Die Gartenlaube (1879)/Heft 47
[777]
No. 47. | 1879. |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.
Der dicke Herr kam auf ihn zu, lüftete den Hut und stellte sich als den Schiffsarzt vor.
„Mr. Walter?“ fragte er dann.
Walter verneigte sich bejahend.
„Hm,“ sagte der Arzt und musterte den Gatten seiner Patientin mit einem Blicke, der nichts Freundliches hatte. „Hm.“ Und er stülpte zugleich seinen Hut mit einer Entschlossenheit auf, die ganz das Gegentheil von Höflichkeit war. „Mistreß Walter sehr krank – bedenklich – kann für nichts stehen.“ Sein Blick streifte finster das Meer, als berechne er schon jetzt die Stelle, wo man sie nächstens einsenken werde. „Vollkommene Ruhe – jede Scene vermeiden – schon zu viel ertragen müssen.“ Hier sah er wieder auf den Ehemann, doch sehr von oben herab. „Pures Kind – hätten warten können – nichts zum Heirathen.“ Und plötzlich schnaubte er mit einer Art von Wuth: „Die geringste Rücksichtslosigkeit bringt ihr den Tod.“ Worauf er abermals kurz den Hut lüftete und mit dem Ausdruck sittlicher Mißbilligung so energisch vorüber ging, daß unter seinen markigen Schritten die Planken knarrten.
„Mein Gott!“ dachte Walter entrüstet, „hält der Narr mich für einen Kinderfresser?“ Und ganz aufgebracht kehrte er auf das Verdeck zurück. Doch sein Zorn hielt nicht Stand. Die Aussicht, daß er wohl Wittwer werden könne, bevor er noch eigentlicher Ehemann gewesen, bewegte seltsam sein Herz; obgleich er dadurch auf die bequemste Art der verhaßten Fessel los geworden wäre, vermochte er doch nicht, sich darüber zu freuen. Ein unbestimmtes Mitleid hatte sich in seine Seele geschlichen. Was mußte die Arme gelitten haben, um so innerlich verstört zu sein!
Und so jung sollte sie sterben! „Ein pures Kind“ hatte der Arzt sie genannt. Nein, das konnte Walter nicht wünschen, selbst nicht um den Preis seiner Freiheit. Gab es doch andere Mittel genug, die verbrecherisch erzwungene Trauung zu lösen! das einfache Verbrennen des Contractes hätte wahrscheinlich schon genügt. Welcher Gerichtshof konnte eine solche Scheinehe als gültig anerkennen? Verwirft doch selbst die Kirche die Eide, die unter dem Messer des Mörders geschworen werden!
Immer weicher wurde ihm das Herz; immer ungefährlicher, harmloser dünkte ihm, was ihm vor noch kaum zwei Stunden als ein unabwälzbares, entsetzliches Unglück erschienen. Das unterdrückte schmerzliche Klagen dieser Nacht wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn. Hätte er ihr nur ein freundliches Wort gesagt! Hätte er nur in irgend einer Weise sie beruhigen, sich ihr als Freund, als Schützer zeigen können! Aber nun sollte sie sterben, und er hatte sie nicht einmal gesehen.
Er dachte nicht mehr daran, ob die Natur sie schwarz oder weiß geschaffen. Der Schatten des Todes, der auf sie fiel, hatte in seinem Gemüth jeden Unterschied der Rassen von ihrem jungen Antlitz weggelöscht. – – –
Einige Tage waren vergangen. Die unmittelbare Gefahr, hieß es, sei gehoben. Dennoch schien der Arzt nicht zufrieden.
„Ist ein überaus zartes, schwaches Pflänzchen,“ sagte er eines Tages zu Walter, der ihn jetzt regelmäßig nach erfolgter Visite erwartete. „So ein Kräutchen ‚Rührmichnichtan!’ muß vor jedem Lüftchen gehütet werden. Schwere Last – kenne das – Geduld, Geduld, junger Mann!“ Er machte eine betrübte Geberde.
Das gesellige Leben auf dem Schiffe hatte sich inzwischen für Walter, der es, in seine Gedanken verloren, kaum bemerkte, weit erträglicher gestaltet. Mit dem Capitain stand er auf gutem Fuße, und auch die Damen, nachdem sie die Erfahrung gemacht, daß die von ihnen so sehr Bemitleidete ihr Mitleid durchaus nicht begehrte und hartnäckig dabei blieb, sich in ihrer Kabine eingeschlossen zu halten und den Eintritt allen wohlmeinenden neugierigen Rathgeberinnen zu verwehren, hatten es aufgegeben, den Gatten einer so starrsinnigen, undankbaren Frau durch weitere abweisende Strenge zu seiner Pflicht zurückführen zu wollen. Ja, manche fand sogar, es sei schade um den liebenswürdigen jungen Mann, daß er in die Fesseln einer Person gerathen sei, die seine Verdienste unmöglich schätzen könne.
Was den Capitain betrifft, so fand er des Botanikers seltsam fremdes Benehmen seiner Frau gegenüber hinreichend dadurch entschuldigt, daß er ein Deutscher sei und die Deutschen von Haus aus alle Narren seien, und da er sonst keinen Grund hatte, über seinen Passagier zu klagen, so fühlte er sich durch diese scharfsinnige Erklärung auch über dessen eheliche Verhältnisse vollkommen zufrieden gestellt.
Sehr hätte Walter gewünscht, von ihm etwas Genaueres über den Mulatten zu erfahren, allein der biedere Seemann versicherte unbefangen, daß er nichts über denselben wisse. Ein paar Wochen, bevor er in Galveston die Anker gelichtet, erzählte er, seien die besten Cabinen seines luxuriös ausgestatteten Schiffes für einen reichen Pflanzer und dessen kränkliche Gattin brieflich gemiethet und bezahlt und sei ihm auch die Stelle an der Küste bezeichnet worden, wo er sie erwarten müsse. Einige Tage habe sich die Ankunft der Passagiere verzögert; auch dafür sei er reichlich [778] entschädigt worden. Er könne sich nicht beschweren. Das Geheimniß und die eigenthümlichen Umstände bei der Einschiffung habe er sich durch die Kriegsereignisse und den leidenden Zustand der Dame erklärt, für welche die größten Rücksichten zu beobachten ihm noch besonders eingeschärft worden.
„Nun,“ setzte er mit sichtlicher Befriedigung hinzu, „ich denke, es ist Alles nach Wunsch gewesen. Die verwöhnteste Lady der ganzen Union könnte sich an meinem Bord nicht beklagen.“
Den Mulatten hatte er einfach für einen Sclaven des Pflanzers gehalten und war nur erstaunt gewesen, als dieser Letztere sich plötzlich als ein harmloser deutscher Gelehrter entpuppte.
Das Wetter blieb unverändert schön und der Wind günstig; die Fahrt ging demnach glücklich, wenn auch sehr einförmig von statten, und zur bestimmten Zeit kam Liverpool in Sicht.
Von seiner Frau hatte Walter noch immer nichts gesehen. Nur die Mulattin sah er manchmal vorüber huschen, immer eilig, mit gesenkten Augen, immer gewählt, meist in Seide gekleidet, aber immer auch mit den unverkennbaren Abzeichen einer dienenden Stellung. Sie schien nur Spanisch zu verstehen; wenigstens gehörten die seltenen leisen Worte, die Walter von ihr vernahm, alle dieser Sprache an; als er jedoch ein paar Mal versuchte, sie in derselben anzureden, erschrak sie so heftig und ihre Verwirrung war so peinlich anzusehen, daß er ihr nicht einmal recht zu zürnen vermochte, als sie ihm die Antwort schuldig blieb.
Als er aber eines Tages zu ungewohnter Stunde – es war die Zeit, die er auf dem Deck zu verbringen pflegte – in seine Kajüte hinunter ging, sah er zu seiner Verwunderung die Thür der Nebencabine offen stehen, wahrscheinlich um der stärkenden Seebrise einen freieren Zutritt zu gewähren.
Mit einer leichtverzeihlichen Neugierde – war es ja doch das Zimmer „seiner Frau“ – und einem Herzklopfen, das er die Minute vorher noch für unmöglich gehalten hätte, trat er sachte näher und gewahrte in dem äußerst behaglich ausgestatteten kleinen Raume eine weibliche Gestalt, welche, den Rücken gewendet und in ein langes weißes Morgenkleid gehüllt, in einem vergoldeten Schaukelstuhle ruhte, über dessen Rückenlehne ihr schwarzes, bläulich glänzendes Haar in reichen, schweren Wellen niederfloß. Die Mulattin war nicht zugegen. Walter hatte sie erst vor einer kurzen Weile in ihrer gewohnten eiligen Weise sich nach den unteren Regionen des Schiffes wenden sehen, und als jetzt eine matte, traurige, aber, wie es Walter dünkte, unendlich süße Stimme nach „Mammi“ rief, trat er mit einer unwillkürlichen dienstbereiten Bewegung selber ein paar Schritte vor.
Allein kaum war der erste Ton seinen Lippen entflohen, als die Gestalt jählings auffuhr und, als ob der Blitz vor ihr niederschlüge, mit einem durchdringenden, herzerschütternden Schrei auf die Kniee und dann immer tiefer, das Gesicht abwärts gewendet, wie bewußtlos auf den Teppich glitt.
Walter wich entsetzt zurück. In demselben Augenblick stürzte auch schon die Mulattin an ihm vorbei, drängte den Erstarrten ohne Umstände zur Thür hinaus und schlug sie dann klirrend vor ihm zu. Erschrocken fragte sich Walter, ob Melazzo seine Tücke so weit getrieben, ihn mit einer Wahnsinnigen zu verkuppeln.
Darüber konnte der Arzt ihn vollständig beruhigen. Der gute Mann war trostlos und sehr zornig über diesen Ueberfall, den der ungeduldige Ehemann, wie er sich ausdrückte, verrätherisch hinter seinem Rücken ausgeführt und der für seine Patientin die traurigsten Folgen haben konnte.
„Wahnsinn? – Possen! – Krämpfe – Rückfall – Dummheiten.“
Was den Rückfall anbelangt, so hatte der Arzt sich leider nicht geirrt; von nun an blieb die Thür zur Cabine wie hermetisch verschlossen, und Walter hütete sich wohl, sie auch nur zu berühren, wenn er daran vorüber ging.
Nun legte das Schiff endlich in Liverpool an, und weiteres Versteckenspielen war nicht mehr möglich.
Es war gegen Abend, als die Fluth der Passagiere sich in die bereit gehaltenen Boote ergoß, um an das Ufer gebracht zu werden.
Nur Miß Walter zeigte sich noch immer nicht.
Eine geraume Weile wartete der junge Gelehrte geduldig vor ihrer Kajüte; endlich öffnete sich deren Thür. Walter war doch überrascht von der überaus zarten Gestalt, die schüchtern und sich fest an der voranschreitenden Mulattin haltend, über die Schwelle trat. Mehr als ihre Gestalt sah er freilich nicht. Ein weiter schwarzer Capuchon, an dem vorne ein dichter Schleier von derselben Farbe befestigt war, verhüllte sowohl die Form ihres Kopfes wie auch ihr Gesicht. Ihre Kleider waren schwarz und deuteten auf tiefe Trauer.
Mit einem leichten Neigen des Hauptes beantwortete sie seinen Gruß und trachtete dann an ihm vorbei rasch weiter zu kommen. Aber dieser erste Anlauf erlahmte schnell; sie mußte sehr schwach oder über alle Maßen geängstigt sein, denn ihr Gang war auffallend unsicher, und schon nach den ersten Schritten lehnte sie sich erschöpft an ihre Begleiterin.
Eben wollte Walter ihr seinen Beistand anbieten, als schon schallenden Schrittes der dicke Schiffsarzt heran kam; er zog ohne Umstände den Arm seiner Patientin in den seinigen und führte sie auf das Verdeck. Dem Ehemann blieb nichts übrig, als hinterher zu folgen. Und oben war es um nichts besser, denn da wartete schon der Capitain, um Abschied zu nehmen und seiner Schutzbefohlenen selbst in das Boot zu helfen, was er alles mit einer besonders aufmerksamen achtungsvollen Ritterlichkeit vollbrachte.
Beim Abschied küßte der dicke Arzt die junge Frau, ohne erst viel zu fragen, väterlich derb auf beide Wangen; zwar über dem Schleier, doch fand Walter, daß diese letztere Ceremonie füglich hätte unterbleiben können.
Erst am Ufer beim Landen kam er selbst zu seinem Recht. Er half ihr aus dem Boot und in den Wagen, und als er dabei jedesmal ihre kleine zitternde Hand für die Dauer einer Secunde in der seinigen hielt, überwallte ihn ein brüderlich warmes Bedauern, so scheu und furchtsam erschien ihm der leichte, flüchtige Druck. Der Mulattin erwies er denselben Dienst und nahm dann ihnen gegenüber seinen Platz.
Und nun auf der Fahrt nach dem Hôtel, ihr so nahe und in dem engen Raum bei jeder kleinen Bewegung mit ihr in Berührung gebracht, fühlte der junge Ehemann sich wunderbar beklommen. Jedesmal, wenn von den Gaslaternen auf ihrem Wege ein Lichtstrahl in den Wagen fiel, irrte sein Blick unwiderstehlich zu der ihm so nahe verbundenen verschleierter Gestalt hinüber. Sie hatte den Kopf ermüdet an die Schulter ihrer Nachbarin gelehnt; die auffallend kleinen Hände, von langen schwarzen Handschuhen bedeckt, ruhten matt in ihrem Schooße, und in der ganzen Haltung lag neben einfacher kindlicher Anmuth eine so tiefe, namenlose Traurigkeit, daß es ihrem durchaus nicht hartherzigen Gegenüber gewaltsam an die Seele griff.
Im Hôtel bestellte er die nöthigen Räumlichkeiten, und nachdem er, soweit es ihm möglich war, für die Bequemlichkeit seiner Begleiterinnen gesorgt und sich selbst durch ein Glas Wein gestärkt, ging er aus, um sich die fremde unbekannte Stadt noch ein wenig in der Abendbeleuchtung zu besehen.
Bei seiner Rückkehr erfuhr er, daß die Frauen sich bereits zur Ruhe begeben. Er fragte, ob seine Frau (wie geläufig das Wort ihm bereits von der Zunge ging!) sehr leidend gewesen?
„Sehr blaß habe sie allerdings ausgesehen – poor sweet young lady!“ schloß das nette Stubenmädchen mit einem theilnehmenden Seufzer.
Walter fühlte keine Neigung zum Schlafen. Ein helles Kohlenfeuer brannte im Kamin und spiegelte sich gemüthlich in der stählernen Einfassung ab. Er setzte sich bequem davor hin, verlangte noch eine Flasche Wein und Zeitungen, und von den leichten Wölkchen einer Havannah umspielt, entwarf er gemächlich seinen Lebensplan. Einmal mußte er doch gemacht werden. Die Heimath war nahe, und was bis jetzt einem phantastischen Traume geglichen, trat nun unabweislich in den Kreis des täglichen Lebens ein.
Zum ersten Male entschloß er sich also, den Thatsachen gerade in’s Gesicht zu sehen, und siehe da: es wurde ihm gar nicht so schwer. Er hatte eben, wie es zu geschehen pflegt, sich ganz unmerklich an sein Unglück gewöhnt. Freilich brachte er seiner Mutter eine Schwiegertochter mit, gegen die sie sich wahrscheinlich mit Hand und Fuß gesträubt hätte, wenn man sie vorher gefragt. Allein sie war nicht gefragt worden; die Heirath stand da als vollendete Thatsache. Das Mädchen war noch ein Kind, der Einwirkung erziehender Elemente in keiner Weise entwachsen; zudem war sie krank, und seine Mutter, wenn auch keine gelehrte, doch eine warmherzige Frau, welche mit Recht in allen rein menschlichen Fragen das volle Vertrauen ihres Sohnes genoß. Sie [779] würde, er zweifelte nicht daran, so sehr auch ihre eigenen Wünsche darunter leiden mochten, die Kranke mit offenen Armen empfangen und sie hegen und pflegen, als sei sie ihr eigenes Kind. Leugnen ließ sich ja doch nicht, daß Walter, in gewissem Sinne, allein der Trauung mit ihr sein Leben verdanke. An die Frage des gemischten Blutes dachte er nicht mehr. Er hatte zuletzt die Ueberzeugung gewonnen, daß die Mulattin, trotz aller zärtlichen Intimität, nichts als eine jener Dienerinnen war, einstige Ammen oder Wärterinnen, welche in den Häusern reicher Pflanzer bis zu ihrem Tode eine bevorzugte Stellung genießen. Und floß ein Tropfen schwarzen Blutes in den Adern seiner Frau und spielte ihr Teint in Folge dessen etwas mehr in’s Gelbliche, als es in Deutschland gewöhnlich ist – je nun, so war das für einen Botaniker, vor dem wie vor Gott alle Blumen gleich sein sollen, auch eben kein Unglück zu nennen; es würde ihm sogar, wie Walter sich scherzend sagte, seiner gelehrten Vorurtheilslosigkeit wegen in den Augen seiner Collegen ein imponirendes Relief verleihen. Für jetzt war man indessen noch nicht so weit. Es ließ sich sogar voraussehen, daß der verwöhnten und allem Anscheine nach auch sehr verweichlichten Creolin die bescheidenen Verhältnisse eines deutschen Gelehrtenlebens unerträglich, eng und drückend erscheinen müßten, und daß ihr zunächst jedes Mittel recht sein werde, um sich daraus zu befreien. Walter war auch darauf vorbereitet, nachdem er sie der Obhut seiner Mutter übergeben, das Seinige zur Herbeiführung der Scheidung beizutragen. Indessen – war sie nur einmal erst daheim bei ihm, so gewöhnte sie sich vielleicht an ein einfaches Leben, und da ihm Heirathen doch unabwendbares menschliches Schicksal zu sein schien, so konnte aus dem verrückten Zufall sich am Ende für Beide noch eine ganz erträgliche Zukunft gestalten.
Wahrhaftig! Es fiel ihm selbst auf, wie es heute schon das zweite Mal war, daß er sich auf dieser Wendung ertappte! Was war aus seiner unüberwindlichen Antipathie gegen die Ehe geworden? Wo war überhaupt sein Haß gegen die Weiber hin? Nicht einmal daran dachte er, daß gerade seine Frau durch ihre Kränklichkeit sich weniger noch als jede Andere für die Mühen eines botanischen Wanderlebens eignen dürfte, und plötzlich stand es sonnenklar vor seiner Seele, daß er sogar eine ganz gute Meinung von dem kleinen, überspannten, unbegreiflichen Ding eingesogen, das sich so eigensinnig jeder noch so bescheidenen Annäherung von seiner Seite entzog. Es fiel ihm ein, welche respectvolle Theilnahme sie Jedem eingeflößt, der mit ihr in Berührung gekommen, dem Capitain, dem Arzt und sogar dem Stubenmädchen hier im Hôtel, welches sie doch nur wenige Minuten hatte sehen können. Nicht einmal Melazzo’s wilde unbändige Natur hatte sich diesem Zauber zu entziehen vermocht. Daß er sie geschont, und zwar trotz aller für ihn damit verbundenen Fatalitäten, war hinreichender Beweis von ihrer Macht über ihn. Gewiß, sie mußte Eigenschaften besitzen, welche Liebe und Achtung einzuflößen vermochten, und zwar in nicht geringem Grade. Wie weit Manches, das er selbst von ihrer Persönlichkeit wahrgenommen, und Anderes, das er, ohne es sich gerade zu gestehen, als selbstverständlich voraussetzte, diesen günstigen Eindruck mitbegründeten, das erörterte er weiter nicht.
Spät schlief er ein, und spät erwachte er mit heftigen Kopfschmerzen. Es war ein unfreundlicher, naßkalter, nebeliger Morgen, ein Morgen, wie ihn so trübselig nur Englands Himmel seinen Kindern bescheert. Trotz der vorgerückten Stunde mußte Licht angezündet werden. Schon das gab dem Aufstehen etwas Fremdes, Unbehagliches, und Walter war so recht in der Stimmung, in der man eine schlechte Nachricht noch zehnmal schlechter findet, als sie ist.
An dieser sollte es denn auch nicht fehlen. Als der Kellner das Frühstück brachte, lag neben der Tasse verheißungsvoll ein zierliches Billetchen: feines englisches Papier von zartem Duft überhaucht, hübsche Damenschrift, und schon das Siegel deutete auf etwas Sentimentales hin: ein Grab und eine Trauerweide.
Walter betrachtete das Briefchen um und um, zog die Augenbrauen in die Höhe und sah den Kellner fragend an.
„Mistreß Walter wollte den Herrn nicht stören“, sagte Jener mit einer steifen Verbeugung.
Da es sich für einen Ehemann nicht schickt, über irgend etwas, was die Gemahlin unternehmen mag, in Unkenntniß zu scheinen, so nickte Walter nur mit echt britannischem Phlegma und winkte den Kellner hinweg.
Sie konnte also schreiben. Zwar hatte er sich die Frage nie vorgelegt, doch wäre es ihm ganz natürlich erschienen, wenn die Antwort darauf verneinend ausgefallen wäre. Nochmals betrachtete er das Billet und lächelte gutmüthig über die ängstliche, schülerhafte Eleganz der Schrift.
„Sie eröffnet also selbst die Unterhandlungen,“ dachte er, während er langsam und doch neugierig das Couvert aufschnitt.
Aber das Lächeln schwand von seinen Lippen, sowie er einen Blick in das Schreiben geworfen; er sprang zum Glockenzug.
„Um wie viel Uhr ist meine – meine Frau abgereist?“ fragte er den zurückkehrenden Kellner mit Fassung.
„Gegen vier Uhr Morgens,“ lautete der Bescheid.
Walter wendete sich dem Fenster zu.
„Und sie hat nicht hinterlassen, mit welcher Bahn sie reist?“
„Nein. Die Lady war nur sehr besorgt, daß Mr. Walter nicht gestört werde, da er sehr ermüdet von der Reise sei.“
Wieder wurde der Mann hinweggewinkt und Walter stand da, als habe sich plötzlich ein Abgrund vor seinen Füßen geöffnet.
Nochmals überlas er das Billet, aber da stand es noch immer. Eine Täuschung war nicht möglich.
„Nie werden Sie mich wiedersehen. Vergessen Sie mich, als hätte ich nie gelebt! Nie wieder werde ich Ihren Lebensweg durchkreuzen. Aber nie auch werde ich vergessen, daß Sie mich aus der Gewalt eines Scheusals befreiten, das seine Hände mit dem Blute meiner nächsten Angehörigen befleckt hat. Wo Sie auch sein mögen: meine innigsten Wünsche für Ihr Glück, mein Dank, mein Gebet werden Sie überall begleiten.“
Da stand es; keine Silbe ließ sich davon wegklügeln. Die Schrift mochte noch an einer gewissen Unsicherheit leiden, über das Geschriebene selbst, über den Inhalt hatte sie gewiß nicht geschwankt. Und auch diese Schrift, trotz ihrer schülerhaften Aengstlichkeit, zeigte doch auch einen unverkennbaren festen Zug.
Was halfen nun alle schönen Vorsätze, mit denen er sich so süß in den Schlaf gewiegt, in der angenehmen Ueberzeugung, ein höchst edler Mensch zu sein? Es ist sehr ärgerlich, wenn Einem die besten Vorsätze in so fatal rücksichtsloser Weise vor die Füße geworfen werden; es ist ärgerlich, und Walter ärgerte sich denn auch.
Und nicht allein dieser Umstand, sondern fast noch mehr die Wandlung, die mit ihm selbst vorgegangen war, verdroß ihn. Vor ein paar Wochen noch wäre ihm diese Lösung des aufgedrungenen Verhältnisses als ein Glück erschienen, und nun auf einmal kam er sich wie beraubt, wie verrathen vor. Es war, um an dem eigenen gesunden Menschenverstande zu zweifeln. Er konnte es gar nicht fassen, wie er sich in so kurzer Zeit, ohne es nur zu ahnen, so sehr an das ungezogene kleine Ding hatte gewöhnen können, mit dem er nie ein Wort gesprochen, von dem er – und das war das Aergerlichste – auch nicht die Spitze des Näschens gesehen.
Und dann kam die Sorge: Wo war sie hin? Was sollte aus ihr werden? Daß sie hauptsächlich vor ihm geflohen, weil sie den Mörder ihrer Verwandten auch in dem Gatten haßte, den dieser Mörder ihr aufgezwungen, das dünkte Walter unzweifelhaft. Hätte er sie doch nur aufzuklären gesucht! Wäre er nur einmal energisch durch den Wall anerzogener Rücksichten gebrochen, die ja doch nur den Werth von Spinngeweben haben, wo es das Glück eines Menschen betrifft! Hätte er ihr nicht schreiben können, wenn sie es durchaus zur mündlichen Besprechung nicht kommen ließ?
Betrübt nahm er das Briefchen wieder auf. Sein Blick fiel auf das Siegel mit dem Grab und der Trauerweide. Ja, so dürfte es wohl kommen! Fort, um unbehelligt von ihm in irgend einem unbekannten Winkel zu sterben! Armes Kind! So jung, so krank! Ohne Freunde, ohne Pflege, fremd unter Fremden! Und er wußte nicht einmal, ob sie hinreichend mit Geld versehen sei, und doch hatte er eine bedeutende Summe ihres Vermögens in der Hand!
Er raffte sich auf, kleidete sich an und eilte auf das Schiff.
Der Arzt war verreist, Niemand wußte wohin. Der Capitain war zugegen. Damit war jedoch wenig geholfen. Mrs. Walter war als Mrs. Walter eingetragen worden; er hatte sie nie anders genannt, nie anders nennen hören – weiter wußte er nichts. Die herbeigerufenen Stewards behaupteten dasselbe und gaben sich sehr wenig Mühe zu verbergen, daß sie den so völlig verblüfft dastehenden Ehemann überaus komisch fanden.
[780] Walter schämte sich und that, was er gleich hätte thun sollen: er wendete sich an die Polizei mit dem Auftrage, die Entflohenen zurückzubringen.
Die Sache verzögerte sich. Allerlei Formalitäten, von deren Erfüllung die Polizei ihr Eingreifen dem zugereisten Fremdling gegenüber abhängig machte, verhinderten ein rasches Aufnehmen der Spur, und nachdem so der junge Mann länger als eine Woche in vergeblichem Warten höchst unbehaglich zugebracht und nichts als falsche Meldungen erhalten, benutzte er den nächsten Zug nach London, unterrichtete seine Mutter durch ein paar Zeilen von seiner nahen Ankunft und schiffte sich ohne weiteren Aufenthalt nach Deutschland ein. Was ihn früher oft genug gepeinigt, daß nämlich kein Mensch in der Heimath auch nur die leiseste Ahnung von seiner unseligen Heirath hatte, war ihm jetzt, bei der lächerlichen Wendung, welche die Angelegenheit genommen, eine unsägliche Erleichterung.
Zu Hause fand er Zerstreuung. Es konnte nicht fehlen, daß der junge Forscher, als er die wissenschaftlichen Kreise Einblicke in die reichen Schätze seiner Entdeckungen thun ließ, mit Gunst und Ehren überhäuft wurde. Die Ernennung zum ordentlichen Professor der Botanik an der Universität des Ländchens, in welchem Walter’s Vaterstadt lag, war die erste reife Frucht, die vom Baum der Erkenntniß herab dem jungen Gelehrten in den Schooß fiel. Das lenkte auch die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn; der „Urwaldreisende“ wurde der Modeheld des Tages. Eine Reihe öffentlicher Bankete feierte ihn, und um dem Mädchenflor des Städtchens ebenfalls Gelegenheit zu geben, sich vor dem wohlbesoldeten jungen Professor zu entfalten, veranstaltete der galante Magistrat zuletzt noch einen Ball. Neben den officiellen Festlichkeiten fehlte es selbstverständlich nicht an privaten, und nachdem der dankbare Held derselben sich durch dies Alles hindurch gegessen, gesprochen und getanzt, dankte er Gott, als er endlich in sein Studirzimmer und in den ungestörten Kreisgang seiner Berufspflichten einlandete.
Es folgte nun eine Zeit ruhigen genußreichen Schaffens. Seine Notizen und Tagebücher durchzusehen, die Lücken auszufüllen das flüchtig Entworfene zu vollenden, manchen Irrthum zu berichtigen und die letzte ordnende Hand an seine Sammlungen zu legen, das war seine nächste Aufgabe, und mit voller treuer Liebe gab er sich ihr hin.
Das hinderte jedoch seine Gedanken nicht, von Zeit zu Zeit nach Englands grünen Fluren abzuschweifen und dort nach etwas zu suchen, das er nicht mit Namen zu nennen wußte, das aber jedenfalls in seinem letzten Tagebuche als „Meine Frau“ hätte figuriren sollen, wenn dasselbe ganz erschöpfend gewesen wäre.
Die letzte Nachricht, die er von dort erhalten, war, daß die Gesuchte nirgends zu finden sei. Zugleich sprach sich der englische Polizeichef sehr ungehalten über die Ungenauigkeit der Angaben aus, welche der suchende Ehemann hinterlassen. Hatten seine Organe doch mehrmals junge Mädchen aus angesehenen Häusern arretirt, blos weil sie sich mit Dienerinnen farbigen Blutes auf der Gasse gezeigt. Ein paar Aufrufe, welche Walter unter der Hand in größere europäische Zeitungen hatte einrücken lassen, lieferten keinen besseren Erfolg. Die Wunde, welche das Entweichen der Niebesessenen seinem Herzen geschlagen, war allerdings nicht sehr tief. Und doch blieb in ihm eine Leere, ein unbestimmtes Sehnen, nicht gerade nach der Entschwundenen, aber doch von ihr herstammend.
Und zu der geheimen Peinlichkeit seiner Lage gesellte sich noch das Komische, daß er, der früher nie an den Eindruck gedacht, den seine Persönlichkeit etwa da oder dort machen könne, jetzt in der beständigen Angst schwebte, selbst durch die geringste Aufmerksamkeit vielleicht ein Mädchenherz unglücklich zu machen für seine ganze Lebenszeit.
Er vermied daher Frauengesellschaft, wo es sich nur thun ließ, und wo es sich nicht thun ließ, zeigte er sich so vornehm wortkarg und so langweilig unnahbar, daß er für so viel Tugend sehr bald als Lohn den Ruf erntete, ein beschränkter, verbissener Weiberhasser und obendrein ein eitler Geck zu sein – zwei Behauptungen, die seiner Mutter eine arge Demüthigung und ein bitterer Kummer waren.
Sie selbst konnte nicht viel um ihn sein. Bei acht Kindern, welche fast sämmtlich wiederum Familien hatten, gab es für eine Mutter der Ansprüche gar viele zu befriedigen. Zudem war ihr die eine Tochter kürzlich gestorben, und deren vier kleine Waisen nahmen natürlich der Großmutter Zeit und Gedanken fast völlig in Anspruch. Walter sah förmlich mit einer Art von Neid, wie der Schwager, der doch ein geliebtes Weib verloren, in seinen Kindern und in der warmen Fürsorge, welche sich von den Verwandten her um diese und um den Wittwer sammelte, noch immer glücklicher war, als er, der Vereinsamte.
Das ärgerte ihn. Er war überhaupt in diesem Punkte sehr empfindlich geworden. Sogar die zwei kleinen pausbackigen Schreihälse, welche dem einst für ihn bestimmten, nun anderweit vermählten blonden Bäschen ihre lärmende Existenz verdankten, ärgerten ihn jedesmal, wenn er sie sah.
So lebte er denn in sein Studirzimmer gebannt, nur mit seinen Büchern beschäftigt, und stärkte sich an dem Troste: für einen Gelehrten sei dies das würdigste Loos.
Aber auch hier verschonte man ihn nicht mit Versuchen, ihn zu verheirathen. Von allen Ehestifterinnen war seine Mutter die eifrigste. Trotz der schwarzen Melancholie, welche ihre Schleier täglich dichter über sein Gemüth breitete, mußte Walter lachen über diese allgemeine Sucht, ihn unter die Haube zu bringen, dann ärgerte er sich, und zuletzt hielt er es nicht mehr aus. Was alles Zureden seines Arztes nicht vermocht hatte, das vermochten die guten Freunde und das Heer sehnender Schönen, das hinter ihnen drein marschirte – wenigstens in Walter’s Phantasie – und an einem schönen Sommermorgen beschloß er, nolens volens sich der über ihn verhängten wohlgemeinten, aber unerträglichen Plage durch eine Badereise zu entziehen.
Du Ring an meinem Finger,
Mein goldnes Ringelein,
Ich drücke dich fromm an die Lippen,
Dich fromm an das Herze mein.
Ich hatt’ ihn ausgeträumet,
Der Kindheit friedlichen Traum;
Ich fand allein mich, verloren
Im öden unendlichen Raum.
Du Ring an meinem Finger,
Da hast du mich erst belehrt,
Hast meinem Blick erschlossen
Des Lebens unendlichen Werth.
Ich werd’ ihm dienen, ihm leben,
Ihm angehören ganz,
Hin selber mich geben und finden
Verklärt mich in seinem Glanz.
Du Ring an meinem Finger,
Mein goldnes Ringelein,
Ich drücke dich fromm an die Lippen,
Dich fromm an das Herze mein.
[781]
Ein Weib als Oberhaupt einer zeitgenössischen Religionssecte.
Beitrag zur Geschichte des modernen Aberglaubens.
Von Leopold Katscher.
Vor etwa zwei Jahren las ich in einem Londoner Blatte einen Brief, den Mrs. Girling, die Begründerin einer neuen „Shaker“-Secte, an den Redacteur gerichtet hatte und dem ich folgende charakteristische Stellen entnehme:
„Meine Ansichten über Kauf, Verkauf und Arbeit scheinen vielen vagen Vermuthungen zum Gegenstand zu dienen; ich will sie daher mittheilen. Gestattet uns das Gesetz der Liebe, einem Menschen behülflich zu sein, sich selbst zu Grunde zu richten? Sagt doch der Prophet Jesajah: ‚Wehe Jenen, die Haus an Haus, Feld an Feld fügen, bis sie keinen Raum mehr finden!’ und der Psalmist erklärt: ‚Die Erde gehört dem Herrn.’ Im neuen Testamente steht geschrieben: ‚Gehet, Ihr reichen Leute, weinet und heulet ob des Elends, das über Euch kommen wird! Euere Reichthümer sind verderbt. Euer Gold und Silber ist verrostet, und der Rost soll gegen Euch Zeugniß ablegen. Ihr habt Schätze auf Schätze gehäuft; der von Euch betrügerischer Weise zurückgehaltene Lohn der Arbeiter, die Euer Feld bebauen, schreit wider Euch …’ Wir dürfen solchen Leuten in ihrem Selbstruin nicht beistehen; wir dürfen ihnen durch unsere Arbeit nicht dazu verhelfen, Schätze anzuhäufen, die unfehlbar zu ihrer Verdammniß in der künftigen Welt führen müssen. Als Kinder Gottes sollten wir ihnen zeigen, wie sie irren, und wir thun das, indem wir uns weigern, für sie zu arbeiten und uns an dem im Kaufe und Verkaufe liegenden Unrecht zu betheiligen. Die Kinder Gottes sollten eine Familie bilden und nicht von einander kaufen oder einander Gewinn abnehmen. Jesus und seine Jünger kauften zwar, aber sie verkauften nicht. Wird es auch im Himmel Schacher geben? Wir tauschen mit unseren Brüdern aus, was wir und sie benöthigen, und wir kaufen anderweitig, was wir müssen, aber wir verkaufen nichts, denn wir könnten nichts verkaufen, ohne mit den Aussaugern der Armen in Berührung zu kommen. Ein Beispiel: ich verfertige einen Artikel und verkaufe ihn um vier Pence; der Käufer verkauft ihn für sechs Pence, der nächste Besitzer für acht Pence. Bis der Artikel in die Hände des armen Mannes gelangt, kostet er zehn Pence oder einen Schilling. Es ist sonnenklar, daß wir als Kinder Gottes ein dem Gesetze der Liebe so entgegengesetztes System nicht unterstützen können.“
Diese höchst seltsamen volkswirthschaftlichen Anschauungen verblüfften mich nicht wenig, und ich begann, mich für die sonderbaren Schwärmer zu interessiren, die solchen patriarchalischen Grundsätzen huldigten. Ich erfuhr, Frau Girling sei das Oberhaupt der „New Forest Shakers“, das heißt: der im „Neuen Walde“ bei London bivouakirenden „Schüttler“ oder „Hupfer“, einer Secte, die sich einerseits durch einen merkwürdigen Gottesdienst, andrerseits durch merkwürdige Lebensansichten auszeichnet, nicht viel über hundert Mitglieder zählt und ihrer Führerin mit unglaublicher Bedingungslosigkeit anhängt. Durch diese Mittheilungen wurde in mir der Wunsch rege, die Shakercolonie persönlich in Augenschein zu nehmen. Ich machte mich denn auch mit einigen Freunden an einem schönen Sommersonntag – ich wollte natürlich hauptsächlich dem Gottesdienste beiwohnen – auf den Weg nach New Forest. Einige Stunden lang irrten wir vergeblich umher, ohne das Heim der „Schüttler“ finden zu können, aber die Schönheit der Landschaft entschädigte uns für unsere Mühe und die Hitze. Wir waren schon im Begriffe, uns auf den moosigen Rasen zu legen, als endlich Jemand vorbeiging, der uns mittheilte, daß das Shakerdorf ganz in der Nähe sei, und uns die Richtung angab. Bald erblickten wir das große Gebäude, in welchem die ganze Secte früher wohnte, aus dem sie aber im Jahre 1875 vertrieben worden war, weil sie es unter ihrer Würde hielt, Miethzins zu bezahlen. Seither campirt sie in der Nähe in Zelten; trotz des Ungemachs, dem die Mitglieder seit ihrer Austreibung ausgesetzt sind, bleiben sie einander, ihrem Oberhaupt und ihrem Glauben felsenfest treu.
Fünfhundert Schritte nach dem Passiren jenes schönen Gebäudes vernahmen wir eine von jenseits einer Hecke her tönende, sehr laute, klare, ernst klingende Frauenstimme, welche ausrief: „Die Erlösung ist unentgeltlich; das ewige Leben ist ein Geschenk. Man kann es weder verdienen noch kaufen. Ich wiederhole: es ist ein Geschenk.“ Wir erriethen, daß der Gottesdienst bereits begonnen haben mußte, und schritten auf die Hecke zu; an einer Thür empfing uns ein anständig gekleidetes Mitglied der kleinen Gemeinde, das unsere Frage, ob wir eintreten dürfen, bejahte. Bald schloß sich uns ein höflicher, intelligenter Mann an, den wir für einen Besucher gleich uns hielten, der sich aber als ein die Honneurs machender Shaker entpuppte, denn auf die Bemerkung eines meiner Begleiter: „Die Leute haben da ein nettes Lager,“ erwiderte er: „Wir thun unser Mögliches.“
Er lud uns ein, dem Gottesdienste beizuwohnen, und führte uns zur Capelle, das heißt, zu einem der vier Zelte, die in Zwischenräumen von je dreißig Schuh aufgeschlagen waren; offenbar diente dieses Zelt nur an Sonntagen als Capelle, denn in der Nähe lagen Berge von Möbeln und Bettzeug aufgethürmt. Von außen bot das improvisirte Gotteshaus womöglich noch weniger Anziehendes, als die übrigen Zelte, aber ein Blick in’s Innere zeigte, daß es für Sonntagszwecke ganz gut hergerichtet war. Viele Fromme, die drinnen keinen Platz fanden, lauschten von außen mit größter Aufmerksamkeit. Wir Besucher blieben am Eingang stehen. Mit großer Geläufigkeit predigte Mrs. Girling ihrer aus Männern, Frauen und Mädchen bestehenden Gemeinde bald in rhetorischem, bald in conversationellem Ton über die „unentgeltliche Erlösung“. Sodann wurde bei guter Harmoniumbegleitung jener Wechselgesang recht hübsch gesungen, welcher der Seelsorgerin den Text zur Predigt geboten hatte.
Hierauf schritt unsere Heldin zur Auslegung der Anfangsverse des zweiten Capitels der Offenbarung Johannis, und sie erging sich dabei namentlich in einer drastischen Abhandlung über die verschiedenen Arten irdischen und himmlischen Lichtes. Von Zeit zu Zeit stimmten die Andächtigen ihr durch Ausrufungen zu, wie: „Lob dem Herrn!“ „Preisen wir ihn!“ u. dergl. m. Nachdem sie ihre Ungläubigkeit hinsichtlich des gleichzeitigen Bestehens der „sieben Kirchen“ auf das Energischste demonstrirt hatte (sie bemerkte unter Anderem: „Und wenn ein Engel vom Himmel mir versicherte, daß sie existirten, ich würde ihm keinen Glauben schenken“), kam sie auf den „Geist der Liebe und Wahrheit“ zu sprechen und erläuterte, wie derselbe von Christus auf Paulus, von diesem mittelbar durch eine lange Reihe von Erwählten auf Wesley, den Stifter der Methodistensecte, und von diesem auf sie selbst, Mrs. Girling, übergegangen sei.
Bevor sie dies jedoch heraussagte, lächelte sie kindisch, als schämte sie sich des zu Sagenden, und bemerkte: „Nehmt keinen Anstoß an dem, was ich Euch mittheilen werde!“ und sich plötzlich stolz aufrichtend, fügte sie hinzu: „Der Geist der Liebe und Wahrheit ging auf ein armes altes Weib über, auf mich. Ich sage Euch, die Verkündigung des Evangeliums hört bei mir auf. Christus hat mich inspirirt, und nach mir wird er herabkommen, um auf Erden zu regieren. Ich weiß das; ich bin dessen ganz sicher; möge also keiner von Euch einen Irrthum begehen!“
Dabei wurde sie häufig von den schon erwähnten Ausrufungen unterbrochen. Alsdann zog sie gegen die Nikolaiten zu Felde, und erklärte die Doctrin von der Auserwählung, wobei sie unter Anderem sagte: „Ihr alle seid auserwählt; wenn Ihr die Wahl nicht annehmt, so ist das Euer eigener Fehler. Die Natur sagt, daß Ihr sterben sollt, ich aber sage, daß Ihr leben müßt. Für die Erwählten des Herrn giebt es keinen Tod, nicht einmal einen physischen. Das hat mir Christus gesagt –“
Die Gemeinde unterbrach sie: „Gesegnet sei er!“
„Und ihm darf ich sicherlich glauben!“ fuhr Mrs. Girling fort.
Die Gemeinde antwortete stürmisch: „Ja!“
„Ihm darf ich glauben; darf ich?“ fragte sie nochmals.
„Lobet den Herrn; ja!“ erwiderte die Gemeinde. In diesem Augenblicke bemerkte die Predigerin, daß ein von der Hitze überwältigter Bauer einzuschlummern begann. Sofort ließ sie ihr Erbauungsthema im Stiche und rief dem Manne zu:
„Wenn Du hier schlafen willst, solltest Du Deine Nachtmütze mitbringen.“
Nun wollte sie ihre Predigt fortsetzen, aber es entstand ein allgemeines Gekicher, in das sie selbst alsbald mit einstimmte; sie [783] entschuldigte sich sodann mit den Worten. „Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten, als ich sah, wie rasch Eure soeben noch so langen Gesichter einen anderen Ausdruck annahmen.“ Mit Bezug auf die Lage der Gemeinde äußerte sie: „Alle Geschöpfe Gottes sind gut, und wir essen und trinken, was wir bekommen können – warum auch nicht? Zuweilen essen und trinken wir sehr wenig, zuweilen gar nichts, aber wir sind’s zufrieden. Das verborgene Manna kommt. (Gemeinde: ‚Preiset Gott!’) Es kommt irgendwie; ich sage Euch, irgendwie, und wir sind befriedigt.“
Sie schloß ihre seltsame oratorische Leistung mit den Worten: „Ich bin vollkommen, und auch Ihr seid es, wenn Ihr Gottes Kinder seid. Ihr kennt mich, Ihr seht mich, das wahnsinnige Weib, die fanatische Mrs. Girling; nun denn, ebenso wie Ihr mich kennt und seht, habe ich unsern Herrn Christus gekannt und gesehen. Darum dauert aus!“
Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß die Gemeinde von der Predigt einen tiefen Eindruck empfing; dies bezeugten die fortwährenden eifrigen Ausrufungen der unserer Dame näher sitzenden Andächtigen ebenso, wie die gespannte Aufmerksamkeit, mit der die hinteren Reihen der Anwesenden ihren Worten schweigsam lauschten. Nach der Predigt kündigte Mrs. Girling „Die vierzigste Hymne des amerikanischen Buches“ an, ein von Märschen, Fehden und Siegen sprechendes, nach einer lebhaften Melodie gesungenes Schlachtlied, dessen einzelne Strophen auch ausgelegt wurden. Bis dahin war der Gottesdienst der Shakers, wenn man von der Seltsamkeit der Predigt absieht, in seinen Aeußerlichkeiten von dem vieler anderer englischer Secten nicht wesentlich abgewichen. Nun aber kam etwas ganz Apartes an die Reihe.
Kaum hatte Frau Girling einige Sätze eines Schlußgebets hergesagt, so zog sie auf die sonst nur hysterischen Personen eigene Weise den Athem ein, verließ die Plattform, die ihr zur Kanzel gedient, und hüpfte – wobei die Gemeinde mit besonderer Wärme ausrief: „Gott sei gepriesen!“ – bald mit dem einen, bald mit dem andern Fuß umher, gleichzeitig mit den Armen heftig herumfuchtelnd und kurze Erbauungssentenzen hervorstoßend. Sie blieb nicht lange allein; denn bald stieß eine junge Frau, die in einer Vorderbank saß, ebenfalls einen hysterischen Schrei aus, erhob sich und tanzte auf dieselbe Weise; nur waren ihre Bewegungen elastischer als die des alten Weibes. Der Gegensatz zwischen den zwei hüpfenden Gestalten und den sie umgebenden feierlich-ernsten Gesichtern deren Besitzer einander zuflüsterten, „der Geist“ sei über jene Beiden gekommen – dieser Contrast reizte fast unwiderstehlich zum Lachen und es bedurfte unserseits der strengsten Selbstbeherrschung, um nicht in ein die Rücksichten der Schicklichkeit verletzendes Gelächter auszubrechen. Der Zwang war aber so groß, daß wir einander zuwinkten und uns lieber entfernten.
Unser Cicerone führte uns in der kleinen Colonie umher. Die Zelte der Männer waren weit reinlicher und behaglicher, als die der Frauen und Kinder. Die Zelte müssen offenbar übervölkert sein, da hundertzwanzig Personen Raum darin finden sollen; viele Möbelstücke, Schachteln und Geräthe lagen denn auch in Folge Raummangels im Freien der Unbill des Wetters ausgesetzt. Gekocht wurde sehr wenig, denn die ganze Gemeinde besaß nur einen einzigen, kurz vor unserem Besuche von einem Eisenhändler gespendeten Kochofen, und selbst dieser wurde nur wenig benutzt. Ein kleines Kartoffelfeld, ein Dutzend Spanferkel, zwei Pferde und zwei Karren machten den ganzen landwirthschaftlichen Reichthum der Shakers aus. Dennoch waren dieselben an Wochentagen keine Faullenzer; zumeist Handwerker, arbeiteten sie in ihren verschiedenen Fächern theils was sie für sich benöthigten, theils was sie in der Stadt austauschen konnten. Der Gottesdienst war bald zu Ende, und die Gemeinde kam aus der Capelle, um sich zu sonnen. Während die nett gekleideten und reinlichen Kinder spielend herumliefen, bildeten die ebenfalls sorgfältig toilettirten Erwachsenen plaudernde Gruppen.
Als Mrs. Girling uns mit einem ihrer Jünger beisammen sah, kam sie, uns die Hand reichend, auf uns zu. Sie war wie verwandelt; hätte sie nicht dasselbe schwarze Seidenkleid und dieselbe turbanartige, rosa und weiße Haube getragen, wir hätten kaum geglaubt, daß das kluge, intelligente Gesicht, die humorvollen Augen und die ruhige Art und Weise derselben Dame angehören, die soeben noch da drinnen gepredigt und getanzt hat. Die zärtlichen liebevollen Blicke, die ihr nachgeworfen wurden, ließen den Umfang ihres Einflusses ermessen. Auf meine Frage, ob das lebhafte Predigen, Singen und Tanzen nicht ermattend wirke, antwortete sie:
„Erschöpfung! Sehen Sie jene Blätter, die der Wind hin und her bewegt? Sie sind nicht ermüdet, weil die Kraft ihnen von außen her kommt. So verhält es sich mit uns; der Geist wirkt auf uns ein, sodaß wir nicht nur keine Müdigkeit, sondern sogar frische Kraft fühlen.“
„Waren Sie sich Ihrer Reden bewußt, als Sie ‚im Geiste’ waren?“
„Ja, aber ohne vorher zu wissen, was ich sagen würde. Der Geist inspirirte mich.“
„Warum bleiben Sie in dieser Gegend, da Sie kaum hoffen können, jenes große Gebäude wieder zu erlangen?“
„Wir wagen es nicht, die Rechte des Herrn aufzugeben. Für uns verlangen wir wenig, aber Ihm müssen wir treu bleiben; sobald er kommt, wird Alles gut sein.“
„Erwarten Sie seine Ankunft bald?“
„Tagtäglich.“
All die vielen Fragen, die wir noch stellten, wurden in demselben Geiste beantwortet.
Es ist darüber gestritten worden, ob diese sich für die unmittelbare Vorläuferin des „Königs der Könige“ ausgebende Frau eine Betrügerin oder das Opfer einer fixen Idee sei. Wir glauben entschieden, für das Letztere einstehen zu sollen, denn Mrs. Girling hat offenbar keinerlei Interesse, einen solchen absichtlichen Betrug zu verüben; schon die Eingangs angeführten volkswirthschaftlichen Principien scheinen uns eine solche Annahme auszuschließen. Auch verschiedene aus der Geschichte der Secten zu schöpfende Analogien sprechen für unsere Ansicht. Thatsache ist, daß nur der Einfluß der Mrs. Girling die Gemeinde, die sich in so precärer Lage befindet, zusammenzuhalten vermag, und zweifellos wird die Secte der Shakers über kurz oder lang sich wieder auflösen.
Die seit längerer Zeit über die Verschlechterung des amerikanischen Petroleums laut gewordenen Klagen, die sich zunächst hauptsächlich auf geringere Leuchtkraft und rascheres Wegbrennen in den Lampen bezogen, haben in vielfachen Unglücksfällen von denen einige der schlimmsten auch in den Tageszeitungen beschrieben worden sind, schreckliche Unterstützung gefunden. In der Regel handelte es sich um plötzliche Entzündungen und Explosionen beim Eingießen von Petroleum in eine noch brennende Lampe oder bei allzu nahem Leuchten mit einem Lichte; hin und wieder scheint auch das Petroleum einer umfallenden, einer umhergetragenen oder selbst einer stillstehenden brennenden Lampe sich entzündet zu haben. Von den letztaufgeführten Fällen sind mir keine sicher bekannt. Häufiger sind Explosionen beim Eingießen von Erdöl – gewöhnlich von Resten – aus der Flasche oder Blechkanne in Küchenherde und Oefen, was leichtsinniger Weise außerordentlich häufig, und zwar nicht blos von einfältigen Dienstboten, geschieht, um die vorhandene Gluth oder Kohlenreste rasch zu hellem Brennen zu bringen.
Das rohe Petroleum, wie es von der Natur geliefert wird, besteht bekanntlich aus einem Gemenge von Körpern, welche nicht in gleicher Weise die Wärme vertragen. Seine Destillation oder Reinigung besteht darin, daß das rohe Petroleum stufenweise höher erwärmt wird und die auf jeder Stufe entweichenden Dämpfe in einer abgekühlten Vorlage aufgefangen und wieder in flüssigen Zustand übergeführt werden; von den zuerst ausgeschiedenen Körpern wird das Ligroin bekanntlich als Leuchtstoff, der Petroleumäther unter Anderm zu Einreibungen bei allerlei schmerzhaften Krankheitszuständen, das Benzin als Fleckenwasser zur Auflösung von fettigen, harzigen und anderen Stoffen verwendet. Nach Entfernung dieser flüchtigeren Körper geht das [784] Petroleum in die Vorlage, während noch ein ölartiger Stoff, das Vulcanöl, zurückbleibt. Wenn nun das Petroleum nicht genügend von den flüchtigern Bestandtheilen befreit, also nicht genügend gereinigt worden ist, brennt es weniger hell und weiß, rußt leicht und entwickelt schon bei mäßiger Erwärmung, zuweilen sogar schon in der Zimmerwärme brennbare Dämpfe, die sich bei stärkerer Erwärmung, also namentlich auch, sobald sie mit glühenden Kohlen oder einer Flamme in Berührung kommen, plötzlich entzünden. Da sich dieselben hierbei stark und mit bedeutender Gewalt ausdehnen, zerstören sie explosionsartig die Behälter und wirken durch ihre große Hitzeentwickelung in weitem Umkreise verbrennend und entzündend.
Die außerordentliche Entzündbarkeit der Ligroindämpfe, welche man an den Ligroinlampen beobachten kann, hat schon zu vielen Unglücksfällen Veranlassung gegeben. Nicht minder gefährlich ist das Benzin. Bekanntlich werden Handschuhe, seidene Bänder u. a. m. in Benzin (auch Fleckenwasser genannt, obschon es kein Wasser enthält) gewaschen, weil dies alle Fett-, Schweißflecken etc. wegnimmt, ohne die Farben zu zerstören. Die Benzindämpfe verbreiten sich, wie der Geruch lehrt, mit großer Geschwindigkeit in der Luft und können sich an irgend einem in der Nähe befindlichen Lichte und selbst an glühenden Kohlen entzünden. Dies kommt sehr häufig vor, wenn Handschuhe bei Licht in Benzin gewaschen werden, wobei die Wäscherinnen, welche die Handschuhe dabei an den Händen haben, sich sehr bösartig verbrennen; ebenso wenn die gewaschenen Handschuhe oder andere auf diese Art gereinigte Stoffe über Kohlen getrocknet oder vermittelst des Kohleneisens geplättet werden sollen.
Gut gereinigtes Petroleum oder Erdöl entwickelt erst bei höherer Temperatur brennbare Dämpfe, und ein amerikanisches Gesetz schreibt vor, daß kein Petroleum in den Handel kommen soll, welches bei einer Temperatur unter 100° F. = 38° C. = 30,2° R. brennbare Dämpfe entwickelt. Trotz dieses Gesetzes kommen aber auch schlechtere Sorten nach Deutschland, und da das Petroleum obendrein nachträglich durch Zusatz billigerer, leichter siedender und entflammbarer Oele verfälscht werden kann, so kommen in Deutschland, wo ein Gesetz über einen bestimmten Entflammungspunkt des Petroleums bis jetzt nicht besteht, thatsächlich viele Petroleumsorten vor, welche den amerikanischen Anforderungen nicht entsprechen. Nach Meyer und Finckelnburg (Gesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln etc.. Mit Erläuterungen. Berlin. Springer, 1880) ist neuerdings Petroleum untersucht worden, das schon bei 13°, 15°, 22° C. entzündliche Dämpfe entwickelte. Von achtzehn Petroleumsorten entsprach nur eine dem amerikanischen Gesetz.
Abgesehen von der geringeren Leuchtkraft, wodurch das schlechtere Petroleum den Augen nachtheilig wird, von dem Ruß und anderen der Luft sich beimengenden Stoffen, welche die Gesundheit beeinträchtigen, bedingen diese leicht flüchtigen und entflammbaren Beimengungen die Gefahr der Explosionen und Verbrennungen, welche nicht bestanden, so lange man es nur mit gut rectificirtem Petroleum zu thun hatte. Damals durfte man also mit dem Petroleum dreister umgehen als jetzt, und that es immer häufiger, je mehr man in Folge des täglichen Umgangs die im Anfang noch beobachtete Vorsicht allmählich außer Acht ließ.
So wurde täglich unzählige Male aus Flaschen und Kannen Erdöl auf die im Herd oder Ofen glimmenden Kohlen gegossen, ohne daß man danach etwas Anderes gesehen hätte, als ein rascheres und lebhafteres Anbrennen der Feuerung. In neuerer Zeit aber kommt es öfters vor, daß hierbei mit plötzlichem Aufflammen das Gefäß fortgeschleudert und zersprengt wird, wobei es dann Verletzungen und Verbrennungen giebt.
Obwohl es ferner auch früher an vielen Orten ausdrücklich geboten war, Petroleum nur bei Tageslicht vom Faß zu holen, und es in jedem geordneten Hausstande für selbstverständlich galt, daß die Erdöllampen nur bei Tage gefüllt wurden, so ist doch gegen beide Gebote, namentlich gegen das letztere, so unzählige Male ohne Schaden gesündigt worden, daß das Petroleum schließlich kaum noch als feuergefährlicher Körper angesehen wurde. Jetzt aber liest man oft genug von einem schrecklichen Unglück durch Auffüllen einer Petroleumlampe oder eines Petroleumkochers, und ein solches ist selbst bei gelöschten Apparaten möglich; es genügt, daß nur ein Licht in der Nähe brennt. Die Kocher sind in dieser Beziehung viel gefährlicher, als die Lampen, weil bei letzteren der Oelbehälter nicht so bedeutend erwärmt wird, wie der ganz metallene Kocher, und weil auch oft im Kocher schlechtere Erdölsorten verbraucht werden, die wegen ihrer geringen Leuchtkraft und rußenden Flamme für Lampen nicht taugen.
Die in Folge der Wärme entwickelten, entzündlichen Gase entweichen aus den offenen Oelbehältern, sobald dieselbe neu gefüllt worden sind, entzünden sich blitzartig schnell in ihrer ganzen Masse, zersprengen gewöhnlich die Gefäße, schleudern das Erdöl nach allen Richtungen umher und entflammen vermöge ihrer großen Hitze alle brennbaren Stoffe, die dann wegen ihrer Tränkung mit Erdöl fast unlöschbar und mit außerordentlicher Hitze brennen, sodaß es dabei in der Regel die schlimmsten Verletzungen giebt. Denn selbst wenn es wegen raschen Ausbrennens gar nicht oder nur an einzelnen Körperstellen zu tieferen Brandwunden kommt, kann die hochgradige Hitze, ähnlich wie Verbrühungen durch heißen Wasserdampf von Dampfkesseln, große Flächen der Haut mit dem in ihnen enthaltenen Blute derartig zerstören, daß das Leben dabei nicht erhalten werden kann. Das Alles geht aber so blitzschnell, daß selbst das rascheste Löschen durch festes Einhüllen in Decken u. dergl. m. zu spät kommt, um das Unglück zu verhüten oder auch nur wesentlich zu vermindern.
So dringend wünschenswerth es nun ist, daß auch in Deutschland der Verkauf von minderwerthigem Erdöl bei hoher Strafe verboten und zum Zwecke der Durchführung der gesetzlichen Bestimmungen ein niedrigster Entflammungspunkt vorgeschrieben werde, so ist doch unreines, leicht brennbare Stoffe enthaltendes Petroleum jetzt so verbreitet, daß noch außerordentlich viel Unglück geschehen kann, ehe der gesetzliche Schutz eine durchgreifende Wirkung auszuüben vermag. Da andrerseits nicht jeder Privatmann sich einen Apparat zur Untersuchung von Petroleum anschaffen, noch die Untersuchung selbst anstellen kann, so wäre es gut, wenn in jeder Stadt durch Anschaffung geeigneter Apparate und Bestellung vereidigter Sachverständiger Gelegenheit zur Untersuchung von Petroleum geboten würde.
So lange man aber noch, wie es jetzt der Fall ist, der Gefahr ausgesetzt bleibt, feuergefährliches und leicht entzündliches Petroleum unwissentlich zu kaufen und in Gebrauch zu nehmen, gebietet die Vorsicht, jedes Petroleum so zu behandeln, als ob es höchst feuergefährlich sei. Man darf es also nur an Orten aufbewahren, an welchen es vor Entzündung nach Möglichkeit gesichert ist; man darf ferner Lampen und Kocher unter keiner Bedingung bei Licht füllen, noch Kinder oder andere nicht durchaus zuverlässige Personen mit Petroleum selbst, mit den Lampen und Kochern hantieren lassen. Vorsicht ist auch beim Umhertragen dieser Apparate zu beobachten; für Kinderstuben und andere Gelegenheiten, wo die Gefahr des Umstürzens nahe liegt, sollten ausschließlich Hängelampen gebraucht werden.
Schutzvorrichtungen, die z. B. die Flamme auslöschen, sobald eine Lampe in’s Umfallen kommt, vermag ich keinen großen Werth beizulegen: einmal ist dies, wie die Erfahrung zeigt, bei weitem die seltenste Ursache von Unglücksfällen, die bei Kochern kaum vorkommen kann; zweitens erlischt die Flamme von selbst, wenn das Erdöl gut ist, oder bedingt wenigstens keine Gefahr, während brennbare Dämpfe dadurch nicht verhindert werden, sich an einer andern Flamme zu entzünden. Dagegen wird die Industrie es sich angelegen sein lassen müssen, sowohl die Beleuchtungslampen wie die Kochapparate so einzurichten, daß die Erwärmung der Petroleumbehälter und ihres Inhalts möglichst vermieden wird, wozu angemessene Höhe der Brenner und Dochthülsen, sowie Durchbohrung der Behälter zwecks Durchleitung eines abkühlenden Luftstroms zur Speisung der Flamme nach Art der von Wollenberg erfundenen, in der „Leipziger Illustrirten Zeitung“ Nr. 1804, 26. Januar 1878 beschriebenen Petroleumbrenner am besten beitragen.
Es versteht sich von selbst, daß die höchst feuergefährlichen und leicht entflammbaren Dünste entwickelnden Destillationsproducte des rohen Erdöls, also namentlich Benzin oder Fleckwasser, Ligroin, Petroleumäther etc. mit noch größerer Vorsicht aufbewahrt und behandelt werden müssen, als das Petroleum selbst. Sie sollten auch niemals anders als mit einer gedruckten, jeder Flasche aufzuklebenden Warnung vor ihrer leichten Entflammbarkeit und der großen Feuergefährlichkeit ihrer Dämpfe verkauft werden.
[785]
Am 22. November 1780 – nicht 1782, wie man bisher stets angenommen – kam auf dem Schwarzwalde in der eine halbe Stunde von dem Städtchen Meßkirch entfernten „Thalmühle“ ein kräftiger Junge zur Welt, dem seine schon mit sieben Kindern gesegneten Eltern den Namen Conradin gaben. Conradin Kreutzer, des Müllers Sohn, hat sicher nicht melodischer geschrieen, als andere Kinder seines Alters. Aber noch hatte er die ersten Höschen nicht zerrissen, da bemerkte schon der Meßkircher Schulmeister an seinem Schüler eine kräftige und wohlklingende Stimme, und als dieser sieben Jahre zählte, begann denn auch Herr Johann Baptist Rieger, ein tüchtiger Musiker, den Knaben im Clavier- und Geigenspiel, wie im Gesange zu unterrichten.
Er machte sehr schnelle Fortschritte und setzte Eltern und Landsleute durch die Bravour in Erstaunen, mit der er an seinem achten Geburtstage in der Kirche bei der Messe ein großes Solo sang. Daß er nicht dazu bestimmt sei, auf der Thalmühle sein Leben zu verbringen, das stand jetzt schon fest. Katholische Eltern aus der Landbevölkerung wußten aber damals für einen talentvollen Sohn keine andere Bestimmung, als ihn „geistlich studiren“ zu lassen.
Das Jahr 1789, von dem eine neue Epoche der Weltgeschichte ihren Ausgang nahm, sah Conradin Kreutzer die unterste Stufe des künftigen priesterlichen Berufes betreten: er wurde im Kloster Zwiefalten als Chorknabe aufgenommen. [786] Die Benedictinerabtei Zwiefalten, im stillen Wiesenthale der Ach, nahe bei Riedlingen gelegen, war durch ihre große und prächtige Orgel, an welcher der Müllerssohn von Meßkirch nun die Register ziehen und das wuchtige Pedal treten lernte, weithin berühmt. Hier ward ein Mönch des Klosters sein Lehrer, Ernst Weihrauch, der für den tüchtigsten Contrapunktisten des ganzen Schwabenlandes galt. Dieser ausgezeichnete Mann übte den anregendsten Einfluß auf Kreutzer aus, fand sich aber auch seinerseits hochbeglückt durch die Empfänglichkeit des Jünglings, seine leichte Auffassung, seinen eisernen Fleiß.
Der Drang des jungen Musikers, die Fülle seiner Gedanken und Empfindungen zum Ausdrucke zu bringen, war so lebhaft, daß er schon kurz nach seinem Eintritt in das Kloster eine jener Symphonien zu componiren versuchte, wie sie damals während der Messe in der Kirche aufgeführt wurden. Da er aber eben erst die Anfangsgründe der Harmonielehre in sich aufgenommen und von dem Aussehen einer Partitur keinen Begriff hatte, so schrieb er die Hauptstimme auf ein Blatt und führte nach dieser jede der anderen Stimmen für sich auf einzelne Papierblättchen aus. So hatte er eines Tages den Boden seines Zimmers mit diesen Blättern bedeckt, als sein Lehrer unerwartet bei ihm eintrat. Die Naivetät seines Zöglings rührte den alten Mönch auf’s Tiefste, und von Stund an gab er ihm Unterricht im Partitursetzen.
Im Jahre 1796 starb aber leider der vortreffliche Weihrauch, und bald darauf verließ Kreutzer das Kloster Zwiefalten, um die Vorbereitungsstudien an das geistliche Amt in dem Prämonstratenserkloster Schussenried fortzusetzen, wo sich eine höhere Lehranstalt befand. Auch hier verfolgte Kreutzer seine musikalischen Studien und Uebungen eifrig weiter. Er componirte seine ersten Lieder und verschiedene mehrstimmige Sachen für Blasinstrumente; in der Kirche fungirte er als Organist; in der Schule wurden ihm schon vierzig Knaben zum musikalischen Unterricht anvertraut. Zu Violine, Clavier und Orgel lernte er jetzt noch Clarinette und Oboe, um so eifriger, als in seiner Seele bereits der Entschluß fest stand, sich ausschließlich der Musik zu widmen. Davon wollten seine Eltern natürlich nichts hören; diesen wackern Leuten galt ein Musikus für nicht viel besser als ein Taugenichts. Wollte der Sohn durchaus nicht Theologe werden, konnte er ja die Rechte studiren; und so bezog er denn zu diesem Zwecke im Jahre 1799 die Universität Freiburg.
Der Tod seines Vaters machte der Zwangslage Kreutzer’s ein Ende, und er wählte die Musik als Lebensberuf. In dasselbe Jahr 1800, in dem der Jüngling seinen Vater begrub, fällt die Composition seiner ersten Operette „Die lächerliche Werbung“. Dilettanten führten sie auf; Freunde zollten ihr reichen Beifall, er selbst aber mochte wohl am besten fühlen, wie viel ihm noch zur Meisterschaft fehlte; denn eine mächtige, von hohen Idealen getragene Begeisterung schwellte sein Herz, und mit unermüdlicher Anstrengung arbeitete er an seiner Ausbildung, zunächst in Constanz und den Schweizerstädten Zürich und Lenzburg, Bern und Basel, wo er mit einem wenig geübten Sängerchor schon damals Haydn’s „Schöpfung“ einstudirt und zur Aufführung gebracht haben soll.
Aus den engen Verhältnissen dieser Städte und Städtchen zog es indeß Kreutzer heraus nach der Stadt, die damals in noch höherem Grade als heute für die hohe Schule der Tonkunst galt, nach Wien. Dorthin sehen wir ihn im Juli 1804 seinen Weg nehmen, reich an Entwürfen und Hoffnungen und rastlosem Drang nach Meisterschaft, arm aber an Gütern dieser Erde. Neunzig Gulden betrug die ganze Baarschaft, mit der er auszog, das Glück zu suchen. Als er in Nußdorf bei Wien ankam, hatte die Reise seinen ganzen Mammon bis auf ein paar Gulden verzehrt, gerade genug, wie er glaubte, um einen Wagen zu miethen und sich vor die Thür eines Vetters bringen zu lassen, der zugleich sein vertrautester Jugendfreund war und schon seit geraumer Zeit in Wien wohnte. Aber welcher Schrecken! An dem von ihm bezeichneten Hause angelangt, muß er vernehmen, der Vetter sei umgezogen, und Niemand konnte ihm sagen, wo derselbe seither Wohnung genommen habe. Der Miethwagen fuhr wieder nach Nußdorf zurück, Kreutzer aber irrte in den Straßen der großen Stadt umher mit dem ganzen Mißbehagen, das den Neuling aus der Provinz so unheimlich ergreift, wenn er sich plötzlich in den brausenden Wogen großstädtischen Lebens und Treibens allein und verlassen sieht.
Obdachlos, wie er war, nahm er den Weg nach dem Opernhause, wo Salieri’s „Axur“ gegeben wurde; es war das erste Mal, daß er einer Opern-Aufführung beiwohnte. „Axur“ verfehlte denn auch nicht, einen tiefen Eindruck auf ihn zu machen; und siehe da – beim Ausgang aus dem Theater, mitten im dichtesten Gedränge erblickte er plötzlich seinen Vetter, den sehnlich gesuchten, neben sich und war damit zunächst der Sorge um das Nachtquartier und seine weitere Existenz überhoben. Der Vetter war über das unerwartete Wiedersehen nicht minder erfreut und theilte fortan seine Wohnung mit ihm.
Nun begann für Kreutzer eine Zeit angestrengter Studien. Bald nach seiner Ankunft in Wien wurde er mit hervorragenden Musikern und Dirigenten wie Schuppanzigh und Albrechtsberger bekannt. Unter der Leitung des Letzteren namentlich bildete er sich weiter, trat auch öffentlich mit eigenen Compositionen als Clavier- und Clarinettenspieler auf und fand Zutritt in die Kreise vornehmer Musikverehrer, unter Anderem in das Haus des Fürsten Esterhazy. Dort wurde der alte Haydn auf ihn aufmerksam und fand so viel Gefallen an dem bescheidenen jungen Künstler, daß er drei von dessen Claviersonaten einer Durchsicht unterzog. Auch Beethoven soll ihm freundlich gesinnt gewesen sein und ihn seines Rathes gewürdigt haben.
Nachdem unter solchen Anregungen eine ganze Reihe kleinerer Arbeiten, Messen, Quartette, Clavierstücke, entstanden war, faßte Kreutzer den Muth, sich an eine Oper zu wagen. Der Text, den er wählte, war das von Goethe für Kaiser gedichtete Singspiel „Jerry und Bäthely“. Die Wiener aber fanden den Text langweilig, und die Musik erinnerte sie allzu sehr an das Genre Dittersdorf’s, der ein Menschenalter früher hochgefeiert war und nun auch schon zu den vergessenen Größen zählte. Auch mit einer zweiten Oper, „Conradin von Schwaben“, mißglückte es ihm, da die Censur den politischen Stoff nicht durchließ. Eine dritte, nach Schiller’s „Taucher“ bearbeitet und betitelt, war 1809 vom Theater an der Wien schon angenommen, und der Tag der ersten Aufführung bestimmt, als die Franzosen in Wien einrückten und selbst den lebenslustigen Wienern auf eine Zeitlang die Freude an der Musik verdarben. Ja, Kreutzer mußte sogar das Mißgeschick erleben, daß in der allgemeinen Bestürzung über den Einmarsch der Feinde die Originalpartitur mit allen ausgeschriebenen Stimmen verloren ging. Den Schlachten von Aspern und Wagram folgte zwar bald der Friede, aber der Krieg hatte Oesterreich so tief gebeugt, namentlich auch die Finanzen so zerrüttet, daß Kreutzer nicht wohl hoffen konnte, in Wien eine seinen Wünschen entsprechende feste Stellung zu finden.
Unter diesen Umständen entschloß er sich, auf das Anerbieten eines Freundes, des Mechanikers Leppich aus Würzburg, einzugehen, welcher ein neues musikalisches Instrument, das er Panmelodikon nannte, erfunden hatte und nun Kreutzer überredete, mit ihm zu reisen um dieses Instrument bekannt zu machen. Das Panmelodikon hatte eine ähnliche Construction wie die später von Häckel in Wien erfundene Physharmonika; es erzeugte den Ton durch Vibration von Metallstäben. Kreutzer spielte das Instrument mit großer Bravour, und da er außerdem auch noch als Clavierspieler und Liedersänger Hervorragendes leistete, so konnte der Kunstreise ein namhafter Erfolg nicht fehlen. Für den Künstler kam noch der Vortheil hinzu, daß er auf solche Weise in Jahresfrist mit seinem Genossen Deutschland, die Schweiz, Frankreich und die Niederlande durchstreifte. In Stuttgart, wo er im königlichen Schlosse vor dem dicken König Friedrich spielte, machte er einen so günstigen Eindruck auf diesen, daß er ihn dauernd für seine Residenz engagirte. Nach der Aufführung der von Kreutzer in Stuttgart componirten Oper „Feodor“ ernannte ihn der König im Sommer 1812 zum Hofcapellmeister. So schien ihm nun eine gesicherte Laufbahn eröffnet, die ihm auch gestattete, sich einen eigenen Herd zu gründen. Während seines Aufenthaltes in Zürich hatte er in dem nahen Dorfe Glattfelden ein hübsches Mädchen, Anna Huber, kennen gelernt und ihre Neigung gewonnen. Am 18. October 1812 wurde er in Glattfelden mit ihr verbunden.
Zwei Oratorien, vier Opern und eine stattliche Reihe von Clavierstücken entstanden in Stuttgart und hatten sich der günstigsten Aufnahme zu erfreuen. Aber das stille Glück, das ihm hier blühte, sollte nicht von Dauer sein. Im Jahre 1816 starb König Friedrich, und bei seinem Sohn und Nachfolger, König Wilhelm, war es keine Empfehlung, ein Günstling des Verstorbenen gewesen zu sein. [787] Wie mancher Andere, den König Friedrich erhoben, ward auch Kreutzer gestürzt. Er erhielt seine Entlassung und mußte sein unstätes Wanderleben von Neuem beginnen. Zum Glück war er jetzt kein Unbekannter mehr; ein wohlbegründeter Ruf ging ihm voraus, und seine Concerte wurden eifrig besucht. Aber dem Vater dreier Kinder war doch eine feste Heimath nothwendig.
Als eine Gunst des Schicksals begrüßte er es daher, als er in Augsburg im September 1817 ein Schreiben des Fürsten zu Fürstenberg erhielt, welcher ihn einlud, in seine Dienste zu treten und die Leitung seiner Hofcapelle zu übernehmen.
Der Fürst Karl Egon zu Fürstenberg hatte, eben erst volljährig geworden, im Jahre 1817 die selbstständige Herrschaft über seine großen Besitzungen übernommen. Hochbegabt, voll des lebhaftesten Interesses für Kunst und Wissenschaft, schuf er in seiner kleinen Residenzstadt Donaueschingen ein so reges geistiges Leben, daß manche große Residenz damit nicht wetteifern konnte. Kreutzer’s äußere Stellung in Donaueschingen war für die Verhältnisse jener Zeit eine nahezu glänzende, und da ihm überdies ein jährlicher Urlaub von zwei bis drei Monaten bewilligt war, konnte er auch seine Concertreisen gelegentlich wieder aufnehmen. Neben der Leitung der Kirchemusik und des kleinen, aber gut besetzten Orchesters im fürstlichen Schlosse lag ihm die musikalische Direction des Hoftheaters ob, in welchem neben anderen Dilettanten auch die Mitglieder der fürstlichen Familie selbst auftraten. Hier wurden Operetten und Singspiele zur Aufführung gebracht, und für besonders festliche Gelegenheiten mußte der Capellmeister wohl auch angemessene neue Werke schaffen.
Außer den drei Opern „Die Alpenhütte“ (Text von Kotzebue), „Die zwei Worte“ oder „Die Nacht im Walde“ und „Aesop in Lydien“ componirte Kreutzer in Donaueschingen noch vier Ouverturen, ein großes Sextett, eine achtstimmige Harmoniemusik, ein Te Deum und eine Cantate zum Geburtstage des Fürsten. Derartige Leistungen wurden besonders honorirt, freilich nicht gerade fürstlich: die kleineren Opern mit fünfzig, „Aesop“ mit hundert Gulden, alle übrigen Compositionen zusammen mit hundertfünfzig Gulden. Diese Geldfragen haben indeß keinen wesentlichen Einfluß auf den von Kreutzer im Jahre 1822 gefaßten Entschluß geübt, den Dienst des Fürsten zu verlassen. Er sah ein, daß die kleinen Verhältnisse in Donaueschingen sein reiches Talent nicht zur Geltung bringen konnten. Die Liebenswürdigkeit der fürstlichen Familie, in deren engstem Kreise er verkehrte, war kein Ersatz für den Jubel des Beifalls, an den sein Ohr sich während seiner Kunstreisen gewöhnt, und gerade die Wiederholung solcher Reisen während der Urlaubszeit machte ihm nachher im stillen Donaueschingen den Contrast doppelt fühlbar. Bald sah er sich veranlaßt, zu dem ihm zugesicherten Urlaub noch weitere Erlaubniß zu längerer Abwesenheit zu erbitten. So unter Anderem im August 1821, als er von der Hoftheater-Intendanz in München die Einladung erhielt, den Proben und Aufführungen seiner Oper „Aesop“ beizuwohnen und ein paar Concerte in dem großen Opernhause zu geben.
„Ich erbitte den Urlaub,“ schrieb er an den Fürsten, „zur Begründung meines Namens als Compositeur; auch ist es wirklich damit hohe Zeit, da ich schon das vierzigste Jahr zurückgelegt habe.“ Diesen Gedanken führte er in einem zweiten Schreiben an den Fürsten noch weiter aus: „Euer Durchlaucht müssen nicht glauben, daß mich blindlings Lust nach Ruhm, Ehre und Geld in die große Welt hinauslockt; das nimmt der Mensch freilich auch gern mit. Nein, sondern die Ueberzeugung, daß der Künstler, auf welcher Seite er auch sein mag, von Zeit zu Zeit große Orchestercompositionen hören muß.“
Während eines längeren Urlaubs, den er unter großen Anregungen in Wien verlebte, zeigte sich ihm die Unmöglichkeit, jemals wieder in die kleinstädtische Enge zurückzukehren. Im März 1822 bat er von dort aus den Fürsten um seine Entlassung, die ihm auch bewilligt wurde. Wenzel Kalliwoda ward sein Nachfolger.
Während des Sommers 1822 componirte Kreutzer in Wien die Oper „Libussa“, die am 4. December im Kärnthnerthor-Theater mit außerordentlichem Beifalle aufgeführt wurde. Zu den Erfolgen gehörte auch seine Ernennung zum Capellmeister an demselben Theater, dessen Leitung damals in den Händen des Italieners Barbaja lag. Seine feste Besoldung betrug 3000 Gulden österreichische Währung und 1000 Gulden garantirtes Benefiz von einer jedes Jahr zu componirenden großen Oper. In dieser Stellung blieb Kreutzer bis zum Jahre 1833 und war als Dirigent wie als Componist überaus thätig. Sein Talent hatte vorwiegend auf dem Gebiete der lyrischen Oper und des Liedes große Anerkennung gewonnen. Häufig veranstaltete er Concerte oder, wie man damals in Wien sagte, „Akademien“, bei denen er viele seiner Compositionen zur Aufführung brachte, seine Clavierconcerte meist selbst mit unbestrittener Meisterschaft vortragend. Als Barbaja im Jahre 1827 starb und in Folge dessen das Kärnthnerthor-Theater eine Zeit lang geschlossen wurde, ging Kreutzer nach Paris, wo aber seine dort aufgeführte neue Oper „L’eau de la jouvence“ wenig Beifall fand. Gern kehrte er deshalb wieder in seine Stellung am Kärnthnerthor-Theater zurück, als Graf Gallenberg 1828 dessen Leitung übernahm. Im Jahre 1833 trat er als Capellmeister zum Josephstädter Theater über.
Während der Jahre, in denen er in dieser Stellung wirkte, gelangen ihm die beiden glücklichsten unter seinen Opernschöpfungen: „Melusine“, nach einem von Grillparzer (ursprünglich für Beethoven) gedichteten Text, und sein bekanntestes und populärstes Werk „Das Nachtlager von Granada“. Für dieselbe Bühne schrieb er die Musik zu Raymund’s „Verschwender“, von der Riehl sagt, daß in ihr Kreutzer’s Genius am liebenswürdigsten erscheine und der schlichte Liedesklang die größten Wunder wirke. Außerdem schrieb er noch eine Anzahl von seither völlig verschollenen Opern, die alle in Wien aufgeführt wurden.
Riehl berichtet, daß Kreutzer in geweihten Stunden mit fabelhafter Geschwindigkeit gearbeitet und gerade seine schönsten, von wärmerem Dichterhauch beseelten Lieder so flüchtig hingeworfen habe, wie sonst nur der handwerksmäßige Kunstbetrieb schafft, während man anderen seiner Arbeiten es anmerke, wie mühselig er sich abgeplagt, ohne doch Neues und Frisches erfinden zu können.
An persönlichem Unglück hat es ihm in Wien nicht gefehlt. Im Jahre 1824 verlor er seine erste Frau, die Geliebte seiner Jugend, durch den Tod, ein Verlust, den er sehr schmerzlich empfand; 1825 schloß er mit Fräulein Anna von Ostheim eine zweite Ehe. Die zwei Töchter, welche aus diesen beiden Ehen hervorgegangen waren, bildeten sich unter seiner Leitung zu Sängerinnen aus. Im Ganzen war seine Stellung in Wien nicht unbefriedigend und es läßt sich daher nicht ermessen, welche Umstände ihn bewogen, 1839, als beinahe Sechszigjähriger, wiederum den Wanderstab zu ergreifen. Zunächst begleitete er seine älteste Tochter Cäcilie auf einer Kunstreise, im Herbst 1839 aber übernahm er die Stelle eines ersten Capellmeisters am Stadttheater zu Köln, wo seine Tochter ein Engagement als jugendliche Sängerin gefunden hatte. Seine hervorragenden Fähigkeiten als Dirigent kamen auch hier der Oper sehr zu statten und sollten bald für das gesammte musikalische Leben in Köln bedeutsam werden. Als er an Pfingsten 1841 das große rheinische Musikfest zu Köln leitete, feierte seine Popularität einen schönen und ihn hochbeglückenden Triumph. Bald darauf aber veranlaßten ihn hämische Intriguen, die man gegen ihn spann, die Capellmeisterstelle niederzulegen.
Aber noch immer war seine Seele von mächtigem Ehrgeiz erfüllt. Er meinte, es müsse ihm gelingen, wiederum mit einer Oper so glänzende Erfolge zu erziele, wie mit dem „Nachtlager“. Unausgesetzt war sein Streben dahin gerichtet, einen wirksamen Text zu finden, ja er wollte, was ihm Deutschland nicht bot, durch die Kunst eines französischen Dichters erreichen. Mit Scribe in Paris trat er in Unterhandlungen und reiste aus diesem Grunde mehrmals selbst nach der französischen Hauptstadt, wo er auch, wenn gleich vergebens, den Versuch machte, seine Opern zur Aufführung zu bringen. Das Publicum, welches Meyerbeer und Halévy zujauchzte, blieb unempfänglich für die einfachen lyrischen Weisen des deutschen Romantikers. Dieses unruhige und aufregende Streben aber ward dem alternden Meister nachgerade verhängnißvoll. Die viele Reisen zehrten seine Ersparnisse auf; die fortwährend neu gehegten und immer wieder getäuschten Hoffnungen untergruben seine Gesundheit. Glücklicher Weise verheirathete sich seine älteste Tochter mit einem wohlhabenden Manne, einem Fabrikanten aus Eilenburg, während jetzt die jüngere, Marie, in ihrer musikalischen Ausbildung so weit fortgeschritten war, daß sie mit Erfolg öffentlich auftreten konnte.
Noch einmal schien ihm das Glück lächeln zu wollen; als im Jahre 1846 Otto Nicolai, der Componist der „Lustigen Weiber von Windsor“, als Capellmeister nach Berlin ging, erinnere man sich in Wien, was einst Kreutzer dem Hofoperntheater [788] gewesen war, und berief ihn von Neuem in die ehemals innegehabte Stellung. Die Unterhandlungen aber zerschlugen sich, und wir wissen nur, daß er sich darauf im Herbste 1846 einige Zeit in Graz aufhielt. Dort erreichte ihn eine ehrenvolle Einladung der Directoren des Hamburger Stadttheaters, Mühling und Cornet, seine neueste zur Aufführung angenommene Oper „Die Hochländerin“ selbst einzustudiren und zu dirigiren.
Am 9. October 1846 reiste er von Graz ab; am 14. Vormittags traf er in Hamburg mit hochgespannten Hoffnungen ein.
Diese sollten nicht getäuscht werden. Am 16. November wurde die Oper, deren Scenerie auf den Wunsch der Direction in den Kaukasus verlegt worden war, „sowohl des höheren Interesses wie der brillanteren, ungewöhnlicheren Costüme wegen“, zum ersten Male mit außerordentlichem Beifall aufgeführt, der auch die Wiederholungen begleitete; am 23. feierten Künstler und Kunstfreunde den Geburtstag des Meisters durch ein solennes Festesten.
Es war die letzte glänzende Ovation, die dem Greise dargebracht wurde. Denn wie alles in der Welt, gingen auch diese schönen Tage von Hamburg zu Ende, und das Vaterland bot dem müden Alten keine Stätte, wo er in ehrenvoller Muße dauernd die Ruhe finden konnte, deren er jetzt so sehr bedurfte. Keine deutsche Bühne engagirte, des berühmten Vaters willen, die Tochter, an der sein Herz hing, deren musikalische Ausbildung jetzt der Hauptzweck seines Lebensabends war. Er mußte, achtundsechszig Jahre alt, im September 1848 nach den russischen Ostseeprovinzen übersiedeln, da seine Tochter ein Engagement als erste Sängerin am Theater zu Riga gefunden hatte. Nicht als Capellmeister, wie die meisten seiner Biographen behaupten, sondern nur als Begleiter seiner Tochter hat er dort verweilt. Da sah man den alten Herrn des Abends im Parterre des Theaters sitzen und aufmerksam den Opernvorstellungen folgen. In seinen Erinnerungen lebten freilich andere Gestalten, als er sie jetzt über die immerhin kleine Provinzialbühne schreiten sah.
Sein Schaffenstrieb war noch nicht erloschen. In Riga hat er die „Hochländerin“ völlig umgearbeitet, den zweiten und dritten Act der ersten Bearbeitung verschmolzen und einen neuen dritten Act componirt. Er mochte wohl selbst fühlen, daß dies seine letzte Arbeit sei, denn als er die neue Composition den Seinigen vortrug, brach er in einem plötzlichen Anfalle von Gefühlsweichheit, wie sie ihm sonst nicht eigen war, bei der Stelle: „Nun laßt mich sterben! Nun ist Alles gut,“ in Thränen aus.
Das Jahr 1849, so reich an stürmischen Erschütterungen für sein Vaterland und insbesondere seine Heimath, setzte seinem Dasein ein friedliches Ziel. Ohne daß er eigentlich krank war, nahmen seine Kräfte ab, am 14. December 1849 erlag er rasch und schmerzlos einem Schlagfluß. Auf dem katholischen Kirchhofe der Moskauer Vorstadt in Riga wurde Kreutzer bestattet; sein Grab liegt nicht innerhalb der Grenzen Deutschlands, doch wird es gehütet von der treuen Gesinnung eines edeln deutschen Volksstammes. Und wie das Lied von dem, „der den Tod im heil’gen Kampfe fand,“ singt, so darf man auch von Kreutzer sagen: er „ruht auch in fremder Erde im Vaterland“.
Dem Todten ward allgemeiner und unbestrittener, als jemals dem Lebenden, der Zoll hohen Ruhmes zu Theil. Zwar seine Opern sind vergessen, mit einziger Ausnahme des „Nachtlagers von Granada“, aber in seinen Liedern lebt Kreutzer fort, als wenn nicht Menschenalter verflossen wären, seit sie dem frischen Born seines Genius entquollen. Das macht, er hat sie geschöpft aus dem nie versiechenden Jungbrunnen echt deutschen Volksthums. Als er zuerst im Jahre 1817 den Frühlingsliedern seines schwäbischen Landsmannes Uhland Melodien unterlegte, feierte er mit diesen einen Triumphzug durch ganz Deutschland, und seine schlichten, tiefempfundenen, mächtig ergreifenden Männerchöre erklingen heute noch so frisch und froh, so fromm und gefühlswarm, wie vor fünfzig Jahren.
Wie viele Hunderte und aber Hunderte von Festen hat sein „Tag des Herrn“ stimmungsvoll eingeleitet, wie viele Tausende von Herzen haben in patriotischer Begeisterung geschlagen, wenn der Chor ertönte: „Dir möchte’ ich diese Lieder weihen“, welch unzähliger Menge jugendfrischer Gesellen hat Kreutzers „Frühlingsandacht“ oder „Die Capelle“ mit einem Hauch der Poesie ihre fröhlichen Landpartien verklärt!
So ist es denn gewiß ein schöner und wohl berechtigter Gedanke, daß die Sängerschaft des Landes, dem Kreutzer zunächst durch seine Geburt angehört, daß der Badische Sängerbund beabsichtigt, der allgemeinen Anerkennung, Verehrung und Dankbarkeit für den vaterländischen Tondichter Conradin Kreutzer, insbesondere für seine unvergänglichen Verdienste um den deutschen Männergesang durch Errichtung eines Denkmals in seiner Geburtsstadt Meßkirch einen dauernden Ausdruck zu geben. Die Stadtgemeinde Meßkirch hat zu diesem Zwecke den erheblichen Beitrag von tausend Mark gezeichnet, und von vielen Seiten ist dem Sängerbunde nachhaltige Mitwirkung zu dem beabsichtigten Werke in Aussicht gestellt. Es wäre erfreulich, wenn alle Männergesangvereine Deutschlands, der Aufforderung des Badischen Sängerbundes folgend, zu Gunsten des Kreutzer-Denkmals Gesangsaufführungen und Concerte mit Benutzung Kreutzer’scher Tonschöpfungen veranstalten wollten. [1]
Möchte auch dieser Versuch, Kreutzer’s Leben und Wirken zu schildern, dem lobenswerthen Unternehmen förderlich sein!
Erinnerungen an Java.
Von Dr. Fr. Traumüller.
1. Pflanzen- und Thierleben auf der Insel.
Unter den vielen Inseln des malayischen Archipels, welche der Aequator wie einen Kranz von Smaragden durchschneidet, können nur wenige in Bezug auf Naturschönheiten mit Java sich messen; ja, von manchen Reisenden wird Java für das interessanteste und schönste Land der Erde erklärt. Diese Auszeichnung verdankt die Insel der wunderbaren Ueppigkeit und Mannigfaltigkeit ihrer Vegetation, mit der sie von den Küsten bis zu den höchsten Spitzen ihrer vulcanischen Kegelberge reich geschmückt ist, sowie der vielgestaltigen Thierwelt, die ihre Wälder und Fluren belebt.
Java besitzt alle Bedingungen für einen üppigen Pflanzenwuchs, nämlich fruchtbaren Boden, Wärme und Feuchtigkeit, dazu eine mannigfach gegliederte Oberfläche. Die flache Nordküste besteht zum größten Theil aus Schwemmland; die Südküste dagegen ist felsig und steil. Die Mitte der Insel wird von etwa hundert bis zu 3600 Meter emporragenden Vulcanen durchzogen, von denen gegenwärtig etwa achtundzwanzig thätig sind. Nirgends in der Welt findet man auf einem verhältnißmäßig so kleinen Raume (2313 Quadratmeilen) eine so große Anzahl thätiger und erloschener Feuerberge beisammen. Die thätigen Vulcane Javas liefen gegenwärtig nur lose vulcanische Auswürflinge, wie Bomben, Lapilli, Sand und Asche; manche hauchen nur Wasserdampf und verschiedene Gase aus. Aeltere Lavaströme haben in Folge ihrer Verwitterung einen sehr fruchtbaren Boden geliefert und sind jetzt mit dem üppigsten Grün bekleidet.
Das Klima ist in den verschiedenen Höhen und in der östlichen und westlichen Hälfte der Insel verschieden. Es ist zwar im Allgemeinen sehr warm und feucht, aber die Gluthhitze der Küstenstrecken wird durch die kühlen Seewinde gemäßigt. Aus meinen während einer vierthalbjährigen Hauslehrerthätigkeit in Batavia angestellten Thermometer-Beobachtungen ergab sich als höchste Temperatur 35° C. Mittags um ein Uhr und die niedrigste 19° C. des Morgens um sechs Uhr; die mittlere Tagestemperatur für Batavia schwankt zwischen 24,8 ° C. und 26, 7 ° C. Das Klima der Niederungen ist im Allgemeinen sehr gleichmäßig, und
[789][790] Europäer fühlen sich in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes auf Java von der intensiven Sonnenhitze gar nicht belästigt; doch macht sich bald der erschlaffende Einfluß des tropischen Klimas, der in der beständig gleichmäßig hohen Wärme zu suchen ist, geltend. In den Gebirgsgegenden wehen kühlere Lüfte; dort herrscht ein wahrhaft paradiesisches Klima. Auf den höchsten Berggipfeln sinkt die Temperatur bei klarem Himmel und starker nächtlicher Ausstrahlung der Wärme in den Himmelsraum zuweilen bis zum Gefrierpunkt; ein zarter Reif überzieht dann die Pflanzen, und Wasserlachen erhalten eine dünne Eisdecke. Der Reif und das Eis verschwinden jedoch sofort, sobald die tropische Sonne ihre glühenden Strahlen über die Häupter der Bergriesen ausgießt. Schneefälle sind selbst auf den höchsten Berggipfeln nie, und Hagelschauer nur in seltenen Fällen beobachtet worden.
Der Temperaturunterschied zwischen dem Tiefland und den Gebirgen prägt sich denn auch in der Verschiedenartigkeit der Pflanzendecke aus. Von den Küsten zu den Berggipfeln aufsteigend, können wir die auf der Oberfläche der Erde vom Aequator, nach Norden und Süden zu, einander folgenden Vegetationszonen im Kleinen studiren.
Die Flora Java’s ist aber auch von den regelmäßig wehenden Winden, den Monsunen, abhängig. Die Osthälfte der Insel hat ein trockeneres Klima als die Westhälfe, auf welcher der größte Theil der Feuchtigkeit, welche der vom October bis April wehende Westmonsun mit sich führt, in heftigen Regengüssen niederfällt; die Osthälfte empfängt dagegen den trockenen Südostmonsun, welcher von den dürren Steppen Australiens zwischen Mai und October herstreicht. Während allgemein die javanische Flora und Fauna fast durchweg asiatischen Charakter zeigen, besitzt die Ostspitze schon einige Vertreter der australischen Thier- und Pflanzenwelt.
Wenn vielfach in Java die ursprüngliche Pflanzendecke den angebauten Culturpflanzen hat weichen müssen, so ist die Insel dadurch nicht ärmer an landschaftlichen Reizen geworden; denn die malerisch gelegenen Reisfelder und die Kaffeebäume mit ihrem glänzend grünen Laube, ihren schneeweißen Blüthen und ihren kirschenähnlichen rothen Beeren fesseln unsern Blick nicht minder, als die im Winde sich schaukelnden Wipfel der Palmen und die Urwaldriesen, deren Stämme und Aeste mit schmarotzenden Pflanzen dicht bedeckt sind.
Die Pflanzendecke der zur Fluthzeit auf weite Strecken überschwemmten flachen Nordküste bietet einen ganz eigenartigen Anblick dar. Aus dem seichten Wasser ragt dann nur die obere Hälfte der Rhizophoren (Wurzelbäume) hervor. Während der Ebbezeit sind die zahlreichen Wurzeln frei, und die Bäume stehen dann wie auf Stelzen in dem schlammigen Boden. Etwas weiter landeinwärts erheben sich aus brackigem Wasser die zu den Pandaneen gehörenden Nipapalmen gleichsam wie Cocospalmenwipfel ohne Stamm. Zur Ebbezeit wimmelt es auf dem schlammigen Boden von Wasserthieren aller Art; Störche und Reiher waten im Schlamme herum, und in der Nähe der Flußmündungen sieht man zuweilen Krokodile sich sonnen oder auf Beute lauern. Eine wahre Plage für den Besucher dieser Sumpfgegenden sind die in beispielloser Menge schwärmenden Mücken, die hier ihre rechte Brutstätte finden. Wird man von einem Mückenschwarm überfallen, so hilft kein Abwehren; man muß geduldig die schmerzhaften Stiche der blutgierigen Thiere aushalten. Nur selten schlagen daher die Javaner oder Chinesen in diesen äußerst ungesunden Landstrichen ihre Hütten auf.
Wenn wir uns den bewohnten Gegenden nähern, so erfreuen unsern Blick die schlank in die Lüfte sich erhebenden Palmen, besonders aber die in mehreren Arten vertretenen und mit mächtigen Wipfeln gekrönten Waringinbäume (Ficus- oder Urostigma-Arten), von deren Aesten unzählige Luftwurzeln herabhängen, die sich wieder im Boden befestigen und dann als Stützen des umfangreichen Laubdaches dienen. Bei vielen Bäumen erreicht die Laubkrone einen Durchmesser von 500 Fuß. Diese bei den Javanern heiligen Bäume bilden hauptsächlich im westlichen Java ihres erstaunlichen Umfangs halber an Straßen prachtvolle Alleen.
Auf unserer Wanderung haben wir auch bald Gelegenheit, den Anbau von Reis, der wichtigsten Getreidepflanze der Tropen, kennen zu lernen. Die Reiscultur wurde auf Java vielleicht schon im zweiten Jahrhundert nach Christo von den hindostanischen Colonisten eingeführt. In den ebenen Gegenden wird der Reis in Feldern, Sawahs, mit erhöhten Rändern gebaut. Der Same wird aber nicht direct auf die Felder ausgestreut, sondern es werden die in besonderen Beeten gezogenen etwa fußhohen Setzlinge in die künstlich überschwemmten Sawahs verpflanzt. Da bei der künstlichen Bewässerung der Felder der Anbau dieser Getreide-Art von der Jahreszeit ganz unabhängig ist, so sieht man zu jeder Zeit mit jungem und reifem Reis bedeckte Fluren. Auf reichlich zu bewässernden Sawahs können die Javaner jährlich zwei Ernten halten.
In den Berggegenden werden die Reisfelder terrassenförmig angelegt und durch das Gebirgswasser künstlich bewässert. Die niedrigen Umfassungsdämme der einzelnen Felder sind an einigen Stellen durchbrochen, und das Wasser fließt durch diese Rinnsale in zahlreichen kleinen, in der Sonne glitzernden Cascaden in die tiefer gelegenen Felder. Doch wird der Reis, als sogenannter Bergreis, auch auf trockenen Feldern gebaut, welche später in Sawahs umgewandelt werden.
Wenn der Reis anfängt zu reifen, wird das Wasser abgelassen; ein großer Theil desselben verdunstet unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen. Bis zur Erntezeit sind die Felder völlig trocken. In die nun heranreifenden Reisfelder fallen zahllose Schwärme der zur Familie der Finken gehörenden Reisvögel ein und erheben einen ganz beträchtlichen Tribut. Um sich dieser ungebetenen lästigen Gäste einigermaßen erwehren zu können, werden die Reisfelder von einem Netz von Fäden überspannt, an denen kleine Segel hängen. Alle Fäden treffen in einer kleinen Hütte zusammen, welche in der Mitte mehrerer Felder auf vier hohen Pfählen ruht und in welcher ein Knabe durch beständiges Ziehen der Fäden und durch Klappern die Vögel zu verscheuchen sucht. – Beim Schneiden der Frucht bleibt der größte Theil des Halmes stehen.
Eine javanische Landschaft der Tiefebene oder der Hügelgegenden kann man sich ohne die schlanken Palmen, die Bananenstauden und die Bambussträucher gar nicht vorstellen. Die Palmen und Bananen- oder Pisanggewächse liefern hauptsächlich wohlschmeckende Früchte. Das grobfaserige Holz der Palmen wird nur wenig verarbeitet; aus den frischen Blättern ihrer Wedel werden Körbe geflochen, und mit getrockneten Blättern werden die Dächer der javanischen Hütten gedeckt. Die javanische Flora umfaßt mindestens fünfzig Palmenarten; außerdem werden noch eine große Anzahl aus anderen Tropenländern stammende Palmen cultivirt. Von der Cocospalme, der nutzbarsten von allen, sind bis jetzt vierzehn Varietäten bekannt.
Das Bambusrohr wird zur Herstellung aller nur denkbaren Geräthschaften benutzt; aus demselben bauen die Javaner ihre Häuser und Brücken; sie verfertigen daraus ihre Möbel und manche Musikinstrumente und verwenden es zu Dachrinnen und Wasserleitungen, ja in Ermangelung eines irdenen Topfes kochen sie sogar ihren Reis in einem noch mit der Scheidewand versehenen Stück Bambus. Das Bambusrohr ist in zahlreichen Arten in der javanischen Flora vertreten; manche erreichen eine Höhe von siebenzig Fuß und einen Durchmesser von einem halben Fuß. Da sich das Bambusrohr durch Schößlinge eines Wurzelstockes vermehrt, so bildet eine Mutterpflanze mit ihren zahlreichen Sprossen ein dichtes Buschwerk, das als Dschungeln bezeichnet wird und häufig der Aufenthaltsort der Tiger ist.
Aus der fast erdrückenden Fülle von Pflanzenformen der Ebenen und der Hügellandschaften erwähnen wir hier noch den Teak- oder Djatibaum, dessen Holz wegen seiner großen Festigkeit und weil es ein geringeres specifisches Gewicht als das Eichenholz besitzt, hauptsächlich als Schiffsbauholz, zu Hafenbauten und Eisenbahnschwellen verwendet wird. Die Höhe des Teakbaumes übersteigt selten hundert Fuß, und ein Umfang von sechs Fuß kann als Maximum der Dicke betrachtet werden. In den ersten Jahren ihres Wachsthums schießen die Teakbäume mit einer Schnelligkeit empor, wie sie nur in einem tropischen Klima möglich ist; so erreichen aus Samen gezogene Bäume in vier Jahren eine Höhe von zwanzig Fuß. Sie wachsen gesellig und bilden außer auf Java und anderen Inseln des Archipels auch in Vorder- und Hinterindien ausgedehnte Wälder.
Der Teakbaum gehört zu den wenigen Bäumen der Tropen, die während der trockenen Jahreszeit plötzlich ihre Blätter verlieren. Die meisten tropischen Pflanzen entblättern sich nach und nach, während sich gleichzeitig beständig neue Blätter bilden. Aber [791] auch unsere europäischen Bäume werden, in tropische Gegenden verpflanzt, immergrün und tragen, da sie die meiste Kraft auf die Ausbildung der Blätter verwenden, nur kleine Früchte, die sogar in den kühleren Gebirgsgegenden nie zur Reife gelangen.
Von dem auf das östliche Java beschränkten Gift- oder Upasbaum erzählte man, daß er giftige Dünste aushauche, die auf die in seinem Schatten ruhenden Menschen eine tödtliche Wirkung ausübten, und daß sogar Vögel, die über seinen Wipfel hinflögen, leblos niederfielen. Zweifellos wahr ist, daß dieser Baum einen giftigen Milchsaft enthält, mit dem die Javaner ihre Pfeil- und Lanzenspitzen vergiften. Von der merkwürdigen schmarotzenden Rafflesia, deren riesengroße, röthlichweiße Blüthen und Niederblätter oft in solcher Menge hervorsprossen, daß man an manchen Stellen keinen Schritt thun kann, ohne ihrer mehrere zu zertreten, hat die „Gartenlaube“ bereits ausführlicher Notiz genommen (Nr. 17, S. 292 dieses Jahrgangs, vergl. auch Nr. 42, S. 712).
Ein ganz neues und überraschend großartiges Bild bietet sich unseren Blicke dar, wenn wir die von den Hügelgegenden bis zu den Gipfeln der Berge und in horizontaler Richtung in fast ununterbrochener Folge meilenweit sich ausdehnenden Urwälder betreten, die nur selten von Menschen besucht werden und in denen die einheimische Pflanzenwelt sich noch in ihrer ursprüglichen Gestalt zeigt. Es ist kaum möglich, sich durch das Gewirre der vielfach in einander verflochtenen Pflanzen eines Urwaldes hindurchzuarbeiten, wenn man sich nicht mit dem Hackmesser einen Weg durch das Pflanzengewirr bahnt oder die Rhinocerospfade benutzt. Mit verschwenderischer Fülle hat die Natur diese Gegenden ausgestattet. Wo der Boden nicht ausreicht, die üppig hervorsprossenden Gewächse zu tragen, da müssen des Urwaldes hochstämmige Riesen die zahllosen parasitisch lebenden Pflanzen beherbergen, welche sich das gastliche Haus des Wirthes gegenseitig streitig machen. Unter den auf der Rinde vieler Bäume wuchernden Pflanzen fallen uns sofort die durch wunderbare Farbenpracht und aromatischen Duft ausgezeichneten Orchideen auf, die oft in mehr als zwanzig Arten auf einem einzigen Baume vertreten sind. Von den Wipfeln hängen die dicken, bis mehrere hundert Fuß langen Stämme der Schlinggewächse, die wie Riesenschlangen die Stämme umschlingen oder wie mächtige Taue sich zwischen mehreren Bäumen ausspannen. Der bekannteste und wichtigste Vertreter der Schlinggewächse ist die das spanische Rohr liefernde Rotangpalme. Als Charakterpflanzen des tropischen Urwaldes verdienen vor allen die schlanken, oft bis zu sechszig Fuß hohen Baumfarne erwähnt zu werden. Die größten Riesen eines javanischen Urwaldes sind die Rasamalabäume, deren kerzengerader Stamm erst in einer Höhe von neunzig bis hundert Fuß in den kugeligen fünfzig bis achtzig Fuß hohen Wipfel übergeht. Die größten Stämme erreichen einen Durchmesser von drei bis vier Fuß. An der hellgrauen glatten Rinde des Stammes bleiben keine Schmarotzerpflanzen haften, und nur selten winden sich Schlinggewächse um denselben. Ihre eigentliche Heimath ist in den Preanger Regentschaften des westlichen Java, in Höhen von zwei- bis viertausend Fuß. Die frühere Ausdehnung dieser Wälder hat jedoch durch die Kaffeecultur, welche hauptsächlich in dieser Zone blüht, abgenommen.
Java war eine der ersten Colonien, in welcher die Cultur des aus dem mittleren Afrika stammenden Kaffeestrauches eingeführt wurde (1696), und nächst Brasilien erzeugt Java gegenwärtig den meisten Kaffee. Am besten gedeiht derselbe indessen in den Preanger Regentschaften und in der östlichen Hälfte der Insel. Bei der Anlegung einer Kaffeepflanzung wird zuerst der Wald gelichtet; zum Schutze der jungen Setzlinge werden entweder einige Schatten gebende Bäume stehen gelassen, oder es werden alle Bäume gefällt und dann dichtbelaubte Bäume so angepflanzt, daß jeder Kaffeebaum zwischen vier sogenannten Schattenbäumen steht. Außerdem pflanzen die Javaner auch Kaffeesträucher als Umzäunung ihrer Gärten an. Die Kaffeebäume tragen fast das ganze Jahr hindurch Blüthen und Früchte, aber die eigentliche Blüthezeit fällt in die Monate September und October; wenige Monate später leuchten die dunkelkirschrothen Früchte unter dem glänzenden tiefgrünen Laube hervor. Da die Früchte nicht zu gleicher Zeit reifen, so müssen sie meist einzeln gepflückt werden.
Nächst der Kaffeecultur wird am meisten die des Zuckerrohres für den europäischen Markt betrieben, aber für ihren eigenen Gebrauch bereiten die Javaner den Zucker aus dem Safte der Arengapalme. Der Anbau der Theestaude und der Tabakspflanze ergiebt, seitdem die holländische Regierung ihn europäischen Pflanzern überlassen hat, reichlichere Ernten und Producte von besserer Qualität; auch die Cultur der Vanille und des Indigo wird nur von einigen europäischen Pflanzern betrieben. Der für die Tropen so ungemein wichtige Chinarindenbaum, dessen Anbau im Jahre 1843 begann und dessen Rinde das Chinin, das wirksamste Arzneimittel gegen Fieber, liefert, wurde in mehreren Arten aus seiner Heimath in den peruanischen Anden von einem in holländischen Diensten stehenden deutschen Botaniker Haßkarl nach Java gebracht und auf Kosten der Regierung am Gedeh-, Tangubanprau- und Malabargebirge angepflanzt. Anfangs lieferten die Pflanzungen nur geringen Ertrag und Rinde von schlechter Qualität, weil die Bäume im Schatten des Urwaldes angepflanzt worden waren. Seitdem man bessere Arten ausgewählt hat und den Pflanzen mehr Licht gönnt, gedeihen sie besser und ist auch der Gehalt der Rinde an Alkaloiden ein größerer.
Je höher wir an den Bergen emporsteigen, desto mehr verändert sich der Charakter der Vegetation, und auf den Berggipfeln selbst nimmt die javanische Flora einen fast europäischen Charakter an. Wir begegnen dort zahlreichen Vertretern der gemäßigten Zone, wie dem Wegerich, dem Beifuß, dem Knöterich, dem Sternkraut, dem schwarzen Nachtschatten und anderen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Pflanze, in Europa lästige Unkräuter, mit Gemüsesamen nach Java verschleppt worden sind, doch ist auch die Annahme berechtigt, daß sie auf ihrer Wanderung durch Asien auf dem Landweg nach Java gelangten, als diese Insel noch im Zusammenhang mit dem asiatischen Festlande stand. Von den zahlreichen mit europäischen Pflanzen nahe verwandten Arten der Flora auf hohen Berggipfeln erwähne ich nur das geruchlose Veilchen, die kriechende Erdbeere mit ihren gelben und purpurrothen, aber ungenießbaren Früchten, und die winzige Gentiane mit ihren smalteblaue Blüthen. Die Bäume der Gipfelwälder sind meist klein und verkrüppelt und stehen so dicht zusammengedrängt, daß es hier unmöglich ist, sogar mit einem Hackmesser sich einen Weg zu bahnen. Der Boden dieser Wälder ist mit einem dichten Teppich von Bärlapp, Moosen und kleinen Farnkräutern bedeckt.
Während in den niedriger gelegenen Wäldern sich ein reiches und mannigfaches Thierleben entfaltet, verirren sich nur selten einzelne Thiere bis auf die Gipfel der hohen Berge. In den Gipfelwäldern des 9200 Fuß hohen Gedehgebirges sah ich nur den Bankivahahn, den Stammvater unseres Haushahns, und eine Taube. Daß aber auch das Nashorn bis zu den Spitzen der Berge emporsteigt, ersieht man aus seinen nach verschiedenen Richtungen sich kreuzenden Pfaden. Alle übrigen Repräsentanten der höheren Thierwelt, wie die Affen, der Tiger, der schwarze Panther, der wilde Stier, die wilden Schweine und die schönen Kidang-Rehe bewohnen meistens die Wälder der mittleren Gebirgszone. Eines der niedlichsten Thiere dieser Wälder ist das zierliche Moschusthier, das nicht größer ist als ein Kaninchen und dessen Beine nur die Dicke eines Bleistifts haben.
Die größte Mannigfaltigkeit und Pracht entfaltet die javanische Vogel- und Insectenwelt. Die merkwürdigsten Insecten sind die Blatt- und Stabheuschrecken; die ersteren haben blattähnliche Flügel und sind daher, wenn sie auf Bäumen sitzen, kaum von den Blättern zu unterscheiden; ebenso wird man die Stabheuschrecken mit ihrem einem dünnen Aste ähnlichen graubraunen Körper leicht übersehen. Einer der am häufigsten vorkommenden Schmetterlinge ist der Todtenkopf, und der größte der Atlas.
Wenn wir, auf einem der vulcanischen Kegelberge angelangt, über das durchwanderte Gebiet Umschau halten, so bietet sich uns die herrlichste Aussicht auf die zu unseren Füßen liegenden und mit der üppigsten Vegetation bedeckten Landschaften dar. Und doch vermissen wir in der javanischen Landschaft manche unserer gemäßigten Zone zu Theil gewordenen Reize. Wir sehen uns vergeblich nach unseren blumigen Wiesen und grünen Matten um und können nicht dem schönen Gesang unserer Singvögel lauschen. Anstatt der Wiesen sehen wir mit mannshohem Grase bewachsene Flächen, die Alang-Alangflächen, und das Heer der Vögel macht sich nur durch melancholisches Flöten oder durch unausstehliches Geschrei bemerklich; dadurch wird der düstere Urwald nur noch unheimlicher.
[792]
Im Verblassen und Entfärben
Siecht dahin die welke Au,
Und der Wald, gefaßt zum Sterben,
Ragt umflort in’s Nebelgrau.
Flücht’ge Vogelschaaren ziehen
Nach des Südens Sonnenflur;
Ein Verlassen und Entfliehen
Geht erschreckt durch die Natur.
Nebelhauch und Abenddämmern
Hüllen Wiese, Berg und Wald.
Einer Mühle fernes Hämmern
Friedlich noch herüberschallt.
Doch kein Lichtschein ist zu schauen
Auf den Feldern kahl und weit;
Und im Herzen banges Grauen,
Schreit’ ich durch die Einsamkeit,
Bis ein Glanzstreif aus der Ferne
Durch der Parknacht Dunkel fließt
Und gleich einem guten Sterne
Mich mein heimisch Dach begrüßt.
Froh mich kündend, schallt mein Rufen
Hell zu meiner Lieben Ohr,
Und mit freud’ger Hast die Stufen
Flieg’ ich zum Gemach empor.
Sei gegrüßt mir, trautes Stübchen,
All ihr Aeuglein blank und frisch,
Ros’ge Mädchen, braune Bübchen
Um den lichtbestrahlten Tisch!
Nimm dahin mit Sturmgebrause,
Rauher Nord, des Sommers Pracht!
Hier im glückgeborgnen Hause
Ist ein neuer Lenz erwacht.
Hülle die erstarrte Erde
Mondenlang in Schnee und Eis!
Hier am traulich warmen Herde
Regt sich fröhlich Lust und Fleiß.
Märchenträume, Zauberwonne
Spinnen uns in lichte Pracht,
Und des Christbaums Freudensonne
Strahlt durch unsre Winternacht.
Vogelschutz und Frauenschmuck. In einer kürzlich in Berlin begründeten Zeitung für Frauen ist wörtlich Folgendes zu lesen „Allen wohlmeinenden Thierschutzbestrebungen zum Trotz sind Vögel zum Hutschmuck leider mehr als je Mode. Nicht nur die zierlichen Colibris, der elegante Paradiesvogel, nein, ganze Volièren fremdartiger bunter Vögel liegen in den Schaukästen unserer Modistinnen. Vogelfamilien tragen die Damen auf den Hüten, und eine sehr distinguirte Modekönigin der vornehmsten Kreise macht ihre diesjährigen Antrittsvisiten mit zwei grünen Inseparables auf ihrem kühngesetzten Rubenshute.“
Es ist staunenswerth, mit welcher Hartnäckigkeit diese Unsitte immer wieder auftaucht. Vor Jahren schon erließ ich in meiner Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ einen Aufruf an die deutschen Frauen und Jungfrauen, in welchem ich darauf hinwies, daß es weder schön noch geschmackvoll sei, Vogelbälge auf dem Hut zu tragen; ich wandte mich zugleich an Herz und Ehre mit der Mahnung, daß sie es nicht zugeben sollten, wenn der Mode wegen muntere, herzige und zugleich überaus nützliche Thierchen des Lebens beraubt würden. Diese Worte fanden weithin in der Presse ein Echo, und außer allen kleinen und großen Zeitungen geißelten jene Modethorheit namentlich die Witzblätter in Wort und Bild. Julius Stettenheim in den „Berliner Wespen“, Rudolph Löwenstein im „Kladderadatsch“, Sigmund Haber im „Ulk“, R. Schmidt-Cabanis in der „Berliner Montagszeitung“ kämpften wacker gegen jene Sünde wider die Natur. Selbst Zeitschriften anderer Sprachen, wie „L’Acclimatation“ in Paris, „Land and Water“ und „The Country“ in London und viele andere stimmten ein. So schien denn der Hutschmuck mit Vogelkörpern ein- für allemal abgethan.
Wenige Jahre später schrieb Herr Aug. F. Wiener in London, daß die abscheuliche Mode, Vogelbälge als Damenschmuck zu benutzen, abermals im Anzuge sei, denn die Bälge von besonders farbenprächtigen Vögeln wie Königspirolen, Klippenhühnern, rothen Tangaren etc. seien bereits vier- bis fünffach im Preise gestiegen, und die Bestätigung giebt nun allerdings der Eingangs erwähnte Bericht. In welchem Umfange die Vögel für diesen Zweck hingemordet werden, erweist sich aus einer Mittheilung des Herrn Dr. E. Rey, nach welcher eine Leipziger Putzwaarenhandlung 32,000 Bälge von Colibris, 800,000 Bälge von Wasservögeln, 300,000 Paar Flügel von Schnepfen etc. in einer Sendung erhalten hatte. In einer Londoner Sportzeitung war eine Zuschrift aus Südamerika veröffentlicht, welche hervorhob, daß nicht allein die europäischen Damen kaltherzig und rücksichtslos genug seien, bunte Vögel lediglich für den Zweck ihres Putzes massenhaft tödten zu lassen, sondern daß diese Unsitte auch unter den Negerinnen allgemein eingerissen sei.
Der Schutz der Sing- und Schmuckvögel unserer einheimischen Fluren ist seit Jahrzehnten so wichtig erachtet worden, daß ihn nicht allein zahlreiche angesehene Männer in allen Ländern Europas erwägen und berathen, sondern auch viele hundert Vereine mit auf ihre Fahne geschrieben haben, ja daß er bereits mehrfach den deutschen Reichstag beschäftigt hat. Sollten gefühl- und einsichtsvolle Frauen denn einer solchen Angelegenheit nicht die leidige Modesucht nachstellen können? Sollten edle Frauen es wirklich wünschen oder auch nur ruhig mit ansehen, daß alljährlich tausende harmloser Vogelleben vernichtet werden, blos damit ihre Leichen als Schmuck benutzt werden können? So fragt man wohl unwillkürlich – und man findet als Antwort die traurige Thatsache, daß dieser Putz immer wieder von Neuem Mode wird.
Neuerdings beginnt auch der Thierschutz einig gegen die Erneuerung der alten Unsitte zu kämpfen. Herr J. F. C. Kühtmann in Bremen, der Begründer und Vorsitzende des „Allgemeinen deutschen Reichsbunds zum Schutz der Thiere“, legt mir als Sachverständigem eine Frage vor, welche ich hier öffentlich beantworten will. Dieselbe lautet:
„Es ist eine vielverbreitete Meinung, daß diese Modenarrheit nicht allein gar bedeutsam zur Verringerung der Vögel beitrage, sondern daß sie zugleich eine scheußliche Thierquälerei einschließe. Man lasse, so heißt es nämlich, die massenweise lebendig gefangenen Vögel Hungers sterben, weil ihr Gefieder nur dann den eigenthümlichen Glanz und Schmelz der Farben behalten soll. Wie verhält sich dies?“
Erklärlicher Weise giebt es bei der Erlegung von Schmuckvögeln in großer Anzahl arge Thierquälerei, selbst wenn dieselbe gar nicht beabsichtigt wird. Man muß sich nur die Verhältnisse vergegenwärtigen, um dies zu ermessen. Wo die Vögel schaarenweise in Netzen gefangen werden, kann man sie, selbst wenn viele Hände thätig wären, doch nur nach und nach abbalgen und zubereiten. Mit der Fütterung und Verpflegung der vorläufig am Leben bleibenden wird man sich nicht viel aufhalten. Auch ist es ja bequemer für den Balger, wenn an jedem Morgen schon so und so viele todt daliegen, anstatt daß er sie greifen und erwürgen muß. Das Letztere geschieht ziemlich buchstäblich durch Zusammenpressen der Brust vermittelst der Finger, seltener durch Einstoßen eines Federkiels in den Hinterkopf, wie bei uns die lebend gefangenen Krammetsvögel, auch Lerchen und andere getödtet werden. Das erstere Verfahren ist aber mühsam und zeitraubend, das letztere schädigt und beschmutzt leicht den Balg – deshalb zieht man es wohl vor, die Vögel verhungern zu lassen. Ein Vogelfänger, der lange Zeit in den Tropen gelebt, machte mich darauf aufmerksam, daß man die Vögel immer so rasch wie möglich tödten müsse, weil sie sonst durch Umhertoben das Gefieder nur zu leicht ruiniren. Am prächtigsten, sagt er, bleiben die Bälge vergifteter Vögel; sie bieten zugleich einen Vortheil, der im Tropenklima geradezu unschätzbar ist, den nämlich, daß die Körper sich, wenn das Gift Arsenik war, so lange vortrefflich erhalten, bis die Zeit zum Abbalgen vorhanden ist. Darum wird dieses gräuliche Gift, sei es im Trinkwasser, in darin eingeweichten Sämereien, Früchten oder sonstiger Nahrung, im umfassendsten Maße angewendet.
Sollten nach Kenntnißnahme dieser Thatsachen unsere deutschen Frauen und Mädchen noch immer nicht auf den Hutschmuck der Vogelbälge verzichten wollen?! [2]
Im Anschluß an den Artikel über Java bedarf es an dieser Stelle noch einiger erklärender Worte als Ergänzung, um den Leser über die auf unserer Illustration, Seite 789, zusammengestellten Pflanzenformen zu verständigen. Zur Linken des Beschauers erhebt sich über jungen Cocospalmen der Wipfel einer Akazienart. Die Cocospalmen schließen zwei anders geartete Gewächse ein, den fiederblätterigen Brodfruchtbaum und rechts von ihm den Pisang, während über ihnen in der Ferne die Wipfel von Pinangpalmen ragen, dazwischen die wuchtigere Masse eines Waringinbaumes. Rechts vom Flusse folgen einander Bambus und der zierliche Bau einer größern Cocospalme, den Hintergrund füllen hier Pandanen und Pisang, während unten im Vordergrunde Farnkräuter und Gräser wuchern. Diese Andeutungen dürften genügen, das Bild zu erklären.
Berichtigung. Irrthümlich ist gelegentlich des Artikels über das Reichs-Postmuseum in Nr. 45 sowohl im Text, wie in der erklärenden Anmerkung zu dem Bilde auf S. 756 die Abbildung des Briefes von Cicero an Rufus als „Brief der Korkyräer an das Orakel zu Dodona“ bezeichnet, was wir hierdurch berichtigen.
A. S. 25 in Rostock. Wenden Sie sich an das Nachweisungsbureau des „Vereins deutscher Lehrerinnen in England“: London, 12 Wyndham Place, Bryanston-Square!
Abonnent in Dorpat. Geben Sie Ihre Adresse an! Sollen wir denn immer und immer auf’s Neue, den anonymen Fragestellern gegenüber, diese Forderung wiederholen?
C. S. in Stettin. Befragen Sie dort eine buchhändlerische Autorität!
Rd. P. in L. Auf die Einsendung von Gedichten ist – wie auch schon oft genug gesagt wurde – die einzige Antwort: Abdruck oder Vernichtung. Letzteres war das Loos Ihres „Vergißmeinnicht!“
- ↑ Um den Plan eines Kreutzer-Denkmals auch unserseits rechtzeitig zu befürworten und so die Realisirung desselben zu des Tondichters hundertstem Geburtstage fördern zu helfen, haben wir den obigen Artikel nicht, wie anfangs geplant wurde, zu Kreutzer’s hundertstem, sondern schon zu seinem neunundneunzigsten Geburtstage zum Abdruck gebracht. Der Hauptausschuß des Badischen Sängerbundes bittet, die für das Kreutzer-Denkmal in Meßkirch bestimmten etwaigen Beiträge an seinen Bundespräsidenten, Herrn G. Hammetter in Müllheim (Baden), einzusenden.D. Red.
- ↑ Wir dürfen wohl eine zweite Frage anfügen: Wie viel sind die Männer werth, welche eine solche sträfliche Thorheit in ihrer Familie dulden?D. Red.