmals der alte Schadow, „hatte sich in Berlin ein Zauber verbreitet, welcher über alle Stände ausging, durch das Erscheinen der hohen Schwestern, Gemahlinnen der Söhne des Königs. Es entstanden Parteien, welcher von Beiden der Vorrang der Schönheit zukomme.“

Daß sich mit diesen äußeren Vorzügen der Königin Luise eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit paarte, geht ebenfalls aus allen Zeugnissen hervor, eine Liebenswürdigkeit, vor welcher selbst das Eis des preußischen Hofceremoniells schmolz. Die Memoiren der Oberhofmeisterin Gräfin von Voß, welche neunundsechszig Jahre am preußischen Hofe gelebt hat und genug Menschenkenntniß besaß, um den Kern unter der Schale zu erkennen, bieten uns zahlreiche Belege für die hohen Charaktervorzüge der Königin, die sich gleich vom Anbeginn in ihrer sieghaften Kraft zeigten und auch die Herzen der Widerstrebenden in ihrer Umgebung gewannen. „Die Prinzessin ist wirklich anbetungswürdig,“ schreibt die Gräfin am 31. December 1793 in ihr Tagebuch, „so gut

[7] und so reizend zugleich, und der Kronprinz ist ein so redlicher vortrefflicher Mann, daß man ihm das seltene Glück einer solchen Ehe, den Besitz eines solchen Engels innig gönnt.“ Und im Winter 1794: „Die Kronprinzessin hatte einen wunderschönen Wuchs; ihre Erscheinung war zugleich edel und lieblich, jeder, der sie sah, fühlte sich unwiderstehlich angezogen und gefesselt.“

War die Königin schon bei Lebzeiten der Gegenstand schwärmerischer Verehrung und Liebe, so steigerte sich nach ihrem Tode diese Verehrung bis zur Anbetung. Blücher's Wort bei der Nachricht vom Tode seiner Königin: „Die Heilige ist im Himmel“ war nur der Dolmetsch der allgemeinen Volksstimme, das Echo des Volksglaubens, dem Frau von Berg einen so schönen Ausdruck gegeben hat: „Es war etwas in ihr, was wir eine Verklärung des Lebens nennen möchten, was dem Gewöhnlichen im Leben so ungleich war und in dessen Nähe man sich gleichsam so veredelt und beglückt fühlte, daß der Königin der Name 'Engel' bei Denen, die ihr Wesen ganz durchschauten, vorzugsweise geworden war. 'Der Engel' wurde sie genannt von Allen, deren Herzen sie am nächsten war.“

Und dieser Engel begeisterte die zornigen Rachegesänge unserer Dichter; er schwebte den Heeren voran, die über den Rhein gingen und den Tod und die Schmach der Königin blutig rächten. Der Gedanke der Einigung Deutschlands gewann nicht in Friedrich dem Großen, sondern im Geiste einer Frau, dem der Königin Luise zuerst eine feste Gestalt, aber die Heere, die für die hohe Frau hinauszogen, haben ihren Lieblingsgedanken nicht verwirklichen können.

„Von unserer Seite wird nie etwas geschehen, was nicht mit der strengsten Ehre verträglich ist und was nicht mit dem Ganzen geht,“ so schrieb die Königin, als Napoleon den Versuch machte, Preußen durch eine vorgehaltene Lockspeise von den übrigen deutschen Staaten zu isoliren. Sie sprach zuerst von ihrem „vielgeliebten Germanien“, und darum konnte ihr Sohn, Friedrich Wilhelm der Vierte, mit Recht sagen: „Deutschlands Einheit liegt mir am Herzen; sie ist ein Erbtheil meiner Mutter.“

„Als ein Stern in dunkler Nachts“, befreit von allen Schlacken der Endlichkeit, so lebt die Königin Luise im Gedächtniß des preußischen, nunmehr auch des deutschen Volkes fort. Wenn aber das Volk seine Ideale haben muß, so fordert daneben auch die Geschichte ihr Recht. Und die historische Königin Luise, die schlichte Frau, die an Bescheidenheit und Einfachheit keiner ihrer Unterthaninnen nachstand, sie, die selbst von sich sagte: „Die Nachwelt wird mich nicht unter die berühmten Frauen zählen“ – sie hat Encke in seinem Marmorbilde verkörpert, dessen rührende Schönheit eine ebenso eindringliche Sprache redet, wie die stolzeste Apotheose irdischer Majestät.

Adolf Rosenberg.




Die Spielwuth in San Francisco.
Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Actienschwindels.
Von Theodor Kirchhoff.

Unter den Eigenthümlichkeiten der Stadt San Francisco nimmt das wüste Treiben, welches die hiesige Minenbörse (Stock Exchange) kennzeichnet, und die das ganze Leben hier wie ein böses Unkraut überwuchernde Spielwuth in Minenactien einen hervorragenden Platz ein. Die Bevölkerung dieser Metropole befindet sich in einer fortwährenden intensiven Aufregung, und es läßt sich schwer denken, wie ein San Franciscoer überhaupt zu leben vermöchte, sähe er nicht jeden Tag des Jahres die Möglichkeit vor Augen, über kurz oder lang ein reicher Mann zu werden. Waren ja die mehr als fünfzig Millionäre, welche San Francisco in seinen Mauern zählt, fast ohne Ausnahme einstens bescheidene Kaufleute, einfache Miner oder gar Arbeiter, welche durch ein glückliches Ungefähr auf den rechten Weg zu Ansehen und Reichthum gelangten! Warum sollte es denn nicht jedem anderen just so gescheiten Menschenkinde auch noch gelingen, dasselbe goldene Ziel zu erreichen, wozu die Stockbörse Jedem das Thor weit geöffnet hält?

Fast Jedermann in dieser Stadt speculirt in „Stocks“ (Minenwerthe). Die Ausnahmen davon sind so gering, daß sie gar nicht in Betracht kommen. Jahrelang mag sich Einer gegen den Spielteufel gewehrt haben, zuletzt faßt er ihn doch, und wen derselbe einmal in den magischen Kreis seiner Verführungskünste gezogen hat, den läßt er gewiß so leicht nicht wieder entwischen. Unter den weiblichen Bewohnern San Franciscos herrscht dieselbe eingefleischte Spielwuth, wie unter dem stärkeren Geschlecht, obgleich Jene ihre Stockspeculationen mehr im Stillen auszuführen gezwungen sind, und nicht, wie die Männer, im Lärm und Getöse der Minenbörse verkehren können. Die in Seidenroben und Biberpelze gehüllten und im Juwelenschmuck prangenden Damen der reichen Welt stehen in dieser Beziehung auf derselben Stufe mit ihren einfachen deutschen und irländischen Dienerinnen, und der Arbeiter und Handwerker riskirt Alles, was er besitzt, eben so leicht wie der Kaufmann und wohlhabende Bürger.

Andere Großstädte haben auch ihre Börsen, wo lustig in Werthpapieren aller Art speculirt wird und Vermögen gewonnen und verloren werden. Aber das Börsenspiel hat dort einen legitimen Anstrich und ist nicht, wie es hier meistens der Fall, auf Corruption und imaginäre Werte basirt, wobei das Capital den Räuberhauptmann spielt, der das Publicum ungestraft ausplündert. Der Hauptunterschied zwischen der Stockbörse in San Francisco und anderen Börsen besteht erstens darin, daß hier zum großen Theil in Papieren speculirt wird, die wenig oder gar keinen reellen Werth haben, zweitens in den fast unglaublich schnellen Schwankungen der Actienpreise, namentlich von solchen Minen, die erzproducirend sind. Den momentanen Nutzen von ¼ oder ½ Procent bei einer Capitalanlage in Werthpapieren würde ein San Franciscoer mit stiller Verachtung betrachten. Die Stocks dagegen haben die verführerische Angewohnheit, mit rasender Schnelligkeit im Preise auf- und abzusteigen, und da lohnt es sich schon, etwas zu riskiren.

Wird in einer Mine ein reicher Erzkörper entdeckt, so springen ihre Actien zwanzig bis fünfzig und mehr Point per Tag und ziehen alle anderen Papiere mit in den Strudel hinein. Zu solchen Zeiten ist San Francisco wie ein Tollhaus, das von Millionären voll ist. Jedermann in seinen Mauern denkt, redet und träumt alsdann nur von Stocks. Was Wunder, daß zu solchen Zeiten auch das phlegmatischste Individuum von der Spielepidemie angesteckt wird! Man müßte seine menschliche Natur verleugnen, um mit dem gewöhnlichen hausbackenen Verdienst zufrieden zu sein, wenn die Millionen wie reife Aepfel auf dem Baum hängen, den man nur zu schütteln braucht, um sie abfallen zu lassen und aufsammeln zu können.

Die große Schatzkammer der Stockspeculanten in San Francisco ist die weltbekannte Erzader (ledge) der Comstock-Silberminen[1] im Nachbarstaate Nevada. Die Goldminen in Californien sind mit Ausnahme der von Bodie bis jetzt nicht auf der Stockbörse notirt und befinden sich in den Händen von Privatgesellschaften, welche sie für eigenen Nutzen ausbeuten.

Man denke sich eine etwa zwei englische Meilen lange, im schrägen Winkel herabfallende irreguläre Erdspalte, mit einer Breite von 100 bis 200 Fuß und von unergründlicher Tiefe, die sich in der Urzeit öffnete und später durch hineinstürzenden Schutt und Felstrümmer wieder füllte. Das plutonische Feuer trieb Gold- und Silberdämpfe von unten herauf, welche sich in zerstreuten Quarzmassen, bald in reicheren, bald in geringeren Quantitäten, als Erz hier und da festsetzten; nach und nach verhärtete sich das Ganze zu einer compacten Masse – das ist die heutige Comstock-„Ledge“. Die Erzablagerungen liegen zwischen dem Gestein verstreut, „wie Rosinen in einem Pudding“, bald große, bald kleine. Die Schwierigkeit besteht für unsere Bergbaukundigen darin, diese „werthvollen Rosinen“ zu finden.

In den Hauptminen ist die Ader bis zu einer Tiefe [8] von 2300 Fuß (an zwei Stellen sogar bis 2800 Fuß tief) von Schächten und Stollen durchzogen, die durch harten Fels gesprengt und durch Balken und schwere Bretterbohlen vor dem Einstürzen geschützt werden mußten – eine Riesenarbeit, welche der Mensch mit Hülfe des Dampfes in etwa 17 Jahren zu Stande gebracht hat. Die bedeutendsten Erzlager wurden im Jahre 1871 in den Belcher- und Crown Point-Minen entdeckt, welche zusammen etwa 30 Millionen Dollars producirten, und im Jahre 1875 in der Consolidated Virginia- und der Califonia-Mine, den sogenanten Bonanza-Minen, woraus in 5 Jahren mehr als 120 Millionen Dollars gewonnen und den Actionären bis jetzt 72 Millionen Dollars in Dividenden (Reingewinn) ausgezahlt wurden. Der Totalertrag der Comstock-Minen wird auf etwa 350 Millionen Dollars geschätzt.

Alle Bergbau-Einrichtungen am Comstock-Gang sind im großartigsten Stil angelegt. Dampfmaschinen von 500 bis 1000 Pferdekraft heben das Erz und die zersprengten Felsmassen und pumpen das Wasser aus einer Tiefe von über 2000 Fuß auf die Oberfläche, andere treiben durch Röhren die kalte Luft der Oberwelt in die Gluthatmosphäre dort unten hinunter, wo die Arbeiter bei einer Hitze von 120 Grad Fahrenheit sonst schon längst ihre Thätigkeit hätten einstellen müssen. Riesige Stampfmühlen pochen das Erz mit Höllenlärm Tag und Nacht zu Pulver, dem seine kostbaren Bestandteile nachher durch chemische Zersetzungsprocesse entzogen werden: Berge von Schutt und Felstrümmern, welche aus der Tiefe gefördert wurden, liegen an den kahlen Abhängen des Mount Davidson und in und um die wüsten Minenstädte Virginia City und Gold Hill – das Ganze ein Bild, so urwüst, so titanenhaft-großartig, wie es sich die Einbildung kaum vorzustellen vermag.

Das vorhin erwähnte Wort „Bonanza“ ist dem Spanischen entnommen und bedeutet „ein großes Erzlager“. Den Bonanza-Namen verdankt die Millionärfirma Flood, O'Brien, Mackey und Fair, sämmtlich Irländer, ihren kolossalen Reichthum, der auf 100 Millionen Dollars geschätzt wird. Sie controlliren den Minenmarkt in San Francisco vollständig und halten das Wohl und Wehe von vielen Tausenden sozusagen in ihrer hohlen Hand. Diese sogenannten „Bonanzakönige“ waren alle früher Leute in den bescheidensten Lebensverhältnissen. Mackey, der Reichste des Kleeblatts (O'Brien starb im vorigen Jahre), war einst ein einfacher Minenarbeiter und erstand für einen Spottpreis einen Antheil von der damals fast werthlosen Consolidated Virginia-Mine. Heute ist er ein Nebenbuhler des Herzogs von Westminster und der Rothschilds! Während Mackey’s Frau, eine geborene Französin, die einst Lehrerin in Virginia City war, in Paris lebt und sich dort umsonst bemüht, ihres Gemahls überflüssige Millionen klein zu machen, verweilt dieser am liebsten unter seinen alten Cameraden in Virginia City. Nichts macht ihm mehr Vergnügen als Diesen oder Jenen von seinen alten heruntergekommenen Freunden gelegentlich mit einem Wechsel von 10,000 bis 20,000 Dollars zu erfreuen. – Sein Associé Flood, welcher früher in Gemeinschaft mit O'Brien Schnaps für einen Bit (12½ Cents) den Schluck verkaufte, ist zum Financier der Bonanzafirma avancirt und gleichzeitig Präsident von der mit einem Capital von 15 Millionen Dollars in San Francisco arbeitenden und nur den Bonanzafürsten gehörenden Nevada-Bank, des größten Geldinstitus in Amerika. – Fair, als der Dritte im Bunde, der das bescheidene Einkommen von 750,000 Dollars per Monat genießt, führt die Aufsicht über sechs der größten Minen von Comstock-Gang und spielt als Mineningenieur in Virginia City die tonangebende Rolle.

Außer den Minen am Comstock-Gang giebt es noch Hunderte von größeren und kleineren Silberminen im Staate Nevada, in denen auf der San Francisco-Stockbörse speculirt wird. Hierzu kommen noch die vorhin erwähnten, gleich östlich vom Gebirgszug der Sierra Nevada und südlich von Virginia City in Californien liegenden, erst neuerdings entdeckten Goldminen von Bodie, welche dem Comstock eine gefährliche Concurrenz machen. „Comstock“ und „Bodie“ sind heut zu Tage der Schlachtruf aller Stockspeculanten in San Francisco.

Wie das bei jedem Handel in Werthpapieren der Fall, ist es das Ziel der meisten dabei Beteiligten, billig einzukaufen und hoch zu verkaufen; allerdings sehr relative Begriffe bei Stocks, von denen selbst der weise Salomo nicht sagen könnte, wann sie hoch und wann sie niedrig stehen. Eine geringere, auserlesene Zahl von Börsenleuten speculirt auf einen fallenden Markt, indem sie sich verpflichten, nach einer bestimmten Zeit Actien (shares) zu dem oder jenem Preise in dieser oder jener Quantität zu liefern oder den Betrag dafür zu entrichten (hier „short“ kurz speculiren genannt) – ein gefährliches Spiel bei einem so wetterwendischen Markte, wie dem auf der San Francisco-Stockbörse!

Die allergefährlichste Art des Speculirens in Minen-Actien ist auf sogenannte „margins“ (Grenzen). In diesem Falle deponiert der Speculirende bei seinem Makler (broker) eine Summe Geld, wofür dieser ihm gestattet, die doppelte bis fünffache Anzahl von irgend welchen Shares zu kaufen, die er, der Makler, in Händen behält. Steigen die Actien, so erzielt der Speculirende rasch einen großen Nutzen, fallen sie, so hat der Makler das Recht, entsprechenden Zuschuß zu verlangen oder die Shares zu verkaufen, um sich vor Verlust zu sichern. Daß der normal geltende Begriff vom Werthe des Geldes bei derartigen Speculationen ganz und gar abhanden kommt, ist eine der schlimmsten Folgen des Spiels in Minen-Actien. Selten begnügt sich Einer damit, nur mit seinem eigenen Capital zu arbeiten und für das, was er kauft, selbst baar zu bezahlen. Wer seine eigenen Dollars sonst klug in Acht nimmt, besinnt sich nicht, wenn er einmal in den Strudel des Hazardspiels mit Stocks gerathen ist, mit fremdem Gelde zu wirthschaften, als ob die Zwanzigdollarstücke auf der Straße lägen, und denkt nicht daran, daß er den etwaigen Verlust über kurz oder lamg doch decken muß.

Das Schlimmste für die Speculanten in Minen-Actien sind die unausbleiblichen „Assesments“ (Schatzungen für Minen-Betrieb). Selbstverständlich nimmt es enorme Summen in Anspruch, um Gruben von der Ausdehnunug und Tiefe, wie die am Comstock-Gang, bergmännisch zu bearbeiten. Wenn diese kein Erz oder solches nicht in genügender Quantität produciren, so müssen die Actionäre mit dem nöthigen Kleingeld herausrücken, um die nothwendigen Ausgaben zum Minen-Betrieb zu decken, natürlich in der Hoffnung, ihre Zuschüsse bei dem nächsten reichen Erzfunde durch Dividenden oder durch Preiserhöhung ihrer Actien hundertfach zurückzuerhalten. Das wäre nun schon in der Ordnung, wenn sämmtliche Actionäre einer Mine dabei auf gleichem Fuße ständen. Statt dessen sind einige sehr reiche Speculanten allemal im Besitze von etwas über der Hälfte von der Actienzahl einer Mine, und da die Mehrzahl der bei einer Wahl repräsentirten Actien bei allen Bestimmungen zum Minen-Betrieb allein rechtsgültig ist, so thun und lassen jene Wenigen so ziemlich Alles, was sie wollen. Diese, die sogenannten „insiders“ spielen mit dem großen Publicum - den „outsiders“ – wie die Katze mit der Maus. Sie bestimmen die Wahl der Beamten, die selbstverständlich mit im „Ring“ sind, und erwählen sich selbst zu Präsidenten und Directoren der Gesellschaft; ihnen gehören die Poch- und Amalgamationswerke, wo das edle Metall aus den Erzen gewonnen wird; sie nehmen alle Contracte, wobei etwas zu verdienen ist, und alles Geld geht durch ihre Hände. Zu jeder Zeit sind sie im Stande, die Actien einer von ihnen controllirten Mine hinauf- oder heruntergehen zu lassen.

Ohne einen Grund anzugeben, wird bald von dieser, bald von jener Mine ein Assessment ausgeschrieben, von 10 Cents bis zu mehreren Dollars per Actie, was für die betreffende Mine oft einen Gesammtbetrag von 100,00 und mehr Dollars ausmacht und nicht selten drei- und viermal im Jahre von derselben Gesellschaft wiederholt wird. Während der letzten 12 Monate erhoben 23 am Comstock-Gang liegende Minen über 6 Millionen Dollars Assessments, während nur 2 Minen, die Consolidated Virginia und die California, 4½ Millionen Dollars in Dividenden auszahlten, und nur 2 andere keine Assessments zahlten. Wer ein Assessment auf die ihm gehörenden Shares nicht vor der Verfallzeit bezahlt, dem werden von diesen ohne weitere Flausen so viele zu irgend einem Preise verkauft, bis der verfallene Betrag gedeckt ist.

Um den Marktwerth der Actien hinauf oder hinunter zu schrauben, kommen mancherlei geniale Kniffe und Manipulationen in Anwendung. Das einfachste Mittel zum Hinuntertreiben der Shares sind allemal die Assessments – im Galgenhumor gewöhnlich „irländische Dividenden“ genannt – mit deren öfterem [9] Wiederholen, nebst den hohen, für Vorschuß von den Maklern erhobenen Procenten, das Publicum zuletzt so mürbe gemacht wird, daß es seine ihm das Herzblut aussaugenden Werthpapiere, falls dieselben ihm nicht bereits überm Kopfe verkauft wurden, zu irgend welchem Preis losschlägt, eine Operation, welche man mit dem technischen Ausdruck „ausfrieren“ bezeichnet. Andere probate Mittel sind „Wasser in einer Mine“ oder die Schreckensbotschaft „ein Porphyrpferd!“ das heißt: ein im Erzkörper liegender werthloser Porphyrfelsen, der die Aussicht nahe stellt, daß das Erz bald alle sein wird, ferner die Nothwendigkeit, Maschinen oder Schachte zu repariren und neue Gänge zu sprengen, Gebäulichkeiten anzuschaffen, Stampfmühlen zu errichten und andere kostspielige Maßnahmen. Um die allgemeine Entmuthigung noch zu vermehren, werfen die Bonanzaprinzen kolossale Massen von Actien in den Markt. Die Panik läßt natürlich nicht lange auf sich warten. Jeder will verkaufen. Tausende von Actien, die von den Maklern auf „Margin“ gehalten wurden, werden von diesen losgeschlagen, um Verlust zu vermeiden und die „Insiders“ kaufen ihre vorhin entäußerten Papiere zu Spottpreisen wieder zurück.

Jetzt kommt die Zeit, den Markt wieder zu heben. Mit geheimnißvoller Miene erzählen die „Stocksharys“ (Eingeweihte unter den Speculanten) Diesem und Jenem unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß ein neuer Erzkörper entdeckt sei. Die Bonanzafürsten Flood und Mackey würden nächstens in „Ophir“ oder in „Yellow Jacket“ ein riesiges Steigen loslassen. Die guten Freunde beginnen „Points“ (guten Rath) zum Ankauf zu geben, bald für die Actien dieser, bald jener Mine. Man wisse ganz genau, daß der Diamantbohrer (womit man das Gestein bis auf 100 und mehr Fuß Entfernung anbohren und etwa darin verborgene Erzkörper, lange ehe ein Stollen sie erreicht, entdecken kann – Notabene allemal das Privateigenthum der „Insiders“ –) auf reiches Erz gestoßen sei etc. Es dauert denn auch nicht lange, so eröffnen die Actien einer bevorzugten Mine den Reigen und fangen an zu „springen“ – 10, 20, 50 Dollars per Tag – und die gesammte Reihe der Comstocks folgt nach. Der Himmel hängt wieder voller Geigen, und Jedermann, der bei der letzten Panik nicht bankerott wurde, legt sich ein neues Assortiment von Stocks ein, in der Hoffnung, eines schönen Morgens als Millionär aufzuwachen. Niemand ist mit einem geringen Nutzen zufrieden. Wer „Mexican“ zu 15 kaufte und sich fest vornahm, es zu verkaufen, sobald es auf 20 stiege, thut dies sicher nicht und denkt, wenn es schon auf 25 steht, er will nun doch lieber warten, bis es auf 50 oder 100 steht. Auf einmal fallen wieder die Actien mit fabelhafter Schnelligkeit. Der Millionäraspirant denkt immer noch an den imaginären Gewinn und kann sich nicht entschließen, rasch zu verkaufen. Sein Kartenhaus bricht zusammen; seine Glücksträume schwinden dahin wie Schnee an der Julisonne.

Bei einem echten Minenaufruhr (stock excitement) tauchen stets eine Menge ganz obscurer Actien auf, die sogenannten wild cats, die wilden Katzen. Es sind dies die Namen von Minen, welche gar keinen reellen Werth besitzen und sonst entweder gar nicht oder zu einem sehr niedrigen Curse an der Stockbörse notirt sind. Wer nicht genug Geld oder Credit hat, um in Comstocks speculiren zu können, der versucht sein Glück mit den Wildkatzen, in der Hoffnung, daß sich die eine oder die andere derselben als eine respectable Gold- oder Silbergrube entpuppen werde, oder daß es ihm gelinge, einen hübschen Nutzen zu erzielen, ehe der Markt wieder fällt. Sobald dies eintritt, verschwinden die meisten dieser „Werthpapiere“ wieder von der Stockbörse und sinken in ihr Nichts zurück.

Steigen die Actien einer reichen Mine zu solcher Höhe, daß Leute mit beschränkten Mitteln nicht mehr im Stande sind, darin ein Sümmchen anzulegen, so pflegt man aus purer Menschenliebe diese Werthpapiere zu zertheilen. Aus einer Actie werden fünf oder zehn gemacht, um Jedem Gelegenheit zu geben, sich an dem Nutzen zu betheiligen. In der guten alten Zeit gab es nur „Füße“, das heißt: jede Mine schrieb so viele Actien aus, als sie Längenfuß am Comstock-Gange besaß. Jetzt ist eine Mine von 600 bis 1000 Längenfuß in 100,000 und mehr Shares eingetheilt. Da bei anderen Minen, wenn auch nicht in solchem Grade, das umgekehrte Verhältniß stattfindet, so ist der Speculirende nie sicher, ob er billig oder theuer einkauft oder verkauft, und ist überhaupt ein solcher Wirrwarr in den relativen Werthen der Bergbau-Actien eingetreten, daß sich Niemand mehr darum kümmert.

In früheren Jahren pflegte der Frühling stets einen Stock-Aufruhr zu bringen. Wenn die ersten Blumen sproßten, fingen auch die Shares an, sich zu rühren. Man nannte dies den „Spring rise“ die Frühlings-Erhebung. In neuerer Zeit aber scheint die Frühlings-Erhebung aus der Mode gekommen zu sein, wenigstens ist kein Verlaß mehr darauf. Im Gegentheil pflegt jetzt der goldene Herbst auch die goldenen Träume zu bringen.


Schluß folgt.



Geborgtes Sonnenlicht.
Die Sage vom Karfunkelstein. – Ein Schuhmacher als Prometheus. – Balduin’s Sonnengold und Stein der Weisen. – Die alchemistische Beleuchtung und Verpflegung in der Arche Noäh. – Leuchtende Kornblumen, Photographien, Namenszüge, Zifferblätter etc. – Phosphorescenz und Fluorescenz. – Diamanten und Rubinen im höchsten Glanze.

In alten Märchen spielt der wunderbare Karfunkelstein, welcher im Dunkeln mit hellem Glanze leuchtet und seinen Namen von Carbunculus (das ist ein glühendes Kohlenstückchen) bekam, eine große Rolle. Lucian erzählt, daß das Schnitzbild der syrischen Göttin im Tempel von Hierapolis an ihrem Stirnbande einen Stein trug, den man Lychnis (Lampe) nannte, weil er, am Tage mäßig funkelnd, des Nachts mit seinen Strahlen den ganzen Tempel erleuchtete. Aehnlich lesen wir in Shakespeare’s „Titus Andronicus“ von dem erschlagenen Prinzen Bassianus:

„Am blut’gen Finger trägt er einen Ring
Von seltnem Werth, der rings die Kluft erhellt;
Wie Fackelglanz in dunkler Todtengruft
Scheint er auf seines Leichnams fahles Antlitz.“

Von den Gnomen und Zwergen wurde erzählt, daß sie solche Steine als Grubenlichter auf dem Kopfe trügen, und verschiedenen Vögeln, namentlich den Zeisigen, wurde nachgesagt, daß sie dieselben zu finden wüßten, um damit des Nachts das Innere ihres kleinen Familienhauses zu erleuchten. Die Vorliebe gewisser Vögel, wie z. B. der Dohlen, für glänzende und schimmernde Dinge hat sich zu einem lieblichen, internationalen Märchen ausgebildet, und auch in Amerika sagt man mehreren Vögeln nach, daß sie das Innere ihrer Nester mit aufgespießten Feuerfliegen erleuchteten. Aber der Karfunkelstein hat noch einen besonderen geheimen Werth; er macht das Nest und seinen jedesmaligen Träger für Thier und Mensch unsichtbar. Wie soll nun der Mensch dieses Kleinod, das nur die Vögel mit ihrem scharfen Auge im Geröll zu erspähen vermögen, ausfindig machen? Auch dafür hat die dichtende Phantasie Rath gewußt. Die Unsichtbarkeit ist ihr nur eine Blendung der Augen durch den leuchtenden Schein – aber ein Spiegel läßt sich nicht blenden. Man geht also am Ufer eines Baches oder Sees entlang und sucht, wo sich im Wasser ein Vogelnest mit dem Baumgeäst spiegelt. Sieht man nun ein solches im Wasserspiegel, nachher direct am Baume aber nicht, so ist es das rechte. Auf dieses Geheimniß hat der neuerdings durch ein – am 17. August 1879 zu Renchen enthülltes – Denkmal geehrte und mit Recht gefeierte Verfasser des „Simplicissimus“ seine unterhaltende und lehrreiche Geschichte vom „wunderbarlichen Vogelnest“ begründet, welche uns an der Seite des unsichtbaren Erzählers das innerste Volksleben zur Zeit des dreißigjährigen Krieges belauschen läßt.

Die Sage vom Karfunkelstein stammt aus dem alten Edelsteinlande Indien und bezieht sich offenbar auf die merkwürdige Eigenschaft vieler Diamanten und mancher Rubine – der Rubin war der Karfunkel der Römer – längere Zeit im Dunkeln mit lebhaftem Glanze nachzuleuchten, wenn man sie kurze Zeit den Sonnenstrahlen oder auch nur dem hellen Tageslichte ausgesetzt hat. In Europa scheint dieses Verhalten erst im 17. Jahrhundert von dem bekannten Naturforscher Boyle beobachtet und [10] untersucht worden zu sein; in Indien war es seit uralten Zeiten bekannt, wie eine Stelle in dem berühmten Drama „Sakuntala“ beweist, dessen Verfasser bereits vor dem Beginne unserer Zeitrechnung gelebt haben soll. Es heißt darin:

„In Büßern, denen Seelenruh’ das Höchste,
Ist ein verborgner Strahl, gar leicht entzündbar,
Den sie, wie die geschätzten Sonnensteine,
Aussprühn, sobald der fremde Strahl ihn aufweckt.“

Zu Bologna, der berühmten Gelehrtenstadt, lebte im Beginn des 17. Jahrhunderts ein Schuhmacher mit Namen Vincenz „Cascariolo“, der sich, gleich so vielen Leuten seiner Zeit, in den Kopf gesetzt hatte, die Urmaterie oder den Stein der Weisen zu entdecken, um damit unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Er hatte bereits alle möglichen organischen und unorganischen Stoffe mit Feuer und Wasser gepeinigt, um die Urmaterie herauszutreiben, als er im Jahre 1604 (nach Anderen 1612) eines Tages auf dem Monte Paderno in der Nähe seines Wohnortes einen grauweißen, strahlig-faserigen Stein fand, in welchem er seiner ungewöhnlichen Schwere wegen etwas Besonderes vermuthete. Er glühte eine Portion desselben, mit Kohlen geschichtet, tüchtig durch und wollte seinen Augen nicht trauen, als er nach eingetretener Dunkelheit den gesammten Inhalt seines Ofens in röthlich gelbem Lichte weiter glühen sah, obgleich Alles beinahe kalt war. Mit zitternder Hand nimmt er die schimmernden Stücke heraus, denn sicher konnte das nur der Stein der Weisen sein, der lange gesuchte. Die Hoffnung wächst, als sich ergiebt, daß nur die Stücke im Finstern leuchten, die vorher dem Tageslichte oder Sonnenschein ausgesetzt waren; die Sonne, deren Strahlen der Stein aufsog, wie ein Schwamm das Wasser, galt ja den Alchemisten als der Planet des Goldes, mit ihrem Zeichen () wurde in ihren Schriften stets das Gold bezeichnet. Noch nähere Ansprüche gründete man auf eine kurze Inschrift, die im Mittelalter – man weiß nicht wo – aufgetaucht ist, nur in lateinischer Uebersetzung existirt, aber in einem ägyptischen Grabe gefunden sein soll, die sogenannte „Smaragdtafel des Hermes Trismegistos“, in der es unter Anderem heißt. „Der Vater des Dinges (das heißt des Steins der Weisen) ist die Sonne und der Mond seine Mutter … Scheide die Erde vom Feuer, so hast Du das Herrlichste von der Welt, und alles Dunkel wird von Dir weichen …“ Diese dunklen Worte legte man zu Gunsten des leuchtenden Steines aus, welchen man Phosphorus, das heißt: „Lichtträger“, nannte, und so erregte der Bologneser Leuchtstein das höchste Interesse aller Jünger der hermetischen Kunst.

Wenn er nun auch in der Folge die hohen Erwartungen nicht erfüllte und sich nicht als der Stein der Weisen bewähren wollte, so mag er seinem Entdecker doch viel Geld eingebracht haben, denn lernbegierige Menschen aus aller Herren Ländern strömten damals in Bologna, der berühmtesten Universitätsstadt jener Zeit, zusammen und kauften diese Merkwürdigkeit als Naturwunder, während die Gelehrten den berühmt gewordenen Schuhmachermeister in lateinischen Versen als den wahren Prometheus feierten, der das Feuer der Sonne herabzuholen verstanden habe, sodaß es in der größten Kälte fortleuchte. Es trat eine allgemeine Begeisterung für diesen Stein ein; man schrieb Bücher darüber und stand nicht an zu behaupten, daß Sonne und Mond selber nichts anderes wären, als große, unerschöpfliche Bologneser Leuchtsteine! Lange wurde geglaubt, daß das Rohmaterial zur Bereitung dieses Wunders, aus dessen Pulver man mit Mehl und Wasser runde Scheiben oder Kuchen bildete, die durchgeglüht wurden, nur bei Bologna zu finden sei, bis man später erkannte, daß es sich um den an vielen Orten der Welt vorkommenden Schwerspath oder schwefelsauren Baryt handelt.

Die Hoffnungen der Alchemisten wurden einige Jahrzehnte später neu belebt, als Christian Adolf Baldewein (latinisirt Balduinus), Amtmann zu Großenhain in Sachsen (1674), durch Glühendes Kalksalpeters einen ähnlichen „Sonnen-Magneten“ (Magnes luminaris) gewann. Er nannte ihn den hermetischen Phosphor oder das Sonnengold (Aurum Aurae) und sprach in zahlreichen Schriften die Ueberzeugung aus, daß dies der wahre Stein der Weisen sei, bei welchem es sich nur darum handeln könne, die richtige Anwendungsart desselben zu ermitteln. Die damals einzige Naturforschergesellschaft Deutschlands, die Leopoldinische Akademie der Naturmerkwürdigkeiten, nahm den Entdecker unter dem in Chemikerfamilien fortlebenden alchemistischen Ehrennamen Hermes unter ihre Mitglieder auf. Seitdem galt als ausgemacht, daß der hermetische oder philosophische Stein leuchten müsse, und der Leibmedicus König Karl’s des Zweiten von England, Dickinson, erzählt uns in seiner „alten, wahren Physik“ (1702), daß Vater Noah (einer der angeblichen Erzväter der hermetischen Kunst) jene im Hebräischen Zohar genannte Leuchtsubstanz in einem gewaltigen Stücke an der Decke der Arche angebracht habe, um sie des Nachts mit einem immerwährenden Mondlicht zu versehen, wie er es andererseits vermöge seiner Kunst auch verstanden habe, ohne Futtervorräthe, mit einer Art vorliebigschen Fleisch- und Heu-Extracts alle Thiere zu speisen, wobei obendrein der Vortheil herauskam, daß es keinen Mist wegzuschaffen gab.

Es war damals eine wunderliche Blüthezeit der chemischen Träumereien, denn etwa zu derselben Zeit mit Baldewein entdeckte (1669) der der Alchemie-beflissene Soldat Brand in Hamburg durch Destillation menschlicher Excremente eine in leuchtenden Dampf übergehende und sich zu gelben Tröpfchen verdichtende Substanz, die, ohne der Anregung des Sonnenlichtes zu bedürfen, aus eigener Kraft im Dunklen leuchtete. Mit Entzücken verkündete der würtembergische Professor Kirchmaier der staunenden Welt, daß die lange gesuchte „beständige Nachtleuchte“ nunmehr gefunden sei, und Kunkel, einer der ersten Eingeweiheten und Nachentdecker, veröffentlichte eine Schrift über den „Phosphorus mirabilis und dessen leuchtende Wunderpilulen“. Auch hier erwartete man mehr, als die Zukunft hielt, aber wenn sich auch Vieles als Schein und Schimmer erwies, so ist doch diese Substanz, welcher der von den Sonnen-Phosphoren entliehene Name Phosphor als Eigenname verblieb, eines unserer unentbehrlichsten Bedürfnisse geworden.

Auch die Untersuchung der Sonnen-Phosphore trat nunmehr allmählich in ein wissenschaftliches Stadium. Im Jahre 1786 hatte der englische Chemiker Canton durch Glühen von Austerschalen mit Schwefel einen neuen Sonnen-Phosphor erhalten, und man ermittelte, daß die besten „Lichtsauger“ von den Schwefelverbindungen der drei Erdalkalimetalle (Calcium, Baryum und Strontium) gebildet werden, obwohl auch andere Schwefelmetalle, Selen-Verbindungen und andere Stoffe durch Glühen die Eigenschaft erhalten, nach der Bestrahlung mit elektrischem, Sonnen- oder Magnesiumlicht im Dunklen fortzuleuchten. Bei der Beschaffung guter Leuchtsteine kommt sehr viel auf die Bereitungsweise an, und je nach dem Verfahren leuchten sie in verschiedenfarbigem Lichte. Man kann sie nämlich sowohl durch Glühen der schwefelsauren Salze mit organischen Substanzen, wie durch Erhitzen der kohlensauren Salze mit Schwefel darstellen, und zwar erfordern die Barytleuchtsteine die stärkste, Kalkleuchtsteine eine schwächere, Strontianleuchtsteine die allerschwächste Gluth. Dabei erhält man aus natürlichem Schwerspath orangeleuchtende, aus künstlich dargestelltem grünlichleuchtende Sonnensteine. Sehr schön leuchtende Steine lehrte später Osann durch Glühen von Kalk mit Schwefelarsenik (Realgar) oder Schwefelantimon darstellen, und ein anderer Chemiker, Wach, erhielt durch Glühen von Schwefel mit gebrannten Austerschalen, die er vorher mit einer Auflösung von Schwefelarsenik in Ammoniak bestrichen hatte, so vorzügliche Sonnensteine, daß man ihr blaues Licht selbst bei Tage wahrnahm.

Nach diesem oder einem ähnlichen Verfahren hatte man wahrscheinlich den Ueberzug der nach kurzem Bestrahlen im Dunklen herrlich blau leuchtenden Kornblumen hergestellt, die im vorigen Jahre von Paris her in den Handel kamen. Da man nämlich diese Sonnensteine pulverisiren und das weiße Pulver mit Firniß oder einem anderen Bindemittel zum Ueberziehen von allerlei Flächen oder zum Schreiben und Zeichnen anwenden kann, so lassen sich unter Anwendung verschiedenfarbig phosphorescirender Pulver sehr anmuthige Spielereien, bunte Blumensträuße, leuchtende Schmetterlinge, Inschriften etc. ausführen. Die interessanteste Anwendung ist indessen wohl die leuchtende Photographie.

Wenn man nämlich eine derartige, gleichmäßig mit Leuchtsteinpulver überzogene Papierfläche kurze Zeit durch das photographische Glaspositiv einer Person, Landschaft etc. belichtet, so erscheinen natürlich die vollbeleuchteten Theile nachher stärker leuchtend als diejenigen, von denen eine mehr oder weniger starke Schattirung das Licht völlig oder theilweise abhielt. Jedes beliebige Glasportrait kann so in ein „Lucifer-Haupt“ verwandelt werden. Da übrigens diese Phosphore auch durch Wärme [11] leuchtend werden, so kann man die schönste Belsazar-Schrift hervorbringen, wenn man auf der Rückseite eines solchen Papieres mit einer heißen Stricknadel schreibt.

Leider eignen sich alle diese anmuthigen Spielereien nicht zum Verkaufe, denn der Luft ausgesetzt, zersetzt sich die leuchtende Schwefelverbindung langsam unter Entwickelung des bekannten Geruches nach faulen Eiern, sodaß die Gegenstände nach wenigen Wochen ihr Leuchtvermögen völlig einbüßen und werthlos werden. Sehr lange erhalten diese Phosphore dagegen ihr Leuchtvermögen bei luftdichtem Verschluß in zugeschmolzenen Glasröhren, und solche in allen Farben leuchtende Phosphore konnte man sonst von der Optiker-Firma Geißler in Bonn beziehen. Man hat auch vorgeschlagen, aus solchen Röhren Namenszüge über Nachtklingeln von Hôtels, Aerzten und Apothekern zu bilden, die immer wieder während des Tages neue Leuchtkraft einsammeln. Auch die leuchtenden Zifferblätter auf Taschen- und Wanduhren, wie sie Gustav Uhlig in Halle an der Saale anbietet, dürften eine praktische Anwendung darstellen, sofern die phosphorescirende Schicht durch luftdicht eingekittete Uhrgläser vor schnellerer Zersetzung möglichst geschützt werden könnte.

Was nun die physikalische Erklärung dieses Phosphorescirens anbetrifft, so glaubte man in ältern Zeiten, als man das Licht selbst noch für eine feine ausströmende Substanz ansah, daß sich die Sonnenstrahlen in diesen Phosphoren förmlich verdichten und ansammeln ließen, worauf sich die Namen „Lichtmagnet“, „Lichtsauger“ und „Lichtträger“ beziehen. Später, nachdem man erkannt hatte, daß das Licht eine Wellenbewegung ist und daß der gewöhnliche Phosphor der Zündhölzer leuchtet, während und weil er in langsamer Verbrennung sich mit dem Sauerstoff der Luft verbindet (oxydirt), so glaubte man, auch in jenen älteren Phosphoren rege das Licht nur einen lebhafteren Oxydationsproceß an. Diese Auffassung ist aber falsch, und schon im vorigen Jahrhundert bahnte der berühmte deutsche Physiker Euler eine richtigere Erklärung an.

Gewöhnlich sagt man uns bekanntlich, die Planeten, der Mond, die Alpengipfel und alle irdischen Gegenstände würden am Tage für uns sichtbar, weil sie das Sonnenlicht zurückwerfen. Auch das ist falsch; nur eine spiegelnde Fläche wirft das Licht einigermaßen vollständig zurück; die andern Oberflächen nehmen dasselbe vielmehr auf und gerathen in Mitschwingungen, ähnlich wie Musik alle Gegenstände ihres Bereiches in Mitschwingungen versetzt. Manche Oberflächentheile können aber von den Schwingungen des weißen Sonnenlichtes, welches bekanntlich aus rothen, orangefarbenen, gelben, grünen, blauen, indigofarbenen und violetten Schwingungen besteht, nur etwa die rothen oder blauen Schwingungen ausführen und erscheinen daher, indem sie nur diese Schwingungen in unser Auge zurücksenden, roth oder blau gefärbt.

Wie man aber bei der Ton-Resonanz ein Nachschwingen vernimmt, so kennt auch die Licht-Resonanz ein solches Nachschwingen, und dieses nennen wir Phosphoresciren nach Bestrahlung. Schon Euler ahnte, daß die meisten Stoffe ein solches Nachschwingen zeigen würden, wenn man sie nur schnell genug nach der Besonnung vor ein durch Verweilen in der Dunkelheit empfindlich gemachtes Auge bringen könnte, und der französische Physiker Becquerel hat vor etwa zwanzig Jahren ein Instrument (das Phosphoroskop) construirt, mit welchem er zeigen konnte, daß die meisten Stoffe, z. B. Papier, Eierschalen, Steine etc., noch eine ganz kurze Zeit, das heißt Secunden und Bruchtheile von Secunden, nach der Belichtung nachleuchten, daß also die Sonnen-Phosphore sich nur durch das anhaltende, stundenlange Nachleuchten vor anderen Stoffen auszeichnen. Allein, obwohl das Gesagte im Allgemeinen zutrifft, ganz so einfach ist die Sache nun doch nicht; es kommt nämlich noch ein sehr interessanter Nebenumstand in Betracht.

Die neuere Physik hat uns mit einer Menge von Substanzen, namentlich organischen Farbstoffen und einigen Metallverbindungen, bekannt gemacht, welche ebenfalls phosphoresciren, aber nur eben so lange, wie sie beleuchtet werden. Das hört sich paradox an, entspricht aber den Thatsachen. Es sind das diejenigen festen oder flüssigen Stoffe, die im auffallenden Lichte eine andere Farbe zu haben scheinen, als im durchscheinenden, weshalb man ein eigenthümliches Schillern an ihrer Oberfläche bemerkt. Gewisse Flußspath-Sorten, das Petroleum und die Chinin-Auflösungen, die wir als Fieber-Medicin einnehmen, eine Abkochung von Roßkastanienrinde etc. schillern blau, der grüne ätherische Auszug grüner Blätter blutroth, das Uranglas, aus dem man Salznäpfe und Rheinweingläser macht, maigrün, Magdalaroth gelb etc. Bringt man nun eine Auswahl solcher Schillerstoffe in einen dunklen Raum, welcher nur durch das schwache Licht des durch luftleere Glaskugeln oder -Röhren hindurchgeleiteten elektrischen Stromes erhellt wird, so leuchten sie alle wunderschön, jeder in seiner Farbe, und zwar viel heller als das elektrische Glimmlicht, aber nur so lange, wie sie von diesem bestrahlt werden. Wie ist diese merkwürdige Erscheinung zu erklären? Wie kann man helles Licht von schwächerem borgen?

Wir haben schon oben erwähnt, daß das weiße Licht aus den sogenannten sieben (richtiger unzähligen) Farbentönen zusammengesetzt ist, die sich bei der Zersetzung durch ein Prisma in der angeführten Reihenfolge sondern. Die rothen Strahlen sind die am langsamsten, die violetten die am schnellsten schwingenden Lichtantheile. Wie es nun jenseits der rothen Strahlen noch langsamer schwingende giebt, die wir aber nicht mehr als Licht, sondern als Wärmestrahlen empfinden, so giebt es jenseits des Violetts noch schneller schwingende „ultraviolette“ Strahlen, die wir direct in keiner Weise empfinden, die sich aber durch ihre energische chemische Wirkung, z. B. in der Photographie, auszeichnen und deshalb auch chemische Strahlen oder „unsichtbares Licht“ genannt werden. An solchen dunklen, unsichtbaren, ultravioletten Strahlen ist nun jenes matte elektrische Glimmlicht vorzugsweise reich, und sie sind es, die besonders jenes schillernde Leuchten hervorbringen, welches man nach dem Flußspath (Fluorcalcium), an dem es zuerst studirt wurde, Fluorescenz nennt. Wenn nun diese für unsere Netzhaut wegen zu großer Schwingungsschnelligkeit unsichtbaren Strahlen jene Substanzen zum Leuchten bringen, so müssen die letzteren die Fähigkeit haben, ihre Schnelligkeit zu mäßigen, sie in langsamer schwingende, leuchtende Strahlen zu verwandeln, und dies ist in der That der Fall. Es könnten also die ultravioletten Strahlen in violette, blaue, grüne etc., die blauen in grüne, gelbe, rothe etc. verwandelt werden, aber die rothen Strahlen könnten durch dieselben Substanzen höchstens noch in dunkle Wärmestrahlen verändert, also für das Auge ausgelöscht werden.

Hier zeigte sich nun die interessante Uebereinstimmung, daß erstens die ultravioletten Strahlen nicht nur die stärkste Fluorescenz, sondern auch die stärkste Phosphorescenz hervorrufen, die rothen aber weder Fluorescenz noch Phosphorescenz, ferner daß die Leuchtsteine, wie die Schillerstoffe, andersfarbiges Licht zurückgeben als sie empfingen, und es hat sich schließlich herausgestellt, daß beide Erscheinungen auf das engste zusammenhängen, daß man die Fluorescenz als eine außerordentlich starke Phosphorescenz bezeichnen kann, die selbst im vollen Sonnenlichte, aber nicht länger, als der erregende Strahl dauert, sichtbar ist, während man die Phosphorescenz eine schwächere, aber nachhaltigere Fluorescenz nennen könnte. Auch die Sonnen-Phosphore strahlen meistens langsamer schwingendes Licht aus, als sie empfangen haben, doch können die meisten auch die Wärme in Licht verwandeln, wie z. B. der Diamant, Flußspath und die meisten Sonnensteine, ja einzelne der letzteren strahlen verschiedenes Licht aus, wenn man sie nach der Bestrahlung im Dunkeln erwärmt. So z. B. leuchtet das besonnte Schwefelstrontium bei – 20° dunkelviolett, bei + 15° violett, bei + 40° hellblau, bei 70° bläulichgrün, bei 100° grüngelb und bei 200° rothgelb.

Andererseits kann die Phosphorescenz ebenso schön wie die Fluorescenz durch jenes an chemischen Strahlen reiche elektrische Glimmlicht geweckt werden, und ein mit dem Pulver verschiedenfarbiger Sonnen-Phosphore gemalter Blumenstrauß, Schmetterling etc. leuchtet bei dem schwachen Schimmer desselben, sowie nachträglich, wirklich feenhaft. Zu einem wunderbaren, durchweg an den Karfunkel des Märchens erinnernden Leuchten hat der englische Chemiker Crookes kürzlich auf solche Weise Diamanten und Rubine gebracht, die er in unmittelbarer Nähe des vom negativen Pole ausgehenden Glimmlichtes in den luftleeren Glasbehälter mit einschloß. Die meisten afrikanischen Diamanten leuchteten dabei in schön blauem Lichte. Ein größerer grünlicher Diamant aber strahlte in intensiv grünlichem Lichte ebenso hell, wie eine brennende Kerze, sodaß man dabei hätte lesen und jenes eingangs erwähnte Tempelwunder wahr machen können. Die Steine werden davon natürlich nicht im mindesten heiß oder verändert.[2] [12] 


Im Trauerhause.
Nach dem hinterlassenen Originalgemälde Eduard Kurzbauer's auf Holz übertragen.

[13]  WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] Eine Sammlung kleinerer Diamanten, wahrscheinlich von verschiedenartiger Herkunft, die zusammen in einem anderen luftleeren Behälter eingeschlossen war, phosphorescirte in allen möglichen Farben, blau, rosa, roth, orange, gelbgrün und blaßgrün durcheinander.

In einem dritten luftleeren Behälter hatte Crookes eine Sammlung roher Rubine eingeschlossen, die im Scheine des elektrischen Glimmlichtes in einem so prächtigen rothen Lichte erglänzten, als ob sie durch und durch rothglühend wären, und zwar leuchteten die künstlich von Feil in Paris dargestellten (vergleiche „Gartenlaube“ 1878, Seite 228) ebenso schön, wie die natürlichen, und die farblosen Thonerde-Krystalle ebenso gluthroth, wie die rosa und dunkelroth gefärbten.[3] Einen so prachtvollen Karfunkelschein dürfte selbst der Dichter des Märchens kaum geträumt haben. „Aber,“ so höre ich am Schlusse Jemand einwerfen, „wir sollten ja vom ‚geborgten Sonnengold‘ hören?“ Nun, auch das elektrische Licht ist geborgtes Sonnenlicht, wenn auch aus dritter und vierter Hand und nicht so direct bezogen, wie es die Sonnensteine vom Helios zu entleihen gewöhnt sind.

Carus Sterne.

Die Cremoneser Geige.
Den Mittheilungen eines alten Musikers nacherzählt von Hermann Müller.

Es war ein herrlicher Augustabend – irre ich nicht, im Jahre 1843 - als ich, von einem Ausfluge in den Taunus zurückkehrend, mich auf dem Schloßberge in Homburg vor der Höhe befand. Die Sonne war im Begriff, hinter den Vorbergen des Altkönigs zu verschwinden, und ich wendete eben den trunkenen Blick von den Herrlichkeiten der Wetterau und des Maingaues ab, als silberhelle Töne an mein Ohr schlugen.

Ich lag am obern Bergabhange, hinter einem abgeblühten Jasminstrauch im Grase; deshalb glaubten sich die soeben anlangenden Besucherinnen des Schloßbergs, zwei reizende junge Mädchen von etwa vierzehn und elf Jahren in eleganter Kleidung, allein und ließen mich die folgende Unterhaltung belauschen.

„Ist das nicht entzückend schön, Maria?“ sagte die ältere von beiden, eine schlanke, schwarzäugige Schönheit, zu ihrer jüngeren Schwester, einem zarten, blassen Kinde, das mich an die Engelsköpfchen Murillo's erinnerte. „Ach, wie gern bliebe ich hier in Homburg! So schön war es weder in England, noch in Frankreich oder Spanien.“

„Du hast wohl Recht, Teresa,“ sagte das niedliche Engelsköpfchen. „Es ist sehr schön hier, und seit den letzten acht Tagen fühle ich mich auch bedeutend wohler. Die gute Luft am Rhein und die herrliche Gegend haben mir wohlgethan; aber ich sehne mich doch nach der Heimath, nach unserm trauten Savigliano zurück.“

Ein Thränenstrom folgte diesen letzten, in schmerzlicher Erregung schluchzend gesprochenen Worten.

„Sieh, da weinst Du wieder, Marietta!“ rief die ältere Schwester halb erschrocken, halb vorwurfsvoll, die Weinende an sich drückend. „In sechs oder acht Wochen bist Du ja zu Hause. Zwei lange Jahre haben wir es ertragen, uns nach der Heimath gesehnt und niemals geglaubt, daß wir diese ewige Zeit überleben würden, und nun, fast im letzten Augenblicke der Abreise, willst Du noch weinen?“

„Mir ist gar zu bange, Teresa,“ schluchzte die Kleine, „ich glaube, das Heimweh verzehrt mich.“

„Du bist ein herziges Kind, Marietta,“ beruhigte die größere Schwester; „Du wirst mir zu Liebe Deinen Schmerz unterdrücken! Sieh', müßte es mich nicht tief betrüben, wenn das Publicum -“

„Schweige, um Gottes willen, Teresa!“ rief die Kleine mit allen Anzeichen jähen Schreckens plötzlich thränenlos. „Nein, ich will mich ja bezwingen. Das Publicum soll mir niemals etwas vorzuwerfen haben.“

Eine Weile schwiegen die Schwestern. Die Sonne war jetzt hinter dem Altkönig verschwunden, und der landschaftliche Hintergrund trübte sich nebelhaft.

„Komm, Marietta!“ sagte die Aeltere, „die Abendluft schadet Dir.“

Schweigend gingen sie Arm in Arm den Schloßberg hinunter, nicht ahnend, daß ihnen Jemand folgte, der ihr Gespräch belauscht und im tiefsten Herzen ergriffen, erfahren wollte, welche Rücksichten die Beiden auf das Schreckgespenst Publicum zu nehmen hatten. –

Die Straßen der Stadt waren bald erreicht. Die ersten Vermuthungen, daß die beiden Mädchen etwa der augenblicklich in Frankfurt gastirenden Kunstreitergesellschaft oder vielleicht dem Balletcorps der Wiesbadener Hofoper angehören könnten, schienen mir bald gewagt. Schon ihr ungesucht elegantes Costüm sprach dagegen. Viel eher schienen sie mir Kinder einer reichen Touristenfamilie zu sein. Hätte die Kleine nicht Savigliano, sondern etwa Birmingham oder Roubaix als Heimath genannt, und wäre das verhängnißvolle Wort Publicum in ihrer vertraulichen Unterhaltung nicht in so bedeutungsvoller Weise gefallen, dann hätte ich an den Mädchen nichts Auffälliges gefunden. Aber – vornehme Italiener sind am Rhein eine Seltenheit!

Ich stand vor einem Räthsel.

„Sieh, Teresa“, sagte das Engelsköpfchen, „dort im Schaufenster hängt eine Harfe.“

Ich hatte mich den Geschwistern, sobald die Stadt erreicht war, so weit genähert, daß mir kein Wort ihrer Unterhaltung entgehen konnte.

„Wahrhaftig, Maria!“ entgegnete die Aeltere, „es sind auch Geigen dabei. Laß uns näher treten!“

Es war ein kleiner Laden, den ich ganz gut kannte und in dessen zwei unansehnlichen Schaufenstern Baumwolle, Schreibmaterialien, Kurzwaaren und musikalische Instrumente in malerischer Unordnung durch einander lagen. „Ephraim und Isidor Hirsch“ hieß die Firma. Ephraim, der ältere Bruder, hatte von Hause aus das angeerbte Talent zum Kaufen und Verkaufen in berufsmäßiger Weise ausgebildet; Isidor dagegen war Kunstjünger geworden und hatte es im Laufe der Jahre bis zum Mitglied der Frankfurter Theatercapelle gebracht. Er war Musiker, zweiter Geiger, stets verkanntes Genie und Accessist für das erste Geigenpult geblieben, bis ihm eines schönen Abends die Geduld riß; am anderen Morgen sagte er gleichzeitig dem Capellmeister und seiner Künstlerlaufbahn Adieu.

„Was soll ich mer lassen cujoniren?“ sagte Isidor Hirsch mit stoischer Ruhe zu seinen bisherigen Collegen, „ich kann's ja haben bequemer und besser.“ Und ebenso entschieden, wie Verrina zuletzt ausrief: „Ich geh' zum Andreas!“ sagte Isidor: „Ich geh' zum Ephraim!“ Und er ging.

Mit offenen Armen empfing ihn sein Bruder und übergab ihm sofort das Portefeuille des Innern, „'s Buch“, während er selber fortan nur das Aeußere, „'s Geschäft“, besorgte.

„Ephraim, das sag' ich Dir,“ begann Isidor am Tage seines Geschäftseintritts, „der Kunst kann ich nicht ganz werden untreu. Von heut' ab muß das Geschäft auch führen musikalische Instrumente.“

„Was soll ich sagen dazu?“ hatte Ephraim in der ersten Aufwallung des brüderlichen Gefühls, wenn auch achselzuckend, erwidert. „Die Anlage kann ich machen Deinetwegen, aber ich kümmer' mer nicht drum. Ich hab' von dem Artikel keine Kenntniß!“ –

Als ich an den beiden Schwestern vorüberging, sagte die jüngere ganz enthusiasmirt:

„Es ist sicher eine Cremoneser, Teresa. Sieh' nur die hohe Decke! Laß uns eintreten!“

Es war nämlich allerdings eine Guarneri-Geige, die Isidor seit einiger Zeit als Prachtstück an einer bevorzugten Stelle im Schaufenster ausgehängt hatte.

[15] Ich schlüpfte in den Laden, blinkte dem geschäftig herbeieilenden Ephraim vertraulich zu und stellte mich abseits, um den eintretenden Geschwistern Platz zu machen.

„Was soll sein gefällig?“ fragte Ephraim geschäftsbereit und griff nach dem Kasten mit Knöpfen und Stecknadeln. Touristen brauchen immer Stecknadeln und Knöpfe.

„Wir wollen uns die Geige einmal ansehen, die da im Schaufenster hängt,“ erwiderte die ältere der Schwestern, „und sie auch vielleicht kaufen.“

„Sie werden haben ein kleines Brüderchen, was soll lernen auf der Violine spielen,“ sagte Ephraim Hirsch, indem er den Knopfkasten wieder wegstellte. „Da können Sie haben ganz billige Sorten. Oberländer, fünf Thaler das Stück!“

„Nein, nein,“ sagte Marietta eifrig, gerade die wollen wir sehen – die da in der Ecke hängt. “

„Die wird Ihnen sein zu theuer, kleines Fräulein!“ erwiderte Ephraim väterlich abwehrend. „Wissen Sie auch, daß das ist ein Schatz? Was sag' ich, ein Schatz? Ein Verbrechen ist es vom Isodor“ – Ephraim nannte seinen Bruder stets Isodor – „daß er hat bezahlt so viel beim Einkauf für 'ne alte Geige. Die Oberländer sind viel besser. Soll ich sie Ihnen mal zeigen? Fünf Thaler das Stück, ganz neu und schön roth angestrichen! Es ist 'n Staat!“

„Komm, Marietta!“ sagte Teresa ungeduldig, „wir wollen gehen.“

„Gott, du gerechter, bleiben Sie, bleiben Sie!“ rief Ephraim bestürzt. „Was wollen Sie gehen? Ich zeig' sie Ihnen! Nein, ich zeig' sie Ihnen nicht. Der Isodor soll sie Ihnen zeigen!“

„Isodor!“ rief er durch ein Fensterchen in der Hinterhür, „Isodor, die Cremoneser!“ und sich zu uns wendend, sagte er halb ärgerlich, halb erfreut und die Geschwister immer noch mit argwöhnischer Verwunderung betrachtend. „Hätt' ich doch nicht geglaubt, daß Isodor wird gewinnen! Wie er sie hat gebracht und hat gesagt zu mir. ‚Ephraim, ich hab' se gekauft, und der Mann kommt sich holen bei Dir das Geld heut Nachmittag – se kost' 150 Thaler!‘ Nein, warten Sie mal, ich irr' mer, se hat gekost 250 Thaler – was sag ich? Ich glaub', 350 Thaler hat se gekost!“ verbesserte er sich rasch – „da hab' ich gesagt: ‚Isodor, was biste ä Schaute! Wer soll se kaufen? Wo steckt der Werth? Du bist unpraktisch für's Geschäft. Du hast Der lassen betuppen!‘ Da hat er sich verschworen hoch und theuer, nor ä Künstler wie er könnt's beurtheilen. Und wie ich hab' nochmal gesagt. ‚'s wird Keiner darnach fragen. Wer soll se kaufen?‘ da hat er mit mir gewett' um fünf Thaler, daß er wird se verkaufen in korzer Zeit. Wenn Sie se kaufen, hat der Isodor gewonnen. Soll ich Ihnen nich' mal zeigen die Oberländer?“

Der inzwischen eingetretene Isidor hatte die Situation im Augenblick erfaßt; er schob seinen geschwätzigen Bruder bei Seite, nickte mir vorübergehend zu und machte den Schwestern gravitätisch einen steifen Bückling. Sein Augenblick war gekommen.

„Sie wollen sehen das Cabinetstück?“ fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, wendete er sich in sichtlicher Aufregung dem Schaufenster zu.

„Sie ist theuer, sehr theuer, aber hören Sie mal den Ton!“ sagte er, die Geige stimmend, und begann den Bogen aus den einzelnen Saiten lang auszuziehen. „Klingt sie nicht wie 'ne Orgel?“

Isidor war jetzt vollständig Künstler. In stillen Augenblicken hatte es ihm wohl immer leid gethan, daß er der Kunst den Rücken gewendet hatte, und wenn er auch hin und wieder geigte, ja manchmal sogar stundenlang – was gab das ihm für eine Genugthuung? Es fehlte ihm das Publicum. Aber jetzt? Die kühnsten und gewagtesten Evolutionen waren ihm reines Kinderspiel. Eine Cadenz reihte sich an die andere, eine immer wilder, freilich auch unordentlicher, als die vorhergehende, und als er mit dieser Introduction zu Ende war, folgte eine wahre Fluth von alten und neuen Opernmelodien, bis endlich das damals noch neue, rasend gespielte Meyerbeer'sche „Ja, das Gold ist nur Chimäre“ seine Parforceleistung beschloß. Mit einer beifalldurstigen Geberde legte er die Geige aus der Hand.

Armer Isidor! Das Publicum blieb still. Bei dem handwerksmäßigen Streichen und den halbverunglückten Passagen aber hatte Teresa fein gelächelt und Marietta laut aufgelacht, was Isidor freilich beides als Beifallsäußerungen aufgenommen hatte.

„Ich habe mir kein Urtheil über die Güte des Tones bilden können,“ sagte Teresa. „Willst Du das Instrument nicht einmal probiren, Marietta? Ich kann dann den Ton viel besser taxiren.“

„Wie? Was?“ fragte Ephraim verwundert. „Sie machen Spaß! Das kleine Fräulein kann auch schon spielen Violine?“

„O ja,“ erwiderte Teresa lächelnd, „wir spielen Beide ein wenig.“

„Das ist recht!“ sagte Isidor, indem er mit freundlich aufmunterndem Nicken die Geige dem Engelsköpfchen überreichte. „Geniren Sie sich nicht und spielen Sie mal ein Stückchen!“

Marietta nahm schweigend das Instrument, stellte sich in einiger Entfernung auf und begann ebenfalls mit langgezogenen Tönen auf den leeren Saiten.

„Die Bogenführung ist ausgezeichnet!“ sagte Isidor. „Sie werden gut spielen lernen, denn die Anfangsgründe haben Sie gut begr –“

Da – was war das? Unserm Isidor blieb vor Erstaunen das Wort in der Kehle stecken.

Mit der Schnelligkeit des Blitzes flog eine Reihe von glockenhellen Tönen in chromatischer Folge staccato bis in die Regionen der fünften Lage hinauf und endigte in einem brillanten minutenlangen Triller, der, erst anschwellend, dem Schlage der Nachtigall glich und endlich allmählich abnahm, um in einem elfenhaft zarten Flageolett-Tone zu verklingen.

Isidor stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde da.

„Die hohe Partie ist excellent, Marietta,“ rief Teresa freudig. „Aber wie steht's mit der Cantilene in der Mittellage?“

Marietta hob den Bogen auf's Neue, und eine unendlich schwermütige Gondoliera erklang in sehnsüchtig und wehmütig klagenden Tönen von den Saiten der alten Geige.

Ich lehnte mich an die Wand, schloß die Augen, um ungestörter zu hören, und vergaß Zeit, Ort und Umgebung. Paganini hatte ich verschiedene Male gehört. Ich war durch ihn in unendliches Staunen versetzt worden; seine Kunst hatte mich geblendet, aber Marietta hatte mich gerührt, erschüttert. Die Augen waren mir vor innerer Bewegung feucht geworden.

Sie setzte nach einem langen pianissimo den Bogen ab, ich glaubte den zarten Ton noch immer zu hören, als sie längst geendigt hatte.

Ephraim und Isidor Hirsch waren Bildsäulen.

„Auch die Cantilene ist gut,“ sagte die unerschütterliche junge Dame. „Aber nun handelt es sich um die Kraft, um die Stärke und Intensität des Tones. Da werde ich Dir wohl zu Hülfe kommen müssen, Herzchen!“

Sie ergriff die Geige, und was Isidor vorhin beansprucht hatte: „Klingt sie nicht wie eine Orgel?“ das wurde jetzt Wahrheit. Nicht in einzelnen Tönen, nein, in vollen Accorden flohen die Klänge von den Saiten. Nicht süßer Wohllaut war es, den der Bogen ihnen entlockte – wilder, viel wilder, als Isidor nur je geahnt hatte, entströmte der Ton dem tyrannisirten Instrumente. Es war wie die Einleitung zu einem Gewitter, und, wie von Furien gepeitscht, in gigantischen Machttönen gaben darauf die Saiten Josef Panny's „Sturm“, Paganini's berühmtes Concertstück, wieder.

Ich war überwältigt.

Teresa legte die Geige aus den Händen.

„Das Instrument ist gut, sehr gut,“ sagte sie, „und einen bedeutenderen Preis werth, als Sie vorhin nannten. Der Ton ist ungemein lieblich, wie bei allen Guarneri-Geigen, aber er besitzt nicht das Großartige, das die Stradivari, und unter ihnen besonders der große Antonio, dem Tone ihrer Instrumente zu verleihen verstanden haben. Ich suche eben eine Geige ersten Ranges, und darauf kann diese bei vielen Vorzügen doch nicht Anspruch machen.“

Die Schwestern machten Anstalt, sich zu entfernen.

„Nicht wahr, die Oberländer?“ fragte Ephraim sich nähernd. Isidor kam jetzt wieder zu sich. Er schob seinen Bruder bei Seite. „Fräulein,“ begann er, „was soll ich sagen?“ Jetzt erst sehe ich ein, wie es war recht gehandelt von mir, als ich hab' vertauscht die Kunst mit dem Geschäft, und brauch' mir in meinem Herzen keine Vorwürfe mehr darüber zu machen. Wenn ich jetzt noch einmal anrühr' eine Geige, dann will ich sie blos [16] putzen und reinigen vom Staub. Aber nun müssen Sie mir auch sagen, wie Ihr geschätzter Name ist, damit ich doch weiß, wem ich hab' zu verdanken meine Seelenruhe.“

Die junge Dame zog lächelnd eine Karte aus der Tasche, schrieb einige Worte mit Bleistift darauf und legte sie auf den Tisch. Dann folgte sie grüßend ihrer vorangegangenen Schwester.

Ich wußte es längst, wer die beiden Genien waren, und schlich in gehobenster Stimmung zur Thür, um die freie Gottesluft einathmen zu können und die erhabenen Eindrücke der letzten halben Stunde nicht durch drückende Umgebung zu schädigen.

Eben im Hinausgehen hörte ich noch, wie Isidor seinem neugierig herangeschlichenen Bruder vorlas: „Teresa und Maria Milanollo“.[4]




König Friedrich Wilhelm der Erste und die Akademie der Wissenschaften in Berlin.

Von O. Mohnike.

Ein Jahr bevor sich der Kurfürst von Brandenburg und souveräne Herzog von Preußen, Friedrich der Dritte, die Krone aufgesetzt hat, um als Friedrich der Erste die glorreiche Reihe der Könige von Preußen in die Weltgeschichte einzuführen, im Jahre 1700, war von ihm die Akademie der Wissenschaften in Berlin gestiftet worden. Die erste Veranlassung hierzu ging von der geistreichen und hochgebildeten Kurfürstin Sophie Charlotte, einer hannöverschen Prinzessin, und ihrem berühmten Freunde Leibniz aus.

Kurfürst Friedrich war um so eher geneigt, den Wünschen seiner hochgesinnten Gemahlin zu entsprechen, als er selbst für Kunst und Wissenschaft Interesse fühlte und auch der Gedanke sich ihm aufdrängen mußte, daß die Gründung eines gelehrten Instituts, wie die von Ludwig dem Vierzehnten, auf Anrathen von Colbert, 1666 in das Leben gerufene Pariser Akademie der Wissenschaften, seinen Ruhm und sein Ansehen nur vermehren könne. Wie der König von Frankreich, dessen Prunksucht und Prachtliebe er theilte, glaubte auch Friedrich, daß der Königsthron, den zu gründen er beabsichtigte, noch glänzender dastehen würde, wenn die von ihm sich verbreitenden Strahlen auch das Gebiet des höheren geistigen Strebens erwärmten und befruchteten.

Mit der Abfassung der Statuten für die neugestiftete Akademie in Berlin wurde Leibniz beauftragt, indem er gleichzeitig zum ersten Präsidenten ernannt ward. Durch die Wahl dieses gründlichsten und vielseitigsten Gelehrten seiner Zeit, eines der scharfsinnigsten Denker aller Jahrhunderte, erhob der Kurfürst die Berliner Akademie gleich von vorn herein zu hohem Ansehen.

Die Akademie der Wissenschaften in Berlin hielt aber erst am 19. Januar 1711 ihre erste feierliche Sitzung unter dem Namen „Societas Berolinensis scientiarum“, nachdem sie den ersten, mehrere Abhandlungen von Leibniz enthaltenden Theil ihrer Denkschriften schon 1710 hatte erscheinen lassen.

König Friedrich der Erste starb am 25. Februar 1713 und ihm folgte sein Sohn Friedrich Wilhelm der Erste.

Mit einer eisernen Willenskraft, einem hellen, durchdringenden Verstande, praktischer Lebensklugheit, einem bedeutenden politischen Scharfblicke, großer Arbeitslust und Arbeitskraft, mit Sinn für Ordnung und einem seltenen Talent für Organisation und Verwaltung begabt, haßte er, wie sehr er auch von dem Bewußtsein seiner Machtvollkommenheit als unumschränkter Alleinherrscher durchdrungen war, nichts so sehr, wie die Entfaltung des Prunkes und der Pracht, welche Friedrich der Erste von der königlichen Würde untrennbar gehalten hatte. Friedrich Wilhelm war in hohem Grade sparsam; nur für die Vermehrung des Heeres, namentlich seiner Potsdamer Riesengarde, sowie für nützliche Verbesserungen in seinem Lande scheute er keine Ausgaben.

Seiner inneren Anlage nach durchaus nüchtern und realistisch gesinnt, fand er in den Bestrebungen der Kunst und Wissenschaft nur alsdann einigen Werth, wenn sie praktisch in das Leben eingriffen und für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit einen unmittelbaren, handgreiflichen Nutzen versprachen. Für die Wissenschaft an und für sich hatte er kein Verständniß, und sie war für ihn so gut wie gar nicht da. Die Pfleger derselben verspottete er, und das Schreiben gelehrter wissenschaftlicher Werke erschien ihm als die unnützeste Beschäftigung.

Am meisten Widerwillen flößte ihm die Philosophie ein, da er in ihr bloß die Gegnerin der unduldsamen pietistischen Frömmigkeit erkannte, die, zu jener Zeit hauptsächlich von Halle ausgehend, auch ihn umfangen hielt. Von nichts hatte er so wenig Begriff, wie von dem Werthe einer harmonischen, zugleich wissenschaftlichen und ästhetischen Erziehung der Jugend. Er war nämlich fest davon überzeugt, daß eine solche nur auf Unkosten der kirchlichen Frömmigkeit, des sittlichen Gehaltes und der Tüchtigkeit des Charakters erreicht werden könne.

In dieser tief bei ihm eingewurzelten, zur Ueberzeugung gewordenen Denkweise, zu der noch eine gewisse Derbheit des Gefühls und der Sitten, sowie eine heftige, jähzornige, sich nicht selten bis zu stürmischen Ausbrüchen steigernde Gemüthsart kam, findet eine Anzahl von vielfach hart getadelten Handlungen dieses Fürsten ihre Erklärung. Ein Beispiel hiervon liefert das Verfahren des Königs gegen den berühmten Philosophen und Mathematiker Christian Wolf.

Wolf, einer der größten Gelehrten seiner Zeit, damals Professor an der Universität zu Halle, hatte im Jahre 1723 eine lateinische Rede über die Moralphilosophie von Confucius gehalten und den Beweis zu führen gesucht, daß auch außerhalb des Christenthums hohe menschliche Tugenden bestehen könnten. Hierfür aber klagte ihn die theologische Facultät zu Halle als Irrlehrer und Verächter des Christenthums unmittelbar bei dem Könige an. Dieser entsetzte, durch Cabinetsbeschluß vom 15. November desselben Jahres, Wolf nicht nur seines Amtes, sondern befahl ihm auch, binnen vierundzwanzig Stunden Halle und innerhalb zwei Tagen die Monarchie zu verlassen, widrigenfalls er an den Galgen gehängt werden solle. Wolf verließ Preußen und fand an der Universität zu Marburg eine neue Anstellung, wurde aber von Friedrich dem Großen 1740, unmittelbar nach dessen Thronbesteigung, als Professor des Natur- und Völkerrechts nach Halle zurückberufen, später auch zum Geheimrath, zum Vicekanzler und endlich zum Kanzler der Universität und zum Freiherrn ernannt.

Auch die erste und Hauptursache des so tief gehenden, weltgeschichtlich gewordenen Zwiespaltes zwischen dem Könige und dem Kronprinzen hatte in den einseitigen Ideen ihren Grund, welche bei Friedrich Wilhelm hinsichtlich der Erziehung und Geistesbildung der Jugend bestanden. Der König erkannte weder die reichen, sich schon frühzeitig entwickelten Anlagen seines Sohnes, noch wußte er sie im mindesten zu schätzen. Hiervon kann man sich durch einen Blick in die noch vorhandene „Instruction und Bestallung“ vom 13. August 1718 für den Grafen von Finkenstein und den Obersten von Kalkreuth, denen der König die Erziehung seines Sohnes anvertraute, ohne Mühe überzeugen. Dieses von Preuß mitgetheilte Actenstück befiehlt unter Andrem, daß die lateinische Sprache von dem Unterrichte ganz ausgeschlossen bleiben und die alte Geschichte „nur überhin“ gelehrt werden solle. In Folge dessen hat Friedrich der Große die classischen Schriftsteller des Alterthums allein aus mittelmäßigen französischen Uebersetzungen kennen gelernt. Hierüber hat er selbst mehr als einmal, nicht ohne Bitterkeit, sein inniges Bedauern ausgesprochen. Schon im Frühjahr 1727, als der Kronprinz eben das 15. Lebensjahr erreicht hatte, hörte aller Unterricht für denselben auf, weil der König der Ansicht war, daß sein Sohn mehr als genug gelernt habe.

In der Einrichtung der Akademie der Wissenschaften in Berlin sah Friedrich Wilhelm der Erste nichts als einen der vielen mit Geldausgaben verbundenen, durchaus unnützen und entbehrlichen Gegenstände des Prunkes, mit denen sein Vater den Thron

[17] umgeben hatte. Viele dieser letzteren waren schon gleich nach seiner Thronbesteigung von ihm weggeräumt worden, und dieses Loos bedrohte auch die Akademie der Wissenschaften, nachdem Leibniz, ihr erster Präsident, am 14. November 1716 die Augen geschlossen hatte.

Ihr Fortbestehen verdankte sie allein dem Generalchirurgus Holzendorf, dessen Urtheil bei dem Könige von Gewicht war. Auf die Erklärung desselben, daß die Akademie für die Bildung brauchbarer Militärärzte nützlich sei, sah der König davon ab, diese aufzuheben, und beschränkte sich darauf, aus einem Theile der ihr zugewiesenen Gelder, im Jahre 1717, die mit ihr verbundene sogenannte „Anatomiekammer“ zu stiften. Die Akademie bestand daher weiter und setzte auch die Herausgabe ihrer schon erwähnten, unter dem Namen „Miscellanea Berolinensia“ alljährlich erscheinenden Gedenkschriften fort. Wie sehr der König das Institut nach wie vor verachtete, und wie er keine Gelegenheit vorübergehen ließ, mit ihm und seinen Mitgliedern Spott und Hohn zu treiben, geht schon aus der Weise hervor, wie er die während seiner Regierung zweimal erledigte Stelle des Präsidenten dieser gelehrten Gesellschaft neu besetzte.

Die Douglas-Tanne.
Zeichnung von H. Heubner.

Nach dem Tode von Leibniz war der Staatsminister Baron von Printzen zum Ehrenpräsidenten der Akademie ernannt worden. Wirklicher Präsident aber wurde Jakob Paul Gundling. Wenige Mittheilungen über diesen sonderbaren und, wenn man will, merkwürdigen Mann genügen, um darzuthun. wie tief die Akademie durch die Ernennung Gundlings zum Nachfolger von Leibniz in ihrer Würde gekränkt wurde.

Gundling, ein jüngerer Bruder des bekannten Halleschen Juristen und Philosophen Nikolaus Hieronymus Gundling, wurde am 19. August 1673 zu Hersbruck geboren, studirte zu Altdorf, Helmstädt und Jena, machte hierauf eine Reise durch Holland und England und erhielt 1705 eine Anstellung als Lehrer der Geschichte und anderer Wissenschaften an der Ritter-Akademie zu Berlin. Auch er hatte, gleich seinem Bruder Nikolaus Hieronymus, gründliche Studien, namentlich historische, gemacht und war ebenfalls Verfasser einer Anzahl von Schriften, die für weniger reich an Geist als an Gelehrsamkeit gehalten wurden.

Als Friedrich Wilhelm, nicht lange nach seiner Thronbesteigung, das Bedürfniß fühlte, Jemanden in seiner Nähe zu haben, der ihm aus den Zeitungen referiren, wie auch ihn gelegentlich über historische, politische und statistische Verhältnisse informiren könne, schlug der General von Grumbkow hierfür Gundling vor. Derselbe nahm diese Stelle an, hätte aber unendlich viel weiser gethan, sie abzulehnen, da er hierdurch in Verhältnisse und Umgangskreise gerieth, für die er weder körperlich noch geistig im mindesten angelegt war.

Auf seiner äußeren Erscheinung, wie auf seinem ganzen Wesen lag nämlich der Stempel des Komischen in dem Maße ausgeprägt, daß er der Umgebung des Königs, welche fast ausschließlich aus Officieren höheren und niederen Ranges bestand, mehr oder weniger lächerlich erscheinen mußte. Seine Figur war lang, mager und eckig; sein unschön geformtes Gesicht hatte, wenn er heiter war oder lachte, den Ausdruck eines Weinenden, reizte aber, so oft er sich erzürnte oder verdrießlich war, unwiderstehlich zum Lachen. Bei seinem gespreizten Gange mit vornübergebeugtem Haupte, erschien er in allen Bewegungen steif und ungelenk. Seine Stimme klang hölzern; seine Sprechweise war pedantisch und schwerfällig. Hierzu kamen Eitelkeit und Selbstüberschätzung mit Bezug auf sein Wissen und seine Bedeutung als Gelehrter.

Diese Beschreibung haben Zeitgenossen, welche Gundling persönlich kannten, von seinem Auftreten und seiner äußeren Erscheinung hinterlassen.

Wie wunderbar dem Könige das Aussehen und ganze Wesen seines neuen Zeitungsreferenten zuerst auch vorkommen mochte, zumal wenn er ihn mit den stattlichen, kräftigen und wohlgewachsenen Officieren seiner Umgebung verglich, deren Haltung gerade zu jener Zeit im höchsten Maße jene specifische „Strammheit“ zeigte, welche den preußischen Officier immer von dem jeder anderen europäischen Armee unterschieden hat und noch jetzt unterscheidet, so hatte Gundling doch, vielleicht eben dieses Contrastes wegen, in der ersten Zeit ihres Zusammenlebens etwas eigenthümlich Anziehendes für ihn. Er schenkte ihm sein Wohlwollen, ernannte ihn zum Hofrath, später zum Geheimen Kriegsrath, zum wirklichen Geheimrath, zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, wie schon bemerkt wurde, und sogar zum Freiherrn.

Freilich war mit diesen Rangerhöhungen nicht zugleich auch eine verhältnißmäßige Vermehrung seines Einkommens verbunden, da der König hinsichtlich der Gehälter seiner Beamten sich immer viel sparsamer zeigte, als bei der Verleihung von bloßen Titeln und titulären Würden. Er selbst schätzte diese letzteren am geringsten, verstand aber sie gut zu verwerthen, indem er die Liebhaber

[18] davon, deren immer vorhanden waren, zum Vortheile seiner „Recrutencasse“ diese Titel etc. theuer genug bezahlen ließ. Gundling erhielt indessen die Bestallungen zu seinen Aemtern und Würden kostenlos.

Der König verlieh ihm sogar Zutritt zu den Sitzungen der verschiedenen Rechtsbehörden in Berlin, um sich von ihm berichten zu lassen, wie es dort zuginge. Er soll, 1718, selbst daran gedacht haben, an Stelle von Duhan de Jandun Gundling zum Lehrer des Kronprinzen zu ernennen. Gewiß ist, daß um diese Zeit Gundling nicht ohne Einfluß auf den König war und in nicht geringem Grade das Vertrauen desselben besaß. Gundling beutete dieses Vertrauen übrigens auch aus, um Einigen zu nützen, Anderen zu schaden, wodurch es kam, daß selbst vornehme und hochgestellte Personen ihm den Hof machten und um seine Gunst sich bewarben.

Gundling's Kopf war aber zu schwach, um so viel Ehre und Auszeichnung ertragen zu können. Seine Anmaßung nahm stets zu, und er zeigte sich immer mehr rechthaberisch, disputir- und streitsüchtig. Häufig war er in seinen Aeußerungen sogar grob und beleidigend. Es geschah dies aber immer in so komischer Weise, daß die dadurch Getroffenen sich nicht beleidigt, sondern nur belustigt und erheitert fühlten. Besonders war solches der Fall, wenn Gundling, welcher wenig vertrug, angetrunken war, was, je älter er wurde, je häufiger vorkam. Die Umgebung des Königs verleitete ihn sogar in dessen Gegenwart, namentlich bei den Zusammenkünften des sogenannten Tabakcollegiums zu Potsdam, Berlin und Wusterhausen, deren festes Mitglied Gundling war, häufig dazu, sich zu betrinken. Man fing alsdann mit ihm zu disputiren an und ergötzte sich an seinen Repliken und Ausfällen und zwar, so gröber diese waren, um so mehr. Niemand nahm ihm etwas übel, sogar der König nicht, dem er hinterm Glase oft harte Wahrheiten gesagt haben soll. Endlich ward Gundling ein vollkommener Trunkenbold und war nur noch während einiger Morgenstunden mehr oder weniger nüchtern.

Er blieb dessen ungeachtet aber stets in der Nähe des Königs, der ihn nicht selten stundenlang allein bei sich im Cabinete hatte und für sich schreiben und arbeiten ließ, wiewohl auch er, gleich den Personen seiner Umgebung, immer gröber werdenden Scherz und Spott mit ihm trieb. Als ein solcher Scherz aber mußte es Allen erscheinen, als Gundling zu seinen übrigen Würden und Ehrenämtern zuletzt noch die Ernennung zum Ober-Ceremonienmeister erhielt, nachdem Baron von Bessers, der bis dahin diese Stelle bekleidet hatte, welche an dem fast bürgerlich-einfachen Hofe Friedrich Wilhelm's des Ersten eine bloße Sinecure war, in Ungnade gefallen und abgesetzt war. Der König ersann für seinen neuen Ober-Ceremonienmeister selbst ein neues Hofcostüm, bestehend in einem nach der letzten Pariser Mode zugeschnittenen Rocke von rothem Sammet mit schwarzen Aufschlägen und goldgestickten Knopflöchern, Unterkleidern von Goldbrocat, rothen seidenen Strümpfen mit goldenen Zwickeln und Schuhen mit rothen Absätzen, wozu noch eine an beiden Seiten lang herabhängende Staatsperrücke von weißen Ziegenhaaren und ein Hut mit weißem Federbusch kamen.

Es dauerte aber nicht lange, so hatte Gundling, zu dessen Tugenden Reinlichkeit nicht gehörte, diesen kostbaren, thatsächlich nur ein Narrenkleid darstellenden Anzug dermaßen mit Weinflecken etc. beschmutzt, daß der König sich hierüber ärgerte und ihm ein anderes einfacheres und billigeres Kleid aus braunem Tuche machen ließ, welches bloß auf den Kanten in einer silbernen Stickerei die in einander verschlungenen Buchstaben W U R M G zeigte, deren Bedeutung, mit Ausnahme des letzten, unklar ist.

Je tiefer Gundling durch seine Trunksucht sank, um so mehr diente er der Hofgesellschaft bei ihren Zusammenkünften zur Belustigung und zum Zeitvertreib, und um so unfeiner wurde die Weise, wie er, nicht bloß immer in Worten, sondern oft auch handgreiflich, von allen Seiten geneckt, geplagt und zum Besten gehabt wurde. Der König lachte hierüber oft so laut und herzlich, daß er sich die Seiten halten mußte.

Den gröbsten Scherz mit Gundling erlaubte sich aber der König Friedrich Wilhelm selbst, noch nach Gundling’s am 11. April 1731 zu Potsdam erfolgten Tode, bei dem Begräbniß desselben. Von Loen theilt in seinen „gesammelten kleinen Schriften“ (Frankfurt und Leipzig 1749, B. 1, S. 207), aus einem Briefe eines Augenzeugen, folgende Beschreibung jenes Begräbnisses mit:

„Wir haben am verwichenen Donnerstag allhier ein Begräbniß gehabt, von dem Herrn geheimen Rath Baron von Gundeling, welches folgender Gestalt ist vor sich gegangen: Es ist derselbe, so bald er verschieden, aus dem Schlosse auf königliche Ordre weggetragen, auf einem Brett nach der verwittibten Laquaienfrauen Hause, allwo die Chirurgi denselben geöffnet, gebracht; nachhero sind ihm seine Kleider angezogen, und er in das Faß gelegt worden, welches ihm der König schon vor etlichen Jahren hatte machen lassen. Es sind an solchem ordentliche Bänder um und um, daß die Helfte kan abgenommen werden, anstatt eines Deckels. Es ist auch ordentlich mit fein Welsch ausgeschlagen, und schwarz angestrichen wie ein Sarg, nur daß auf die oberste Helfte ein weises Creutz über das Faß herunter ging. Auf beiden Seiten stunden folgende Verse:

Hier lieget ohne Haut,
Halb Mensch, halb Schwein, ein Wunderding:
In seiner Jugend klug,
In seinem Alter toll,
Des Morgens wenig Witz,
Des Abends allzeit voll,
Beweint, ruft Bachus laut!
Diss theure Kind, ist Gundeling.

Er ist auch in selbigem Faß begraben worden. Alle Generals, alle Officiers und sowohl geheimde als Kriegsräthe, wie auch der ganze Magistrat der Stadt mit der sämmtlichen Bürgerschafft musten dieser Leichenprocession mit beywohnen. Er wurde bis nach Vorstädt gebracht, allwo er in der Kirche ein Gewölbe bekommen; die Herren Prediger aber wollten nicht mit gehen, ob es ihnen gleich der König befehlen lassen; die ganze Schule aber war da und sangen: 'Ach wie nichtig, ach wie flüchtig, ist der Menschen Leben'. Herr Faßmann hielt ihm die Parentation.“

(Schluß folgt.)




Ein deutscher Waldbaum der Zukunft.


Mit Recht hat die Douglas-Tanne (Abies Douglasii) in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit deutscher Forst- und Parkpfleger auf sich gezogen und in den betreffenden Kreisen vielfach den Wunsch, sogar das lebhafte Verlangen erregt, diesem echt californischen Kinde auf deutschem Boden eine Heimstätte zu bereiten. Und die Erfolge der bisherigen Versuche berechtigen in der That zu der Hoffnung, den schönen Baum eine hervorragende Stelle in unserer Forstwirthschaft einnehmen zu sehen. Mehr und mehr bricht sich die günstige Meinung für dessen Einführung in Deutschland Bahn; sogar höhere Forstbeamte, welche im Allgemeinen kostspieligen Proben und Experimenten abhold, zeigen sich geneigter, in diesem Falle auf den von Privatforstpflegern gesammelten Erfahrungen weiterzubauen.

Der Preis für den Samen (6000 Mark für den Centner) erscheint allerdings hoch, allein er schwindet, wenn man berücksichtigt, wie viele Pflanzen von einem einzigen Pfund erzeugt werden können, außerdem aber dürfte er, trotz der sehr großen Schwierigkeit des Einsammelns in den fernen westlichen Waldungen, eine bedeutende Ermäßigung erfahren, sobald man sich directere Bezugsquellen eröffnet. In England sind die Douglas-Tannen schon seit einer längeren Reihe von Jahren eingeführt, ohne jedoch eine andere Bedeutung, als die von schnell wachsenden edlen Parkbäumen gewonnen zu haben, was vielleicht auf die schwere Gewinnung des Samens in dem vor dreißig Jahren noch so wenig bekannten Californien zurückzuführen ist. Die ersten Samenproben mögen von den Botanikern Douglas, Lindley, Loudon, Nutall und Anderen mitgebracht worden sein, welche den Columbia besuchten, in dessen Stromgebiet die dort reich vertretene Douglas-Tanne ihre Aufmerksamkeit nothwendiger Weise erregen mußte.

Einem sehr eifrigen und gefälligen Forstmanne im Harze, welcher vor etwa sieben Jahren mit Mühe in den Besitz einer kleinen Quantität Samen gelangte, denselben ausstreute und seitdem die jungen Bäume mit peinlicher Aufmerksamkeit pflegte und beobachtete, verdanke ich nähere Angaben über seine ersten Versuche, welchen sich jetzt umfangreichere anschließen. Zunächst spricht er sein Erstaunen über die gewaltigen Jahresschösse aus. Er folgerte aus dem schnellen Wachsthum der Douglas-Tanne, daß dieselbe sich vorzugsweise zur Ausfüllung von Windbrüchen eignen möchte. Für die Zähigkeit der jungen Bäumchen spricht, daß ein Exemplar jenes ersten Versuches, welches, in einer Kiste mit Erdballen verpackt, mir freundlicher Weise in diesem letzten Frühlinge aus dem Harze zugesendet wurde, vor meinem Fenster im Garten (Potsdam) lustig grünt und nach allen Richtungen hin neue Schösse treibt. Die Verbreitung der Douglas- [19] Tanne – vom südlichen Californien bis hoch hinauf nach dem nördlichen Oregon, wo sie sich in große Waldungen zusammendrängt – zeugt für die Fähigkeit derselben, dem bei weitem milderen deutschen Winter Trotz zu bieten.

Ich schalte hier eine genaue Beschreibung der Nadeln und Zapfen ein, wie ich sie meinem Freunde und Reisegefährten, dem Botaniker Dr. Newberry, nach dessen sorgfältiger Prüfung verdanke:

„Die Douglas-Tanne ist ein Baum von ungewöhnlichen Größenverhältnissen. Die Nadeln sind schmal, linealisch, einen Zoll lang, oben gefurcht, unten kahnförmig mit gebogenen Rändern und leichtmeergrün. Die Zapfen hängen nach unten, sind langeiförmig spitz und haben nur wenige große, schlaffe, vollkommen abgerundete Schuppen. Die verlängerten Samenflügel reichen über den Rand der Schuppen hinaus und endigen in drei Spitzen, deren mittelste die größte ist. Die Samenkörner sind elliptisch und beinahe halb so lang, wie der durchsichtige Flügel, dessen Rand ebenfalls ohne Einschnitte.“

Fruchtzapfen, Schuppen und Nadeln der
Douglas-Tanne.

Natürliche Größe.

Es unterliegt also keinem Zweifel, daß der Zapfen der Douglas-Tanne, wie bei der Fichte oder Rothtanne, nach der Bestäubung mit der Spitze nach unten weist und nach dem Ausfluge des Samens im Laufe des folgenden Jahres abfällt. Trotz des schroffen Gegensatzes im Wachsthum der beiden Holzarten – ich berufe mich wiederum auf meinen gefälligen Gewährsmann im Harz – sind ältere Forstleute geneigt, was ich für gewagt halte, in der Douglas-Tanne eine Taxusart zu erkennen. Diese Meinung kann sich wohl nur auf den mikroskopischen Bau des Holzes begründen. Und da heißt es denn allerdings in einem Separatabdruck aus dem „Tharander forstlichen Jahrbuch“: „Es fanden sich hier bei den von mir untersuchten Aesten – bis acht Millimeter Durchmesser – aus dem Forstgarten, sowohl in den Längsfasern des Frühlingsholzes, wie im Herbstholz, so deutliche und stark ausgeprägte spiralige Verdickungsbänder, wie ich sie, mit alleiniger Ausnahme der Eiben (Taxus), bei keinem anderen Coniferenholze gesehen. Dieses Tannenholz macht in dieser Beziehung den Uebergang zu den Eiben, und ließen sich die mikroskopischen Präparate viel eher mit denen von Taxus, als mit den übrigen Tannenhölzern verwechseln. Aelteres Stammholz zu untersuchen, hatte ich keine Gelegenheit.“ Und dann auf Seite 64: „Den Eiben schließt sich zum Verwechseln ähnlich das Holz von Abies Douglasii (Lindl.) an.“ („Das Holz der Coniferen“ von Dr. Julius Schröder, Dresden, 1862.)

Auf die an mich gerichtete Frage, ob die Douglas-Tanne einer ähnlichen Krankheit unterworfen, wie unsere Fichte, die bei üppigem Wuchs auf nicht ganz zusagendem Standort oft schon mit vierzig Jahren rothfaul wird, umbricht und in den Beständen dem Winde willkommene Lücken schafft, oder, wie die Lärche, sich bis auf vereinzelte Fälle gesund erhält, glaube ich am eingehendsten durch die Schilderung eines vielhunderjährigen Douglas-Tannenwaldes antworten zu können.

Ich selbst beobachtete die Douglas-Tanne im mittleren und südlichen Californien in den Pässen und an den Abhängen der Küstengebirge und der Sierra Nevada in zerstreuten und weniger umfangreichen Gruppen. Bewunderte ich aber schon dort ihren überaus kräftigen und zugleich graziösen Wuchs, der wohl kaum von dem einer zweiten Conifere Californiens, höchstens in den Größenverhältnissen von der Sequoia gigantea, übertroffen wird, so erregten mein Erstaunen die Schilderungen meines Freundes Newberry, welcher sich kurz zuvor an einer Expedition von dem Sacramento-Thal aus nach dem Columbia betheiligt hatte. Seine verbürgten Berichte vereinige ich hier mit meinen eigenen Beobachtungen.

„Im Thale des Columbiaflusses, namentlich in der Nähe der Mündung des Willamette, bildet die Douglas-Tanne Waldungen, von deren Dichtigkeit man sich, ohne sie gesehen zu haben, kaum eine annähernd richtige Vorstellung machen kann. Wie die Halme in einem Rohrfelde, stehen hier die mächtigen Baumriesen hart bei einander. Säulenähnlich und fast zweiglos erheben sie sich bis zu einer Höhe von zweihundert Fuß, wo erst das immergrüne Nadelwerk beginnt. Stämme, welche in der Höhe von vier Fuß noch zehn Fuß im Durchmesser halten und ihre äußerste Wipfelspitze dreihundert Fuß hoch hinaufsenden, gehören nicht zu den Seltenheiten. Die genaue Messung eines umgefallenen Baumes ergab folgende Ziffern: An der Basis sechs Fuß im Durchmesser; zweihundertachtzehn Fuß in der Länge, wo der angekohlte Stumpfen noch achtzehn Zoll im Durchmesser hielt. Das Holz ist härter, zäher und schwerer zu bearbeiten, als das der meisten anderen Tannen, und eignet sich vorzüglich zu Balken und Brettern. Sehr deutlich zeichnen sich die Jahresringe aus. Der verhältnißmäßig breite Zwischenraum zwischen denselben zeugt von ungewöhnlich schnellem Wachsthum.“

So weit Dr. Newberry. Es ist bedauerlich, daß er keine Gelegenheit fand, die Jahresringe eines dieser Riesenbäume zu zählen. Ob die von dem Stillen Ocean landwärts wehenden feuchten Winde eine Bedingung für das üppige Gedeihen der Douglas-Tanne ausmachen, ist eine Frage, die in absehbarer Frist entschieden werden dürfte. Genügt ihr die über Deutschland lagernde Atmosphäre – gegen Kälte ist sie ja abgehärtet – so wird sie nicht nur eine Zierde unserer Wälder, sondern auch einen viel versprechenden Zuwachs zu unserer Forstcultur bilden.

Und noch einmal das Bild der Douglas-Tanne. Indem ich mich in die Erinnerung der Tage eines vielbewegten Wanderlebens versenke, im Geiste die wild zerklüfteten Küstengebirge Californiens durchstreife, ersteht er vor mir, dieser edle Baum. Ich sehe ihn, wie er schlank, gleichsam trotzig, dem Himmel zustrebt. Ich sehe ihn mit seinem prächtigen Nadelschmucke und den graziös geschwungenen Zweigen. Durch seinen Wipfel haucht der feuchte Seewind, und in vieltausendstimmigem Chor singt und flüstert es zwischen dem harzig duftenden Immergrün. Es klingt wie Erzählen von entschwundenen Generationen, wie das bedachtsame Aneinanderreihen von Jahrhunderten, Jahrtausenden.

Balduin Möllhausen.




Blätter und Blüthen.


Er ist todt. (Mit Abbildung Seite 12 und 13.) Der Maler unseres Bildes führt uns in ein Trauerhaus. Durch die Thür zur Linken leuchten die Kerzen am Sarge des Todten, und wer von dort heraustritt, hat einen letzten Abschied genommen; zur andern Thür treten die „Leidtragenden“ herein, um die Trauernde zu trösten. Und die Trauernde selbst? Der Künstler hat es dem jungen Weibe in's Gesicht gezeichnet, daß sie ihr Liebstes auf der Welt verloren hat. – Er ist todt, der ihres Lebens Stolz und Stütze war. Weiß es der alte Graukopf, der vor ihr steht, noch immer nicht, hat es ihn keine eigene Erfahrung gelehrt, daß es für solches Wehe kein Trostwort giebt? Wenn auch – die Sitte gebietet ihm, sein Beileid mit Trost zu versüßen, und so sagen denn Alle, Einer um den Andern, die uralten Trostsprüche her, die, so einfach sie lauten, durch den Augenblick, dem sie dienen, auch ihre eigene Weihe empfangen.

Diese Weihe erfüllt den ganzen Raum. Es ist kirchenfeierlich hier. Der Schmerz um den Todten macht das Haus zum Tempel; er behaucht jedes Antlitz, und in jedem prägt er sich anders aus, bei den Greisen, bei den auf der Höhe des Lebens Stehenden und bei dem heranwachsenden Geschlecht; denn Alle sind hier vertreten. Am wenigsten davon berührt sind die Kinder. Und wie nahe im Kreislaufe des Lebens Alter und Kindheit wieder zusammengrenzen, vor uns ist's offenbar – denn: ist den Alten das Herz zu hart geworden für die hinreißende Kraft des Schmerzes, so ist das der Kinder noch nicht dafür geöffnet; ist für jene der Gang durch das Trauerhaus eine Abwechselung im alltäglichen Leben, so erfreuen die glücklichen Kinder auch in der Nähe des Sarges und der Klage sich an Allem, was eben Kinderfreude bietet. Das Kind ist ein starker Feind der Trauer; die junge Frau, welche zur Thür hereintritt als Leidtragende, selbst sie muß die Trauermienen zu freundlichem Lächeln zwingen, weil sie ein Kind begrüßt.

Er muß tief in das menschliche Herz gesehen haben, der Künstler, welcher ein so treues Abbild des Lebens von seiner ernstesten Seite zu schaffen vermochte. Und in der That, es war eine seltene Verbindung von Geist, Herz und Hand bei harmonisch vollendeter Ausbildung derselben in dem einen Manne, und es ist schmerzlich genug, daß leider auch von ihm die Ueberschrift dieses Artikels gilt: Er ist todt!

Eduard Kurzbauer, der Maler unseres Bildes („Vor dem Begräbniß“) hat das vierzigste Lebensjahr nicht erreicht. Am 13. Januar des vorigen Jahres ward er uns durch ein langes, entsetzliches Leiden entrissen. Eine Operation auf Tod und Leben (Absägung des Unter- und Oberkiefers) hatte er noch um anderthalb Jahr überlebt. Wir stehen erschüttert vor jeder jungen, gebrochenen Kraft, wo aber ein Begabter so mühvoll die Staffel erklommen hat, auf welcher sein Glück erst beginnen, Anerkennung und Lohn erst den kaum gebauten Herd festigen und ausschmücken sollten, da ist der Tod eine Grausamkeit, die selbst gegen die Härte der Naturgesetze zu erbittern vermag. Kurzbauer ist ein Wiener, 1840 geboren. Nachdem er die Realschule besucht und sich erst der Lithographie gewidmet, war er 1857 bis 1861 Schüler der Akademie. Ohne festes Ziel und bestimmten Plan, aber deshalb auch ohne Erfolg, versuchte er sich in verschiedenen Richtungen, bis ihm endlich mit seinem Bilde „Die Märchenerzählerin“ ein guter Wurf gelang, der ihm Piloty's Gunst erwarb und 1868 dessen Atelier öffnete. Nach zweijährigen Studien konnte er auf eigenen Füßen stehen,

[20] und er bewies dies mit einer seiner gelungensten Schöpfungen „Die ereilten Flüchtlinge“, ein Bild, welches in der Gallerie des k. k. Belvedere Aufnahme fand und durch Sonnenleitner’s Stich in weitesten Kreisen bekannt geworden ist. Der Name E. Kurzbauer’s hatte guten Klang gewonnen, und die Freude am Erfolge machte den Künstler fruchtbar. Eine Reihe Bilder („Der abgewiesene Freier“, „Grundlose Eifersucht“, „Der stürmische Verlobungstag“, „Die Wahlbesprechung“, „Die Weinprobe“, „Die Kartenschlägerin“ etc.) fanden auf den Ausstellungen Beifall und Absatz. Auch sein häusliches Glück wuchs; ein Kinderpärchen schmückte sein bescheidenes Heim. Da kam, 1877, die Krankheit; die schwere Operation in Aussicht, malte er das Bild, das wir heute unseren Lesern vorführen. Ob er damals schon im Geiste seine Gattin als Wittwe vor sich sah? Es gehörte das ganze Gefühl des tiefsten Trennungsschmerzes dazu, um ihn so ergreifend dem Antlitz der Trauernden eingraben zu können. Als Kurzbauer’s letztes großes Werk ist es deshalb vor Allem geeignet, uns die volle Schwere unseres Verlustes würdigen zu lassen. Die unsäglichen Schmerzen vor und nach der Operation hätten jedem Anderen den Pinsel aus der Hand gerissen: Kurzbauer hielt ihn fest; die Sorge um seine Lieben half ihm den körperlichen Schmerz überwinden, um noch das Mögliche für ihre Zukunft schaffen und vollenden zu können. Die Zeichnungen zu Gottfried Keller’s „Romeo und Julie“ entstanden in dieser Zeit, und im Sommer 1878, den er am Starnberger See zubrachte, vollendete er noch mit dem Oelgemälde „Eine Bauerndeputation“ seine letzte Arbeit. Ein klarer Blick für das Charakteristische an Menschen und Situationen, tiefes Verständniß des künstlerisch Verwerthbaren, gesättigte und klare Farbengebung – das sind die Vorzüge, welche der Künstler Kurzbauer für die Offenbarungen seines feinen und bedeutenden Geistes wie seines warmen, liebenswürdig empfindenden Gemüthes zur Verfügung hatte.




Amerikanischer Arbeiterverein für deutsche Einwanderer. Den deutschen auswandernden Arbeiter, der im Gefühl seiner Kraft und Willensstärke das alte Vaterland verläßt, beschleicht ein eigenthümliches Gefühl, wenn er als Einwanderer in Castle Garden, New-York, den amerikanischen Boden betritt, und unwillkürlich drängt sich ihm die Frage auf: wie wird es Dir hier ergehen? Wie und wo wirst Du hier Arbeit erhalten – und welche?

Nach den ersten üblichen drei Tagen, die jedem Einwanderer erlaubt sind, in Castle Garden zu bleiben, fällt er, wenn nicht irgend Jemand aus Zufall sich seiner angenommen, einem Agenten der vielen Gasthäuser der Greenwichstraße, in denen nur Einwanderer verkehren, in die Hände, und er verläßt diese Straße selten früher, als bis sein letzter Pfennig ausgegeben und sein vorletzter Rock verkauft worden ist; denn jedem Versuche, sich selbst Arbeit zu verschaffen, werden bis zu diesem Zeitpunkte in der raffinirtesten Weise allerlei Hindernisse in den Weg gelegt. Häufig ist er inzwischen an einem jener Kellerbureaux vorbeigegangen, deren Schild dem Arbeitsuchenden Arbeit verspricht, hat aber den Entschluß zu einem Besuche jedesmal instinctmäßig aufgegeben. Flößte schon die Physiognomie der Besitzer ihm wenig Vertrauen ein, so that es noch viel weniger das Aeußere jener Personen, die sich hier, dem Anscheine nach in gleicher Lage wie er, häuslich niedergelassen hatten. Täglich steigt nun die Noth unseres Landsmannes; die deutsche Gesellschaft hat sich seiner durch ein kleines Geschenk entledigt, der Gastwirth ihm sein Logis gekündigt; da drückt ihm der Besitzer einer jener Bureaux seine Karte mit der Versicherung seiner Hülfe in die Hand; er liest dieselbe und schwankt, doch der Abend findet ihn obdachlos – rasch entschlossen greift er nach dem sprüchwörtlichen Strohhalm des Ertrinkenden und will einen Versuch wagen.

Die ihm gegebene Karte lautet im Original:

American
Industrial Association,
Established for the purpose of
Obtaining Employment for Emigrants, Strangers and others.
Greenwich Street,
New-York.
Amerikanischer Arbeiterverein für deutsche Einwanderer.
John Barabas, Präsident.

Diese Gesellschaft besteht gewöhnlich aus drei Personen, dem Präsidenten, der unserm Freunde Müller, wenn wir ihn so nennen wollen, die Karte gab, und seinen beiden Helfershelfern, deren Einer das äußere Geschäft zu besorgen, während der Andere hauptsächlich die unter seiner Obhut sich befindenden Arbeitsaspiranten zu beaufsichtigen hat.

Da diese Arbeitsbureaux, wenn auch nicht in denselben Händen, doch an demselben Platze seit sehr langer Zeit bestehen, so haben sie sich unter einer gewissen Classe von Arbeitersuchenden – dazu gehören hauptsächlich die Aufseher der Eisenbahnarbeiter, der öffentlichen Bauten, Agenten von Schiffen und alle solche Leute, die sich schämen, ihren Arbeitern öffentlich einen kleinen Lohn zu geben, sich aber nicht schämen, heimlich sie um einige Dollars dieses Lohnes zu betrügen – eine ausgebreitete Kundschaft erworben. Hat unser Freund Müller seither von seinem aus Deutschland mitgebrachten Gelde oder dem Verkauf von Kleidern gelebt, so lebt er jetzt, wenn auch sehr ärmlich, von dem Verdienste, der ihm von John Barabas, Präsident, vorläufig nur in Aussicht gestellt ist. Hier wird er von Stunde zu Stunde auf den Mann vertröstet, der ihm als Retter in der Noth erscheinen soll; endlich kommt derselbe wirklich, mit ihm aber auch die Rechnung des Herrn Barabas. Und diese Rechnung ist wahrhaftig nicht billig: da sind, von den stattlichen Kosten der Verpflegung abgesehen, zwei Dollars Einschreibegebühren zu bezahlen, da hat Herr Barabas Auslagen neben der vielen Mühe gehabt, um ihm den Platz zu besorgen; da ist ein unbekannter Freund zu bezahlen, durch dessen Einfluß es gelang, die Arbeit zu erhalten, und dann soll der arme Teufel auch noch für Alles Gute, was er erhalten, generös sein und etwas zum Besten geben, alles Dies macht beinahe den Lohn des ersten Monats aus. Was ist zu machen? Unser Müller giebt schriftlich die Erlaubniß, diese Schuld von seinem Monatslohne abziehen zu lassen, sich tröstend, daß es ja nur für einen Monat ist, und daß er mit dem zweiten Monat zu sparen anfangen könne. Doch wie bitter wird er enttäuscht – sein neuer Herr giebt ihm noch vor der Zeit den Laufpaß! Und warum? Nun: um statt seiner zu Nutz und Frommen von Barabas und Compagnie einen neuen Gimpel für einen Monat anstellen zu können. Denn mit allen diesen Ehrenmännern, die sich ihre Arbeiter von Herrn Barabas holen, hat derselbe einen Contract geschlossen, wonach der Raub christlich getheilt wird.

Da die Empfehlung, durch ein solches Bureau Arbeit erhalten zu haben, ebenso wie die seiner Arbeitgeber, eine mindestens zweifelhafte ist, so wird es unserm Freunde Müller jetzt noch schwerer, Arbeit zu erhalten. Er wendet sich in seiner Noth zum zweiten Male an das Bureau. Jetzt ist er hier kein Fremdling mehr; als Camerad wird er von der dort versammelten Gesellschaft begrüßt; Herr Barabas ist schon weniger difficil im Geben eines kleinen Credits und verschafft ihm auch schneller Arbeit, da er ihn als einen seiner regelmäßigen Kunden zu betrachten anfängt, an dem er, je öfter er seine Plätze wechselt, desto mehr verdient, und bald arbeitet Müller nur noch für Barabas und dessen Freunde. Sein Ende ist vorauszusagen; es ist das Ende eines „Trunkenboldes, der in seinen Stiefeln starb“.

Herr Barabas weiß auch die Reclame trefflich zu benutzen; wie er zuweilen Hunderte von Arbeitern sucht, so empfiehlt er stets die „geschicktesten“ und „zuverlässigsten“ Arbeiter aller Branchen. Neben diesen Anzeigen findet sich zuweilen auch noch folgende: „Personen, die nach Europa oder anderen Welttheilen reisen wollen, finden freie Ueberfahrt durch J. Barabas.“

Der Andrang dazu ist natürlich ein großer. Nachdem die Aspiranten in Gasthäusern untergebracht worden, mit denen Barabas in Verbindung steht, das heißt den Gewinn theilt, werden auch diese Leute von Tag zu Tag hingehalten, indem das betreffende Schiff mit seiner Ladung noch nicht ganz fertig sei, jedoch täglich in See stechen könne. Endlich ist der ersehnte Augenblick gekommen, das Schiff bereit; er selbst bringt jetzt seine Pflegebefohlenen an Bord, theilt ihnen mit, daß für die ihnen versprochene freie Ueberfahrt sie natürlich irgend eine leichte Arbeit zu besorgen hätten: auf den Viehtransportschiffen zum Beispiel das Füttern des Viehes, und in seiner Gutherzigkeit schenkt er Jedem noch einige Dollars, damit der Unwille über die Täuschung nicht zu groß sei. Was Herr Barabas dabei verdient, läßt sich leicht berechnen. Die Rhederei hat als Lohn für diese Arbeit vielleicht fünfzehn Dollars ausgesetzt; Herr Barabas offerirt nun den Agenten, ihm die Leute für zehn Dollars zu stellen, wenn ihm dieselben pränumerando bezahlt würden. Der Agent verdient dabei fünf Dollars pro Mann, und unser Präsident nach Abzug des oben erwähnten Geschenkes etwa sieben Dollars pro Mann, und da er nachweislich in einer Woche zuweilen mehr als dreißig Personen auf diese Weise nach Europa expedirte, so sicherte ihm dies die hübsche Einnahme von einigen hundert Dollars. Herr Barabas und seine Collegen hüten sich streng, etwas zu thun, was sie mit den Gesetzen in Conflict bringen könnte, und wohl wissend, daß Einigkeit stark macht, halten sie wie die Kletten zusammen. Mögen alle in Castle Garden landenden Arbeiter gemahnt sein, die Greenwichstraße mit ihren Gasthäusern und Arbeitsbureaux so weit wie möglich links liegen zu lassen!




In Deutschland verloren. 1) Der sechszehnjährige einzige Sohn eines Berliner Fabrikarbeiters, Oskar Adolf Heermann, 1. November 1860 zu Koblyn (Posen) geboren, machte 1876 als Schiffskellner eine Fahrt von Hamburg nach Philadelphia, von welcher er im November nach Hamburg zurückkehrte. Seitdem ist er für seine armen trostlosen Eltern verschollen. Den Vermißten macht eine tiefe Narbe über den Augen und ein nervöses Zucken des Gesichts besonders kenntlich.

2) Am 9. October 1875 reiste der 28 Jahre alte Sohn des Schmiedemeisters Koch in Wittenberg, Hülfsprediger Fritz Koch von Parchim, mit 600 Mark in der Tasche ab, soll am 10. in Berlin gesehen worden sein und ist seitdem spurlos verschwunden. Ihn kennzeichnet eine Narbe am Munde.

Da in beiden Fällen trotz aller Bemühungen nicht die geringste Kunde erlangt werden konnte, so bitten wir um so dringender, jede Notiz darüber uns wissen zu lassen, als hier die Möglichkeit begangener Verbrechen nahe liegt.



Kleiner Briefkasten.


C. K–ft in Constantinopel. Das Tragen von Brillen ist, wenn es unter der Controlle eines tüchtigen Arztes geschieht, durchaus ohne Gefahr für die Augen. Die Frage, ob „gewöhnliche“ oder Krystallgläser? wird Ihnen ein dortiger Optiker besser als wir beantworten können.

H. A. in W. Allerdings ist Ihre Anonymität der Grund unseres Schweigens. Wir verlangen von unseren Correspondenten offenes Visir und ziehen briefliche Beantwortung stets derjenigen an dieser Stelle vor.

Abonnent in Dorpat. Ein Specialwerk über die Leipziger studentischen Verhältnisse kennen wir nicht.

H. D. in Friedrichsfelde und viele Andere. Wir möchten nicht wieder eingehender auf die Frage zurückkommen und nehmen nur summarisch von der Thatsache Act, daß verschiedentlich auch in der jüngsten Zugzeit der Wandervögel wieder aus Storch- und Kranichzügen heraus das Gezwitscher von bekannten Singvögeln gehört worden ist. Besten Dank für die Benachrichtigungen!

Kablr. in Wien. Die Novelle „Die weiße (nicht „schwarze“) Perle[WS 4] von Levin Schücking finden Sie in Jahrgang 1864, Nr. 29 bis 32.

H. P. B. Lesen Sie die betreffenden Mittheilungen im Bremer „Handelsblatt“ oder in großen Hamburger Zeitungen nach!



  1. Laubengang – hölzerne Gallerie; Gräd: breite, gepflasterte oder hölzerne Stufe.
  2. Weihnachtsvorstellung.
  3. Vorlage: filigranerner
  4. Der korrekte Titel lautet: Die schwarz-weiße Perle

Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Name „Silberminen“ ist für die Comstock-Minen der allgemein gebräuchliche. Obgleich diese etwa 60 Procent in Gold produciren, ist dasselbe doch in den gewaltigen Silberbarren für das Auge nicht erkennbar und muß später aus dem Silber durch Läuterungsprocesse geschieden werden.
  2. WS: Fehlenden Punkt sinngemäß ergänzt.
  3. Der Leser kann die letzteren Experimente in einem soeben in deutscher Sprache erschienenen Vortrage von W. Crookes, „Strahlende Materie oder der vierte Aggregatzustand“ (Leipzig, Quandt und Händel), auf welchen wir ausführlicher in dieser Zeitschrift zurückzukommen gedenken, beschrieben und abgebildet finden.
  4. Die beiden berühmten Violinvirtuosinnen, an welche die vorstehende Skizze erinnert, waren Töchter eines Malers Josef Milanollo in Savigliano bei Turin; Teresa, geboren 1829 verheiratete sich 1857 in Toulouse mit einem Geniecapitain Parmentier, Maria, geboren 1832, starb 1848 zu Paris. In den Jahren 1842 bis 1843 machte das jugendliche Schwesternpaar eine Kunstreise durch Deutschland.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)