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Die Gartenlaube (1879)/Heft 33

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 33. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Der Baron trat aus dem Hause und wandte sich dem Fichtenwäldchen zu.... Donna Mercedes’ Pulse klopften heftig. Nun kam er um die Hausecke. Ihre Anwesenheit unter den Bäumen schien ihn zu überraschen.

„Ich war eben im Begriffe, Ihnen durch Deborah meine Rückkehr zu melden,“ sagte er, sich kühl verbeugend.

„Und Lucile?“

„Frau Lucile Fournier wird heute Abend zum dritten Mal gastiren, wie die Theaterzettel an den Straßenecken Berlins verkünden,“ versetzte er mit einem ausdrucksvollen Seitenblicke nach dem Töchterchen der Entflohenen und der schwarzen Wärterin. Dann schwieg er.

„An eine Rückkehr in die alten Verhältnisse ist nicht zu denken,“ hob er nach einer Weile wieder an, als er, mit Donna Mercedes allein, die Allee beschritten hatte. „Sie lachte mir in’s Gesicht und erkundigte sich nach den Ketten und Handschellen, die ich doch nothwendig mitgebracht haben müsse, um sie heimzuschleifen, denn anders gehe sie nicht mit. Ob ich denn ernstlich glaube, sie krieche pflichtschuldigst wieder unter Ihre Flügel, wie ein erschrockenes Küchlein, das den bösen Habicht gesehen, und nehme mit hausbackenem Brode vorlieb, nachdem sie sich in himmlischer Freiheit, auf goldenem Triumphwagen geschaukelt und Manna gekostet habe?... Und ich habe den Staub von den Füßen geschüttelt und bin gegangen,“ fuhr er in seinem ernstesten Tone fort. „Es kann gar nicht mehr die Rede davon sein, ob die kleine Frau zurückkehren will – sie darf nicht wieder heimkommen.... Es ist, als sei das Stück Leben an Lucian’s Seite in ihrer Erinnerung grundlos versunken. Sie hat an die Stunde, wo sie das Haus ihrer Mutter und das Leben und Treiben der Theaterwelt verlassen, so unmittelbar und mühelos wieder angeknüpft, daß man auch nicht die geringste Spur einer achtjährigen Unterbrechung merkt. In ihrem Salon treibt sich die vornehme Männerwelt herum, den alten, geckenhaften Fürsten Konsky an der Spitze, der, wie ehemals der Mutter, nun dem neuaufgehenden Stern seine Albernheiten sagt, alle Treibhäuser für ihn plündert und im Boudoir Etuis mit kostbaren Schmuckstücken verstreut. Ich hatte erst verschiedene Präliminarien mit ihrem neuangeworbenen Secretär zu überstehen, ehe ich eintreten durfte. Es war bereits Besuch da; zwei Herren meiner Bekanntschaft machten ihre Aufwartung. Die kleine Frau lag im weiße Seidenpudermantel auf dem Ruhebett, als sie mich unter tollem Lachen empfing, und hatte einen kläffenden Seidenpinscher auf dem Schooße, dem ein im Muthwillen übergeworfenes Brillantencollier am Halse schaukelte –“

„Ich hasse sie,“ murmelte Donna Mercedes, und die kleine festgeballte Hand fuhr im Zorn unwillkürlich durch die Luft.

„Das hätten Sie ihr vielleicht gesagt,“ bemerkte er.

„Ohne Zweifel, bei einem solchen Anblick –“

„Das heißt, sofern der Herr Secretär Sie vorgelassen hätte.“

Sie wich indignirt zurück; er rührte hart und schonungslos an ihren Hochmuth.

„Ich wußte wohl, daß es ein Weg voll Stacheln ohne Ziel und Resultat für Sie gewesen wäre,“ fuhr er fort, ohne ihre Erregung zu beachten. „Ich mußte mir ja auch gefallen lassen“ – er lächelte heiter, sodaß seine prächtigen Zähne zwischen dem Bart hervorblickten – „daß mir die kleine Frau mänadenhaft zornig drohte, sie werde mir ein halbes Dutzend Duelle auf den Hals schicken, weil ich ihr versichert hatte, daß sie Paula nie und nimmer in die Hand bekommen werde.“

„Nie und nimmer!“ wiederholte Donna Mercedes gepreßt. Sie zeigte nach dem Klostergute. „Dort geht eine Wandlung vor sich – ich halte die Zeit nicht mehr für fern, wo wir unsere Vollmachten in eine andere Hand niederlegen müssen.“ Sie schilderte in rascher Aufeinanderfolge das gespenstige Erscheinen der Frau in der Säulenhalle und ihre eigene Begegnung mit der Majorin am Zaun. „Wunderbar!“ rief sie schließlich. „Diese Geschmähte, diese als bitterste Feindin Gehaßte, gerade sie ist es – sie ist es allein, die mir auf deutschem Boden einen Zug von Sympathie abringt.“

Der Baron horchte überrascht auf.

„Es ist etwas Verwandtes in ihr und mir“ – fuhr sie fort.

„Ja,“ bestätigte er, „es ist der dämonische Zug, der uns zu rathen aufgiebt, ob in diesen Frauen mit den dunklen Flammenaugen in der That kein Herz lebt, oder ob es nur zeitlebens von dem unseligen Trieb, da zu vereinen, wo es beglücken sollte, überstimmt wird. Diese Species des Frauencharakters ist wie eine Blume, die neidisch lieber im eigenen Duft erstickt und verdirbt, ehe sie die spröde Knospenhülle sprengt – eine Flamme, die in die Tiefe hineinbrennt, den eigenen Herd vernichtet und keines Menschen Lebensweg bestrahlt – mich jammern meine zwei Lieblinge in solchen Händen!“

„Dann muß ich sehr hart und grausam sein, denn mich – jammern sie nicht,“ versetzte sie achselzuckend, aber mit leichtbebender Stimme. „Felix hat sich nicht geirrt – die Frau da [546] drüben wird sie schützen wie ein Mann und lieben, wie nur ein weibliches Herz zu lieben vermag – sobald der letzte Damm durchbrochen ist.... Sie bestätigen meine innere Verwandtschaft zu ihr – nun wohl, dann muß ich auch ihrem Fühlen nachspüren können. Und so weiß ich, daß die Triebkraft der Reue, das heiße Verlangen, zu sühnen, die spröde Knospenhülle sprengen, die Flamme nach außen treiben wird. Diese neidisch verhaltene Liebe mag dann wohl von ganz anders concentrirter Kraft sein, als die zahme Hingebung einer sanften Frauennatur, die für alle Welt ein freundliches, aber kühles Mondlicht auf den Weg breitet.... Unter der Hut dieser Großmutter lasse ich die Kinder getrost zurück.“

„Sie wollen die Kinder verlassen?“ fragte er plötzlich.

„Ja, um mich daheim zu amüsiren,“ versetzte sie mit scharfem Spott. „Oder hab’ ich das nicht redlich verdient durch meinen Aufenthalt in Deutschland?“

„Gewiß, Sie haben Recht,“ sagte er, indem ihm das Blut in’s Gesicht schoß, „wenn Sie dieses Martyrthum so sehr wie möglich abkürzen, und ich bin gewiß der Letzte, der Ihnen zumuthet, auch nur eine Stunde länger zu bleiben, als absolut nöthig ist. – Vorerst müssen wir freilich abwarten, ob sich die sanguinische Hoffnung auf die Umkehr der alten Frau in der That verwirklicht.“

Donna Mercedes fühlte plötzlich den festen Boden ihres Selbstbewußtseins, ihrer stolzen Sicherheit unter den Füßen weichen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo ihr Alle versichert, es dunkle, wenn sie gehe. War aller Glanz von ihr gewichen? War ihr nichts, gar nichts verblieben von dem Zauber der Jugend, des Esprit, der Schönheit, den man – ihr selbst oft zum Ekel und Ueberdruß – in allen Zungen gepriesen, oder glitt er so völlig wirkungslos ab von dem deutschen Gemüth, daß ihr Kommen und Gehen absolut keine Spur hinterließ?

Der große Promenadenfächer, den sie in der Hand hielt, wurde geräuschvoll zusammengefaltet – sie wiegte ihn zwischen den Fingern wie eine schwanke Reitgerte. Diese Bewegung, im Verein mit dem schlimmen Lächeln der Erbitterung und den gereizt sprühenden Augen in dem fremdartig schönen Gesicht, konnte recht wohl an den Ausspruch der Baronin erinnern, daß diese Sclavengebieterin vor der eigenhändigen Züchtigung Straffälliger nicht zurückscheue.

Sein Blick ruhte durchdringend auf ihr.

„Aber auch dieses fernere Opfer könnte Ihnen erspart werden,“ fuhr er wie nach augenblicklicher Ueberlegung fort, „wenn Sie sich dazu verstehen wollten, die weitere Entwickelung einzig und allein in meiner Hand zurückzulassen –“

„Das heißt mit anderen Worten, meine Begleitung sei überhaupt eine überflüssige gewesen,“ fiel sie rasch, mit bewegter Stimme ein; „der Schillingshof vermöge den kleinen Lucian’s den Schutz des Vaterhauses, die treue, väterliche Fürsorge im vollsten Umfang zu bieten – ganz richtig, mein Herr, aber die weibliche Zärtlichkeit nicht, die ein Kind zum Gedeihen braucht, wie den Sonnenschein. . . . Und da oben“ – sie zeigte mit dem Fächer nach dem Obergeschoß des Säulenhauses – „lebt eine Frau, Ihre Frau, Baron Schilling, die sich vor dem verpestenden Kinderodem hermetisch einschließt, die den Blick beleidigt wegwendet, sobald solch ein kleines Gesicht hinter den Scheiben auftaucht, die –“

„Sind Sie gekränkt worden?“ brauste er auf.

„Glauben Sie, ich lasse eine Beleidigung an mich herankommen?“ fragte sie mit stolz verächtlicher Ueberlegenheit zurück. „Ich will damit auch gar keinen Vorwurf erheben – wer mag es der Frau verdenken, wenn ihr der Kinderlärm in ihrem stillen Hause nicht wünschenswerth ist? Die Zurechtweisung gilt Ihnen, der Sie eine Last von Widerwärtigkeiten und schwerer Verantwortung so unbedenklich auf die Schultern nehmen wollen –“

„Das wäre meine Sache,“ unterbrach er sie kalt und bestimmt. „Uebrigens entsprang mein Vorschlag, wie Sie wissen, nicht der Selbstüberschätzung, sondern lediglich dem Wunsche, Ihnen das Verlassen des verhaßten deutschen Bodens rasch und sorglos zu ermöglichen. Felix hat zu viel von Ihnen gefordert. Ihr Hiersein, Ihr Ausharren in diesem stillen Erdenwinkel mag Ihnen wohl gleichbedeutend sein mit geistigem Verkommen – es ist ein unerhörter Raub an Ihrer kostbaren Jugendzeit. Sie sind gewohnt, Triumphe zu feiern, bewundernden Blicken zu begegnen, wohin Ihre stolzen Augen sehen – Sie sind gewohnt, inmitten einer tropisch üppigen Vegetation Tage des Ueberflusses hinzuleben, wo tropische Leidenschaft Ihre Schönheit umwirbt – das Alles kann Ihnen Deutschland mit seinem blassen Himmel, seinen ‚fischblütigen’ Menschen nicht geben. Dort finden Sie –“

„Ja, dort suche und finde ich – vier Gräber,“ fiel sie mit tonloser Stimme ein, und ein starrer, thränenfunkelnder Blick voll zürnenden Vorwurfs traf seine Augen.

Sie wandte sich mit einer raschen Bewegung von ihm weg, und das Gesicht mit dem Fächer bedeckend, ging sie beschleunigten Schrittes nach dem Säulenhause.




30.

Auf dem Klostergute herrschte eine schwüle Stimmung. Das Gesinde drückte sich scheu in die Ecken, wenn der Schritt des Rathes laut wurde; es horchte ängstlich auf seine barsche Stimme, die so mißtönend und grillig war und den ganzen Tag schalt.

Er hatte seine Sorgen. In dem Kohlenbergwerke schossen plötzlich aus schmalen Ritzen und Klüften dünne, aber kräftig vorgetriebene Brünnlein, die ihm und den Grubenleuten nicht gefielen. Das ganze Gebiet des sogenannten kleinen Thales, unter welchem sich die Kohlengruben hinzogen, war ein quellenreiches; kleine, kühle Bäche rauschten durch den Grund, und am Thaleingange breiteten sich mächtige Teichspiegel hin. Es war von Anfang an viel darüber gemunkelt worden, daß sich bei diesem Unternehmen die Gewinnsucht des Rathes in sündlicher Weise geltend mache; die Sicherheitsvorrichtungen seien äußerst mangelhaft, und in den Gruben werde der abscheulichste Raubbau getrieben.

Um das Stadtgespräch kümmerte sich der Rath nicht. Er scharrte mit immer heißerer Gier die Reichthümer zusammen, die ihm die Gruben in den Schooß warfen, und beschnitt die Betriebskosten, wo er konnte. Da tauchte plötzlich das Gespenst in der Tiefe auf, der unheimliche Feind, der die Wasserstrahlen wie dünne, weißliche Schwerter aus den Wänden trieb. Es stellte sich immer dringender heraus, daß mit großen Kosten verknüpfte Vorsichtsmaßregeln ergriffen werden müßten, um eine greifbare Gefahr abzuwenden, und das war’s, was den Rath so finster-brütend, so tief innerlich ergrimmt umhergehen machte.

Die Majorin schien dies nicht zu berühren. Sie hatte nie viel Worte gemacht; das wußte das Gesinde gar nicht anders, auch war ja das überflüssige, zeitraubende Sprechen überhaupt verpönt auf dem Klostergute. Aber die Leute wunderten sich doch, daß zwischen dem Herrn und seiner Schwester kaum noch der Morgen- und Abendgruß gewechselt wurde. Und mochte der Rath noch so verstimmt heimkommen und mit seinem finstersten Tyrannengesicht durch die Küche nach dem Eßzimmer schreiten, die Majorin fragte nicht; sie trug pünktlich das Essen hinein, nahm die Küchenschürze ab und setzte sich an den Tisch. Aber nur Veit führte das Wort – die beiden Anderen schwiegen.

Dagegen trat eine neue Gewohnheit der Majorin immer mehr in den Vordergrund; jeden freien Augenblick, den sie den Hausgeschäften abstehlen konnte, brachte sie im Garten zu. Sie hatte zwar dort auch ihre Beschäftigung, das Abpflücken der Erbsen und Bohnen, das Begießen der Gemüsebeete und des bleichenden Leinens. Aber die Mägde kicherten und meinten, die Leinwand würde niemals trocken – so oft rauschte die Gießkanne darüber hin, und in der heißen Nachmittagssonne begieße doch kein vernünftiger Mensch das junge Gemüse. Es fiel ihnen auch auf, daß „die Frau“ so oft auf der Gartenbank stehe und über des Nachbars Zaun gucke – das war auch eine neue Mode und zu verwunderlich an der „Aparten und Stolzen“, die sonst keinem Menschen einen Blick gönnte und immer that, als mache sie sich aus der ganzen Welt nichts.... Lächerlich! Auf die Bank zu steigen, um immer wieder die dicke, watschelnde „Mohrin“ anzusehen denn nach dem kleinen Mädchen, das die Schwarze zu behüten hatte, guckte sie doch nicht?

Heute war es den ganzen Tag über mit dem Rate kaum auszuhalten gewesen. Einer der Knechte, der die Kohlenfuhren nach der Bahn zu besorgen hatte, erzählte, „der Herr“ sei nun doch gezwungen, der dummen Wassergeschichte wegen „gelehrte“ Leute aus weiter Ferne kommen zu lassen – und das koste ein Heidengeld.

Bald nach dem Mittagessen war der Rat wieder nach dem [547] kleinen Thale gegangen; Mosje Veit schwitzte in der Wohnstube unter der Zucht seines strengen Privatlehrers, der keinen Spaß verstand, und die Mägde, die in der Küche aufwuschen, steckten lachend die Köpfe zusammen; denn dort ging die Frau Majorin richtig wieder über den Hof nach dem Garten, wie immer, wenn der Herr nicht zu Hause war.... Sie hatte nicht einmal ihren Kaffee getrunken, der noch auf dem Präsentirteller in der Küche stand und kalt wurde. Es war überhaupt in den letzten Tagen, als habe sie Essen und Trinken nahezu verlernt, und das sah man ihr auch an – die Backenknochen standen ihr scharf aus dem weißen Gesicht, und die Kleider saßen gar nicht mehr so hübsch knapp wie sonst; sie schlotterten recht auffällig um die Schultern.... Und die Leute meinten, wenn sie auch nicht spreche und ordentlich die Zähne zusammenbeiße, damit ja kein Wörtchen durchschlüpfe, sie ärgere und gräme sich doch im Stillen furchtbar über das viele Geld, welches das Unheil in den Gruben kosten würde, denn – sie hätte ja sonst keine Wolfram sein müssen.

Nun ging sie langsam zwischen den Buchsbaumrabatten auf und ab. Ihre schlanken, weißen Finger pflückten mechanisch am Schürzenband, und die Augen hingen tiefgesenkt am Boden. Sie, die sonst mit scharfem Blick nach jeder abgefallenen Obstfrucht suchte, sie bemerkte nicht, daß ihr Fuß an den ersten reifen Rosenapfel stieß, daß die goldgelben Frühbirnen wie herabgeregnet im Grase und zwischen den Kohlrabi- und Salatköpfen verstreut lagen und ganze Schaaren von Wespen herbeilockten; ihre Aufmerksamkeit schien sich im Ohr zu concentriren. Bei jedem Geräusch, das von fernher über den Zaun kam – ob sich die Enten klatschend in den Teich stürzten, oder ein Menschenfuß auf dem kreischenden Kies eines nahen Weges eilfertig hinging – zuckte sie zusammen und hemmte aufhorchend den Schritt.

Die Gießkannen brauchten heute nicht allzu fleißig in Bewegung gesetzt zu werden, denn der Himmel war vom frühen Morgen an bedeckt gewesen. Aber die Wolkenschicht, die keinen heißen Sonnenstrahl hindurchließ, war von einem festen, gleichmäßigen Grau und wölbte sich hoch wie eine granitene, kühle Domkuppel. Die Vögel schossen jubilirend droben hin, und eine köstlich erquickende, balsamische Luft wehte, ein wahrer Genesungsodem für Kranke.

Die Majorin verließ plötzlich den geradlinigen Hauptweg, und auf die Gartenbank am Zaun tretend, schlug sie die rauschenden Syringen- und Haselzweige aus einander.

Ein schwaches Rädergeräusch kam von der Platanenallee her. Jack, der Neger, schob einen eleganten Kinderfahrstuhl langsam über die Kiesbahn – der hellblaue Seidenschimmer der Auspolsterung und einer übergebreiteten Decke leuchtete herüber, und so bedeutend auch die Entfernung war, die Frau am Zaun sah doch ein blondes Köpfchen auf dem Polster liegen – fast wäre sie von der Bank gestürzt; solch ein jäher Schreck durchfuhr sie.

Das kleine Gefährt rollte noch einige Mal auf und ab; dann kam es nicht mehr zurück; es mochte droben beim Atelier Halt machen. Die Majorin stieg von der Bank herab und ging auf dem schmalen Wege am Zaun hin. Sie machte dann und wann einen Versuch, das Gezweig in der Höhe ihres Gesichts aus einander zu drängen; allein die seit langen Jahren geflissentlich gehegte und gepflegte Wildniß wies sie unerbittlich mit Dornen und Stacheln zurück. Und die einzige Bank des Gartens war nicht transportabel; ihre steinernen Träger fußten tief in der Erde, aber dort an der Mauer, die den tiefsten Theil des Gartengrundstücks, den großen mit Obstbäumen bestandenen Grasfleck von der Straße abschloß, lagen unter vorspringender Bretterverdachung die Leitern, welche im Herbste beim Obstbrechen benutzt wurden. Sie lehnte eine der Leitern an die Mauer und stieg so weit hinauf, daß sie gerade den Kopf über den seitwärts liegenden Zaun heben konnte.

Es war nur ein Wunsch, der sie beherrschte, der ihr Blut stürmisch kreisen machte – der Wunsch, so nahe wie möglich in das kleine, blasse Kindergesicht zu sehen und sich zu überzeugen, ob der Tod wirklich seine drohende Hand von demselben zurückgezogen habe.

Sie sah in das Fichtenwäldchen hinein, und dort stand, kaum fünfzehn Schritte entfernt, der Fahrstuhl zwischen den Stämmen. José’s Gesicht war ihr zugewendet. Noch lehnte der kleine Kopf müde an dem blauen Polster, und das vorquellende goldglänzende Gelock hing um ein abgezehrtes Oval, aber der lebhafte Blick und das schöne Roth des kleinen Kirschenmundes bezeugten unwiderleglich, daß der Lebensstrom in dem schwer angefochtenen Kindeskörper lebhaft rinne.

Außer Jack war Niemand bei dem Knaben. Der Schwarze watete im Wiesengras und pflückte die Stengel des Löwenzahnes, welche die Händchen des kleinen Reconvalescenten auf der Decke zu einer großen Kette verarbeiteten. Man sah, wie sich die Brust des Kindes in tiefen Athemzügen hob und die freie, von kräftigem Fichtenduft durchtränkte Luft gierig einsog. Auch ein stilles Lächeln der Freude ging über das Gesichtchen.

„Geh, Jack, sei gut – lasse Pirat heraus zu mir!“ sagte der Knabe, denn vom Atelier her erscholl Hundegewinsel.

„Nein, Kind, noch nicht! Doctor hat’s verboten!“ rief der Schwarze von der Wiese herüber. „Pirat ist wild, regt Dich auf. Heute nicht – morgen! Will nachher gleich hingehen und ihn zur Ruhe bringen.“ Damit stampfte er immer tiefer in das Gras und machte Jagd auf die gelben Blumen und die dicken Federbälle, die unter seiner Berührung aus einander stäubten.

Die Augen der Majorin glühten plötzlich auf, und so voller Hast, als habe es ihr eine dämonische Gewalt angethan, die sie vorwärts treibe, verließ sie die Leiter und ging in das Haus. Den Hof betrat sie nicht; sie nahm den Weg durch die Hintergebäude, den der kleine José neulich gegangen war – über die dunklen Böden hinweg kam sie ungesehen in das Giebelzimmer. Fast wie ein Dieb, der sich auf fremdes Gebiet schleicht, bemühte sich diese Frau mit dem sonst so majestätisch festen Gang, geräuschlos in ihr eigenes Zimmer zu treten.

Sie schloß den Wandschrank auf, der ihr reiches Silbergeräth enthielt. In der einen tiefen Ecke des Schrankes hatte einst auch das verhaßte Pathengeschenk mit dem eingravirten Namen Lucian, den Augen der Welt möglichst entrückt, gelegen. Die Majorin nahm einen kleinen, schwervergoldeten Silberbecher von herrlicher Form und Arbeit heraus. Das war auch ein Pathengeschenk, das einst ein reicher Freund des Hauses der kleinen Therese Wolfram in das Taufzeug gesteckt hatte. Hastig fuhr sie noch einmal mit dem Staubtuch über das goldfunkelnde Innere des Bechers; dann ließ sie ihn in die Tasche gleiten und ging auf demselben Wege, den sie gekommen, in den Garten zurück.

Ein Blick über den Zaun überzeugte sie, daß der Neger zu dem Hund gegangen sei, um ihn zu beruhigen. Mit bebenden Fingern zog sie einen Schlüssel aus dem klirrenden Bund, der an ihrem Gürtel hing, riß die Küchenschürze ab, um sie hinter den nächsten Busch zu werfen, und schloß die kleine Mauerthür auf, die hinaus auf die Straße führte.

Das alte Brettergefüge ächzte und kreischte in den Angeln – die Majorin fuhr zurück und biß die Zähne auf einander. Vor langen Jahren hatte diese Thür auch so feindselig gemurrt, als gehöre sie auch zu Denen auf Wolfram’schem Gebiet, die es so ungern sahen, daß die schöne Tochter des Hauses, das bräutliche Mädchen im weißen Kleide, da hinausschlüpfte, um drüben im Schillingsgarten dem schlanken Soldaten in die Arme zu eilen. Ja, weiß wie eine Taube war sie immer hinüber geflattert – er hatte das so sehr geliebt.

Die Majorin hatte den Fuß unwillkürlich zurückgezogen: aber nur für einen Moment – dann trat sie entschlossen hinaus, und die Thür fiel hinter ihr zu.

Die an sich schon öde Straße, mit den verlorenen Häusern zwischen langen Gartenmauern, war in diesem Augenblick völlig menschenleer. Es bedurfte auch nur weniger Schritte, um die Thür des nachbarlichen Gartens zu erreichen. Sie wurde tagsüber nie verschlossen – der Farbenreiber, die Modells und auch die Dienerschaft gingen meist da aus und ein. Die Majorin wußte das – sie klinkte die Thür auf und trat ein.

Das grüne Dämmerlicht unter den uralten, langbärtigen Fichten hauchte sie an wie ein Traum, der längst versunkene Zeiten auferstehen läßt, und im ersten Augenblick war es ihr, als müßten jenseits der Walddämmerung goldene Epauletten im hellen Tagesschein aufblitzen. Die großen, dunklen Augen der Majorin blickten umflort, bis sie auf die blaue Seidendecke fielen, die zwischen den Fichtenstämmen hervorleuchtete. Dort glänzte es ja auch golden – das Knabenköpfchen, das sich bei dem Thürgeräusch emporrichtete.

Der kleine José sah erstaunt, aber nicht erschrocken zu der Frau empor, die mit wenigen Schritten neben ihm stand – die [548] Frau im schwarzen Kleide mit dem schönen, farblosen Gesicht und den schneebleichen Lippen, die sich zitternd öffneten und schlossen, ohne einen Laut hervorzubringen.

Wie ein Fürstenkind lag der Knabe da, den das alte Klosterhaus neulich wie mit tückischen Fangarmen in seinem häßlichsten Winkel festgehalten. Ein Amulett funkelte an seiner Goldkette auf dem spitzenbesetzten Schlafkleidchen, das weiß aus dem übergeworfenen, seidengefütterten, blauen Sammetmantel schimmerte. Die alten Tuchweber aus dem engen Stadtgäßchen würden wohl den Kopf geschüttelt haben über das aristokratisch feine Menschenbild, in welchem auch ihr Blut floß, das Blut der Ackerbürger mit den schwieligen Händen und dem rauhen, störrigen Sinn.

„Geht es Dir wieder besser?“ fragte die Majorin halb flüsternd und bog sich tiefer über das Kind, daß sie den Athem des kleinen Mundes über ihre Wange hinwehen fühlte.

„Ach ja – aber müde bin ich. Und ich möchte doch so gern mit Paula und Pirat im Garten herumlaufen.“

„Paula ist Dein Schwesterchen?“

„Ja, weißt Du das nicht? – Sieh ’mal, die wunderschöne Kette, die ich mache! Willst Du sie haben?“

Er hing ihr die plump zusammengefügten Ringe der Löwenzahnstengel, an denen sich vorhin die schwachen Fingerchen emsig abgemüht, über den Arm.

„Ja, mein liebes Kind, die will ich behalten,“ sagte sie, und behutsam, als sei es eine zerbrechliche Filigranarbeit, sammelte sie die Kettenglieder in der Linken; dann griff sie mit der Rechten in die Tasche und zog den Becher heraus. „Ich will Dir auch etwas schenken, einen kleinen Trinkbecher, aus welchem Du künftig Deine Milch trinken sollst.“

Den Becher, den das alte Klosterhaus so lange gehütet, er lag jetzt auf der blauen Decke, und der Knabe griff mit beiden Händen danach.

„Ach, der ist aber schön!“ sagte er bewundernd und wandte ihn spiegelnd hin und her. „Ich danke Dir,“ rief er plötzlich aus vollem, erfreutem Kinderherzen und hob sich mit ausgestreckten Armen an der Frau empor, und sie – ihrer nicht mehr mächtig, schlang ihre Arme fester und fester um den kleinen Leib, der sich an sie schmiegte, und als wolle sie alle die trotzige Entsagung, die namenlos bittere, bohrende Reue, die furchtbare Einsamkeit der letzten Jahre, die grausame, übermenschliche Zurückhaltung, die sie neulich[WS 1] dem Kind gegenüber behauptet, in einem einzigen glückseligen Moment auslöschen und vergessen, bedeckte sie den Kleinen mit den Küssen einer fast wild hervorbrechenden Zärtlichkeit. …

Tiefaufathmend ließ sie das Kind in die Kissen zurücksinken.

„Willst Du auch an mich denken, wenn Du aus dem Becher trinkst?“ fragte sie – wer hatte je diese Stimme so weich, so bewegt und seelenvoll gehört?

„Ja, aber wie heißest Du denn?“

„Ich?“ – Das Blut, das ihr heiß nach dem Kopf geströmt war, sank jäh zurück und mit blassen Lippen wiederholte sie nochmals: „Ich?! Ich heiße Großmama!“

Damit trat sie rasch, fast wie flüchtend, von dem Knaben weg und schritt nach der Thür.

„Bleib’ doch da!“ rief er bittend.

Auf diese Laute hin wandte sie noch einmal den Kopf nach ihm, aber in demselben Augenblick bog der Neger um die Ecke des Ateliers. Noch ein Winken mit der Hand, dann war sie so rasch hinter der Mauerthür verschwunden, daß Jack nur noch einen Zipfel ihres langen schwarzen Gewandes wie einen Schatten hinausgleiten sah.




31.

Die Majorin schritt wieder auf dem gradlinigen Hauptweg des Klostergartens. Ihre Augen blickten wie traumverloren, als schreite sie in die weite Welt hinein und nicht durch den dunklen, dumpfen Holzstall in den engumgrenzten offenen Raum, von dessen Mauern der ganze wüste Lärm eines Oekonomiehofes widerhallte.

Mosje Veit war eben dem Schulzwang entlaufen. Er rannte, als sei er in einem engen Käfig eingesperrt gewesen, in tobender Ausgelassenheit durch den Hof und ahmte ein wildes Pferd nach, das in das Gebiß knirscht und schäumt.

Die Majorin blieb erschrocken stehen. Noch fühlte sie den Hauch des süßen Kindermundes auf den Lippen, und der zärtlich sanfte Knabe mit seinen großen sprechenden Augen, den sie in den Armen gehalten, er war schön wie ein Seraph; er hätte mit seinem grazienhaft ruhigen und edlen Wesen ein Fürstenhaus geziert – und er war ihr eigen Fleisch und Blut; der Lebensstrom, der einst von ihr ausgegangen, er hatte eben, wie zurückkehrend, in sanften Schlägen des kleinen Herzens an ihre Brust geklopft, unabweisbar zu ihr gehörend und die unnatürliche Schranke überfluthend, die das harte Gebot: „Ich will Dich nie wiedersehen, selbst nach dem Tode nicht,“ selbstsüchtig aufgerichtet. Und sie hatte einst gemeint, man könne vergessen und verwinden, wenn man nur ernstlich wolle; sie hatte sich all die Jahre hindurch immer angstvoller an den Namen ihrer Väter angeklammert, der wie ein knorriger Eichenstamm Jahrhunderte lang seine Eigenart behauptet und nach dem dünkelhaften Sinn der letzten seiner Töchter kein ausgeartetes, verkrüppeltes Reis tragen konnte. Sie hatte „vergessen und verwinden“ wollen um des Knaben willen, der da eben wie ein losgebundenes junges wildes Thier den Boden stampfte, der mit seinen schiefgestellten Augen tückisch nach einem Opfer für seine Peitsche suchte, und der in seiner brutalen Rohheit und Bosheit, seiner Lügenhaftigkeit der Schrecken Aller war. Gerade in diesem Augenblick kam ihm die Stallmagd in den Weg. Sie trug zwei volle Eimer und konnte sich nicht wehren, und das war ein zu günstiger Moment – sausend fuhr die scharfe Peitschenschmitze über die dünnbekleideten Schultern des Mädchens; sie stieß ein Wehegeschrei aus und krümmte sich vor Schmerz.

Mit raschen Schritten trat die Majorin aus dem Holzstall – sie entriß dem Knaben die Peitsche, zerbrach den Stock derselben und warf ihm denselben vor die Füße.

Er wollte wüthend auf sie losspringen – es lief ihr wie ein Schauer über den Leib; nach jenem innigen Umfangen durfte ihr dieses Element nie wieder nahe kommen. Sie stand da wie eine Mauer und streckte dem Heranstürmenden die geballte Hand entgegen.

„Fort – oder ich züchtige Dich, so lange ich eine Hand rühren kann!“ sagte sie mit ihrer eiskalten, harten Miene.

Er hatte die Kraft dieser Hand neulich zur Genüge gespürt und zog sich feige zurück.

„Der Papa wird Dir’s schon sagen. Wenn er nach Hause kommt, da kriegst Du Deine Leviten,“ drohte er und lief nach dem Pferdestall, wo noch verschiedene seiner Peitschen und Reitgerten logirten.

(Fortsetzung folgt.)




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
7. Glückliche Jugend.

Das Paradies soll ganz und für immer von dieser sündhaften Erde verschwunden sein? Wer das behaupten kann, der hat noch keine Christbescheerung, kein erstes Maienglöckchensuchen, keine bunten Ostereier und keine großen Ferien erlebt.

Das Paradies ist immer noch da, ganz unverdorben, in seiner wunderherrlichen Glückseligkeit, und wir Alle, Alle sind auch mit darin gewesen in jenem Paradiese, das man – die Kinderzeit nennt.

Freilich, wie lange wir darin waren, und wie viel von seinen Herrlichkeiten wir schmecken durften, das hat zumeist von dem guten Willen unserer Eltern abgehangen. Jetzt sind wir selbst Eltern geworden und halten es in unserer Hand, unseren Kleinen den Antheil zuzumessen, den sie am Kindheitsparadiese haben sollen, und da möchte ich doch alle Eltern, die ihre Kinder lieb haben, darum bitten, recht reichlich zu messen.

Das junge Menschenkind ist schon so oft mit einem Bäumchen

[549] verglichen worden, das man in „des Garten besten Raum“ gepflanzt hat, damit es „gute Früchte“ trage. Diese Früchte heißen: Menschenliebe, Pflichttreue, klarer, heller Geist, gesunder, kräftiger Körper, ungebeugter Muth in allen Lebenslagen und ein stets zufrieden heiteres Gemüth. All die schönen Früchte aber, die wir so gern an unserem Bäumchen ernten möchten, entstehen nur aus den Blüthen einer treubehüteten, wohlgepflegten und reichbeglückten Kinderzeit. Wie wollt ihr Früchte ernten, wenn ihr die Blüthe vorzeitig abstreift oder giftigen Thau darauf fallen laßt? wenn ihr den Sonnenschein rücksichtslos verdunkelt, in dem allein der junge Baum gedeihen kann? Nicht nur darnach, ob das Kind zweckmäßig ernährt und bekleidet ist und den entsprechenden Unterricht empfängt, habt ihr bei seiner Pflege zu fragen; auch darnach, ob seine kleinen Augen den Abglanz jenes echten Kinderglückes widerspiegeln, das für jedes Menschenleben nur einmal kommt; ob kein trüber Nebel den hellen Glanz verkümmert, in dem ihnen jetzt noch die ganze Welt strahlen muß, wenn diese Welt ihnen nicht später als ein – „Jammerthal“ erscheinen soll. Es ist merkwürdig, wie früh schon Kinderaugen jenen müden, gedrückten Blick annehmen können, der mir tief in die Seele schneidet, wo ich ihm begegne. Und wie herzerquickend ist es, in den klaren Augen eines ehrwürdigen Greises noch im höchsten Alter den Widerschein seiner glücklichen Kindheit leuchten zu sehen, den er sich tief im Herzen bewahrt hat, trotz aller Stürme einer langen Pilgerfahrt!

Mit Namen könnte ich sie euch herzählen, die heiteren alten Herren und freundlichen Matronen, die ihr ganzes Leben lang gleichsam „gezehrt“ haben an dem Segen einer glücklichen Kinderzeit; wo du aber finsterem Pessimismus begegnest, da forsche nur nach – auf dem Boden eines Kinderparadieses ist dieses Kraut sicherlich nicht gewachsen.

Der Schüchterne.

Siesta.

Ende des Spiels.
Aus dem Paradiese der Kindheit. Originalzeichnungen von Gustav J. Schulz in Wien.

Indem ich über die Erklärung jenes einen schönen Kinderglückes nachsinne, das ich allen unseren Kleinen so gern schaffen möchte, fällt mir ein Ausspruch ein, den ich einmal irgendwo gelesen habe und der am treffendsten bezeichnet, was dazu erforderlich ist.

„Ihr habt Viel für eure Kinder gethan,“ heißt es da ungefähr. „Erst habt ihr ihnen eine Amme gehalten, dann eine Bonne, dann Erzieherinnen und Lehrer; jetzt haltet ihr dem Sohne ein Reitpferd und der Tochter einen Logenplatz im Theater, und doch [550] sind eure Kinder nicht glücklich? O, hättet ihr ihnen doch statt alledem einen – Vater und eine Mutter gehalten!“

Ja, seht ihr, darin liegt es: nur ein Vater und eine Mutter können die Schöpfer des Kinderparadieses sein, und ungetrübt wird Kinderglück nur in einem Hause wohnen, wo beide Eltern sich darin vereinigen, dieses Glück stets heilig zu halten. Streng sollen die Kinder erzogen werden, aber auch gerecht. Eine gerechte Strafe schädigt die Heiterkeit des Gemüthes durchaus nicht, ja sie erhöht dieselbe sogar durch die nachfolgende Vergebung. Die Strafe ist ja nur Mittel; Reue und Versöhnung sind der Zweck dabei, das darf man nie aus den Augen lassen. Nicht die Strafe selbst, nein, die halbe Stunde, welche der Strafe folgt, ist das Wichtige für die Erziehung. Und wenn nun der Fehler bereut, wenn aufrichtig Besserung gelobt und Alles wieder vergeben ist, dann leuchtet die Sonne nur um so heller; kein Kind ist zärtlicher gegen die Mutter, als das soeben gestrafte, und nur streng erzogene Kinder können glückliche Kinder sein.

Um aber in diesem Sinne die Kindererziehung durchführen zu können, dazu bedarf es kurz und bestimmt ausgesprochener Anordnungen oder Verbote, deren Mißachtung nie übersehen, sondern stets auf dem Fuße gestraft wird; das beständige Nörgeln und Zanken, wie man es in manchen Häusern hört, ist schon eine der Versündigungen am Kinderparadiese, die man sich nicht gestatten darf.

„Geh’ doch da herunter!“ „Greife das nicht an!“ „Mach’ nicht so viel Lärm!“ „Herr Gott, wie Du wieder aussiehst!“ „Wirf doch nicht Alles herum!“ „Laufe doch nicht ewig aus und ein!“ „Wie setzest Du nur wieder die Beine!“ „Wie hältst Du nur wieder die Hände!“ „Ist das ein Elend mit Dir! Du hörst aber auch gar nicht.“

So geht es in vielen Familien den ganzen lieben Tag, und ein Fremder, der es nur kurze Zeit mit anzuhören gezwungen ist, möchte am liebsten die Ohren zuhalten.

Dann klagt die Mutter: „Ich bin doch gewiß streng genug; ich rede den ganzen Tag, aber es ist nichts anzufangen mit dem Jungen.“ – Der arme Junge aber, der es täglich zwanzigmal hören muß, daß mit ihm „nichts anzufangen“ ist, steht mit verschüchterter Miene daneben, kaut unbeholfen an den Nägeln, und jeder seiner ängstlichen Blicke ist eine stumme Anklage ob des geraubten Kinderglückes.

Nehmt jenen andern pausbackigen Bengel von drei bis vier Jahren dagegen. Seine Mutter sieht ruhig zu, wie er auf fünf Stühle des Zimmers nach der Reihe klettert und wieder herabrutscht, auf den sechsten aber steigt er gewiß nicht, denn der steht vor Vaters Schreibtisch, und nie wird es dem wilden Jungen einfallen, dort nur das kleinste Papierschnitzelchen anzurühren. Das ist ihm nur ein- oder zweimal verboten worden, aber er weiß, so klein er noch ist, daß verbotenes Thun stets unnachsichtlich bestraft wird; der Schreibtisch, der Mutter Nähtisch, auf dem sie ruhig Nadeln und Scheere liegen lassen kann, existirt einfach gar nicht für ihn.

So tobt und jubelt, plaudert und springt er ungehindert den ganzen Tag, und kommt einmal ein Riß in’s Schürzchen, nun, das kann ja wieder zugenäht werden. Beschmutzt er sich Gesicht und Hände – Wasser und Seife sind ja leicht zu haben. Aber wenn die Mutter nur einmal (nicht wie jene andere zehnmal) in festem, ernstem Tone sagt: „Setze Dich jetzt ein Weilchen ruhig hin!“ so thut er das ganz gern und beschäftigt sich eine lange Zeit stillschweigend. Er hat so stundenlang frei und ungehindert die kleinen Glieder bewegen können; da schmeckt zur Abwechselung auch die Ruhe ganz gut.

Auch Gewitter muß es geben am kindlichen Himmel, und die Sonne scheint danach um so heller. Aber außer den Krankheiten sollte die Unzufriedenheit der Eltern bei Ungezogenheiten die einzige dieser Wolken sein. Und wie selten braucht auch diese heraufzuziehen, wo es die Eltern erkannt haben, daß man neun Zehntel der gewöhnlichen Kinderfehler leichter verhüten als ausrotten kann! (Ist’s ja sogar bei den „großen Kindern“ eine Hauptaufgabe, dahin zu zielen, daß weniger Verbrechen verübt werden; es genügt nicht, nur die schon verübten streng zu bestrafen!) Also, außer den Rügen und Strafen für Selbstverschuldetes sollte kein peinlicher Eindruck den Frieden der reinen Kinderseele trüben. Kein Zank und Streit zwischen den Erwachsenen ihrer Umgebung, keine finsteren Launen, kein Besprechen unangenehmer oder wohl gar unpassender Verhältnisse in ihrer Gegenwart.

Es giebt ja doch fast in jedem Hause mindestens zwei bewohnbare Räume. Da schickt man doch lieber die Kinder hinaus, sobald Dinge auf’s Tapet kommen, bei denen sie nichts lernen können oder die sie noch nicht verstehen sollen. Wie früh dieses Verständniß schon zu fürchten ist, beweisen alle die unzähligen Anekdoten von „enfants terribles“, welche in aller Unschuld aufgefangene Worte weiter plaudern. Wenn schon die Kinder niemals Streitigkeiten ihrer Eltern über ihnen gleichgültige Dinge mit anhören sollten, ist es noch viel verderblicher, ja ein wirkliches Verbrechen an den jungen Seelen, sie zu Zeugen der geringsten Meinungsdifferenzen zu machen über Fragen, welche sie selbst betreffen. Da müssen Vater und Mutter vollständig als eine Person in ihren Augen erscheinen. Nie darf die Mutter erlauben, was der Vater verboten hat, nie darf das Kind in die Arme des Einen flüchten, wenn es vom Andern gescholten worden ist. Hier gilt es wieder einmal, wie für eine kluge Mutter so oft, von zwei Uebeln das kleinere zu wählen.

Du glaubst, das Kind hat schon genug gegessen, aber der Vater kann ihm die Bitte um „noch ein Bischen Compot“ nicht abschlagen. Du hast dem Gatten schon einen abmahnenden Blick zugeworfen, und doch legt er noch einen Löffel Kirschen auf den Teller des Kindes. Was nun thun? Laß das Kind ruhig die Kirschen essen! Das Uebel einer kleinen Verdauungsstörung ist geringer, als jenes, wenn dich das Mädchen rufen hört: „So gieb doch dem Kinde kein Obst! Es wird sich den Magen damit verderben.“

Wohl aber wirst du später, allein mit deinem Mann, ihn bitten, dergleichen nicht zu wiederholen. Oder nein, ich denke, es kommt anders. Sobald das Kind aus der Stube ist, hält er dir die Hand hin und sagt lachend:

„Zürne nicht, daß ich schon wieder schwach war gegen die Kleine! Ich hab’ Dir’s wohl angesehen, wie unangenehm es Dir war; es soll auch nicht wieder vorkommen.“

Ob’s wirklich nicht wieder vorkommt?

Nun, die Väter, welche ihren Kindern eine vernünftige Mutter gegeben haben, mögen darüber nachdenken und sie nicht gar zu oft auf solche Proben stellen!

Ich mache noch auf einen Punkt besonders aufmerksam, der von weittragendster Bedeutung ist: Wir Erwachsenen vermögen es nur unvollkommen, uns in die Gefühle eines Kinderherzens zu versetzen, und dürfen dieselben durchaus nicht nach den unserigen bemessen.

Die kindliche Seele genießt das Vorrecht, unangenehme Empfindungen schnell wieder zu vergessen, aber in dem Augenblicke, wo sie davon beherrscht wird, gehen diese Empfindungen ebenso tief, wie bei uns Alten. – Das Mädchen, welches seine schönste Puppe zerbrochen hat, ist ebenso unglücklich darüber, wie die Mutter, der ein Kind starb. Der Knabe, der in der Schule eine nach seiner Meinung unverdient schlechte Censur bekam, fühlt sein Ehrgefühl genau so tief gekränkt, wie sein Vater, der im Avancement übergangen wurde. Der Unterschied besteht nur darin, daß ein Kind in Stunden verschmerzt, was bei uns Wochen und Monate braucht, um niedergekämpft zu werden.

Deshalb ist es eine Grausamkeit, solch kindliches Weh zu verlachen und ihm die Theilnahme, den Trost zu versagen, den es ohne allen Zweifel verdient. Wohl mußt du Selbstbeherrschung verlangen von dem Kinde und es so früh wie möglich daran gewöhnen, seinen Kummer tapfer niederzukämpfen, aber das arme kleine, betrübte Wesen muß wissen, daß du seinen Schmerz anerkennst und für berechtigt hältst. Dieses Bewußtsein ist ihm süßer Balsam und knüpft das heiligste aller Bande, das zwischen Eltern und Kindern, noch fester, als es die reichsten Liebesbeweise vermöchten.

Wen dir der kleine Sohn zitternd und mit heftigem Schluchzen sein todtes Vögelchen bringt, so würdest du sehr Unrecht thun, die Sache etwa gleichgültig zu nehmen oder, wie ich es einen Vater habe thun sehen, die kleine Leiche gar zum Fenster hinaus zu schleudern. Ein Vater, der so handelt, braucht sich dann freilich nicht zu wundern, wenn die Kinder beim Heranwachsen sich nicht mit Vertrauen und Liebe an ihn schmiegen und er ihnen ziemlich fern steht in jenen Tagen, wo es Größeres zu begraben gilt, als eine todten Vogel. Konnte er nicht das Söhnchen liebreich in [551] seine Arme nehmen und etwa sagen: „Das ist ja sehr traurig! Wie thut auch mir das Vögelchen leid! Aber weißt Du, es war alt und krank; da ist es viel besser so für das arme Thierchen. – Wir wollen es in eine schöne Schachtel legen, und Du magst es draußen im Garten begraben.“

Ehe noch die Schachtel ganz mit Erde bedeckt ist, schimmert schon wieder der alte Glanz aus den rothgeweinten Aeuglein – o, du selige, glückliche Kinderzeit! In solcher Weise muß man, wenn man es redlich meint, die Kümmernisse behandeln, die das Kinderparadies bedrohen. Als ich diese Ansicht einmal aussprach, wurde mir eingewendet: „Das Leben bettet aber später unsere Kinder nicht auf Rosen; ist es da nicht thöricht, sie in der Jugend so sehr zu verwöhnen?“

Auch hier, wie überall im Leben, sprechen Thatsachen und Erfahrungen am lautesten. Nun kann ich aber, bei mir selbst anfangend, die ich eine der sonnigsten Stellen im unvergessenen Kinderparadiese bewohnen durfte und gerade dadurch gestählt wurde für die Kämpfe späterer Jahre – bei mir selbst anfangend, kann ich mich umsehen so weit ich will, ich höre fast von allen Menschen, welche schwere Schicksale standhaft zu ertragen wußten, sagen: „Wer hätte gerade diesem Menschen, der nur in Glück und Freude groß gewachsen ist, solche Kraft zugetraut?“

Das Glück und die Freude haben ihm eben die Kraft gegeben, auch weniger gute Stunden heiter zu ertragen. Elterliche Schwäche, Inconsequenz, Unverstand oder Nachlässigkeit in der Erziehung verwöhnen ein Kind und machen es für die Anforderungen des Lebens untauglich, aber Kinderjahre voll Liebe, Lust und Freude, geschützt und geleitet von besonnener treuer Elternhand, haben gewiß noch keinen Menschen verwöhnt.

Wer seine Kinder lieb hat, der gönne ihnen den sonnigen Frühling und suche alle die kleinen Freudenblumen zu pflegen, an denen das Kinderherz so reich ist und die man ihm so leicht verschaffen kann. Alles aber, was dieses Glück trüben oder vorzeitig begraben muß, suche er sorgfältig, mit Selbstverleugnung und Aufopferung zu vermeiden; dann hat er seinen Kindern den Talisman mit in’s Leben hinaus gegeben, den keine menschliche Gewalt und keine Schicksalstücke ihnen jemals rauben kann: ein heiteres Gemüth und ein zufrieden fröhliches Herz.




Laube’s Vortragsmeister.
Ein Beitrag zur Theater-Pädagogik von Wilhelm Goldbaum.

Lessing war dem deutschen Theater im eigentlichsten Sinne ein Pfadfinder. Von denen, die seinen Fußspuren gefolgt sind, ist Heinrich Laube am tapfersten in’s Dickicht vorgedrungen. Davon wissen das Wiener Burgtheater und das schöne Haus am Leipziger Augustusplatze beredte Geschichten zu erzählen. Der Schlendrian, die armselige Routine, das Handwerkerthum in der theatralischen Kunst waren übermächtig geworden trotz der „Hamburgischen Dramaturgie“, trotz August Wilhelm von Schlegel’s dramaturgischen Vorlesungen, trotz Goethe’s Direction in Weimar und der Genialität eines Ludwig Devrient und Seydelmann. Jeder untergeordnete Schauspieler dünkte sich einen geborenen Meister, jeder hervorragende ward allmählich zum Virtuosen. Der Theaterdirector sank zum Cassier, der Regisseur zum Ordner herab. Wenige Bühnenleiter in dem Zwischenraume zwischen Goethe’s Tode und Laube’s Amtsantritt in Wien machten eine Ausnahme, wie etwa Klingemann und L. A. Schmidt, aber sie vermochten nicht, breitere Wirkungen zu üben und das gesammte deutsche Schauspielerthum im Lessing’schen Sinne zu reformiren, da sie mit ihren Bestrebungen auf deutsche Mittelbühnen angewiesen waren. So zerfiel jedes Ensemble; unmäßiges Pathos gelangte hier, seelenloser Realismus dort zur Herrschaft, und am Ende war dasjenige Land, wo man die Lehren des Aristoteles am scharfsinnigsten erfaßt und Shakespeare zu Ehren gebracht, das einen Lessing erzeugt und von Schiller und Goethe unvergängliche Bühnenwerke ererbt hatte, im Besitze einer Schaubühne, die, anstatt bildend zu wirken, selber roh, und anstatt unterhaltend zu sein, geldgierig und hausbacken war. Heinrich Laube hat zuerst wieder dem deutschen Theater idealere Wege gewiesen; er kommt gleich hinter Lessing, wenn auch als Epigone nur verlebendigend und gestaltend, was jener gewollt und ausgedacht hat.

So ist das Laube’sche Institut eines Vortragsmeisters ein dualistisches Ding, ein Geschöpf zugleich Lessing’scher Intention und Laube’scher Schaffenskraft. Als Lessing Stammgast hinter den Coulissen der Theaterbude der Neuberin wurde, wo über Gottsched das Strafgericht hereinbrach, da graute es ihm vor der abgrundtiefen Unbildung, der er bei den Trägern und Trägerinnen der göttlichen Kunst begegnete. Nicht viel besser erging es ihm in Hamburg. Der Instinct that Alles, das Verständniß nichts. Ganz natürlich war es also, daß in ihm der Wunsch auftauchte, es möchte zum Genie die Lehre, zum Instincte die Unterweisung sich gesellen. Das Sprechen ist eine schwere Kunst; man erlernt es weder durch bloße Uebung, noch durch angeborene Findigkeit. Wie mühsam hat Schröder an sich gearbeitet, um auf der Bühne angemessen sprechen zu können! Und wie wenige, auch unter den Unsterblichen des Theaters, haben es erreicht, daß sie wahrhaftig und ohne Fehl aus dem Geiste des Dichters sprachen!

Aber erst hundert Jahre nach der „Minna von Barnhelm“ kam Lessing’s Wunsch, gleichsam als Vermächtniß, zur Erfüllung.

Heinrich Laube, der das Theater in Leipzig führte, verwirklichte ihn, nachdem er eine Persönlichkeit ausfindig gemacht hatte, welche ihm geeignet schien, die Kunst des scenischen Sprechens erfolgreich zu lehren. Darüber ergab sich der erfahrene Mann keiner Täuschung, daß alle Unterweisung der Welt nicht hinreicht, um auch nur ein einziges Genie zu schaffen, und er meinte nicht etwa, daß die Arbeit des Vortragsmeisters mangelndes Talent ersetzen könne. Aber wie an anderen Orten, so ist auch auf den Brettern das Talent in der Minderheit und die verwendbare Mittelmäßigkeit in der überwiegenden Majorität. Für sie, die nur kann, was sie eifrigst lernte, ist der Vortragsmeister vorhanden; dem Genie, das so Vieles vermag, auch ohne es gelernt zu haben, ist der Vortragsmeister nahezu überflüssig. Wer einer ersten Probe neuer Theaterstücke beigewohnt hat, ist in der Lage, darüber zu urtheilen. Welche Wort- und Satzverrenkungen, welch sinnlose und triviale Accente, welcher Mangel an Verständniß nicht blos der tieferliegenden, sondern der anscheinend einfachsten Gedanken! Der Regisseur hat einen Augiasstall von Unwissenheit zu säubern, bevor er aus Mimik, Gesticulation und Zusammenspiel sein Augenmerk zu richten vermag, und so viele Proben, daß das Säuberungswerk völlig gelinge, können sich nur wenige deutsche Theater vergönnen. Darum ist es erforderlich, daß die Elementarthätigkeit, welche auf die Kunst des richtigen Sprechens verwendet werden muß, außerhalb des Theaters und lange vor Beginn der Proben geübt werde, und dazu ist der Vortragsmeister da, der nicht selbst ein Schauspieler zu sein braucht, aber ein genauer Kenner der Bühne und der Bühnenliteratur sein und die Gabe der Unterweisung mit der Fähigkeit tadelloser Vortragskunst in sich vereinigen muß.

Heinrich Laube hat die meisten unter den berühmten Darstellern und Darstellerinnen, über welche gegenwärtig das Wiener Burgtheater verfügt, schlechthin erfunden. Er zog Charlotte Wolter an’s Licht, entdeckte Auguste Baudius, Sonnenthal und Lewinsky, engagirte Zerline Gabillon. Auch Alexander Strakosch, der Vortragsmeister, wurde von ihm aufgespürt, und dieser erwies sich dafür dankbar, indem er seinem Patrone eine der talentvollsten unter den gegenwärtigen deutschen Heroinen, nämlich Katharina Frank, aus dem Wuste des Statistenthums auflas und zu künstlerischer Wirkungsfähigkeit erzog.

Alexander Strakosch ist von Geburt ein Deutsch-Ungar. Er stammt aus der Slovakei, dem Lande am südwestlichen Abhange der Karpathen, wo die Industrie der Mausefallen in hoher Blüthe steht. Streng genommen also rinnt slavisches Blut in seinen Adern, und da er nebenbei zum auserwählten Volke gehört, so denkt man unwillkürlich an Bogumil Dawison, in welchem die Vereinigung von Pole und Jude den Hang zur deutschen Kunst ebenfalls nicht zu erdrücken vermochte.

Diejenigen, von welchen Strakosch schon als Jüngling gekannt wurde, erinnern sich seiner als eines Mitläufers der Wiener

[552] „Bohème“, die damals bekanntlich aus Lyrikern auf Schopenhauer’scher Grundlage, aus verunglückten oder embryonischen Künstlern, aus Coulissenschmarotzern und ähnlichen menschlichen Unvollkommenheiten bestand. Es war damals die Zeit der modisch gewordenen Weltverachtung, des Havelocks, hinter dessen Falten sich der Schmerz unerwiderter Liebe barg, der Lockenfülle, in die sich das verkannte Genie kleidete, und der kleine Slovak mit der blonden Mähne – ein Bild, welches den Wiener Witzblättern allezeit ein willkommener Lückenbüßer gewesen ist – fühlte sich von allen Unverstandenen als der Unverstandenste. Er schielte lüstern nach den Brettern, für die er geboren zu sein meinte, während alle Welt ihm bedeutete, er sei dem Schöpfer der Bühnengenies mindestens um zwei Schuh zu kurz gerathen.

In Paris denkt man bekanntlich anders über diesen Punkt. Dort findet man kein Hinderniß darin, daß der Liebhaber oder Held das Militärmaß nicht erreicht, weil die correcte Declamation, das langgedehnte Pathos, die gravitätische Stelze des Alexandriners eine Art Cothurn bilden, auf dem auch winzige Gestalten eine gewisse Höhe zu erlangen scheinen. Der blonde Bursch aus dem Slovakenlande, der wenig zu verlieren hatte, pilgerte also nach Paris. Und es gewann den Anschein, als ob er, von guten Lehrern vorgebildet, zu einer Laufbahn auf dem glühenden Boden des Theatre Français bestimmt wäre. Da befiel seinen rechten Arm eine langwierige Krankheit, die eine dauernde Versteifung zur Folge hatte, und der Traum des Mimen war zu Ende.

So kam der kleine Mann zu Heinrich Laube nach Leipzig, schier brennend von Theaterbegeisterung, mit den breiten, majestätischen Accenten des Theatre Français die deutschen Bühnenclassiker recitirend, halb Rhetor und halb Komödiant, aber unverwendbar im activen Dienste der Göttin, die er anbetete.

Heinrich Laube ist nicht mitleidig. Er weiß genau, was für die Bühne taugt, und wenn er nicht selten, namentlich bei dem weiblichen Nachwuchs der Schauspielkunst, die äußerlichen Vorzüge mit scheinbar überwiegendem Interesse veranschlagt, so geschieht es, weil der Praktiker in ihm aus langer Erfahrung die Lehre geschöpft hat, daß die Schönheit eine unerläßliche Voraussetzung der Kunst ist. Es ist freilich Geschmackssache, daß die Pariser sich die Hände wund klatschen, wenn die Mars oder Déjazet noch als Matronen in den Rollen jugendlicher Liebhaberinnen auf den Brettern erscheinen, aber was uns Deutsche betrifft, so kennt uns Laube zu gut, um uns zuzumuthen, daß wir uns vermittelst der Illusion einen Zwerg in einen Riesen und eine Pastrana in eine Venus von Milo verwandeln sollen.

Er sah denn auch auf der Stelle ein, daß der deutsch-ungarische Ankömmling aus Paris für die Scene selbst nichts weniger als brauchbar sei. Aber er hatte seit Langem schon nach einem Vortragsmeister ausgespäht, und zu einem solchen dünkte ihm Alexander Strakosch wie geschaffen zu sein. Eine bis zur Einseitigkeit getriebene Begeisterung für das Theater, ein mächtiges Organ, eine peinlich saubere Declamation, ein Ungestüm, der auf Andere mitreißend wirken mußte, und endlich eine Emsigkeit, die bei der sprödesten Aufgabe ausdauerte – was hätte mehr als dieses Zusammentreffen von Eigenschaften den Beruf zum Vortragsmeister offenbaren können?

Nach einjährigem Aufenthalte verließ Laube die Stadt Leipzig, um das Wiener Stadttheater zu begründen. Strakosch zog mit ihm, als der „Einpauker“ eines aus allen Enden Deutschlands zusammengewürfelten Personals. Das Buchstabiren lehrte Strakosch; Stil und Auffassung brachte Laube selbst seiner neuen Armee bei. Wunderliche Anekdoten waren damals über das Stadttheater im Schwange. Eine Dame, die nicht etwa dritte, sondern mitunter erste Rollen spielte, fragte den Vortragsmeister, was „Honny soit qui mal y pense“ auf deutsch bedeute; eine andere steifte sich darauf, den Namen Antigone auf der vorletzten Silbe zu betonen. Die an und für sich untergeordnete Aufgabe des Vortragsmeisters kam unter solchen Umständen zu einer ungeahnten Bedeutung; sie ward für das Theater, was der Unterricht in der Elementarschule für die allgemeine Bildung ist: eine Stufe, die man überschritten haben muß, wenn man nicht oberhalb derselben stolpern oder fallen will.

Ich habe, wie unzählige Andere, an die von Laube so nachdrücklich betonte Unentbehrlichkeit des Vortragsmeisters lange nicht glauben mögen, und deshalb begab ich mich eines Tages zu Strakosch mit dem Ersuchen, mir die Anwesenheit während einiger Lehrstunden zu gestatten. Es waren, um populär zu sprechen, blaue Wunder, die ich bei dieser Gelegenheil erlebte. Ein Mädchen, das den Backfisch in dem Preislustspiel „Durch die Intendanz“ einstudirt, wird von einem andern abgelöst, welches eine Rolle in Freytag’s „Graf Waldemar“ durchzuarbeiten hat. Dazwischen kommt ein vierschrötiger Jüngling, um einen Monolog des Hamlet zu probiren; eine etwas verschossene Jungfrau winselt das Heimwehlied der Maria Stuart; ein hagerer Bursche versucht sich an dem Secretarius Wurm. Strakosch weiß alle Rollen mitsammt den Stichwörtern auswendig; er bittet, poltert, gesticulirt; er dringt auf Einfachheit, sagt seitenlange Stellen vor, unterbricht, berichtigt – du lieber Gott! Die kleine Maria Stuart hat nun einmal ihre eigenen Gedanken über scenische Erfordernisse.

Sie schaut mit aufgerissenen Augen zur Decke hinauf, wo sie sinnend zu Boden blicken sollte, flötet, wo sie schreien, und jammert, wo sie lachen müßte. Der Accent taumelt wie betrunken über die Worte hin; das Tempo ist regellos wie der Wellenschlag bei Ueberschwemmungen. Und nun erst dieser künftige Hamlet! Die beiden ledernen Burschen Rosenkranz und Güldenstern haben den Dänenprinzen verlassen; er ist wie aus Gefangenschaft befreit, da er sie losgeworden, denn er muß mit seinem Jammer, seiner Wuth, seinen nagenden Selbstanklagen allein sein, und gequält, aufschreiend, vom Wahnsinn gestreift und von Racheplänen gefoltert, stöhnt er sein berühmtes „Endlich bin ich allein.“ Es ist überaus schwer, hier den rechten Ton zu finden, und große Künstler scheitern an dieser Rolle. Der Wiener Jüngling macht sich darob keine Scrupeln; er jauchzt mit dem mächtigsten Aufgebot seiner Lungen:

„Endlich bin ich allein.“

„Schreien Sie nicht!“ ruft der Lehrer. Der Schüler gehorcht und flüstert, aber mit der nämlichen Betonung. „Betonen Sie das ‚Endlich’“, lehrt der Meister; der Schüler repetirt:

Endlich bin ich allein!“

„Halten Sie den Ton nicht so lange auf ‚Allein’; sonst verpufft die Wirkung,“ mahnt Strakosch. Der Zögling nimmt sich’s zu Herzen und verschluckt das arme „Allein“, sodaß gar nichts übrig bleibt.

So bis in’s Aschgraue geht es fort, eine Stunde um die andere, einen Tag um den anderen, ein Jahr um das andere. Von dreißig Schülern und Schülerinnen sind es durchschnittlich fünf, welche es zu mittelmäßigen Aussichten bringen, von hundert vielleicht nur drei, denen ein nenneswerthes Talent die Bahn erleichtert. Nichtsdestoweniger ist, zumal in Wien, der Andrang zur Bühne unverhältnißmäßig stark, und gerade die „fesche Wienerin“ ist bei angeborener Begabung schwer zu bemeistern. Sie declamirt:

„Eilende Wolken, Segler der Lifte,
Wer mit Eich segelte, mit Eich schiffte –“

und leichter bringt man ihr eine Kant’sche These in den Kopf, als die Ungezogenheiten des heimische Dialektes von der Zunge.

Es ist ein trübseliges Capitel, das vom Nachwuchse. Wer in idealen Vorstellungen von dem Priesterthume des Schauspielers befangen ist, geht ihm klüglich aus dem Wege. Denn nur zu oft ist heutzutage das Theater eine Correctionsanstalt für anderwärts schiffbrüchig gewordene Existenzen, ein Asyl oder ein Vorwand. Die Begabung ist es am seltensten, welche der Bühne Rekruten zuführt. Aber das Theater ist auf den Zufluß angewiesen, und so darf der Werber nicht prüde sein. Eben deshalb ist der Vortragsmeister um so nothwendiger. Wer will es einem Regisseur wie Laube verargen, daß er seine Thätigkeit nicht darauf verwenden mag, jenem Hamlet-Jüngling eine richtige Betonung des „Endlich bin ich allein“ beizubringen und einem dreisten Wienerkinde den Dialekt auszutreiben? Das ist die Arbeit aus dem Rohen, die der Vortragsmeister zu verrichten hat und die Alexander Strakosch in der That mit musterhafter Tüchtigkeit versieht.

Oft ist behauptet worden, die Zukunft der deutschen Bühne sei an die Gründung von Theaterschulen geknüpft, und Laube selbst hegt diese Meinung. Mich bedünkt indessen, daß dieser Glaube mehr aus gutwilliger Hoffnung als aus nüchterner Erwägung seine Nahrung schöpfe. Das Einzige, was die Theaterschule zur Lösung des Problems beitragen könnte, wäre die Vermehrung der allgemeinen Bildung inmitten des Schauspielerstandes. Das würde an und für sich einen Gewinn bedeuten, wenn er zunächst auch nur darin bestände, daß der Schauspieler [553] in der Literaturgeschichte, der Aesthetik, der Prosodie und der Lehre von den poetischen Gattungen einigermaßen heimisch würde. Allein die Frage läßt sich nicht abweisen, inwieweit die allgemeine Bildung neben der künstlerischen Unmittelbarkeit einhergehen kann, ohne sie zu schädigen. Das Wissen und das Können sind nicht selten Feinde; jenes führt nach innen, dieses nach außen. Das Genie vermag sie in sich zu versöhnen, aber das Genie ist spärlich gesäet. Und noch eine weitere Frage taucht auf. Ist es wünschenswerth, daß die Eigenart, die des Schauspielers kostbares Besitzthum ist, auf der Schulbank, wo der Lehrer unmöglich sein Augenmerk auf den einzelnen Zögling wenden kann, vernachlässigt und mit Dutzenden unselbstständiger geistiger Physiognomien sozusagen über den nämlichen Kamm geschoren werde?

Leider ist bis zu einem gewissen Grade auch das Umgekehrte wahr: die Eigenart des Lehrers, der seine Schüler einzeln sich gegenüber hat, erzeugt, wenn sie nachgeahmt wird, eine unwillkommene Einförmigkeit. Das streitet gegen den Vortragsmeister überhaupt und, wie Manche meinen, gegen den Vortragsmeister Strakosch insbesondere. Es giebt Leute, welche es sich nicht wegstreiten lassen, daß Katharina Frank genau so spreche, accentuire und die Worte setze, wie ihr Lehrer Strakosch. Aber kleiner ist das Uebel, daß der Vortragsmeister in so und so vielen Wandlungen über die Bühne schreite, als daß physiognomielose Gestalten, die in der Theaterschule ein Capitel aus der Dramaturgie sich angeeignet haben, die Bretter bevölkern. Der Vortragsmeister bildet, wenn er seines Berufes sich bewußt ist, einen Damm gegen die Ueberschwemmung der Bühne mit unberufenen und ungeeigneten Elementen; die Theaterschule ist im Gegentheil die Brücke, über die hinweg auch die erklärte Untauglichkeit zu den weltbedeutenden Brettern hindrängt. Gestalten wie Garrik und Talma, Ludwig Devrient und Seydelmann, Dawison und Döring haben freilich weder der Theaterschule noch des Vortragsmeisters bedurft, aber für ihres Gleichen ist auch der Vortragsmeister nicht ausgedacht. Er führt die Kleinen den steilen Pfad zur Kunst hinan, und wenn er es versteht, in ihnen eine reine Freude an dieser idealen Wanderung zu wecken so ist er der Vortragsmeister, wie ihn Lessing vorgeahnt hat, und seine Wirkungen sind nachhaltiger als alle Theorie und Unterweisung der Schauspielschule.




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung).


„Aber Herr Amtsrichter Kern – das nehmen Sie mir nicht übel,“ sagte eben der Bürgermeister. „Sie wollen ein liberaler Mann sein, und sind für die Todesstrafe?“

„Nun, an meiner liberalen Gesinnung ist wohl nicht zu zweifeln, Herr Bürgermeister,“ replicirte der Amtsrichter scharf. „Ich erinnere Sie an Anno Achtundvierzig – wenn auch Manche vom ‚tollen Jahr’ so wenig wissen wollen, als läge es um Jahrhunderte hinter uns, als schrieben wir nicht erst 185 . .“

Der Bürgermeister wurde ein Bischen verlegen, und man lächelte am Tische verstohlen auf Kosten des Gestrengen. Kern stand 1848 an der Spitze der liberalen „deutschen Partei“ in der Residenz. Er war einer der begabtesten jüngeren Richter, und man prophezeite ihm vor dem Revolutionsjahre eine glänzende Carrière. Statt dessen war er nach dem Jahre 1848 aus der Residenz in die kleine Stadt versetzt worden. Die Einen sagten, er habe sich geweigert, gegen einige politisch „Schwergravirte“ wegen Hochverraths einzuschreiten, – diese „Schwergravirten“ hatten das Verbrechen begangen, die Regierung zum Beitritt zur Reichsverfassung und später zum Dreikönigsbündniß Preußens aufzufordern. Andere meinten, seine Versetzung in das Sibirien des kleinen Landes sei die Auszeichnung für seine Thätigkeit in der „deutschen Partei“. Man hörte das Wort „deutsch“ in dem kleinen Staate nicht gern – natürlich nur damals, zu Anfang der fünfziger Jahre. Der Bürgermeister dagegen war durchaus mit der Regierung einverstanden. Er war im Jahre Achtundvierzig liberal, sogar sehr liberal gewesen, gerade wie die Regierung, auch deutschgesinnt, sehr deutsch, wie die Regierung. Gedacht hatte er sich freilich wenig dabei, am wenigsten an Preußen gedacht, gerade wie die Regierung. Er hatte in Anerkennung seiner richtigen Gesinnung die Bürgermeisterstelle erhalten, welche er jetzt verwaltete und welche seit seinem Amtsantritte erheblich günstiger dotirt war, als die Amtsrichterstelle. Der Bürgermeister war aber auch ein feiner Kopf und man prophezeite ihm eine große Carrière – nach dem Revolutionsjahre.

Er zeigte sich auch diesmal dem Amtsrichter im Gespräche überlegen. So meinte er wenigstens. Denn als er das Lächeln bemerkte, das die Anspielung auf seinen Liberalismus hervorrief, wandte er sich wieder zum Amtsrichter:

„Sie sind doch ein Anhänger der deutschen Grundrechte, Herr Amtsrichter?“ fuhr er fort. „Sie hielten noch an ihnen fest, als die Regierung –“

„Die Reichsverfassung brach und verletzte, ja wohl“ – bestätigte der Amtsrichter ruhig. Der Bürgermeister rückte etwas von ihm weg. „Aber ich habe die Grundrechte nicht gemacht, Herr Bürgermeister. Ich achtete und achte sie noch heute lediglich als einen Theil der Reichsverfassung, als ein Stück des gemeinsamen Staatsgesetzes deutscher Nation. Es stand viel Falsches in den Grundrechten; dazu gehörte meiner Ansicht nach auch die Aufhebung der Todesstrafe.“

„Hatten Sie die lebenslängliche Zuchthausstrafe nicht für härter, als die Todesstrafe?“

„Für Unsereinen für einen gebildeten Mann gewiß. Wir werden zehnmal lieber sterben, als uns auch nur ein Jahr in’s Zuchthaus sperren lassen. Aber der gemeine Mörder – für den ich die Todesstrafe erhalten wünsche – steht auf einer so tiefen Stufe der Gesittung, daß seine That mit keiner andern Strafe zu sühnen ist, als mit dem Tode. Wie häufig haben Mörder mit dem Zuchthause schon vorher Bekanntschaft gemacht und sich ganz wohl in demselben befunden! Soll ihnen dann, wenn sie morden, nur dieselbe Strafart wieder zu Theil werden, als wenn sie stehlen?“

„Gut! Aber die Gefahr von Justizmorden? Wie wollen Sie die Hinrichtung eines Unschuldigen wieder gut machen?“ warf der Bürgermeister ein.

„Das ist der einzige Grund, Herr Bürgermeister, den ich überhaupt gegen die Todesstrafe gelten lasse,“ erwiderte Kern. „Obwohl auch dabei viel Sentimentalität im Spiele ist. Denn auch die gegen den Unschuldigen erkannte Zuchthaus- oder Gefängnißstrafe ist ein Justizmord, ein unwiderruflicher, wie die Hinrichtung. Die widerrechtlich geraubten Freiheitstage, die Gemüthsqualen und körperlichen Leiben, die dieser Raub im Gefolge hat, kann Niemand wieder gut machen. Und irren ist menschlich. Es können Justizmorde vorkommen. Der gemeine Mann hält den Justizmord durch das Beil für schlimmer, als den durch die trockene Guillotine des Zuchthauses. So wird man wohl der Weichheit des Jahrhunderts die Todesstrafe opfern. Aber dann müßte ich einen Ersatz verlangen, den Sie schwerlich bewilligen werden, Herr Bürgermeister.“

„Und der wäre?“

„Unbedingt und unwiderruflich lebenslängliche Zuchthausstrafe gegen den Mörder. Die landesherrliche Gnade müßte bei diesem Verbrechen und dieser Strafe durch das Gesetz ein- für allemal ausgeschlossen sein.“

„Wo denken Sie hin, Herr Amtsrichter?“

„Ich will die menschliche Gesellschaft unbedingt sicher stellen gegen den Rückfall des Mörders.“

„Aber nach den bisherigen Erfahrungen hat noch niemals ein begnadigter Mörder von Neuem gemordet,“ erklärte der Bürgermeister.

„Nichts hindert uns, täglich diese Erfahrung zu machen, wenn es bisher daran gefehlt haben sollte.“

„Ein solcher Fall ist aber bis jetzt eben nur ein Erzeugniß Ihrer Phantasie, Herr Amtsrichter.“

„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Herr Bürgermeister!

[554] Wir haben doch dieses Jahr schwere Fälle genug erlebt. Die Minna Grule ist drüben bei Latzig mißhandelt und erwürgt aus dem Korn gezogen worden nach einer Tanznacht. Hier im Städtchen selbst haben wir fast zur nämlichen Zeit den frechen Raubanfall auf den Posthalter durch den vermummten Räuber zu verzeichnen. An seinen Wunden liegt der Arme noch heute darnieder. Wenn wir nun den Thäter ermittelt hätten – Mörder und Räuber wahrscheinlich in derselben Person – und ihn zum Tode verurtheilt hätten – meinen Sie, Serenissimus hätten ihn köpfen lassen?“

„Ich weiß nicht,“ sagte der Bürgermeister achselzuckend – „das sind Hypothesen –“

„Jawohl, Hypothesen, bis auf die beiden ungesühnten Schandthaten. Und der Thäter sagt sich, wenn er gefaßt wird, so wird er nach Landesbrauch nicht geköpft, auch wenn ihn die Geschworenen zehnmal für schuldig erachten und die Richter ihn zum Tode verurtheilen. Er riskirt nur sogenanntes lebenslängliches Zuchthaus – das in Wahrheit aber nur zehn bis fünfzehn Jahre dauert. Wenn er die überlebt – und das hofft Jeder – dann ist er ein freier Mann. Darin liegt eine kräftige Ermunterung zu solchen Verbrechen.“

„Nun, meine Herren, Sie werden gewiß wünschen, von etwas Anderem reden zu hören,“ wandte sich der Bürgermeister, nachdem er mit dem Ausdrucke tiefgekränkter Loyalität einen finstern Blick nach dem Amtsrichter geworfen, wieder zu den übrigen Genossen des Vorstandstisches.

„Verzeihen Sie, Herr Bürgermeister!“ sprach King hervortretend, – „es ist elf Uhr vorüber. Ich habe meinem Meister versprochen, um elf Uhr zu Hause zu sein. Und ich bin sehr müde. Ich wollte mir erlauben, den Herren des Vorstandes eine gute Nacht zu wünschen.“

.„Gute Nacht, Herr King, Herr Becker!“ rief es vom Tische wieder.

Die beiden jungen Männer gingen. Fritz Becker begleitete King in der Richtung nach dem Wolf’schen Hause, und die kühlere Nachtluft schien King’s Lebensgeister wieder etwas anzuregen.

„Hast Du mir die Liebe gethan, Fritz, und mit Natalie gesprochen?“ fragte er.

„Ja,“ meinte Fritz zögernd.

„Und was hat sie gesagt?“

In der Frage lag sehr viel Leben. Wenn King vorher verschlafen war, mußte er jetzt völlig wach, ja erregt sein.

„Sie war sehr kurz,“ erwiderte Fritz. „Sie meinte, sie habe Dir ja selbst schon gesagt, was sie denke.“

„So?“ meinte King gedehnt und gähnte wieder. Seine Lebensgeister schienen wieder schlafen zu gehen.

„Nun, was hat Dir denn eigentlich Nalchen gesagt, Josua?“ fragte Fritz neugierig.

„Was wird sie mir gesagt haben, Fritz! Sie macht es eben wie alle Mädchen. Sie will erobert sein, will mich ein bischen zappeln lassen. Sie erklärte mir auf meinen Antrag, sie sei noch zu jung. Das ist Alles, Bruderherz. Nun, der Fehler wird alle Tage kleiner. Aber sie hat allerdings Recht, wenn sie Dir sagt, sie habe mir ihre Meinung schon kund gegeben. Denn von Pfingsten bis Johannis kann sie mit dem besten Willen nicht viel älter geworden sein.“

Fritz lachte.

„Also Geduld, lieber Schwager in spe! Grüß’ mir die Kleine! Wenn Du nach Hause kommst, träume ich schon von ihr. Der Wein hat mich doch kannibalisch müde gemacht.“ Er gähnte wieder.

Sie waren vor dem Wolf’schen Hause angekommen und schieden, sich die Hände schüttelnd, nachdem Fritz dem Freunde noch mit einem Zündhölzchen an das Schlüsselloch der Hausthür geleuchtet hatte.

„Morgen um elf Uhr Frühschoppen im ‚Hecht!’“ rief Fritz hinein, wie King die Thür von innen geschlossen hatte.

„Ja,“ rief King leise zurück und stieg die Treppe hinauf.

„Schon halb zwölf,“ sprach Fritz für sich, als in diesem Augenblicke die Thurmuhr schlug. „Sonderbar, daß King heute so müde wurde. Er kann doch sonst viel mehr vertragen, als ich.“ Und eilig trat er den Heimweg an.




„Schon halb zwölf,“ sprach auch oben in der Mägdekammer Margret leise für sich, als sie die zwei Viertelsschläge von der Thurmuhr hörte und gleichzeitig der Männertritt King’s die Treppen herauf kam und dann in der Gesellenkammer verhallte. „Ach, auch heute wieder will mich der Schlaf nicht finden,“ seufzte sie leise. „Wenn man sich am Mutterherzen ausweinen könnte, würde es leichter zu tragen sein. Aber ihr Herz schlägt nicht mehr; ihr Mund spricht nicht mehr.“

Welches Leid mochte dem schönen, braven, jungen Mädchen am Herzen nagen, ihr den Schlaf vom Lager scheuchen?

Sie war heute mit Genehmigung der Herrschaft in ihrem Heimathdorfe, etwa anderthalb Stunden vom Städtchen, gewesen, um die Gräber der Mutter und des frühverstorbenen Vaters zu schmücken. Es war so wonnig gewesen, in der frischen Morgenluft zu wandern; denn zeitig war sie vom Städtchen aufgebrochen, um bald wieder zurück zu sein und Frühstück und Mittagbrod bereiten zu können.

Sie trug frische Rosen und Mooskränze in der Hand; die Bänder des Strohhutes, die Zipfel des Busentuches und einige rebellische Löckchen, die sich in die reichen, braunen Flechten nicht hatten einzwängen lassen, flatterten im frischen Morgenwinde und ihre Wangen rötheten sich von dem raschen Gange. Als sie die Höhe erreicht hatte, auf deren einer Seite das Städtchen zum letzten Mal und das heimathliche Dorf zum ersten Mal gesehen werden konnte, und sie nun dem Buchenwalde entgegenschritt, der sie mit seinem Schatten bis kurz vor das Dorf geleiten sollte, glitt ein Freudenstrahl über ihr ernstes Gesicht, und ihr Auge leuchtete so glücklich, als hätte sie nie Armuth und Entbehrungen gekannt, als hätte ihr nie der Tod eine Wunde geschlagen, niemals noch menschliche Lieblosigkeit oder Schlechtigkeit sich ihr offenbaret. – Gerade am Waldeingange, oben an der Wegböschung, wo man am weitesten ausspähen konnte, saß ein junger Mann, in der Kleidung der Landleute der Gegend, auf einem Feldstein.

„Gustav!“ rief Margret freudig erregt, als er in der nächsten Minute vor ihr stand. „Wie konntest Du wissen, daß ich kommen würde?“

„Margret,“ sprach er, indem er sie umschlang und küßte. „Ich müßte Dich schlecht kennen, wenn ich meinte, Du würdest am Johannismorgen nicht zum Grabe der Eltern gehen oder deshalb Dein Tagewerk versäumen.“

Sie schritten Hand in Hand durch den Wald nach dem Dorfe nieder, sprachen wenig und schauten sich dann und wann in’s Auge. Gustav blieb im Walde zurück, als Margret in’s Dorf ging; sie wußten, daß sie nicht zusammen gesehen werden durften, daß Gustav bei seinem Vater, dem reichen Bauern Stephan, dessen stattlicher Bauernsitz die Höhe jenseits des Dorfes krönte, wieder einmal schwere Tage haben würde, wenn der Vater von diesem ihrem Zusammentreffen erführe. Als Margret vom Kirchhofe zurückkehrte, gingen sie wiederum Hand in Hand durch den Wald aufwärts. An den steileren Stellen stützte er sie. Abermals sprachen sie nur wenig. Margret war ernster als beim Hinabsteigen. Sie kam ja vom Grabe der Eltern.

„Weiter nehme ich Deine Begleitung nicht an, Gustav,“ sagte sie, als sie jenseits der Höhe wieder das Städtchen mit dem Flusse vor Augen hatten. „Du mußt zurück. Was wird Dein Vater sagen, wenn Du so lange bleibst!“

„Ich war im Walde, im Dorfe, wenn ich zu Hause gefragt werde. Ich gehe noch bis zur nächsten Wegecke mit Dir, Margret. Ich ginge gern mit Dir bis in’s Städtchen und weiter, durch die ganze Welt. Ach Margret,“ rief er plötzlich weich, indem er sie an sich drückte, „ich kann noch nicht fassen, daß wir uns trennen sollen –“

„Trennen – wir – uns trennen sollen?“ preßte Margret heraus, indem sie erblaßte und einen Schritt zurücktrat.

„Margret,“ erklärte Gustav mit feuchten Augen, „ich soll fort von hier – auf Vaters Befehl. Ich soll meine Dienstjahre in der Residenz abdienen.“

„Du sollst Soldat werden, Gustav?“ rief sie leidenschaftlich erregt.

„Ich habe mich ausgeloost letzten Freitag.“

„Aber Deine andern Brüder hat Dein Vater losgekauft. Ist Deine Arbeit ihm weniger wert, als die ihre?“

„Das kaum. Er denkt wohl an unsere Liebe, wenn er mich in des Fürsten Rock zwingt.“

[555] „Gustav, Du sollst sechs Jahre dienen in der Residenz, unter den liederlichen Menschen, von denen Frau Steuerrath Martin soviel zu erzählen weiß. Du sollst mich dort vergessen, Gustav. Was willst Du dagegen thun?“

„Ich – dagegen thun, Margret? Ich kann doch dem Vater nicht widersprechen! Ich habe doch nicht dreihundert Thaler zu eigen, um mich loszukaufen!“

„So lebe wohl!“ sagte sie energisch und ging.

„Margret, Margret – könntest Du wirklich so von mir gehen?“

„Wenn es einmal sein muß, dann lieber heute als morgen,“ gab sie mit blitzendem Auge zurück.

„Aber Margret, ich denke ja gar nicht daran, Dich zu vergessen. Margret, mein liebes, theures Herz!“

Er war ihr nachgeeilt und hatte sie wieder umfaßt. Sie schluchzte heftig.

„Hältst Du mich für so schwach, so leichtsinnig, daß ich inmitten wilder Cameraden in der Residenz Dich vergessen könnte?“

„Ich weiß, daß Du brav bist, Gustav. Aber schon Mancher ist dort verdorben. Ich würde an Deiner Stelle entschieden nicht Soldat werden. Du hast doch mütterliches Vermögen. Zum Loskaufen muß Dir das der Vater herausgeben. Das haben wir unten in der Stadt oft erlebt.“

„Aber ich werde erst im October volljährig. Vorher kann ich’s nicht verlangen, und noch vor dem October muß ich zahlen oder Soldat werden.“

„Gustav, der Vater muß es hergeben. Ich weiß es. Es war bei Müller’s Anton gerade so. Der sollte auch aus dem Hause unter’s Militär, weil der Alte wieder heirathen wollte. Und der Alte mußte doch zahlen. Ich werde morgen den Amtsrichter Kern fragen und Dir schreiben. Einstweilen halte Dich tapfer – Adieu!“

„Adieu, Schatz!“ –

Margret hatte im Drange der Tagesarbeit nur dann und wann an die peinliche Eröffnung denken können, die ihr Gustav gemacht hatte. Nun aber, da sie allein auf ihrem Lager ruhte, in der dunklen, stillen Nacht, kamen alle Sorgen, die auf dem Heimweg sie gequält, wieder über sie, und die Phantasie spann sie aus, größer und schwerer, als sie je gewesen.

Es war klar, daß der alte Stephan jetzt den Schlag geführt zu haben meinte, welcher das Verhältniß seines Sohnes zu Margret ganz lösen sollte. Hohn und Spott, den er dem Sohne wegen seiner Liebe zu einer Magd nicht selten vor Zeugen hatte angedeihen lassen, hatten sich als nutzlos erwiesen. Die Entfernung Margret’s aus dem Heimathdorfe, ihre Verdingung in der Stadt, hatte gleichfalls der alte Stephan bewirkt, wie sie seither mit Bestimmtheit erfahren. Niemand wollte sie mehr im Dorfe in Dienst nehmen, Niemand sie beherbergen, und so hatte sie unter fremde Leute gehen müssen.

Allerlei Gerüchte waren dann eine Zeitlang über Margret ausgestreut worden, im Dorfe wie in der Stadt. Man hatte mit halben Worten mehr gesprochen als genug ist, um den guten Ruf eines Mädchens zu vernichten. Frau Wolf aber war energisch für die Ehre ihres Dienstboten eingetreten, und als die Gerüchte am tollsten schwirrten, war eines Sonntag Morgens nach dem Gottesdienst Margret plötzlich vor dem alten Stephan, als er aus der Kirche trat, erschienen und hatte ihm mit blitzendem Auge vor der versammelten Gemeinde gesagt. „Du sollst nicht falsch’ Zeugniß geben wider Deinen Nächsten!“ Er hatte kein Wort zu erwidern gewußt – und seither waren die Gerüchte verstummt.

Bei allen diesen Versuchen, den Herzensbund des jungen Paares zu brechen, hatte sich Gustav, wie Margret freudig anerkannte, tapfer und treu gehalten; aber sie an seiner Stelle würde, wie sie meinte, doch noch anders gehandelt haben; sie hätte, auf eine einzige der väterlichen Spottreden hin, unbedingt das Vaterhaus verlassen und hätte irgendwo in der weiten Welt ihr Brod gesucht. Ihr Sinn und Muth war in harter Lebenserfahrung gestählt worden. Ihr einziges Glück war ihre Liebe, und sie hielt zäh und stolz daran, wie der Krieger an seiner Fahne. Sie war entschlossen, dieselbe gegen Jeden zu vertheidigen, der sie ihr zu entreißen versuchte, bis zu ihrem letzten Athemzuge; sie hatte die feste Absicht, auch die neueste, gefährlichste Intrigue des alten Stephan zu durchkreuzen. Denn hinter den sechs Jahren Garnisonsdienst ahnte Margret nicht nur die Gefahr der Verlockung und der Verwilderung für Gustav, sondern auch diejenige einer langjährigen Einsamkeit für sein und ihr Herz. Der alte Stephan wollte offenbar Zeit gewinnen, um das Töchterchen des reichen Stoppelbauern aus dem nächsten Dorfe heranwachsen zu lassen. Die beiden Alten hatte sich öffentlich verschworen, daß ihre Kinder ein Paar werden sollten. Das war der Hauptplan, der hinter der Soldatenspielerei steckte. Und wer konnte sagen, ob der Alte seinen Willen nicht durchsetzte, wenn Gustav einmal in der Residenz war?

Aber wie sollte sie, die arme Margret, den Plan durchkreuzen? Wer wollte den Alten zwingen, das Geld zum Freikauf des Sohnes aus dem Muttererbe herzugeben, wer klagen? Und wenn selbst geklagt wurde – bis zum October war der Proceß keinesfalls zu Ende. Aber bis dahin mußte die Summe beschafft werden oder Gustav mußte dienen.

Das waren die Sorgen, welche den Schlaf von Margret’s Lager scheuchten.

King’s Schritte waren längst verhallt, und eine halbe Stunde mindestens mußte seitdem verflossen sein. Da schien auch ihrer endlich der Schlaf sich erbarmen zu wollen. Länger und ruhiger ging ihr Athem. Ihr Auge war geschlossen und das Bewußtsein der Wirklichkeit begann sie zu verlassen.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.

Nr. 42. Im Schwarzwald.

Skizze von Dr. G. von Seydlitz.

II. (Schluß.)


Nach den allgemeinen Bemerkungen über Land und Leute im vorigen Artikel sei es uns gestattet, den Leser zu einigen Punkten des Schwarzwaldes zu führen, welche in ganz besonderem Maße dessen eigenthümliche Schönheiten zeigen. Wir folgen in der Auswahl dem trefflichen Künstler, aus dessen reicher Skizzenmappe das in voriger Nummer gebrachte Gruppenbild stammt, und beginnen mit einem Glanzpunkte des nördlichen württembergischen Schwarzwaldes, der großartigen und malerischen Ruine Zavelstein über dem kleinsten Städtchen Württembergs gleichen Namens.

Wer von Stuttgart oder Pforzheim aus mit der Bahn das an Naturschönheiten so reiche Nagoldthal aufsucht, welches unter Anderem die von Uhland besungenen, sehr malerischen Ruinen des Klosters Hirsau birgt, der erreicht bald hinter Calw die Station Teinach am Einfluß der Teinach in die Nagold, und von da in 25 Minuten mit dem Omnibus Bad Teinach, das „königliche Bad“ genannt, obwohl es längst dem bekannten Stuttgarter Verleger C. Hoffmann gehört. Das Bad liegt am Zusammenstoß zweier anmuthiger Bachthäler, und zwar geradezu überraschend schön und so anheimelnd, daß es stets zum Bleiben verlockt, um so mehr, als die Unterkunft in den ausgedehnten Räumen des Badehôtels eine recht behagliche ist. Die Gegend bietet eine Menge reizender Spaziergänge, deren dankbarster eben nach der 237 Meter höher liegenden Ruine Zavelstein führt. Burgfeste Zavelstein, 1692 durch Melac in Trümmer gelegt, war 1367 die Zuflucht des Grafen Eberhard des Greiners, als die Schlegelbrüder den von Uhland besungenen Ueberfall auf ihn im „Wildbad“ machten. Da das in alten Urkunden Taginach genannte Bad damals den Namen „Wildbad“ führte, so verlegen Manche den Ueberfall überhaupt hierher, statt nach dem viele Stunden über Berg und Thal entfernten eigentlichen Wildbad. Teinach war außerdem damals und später ein sehr hoch angesehenes Bad, und erst der Dreißigjährige Krieg stürzte es von seiner Höhe. Später hob es sich durch seinen natürlichen Werth und hat besonders in diesem Jahrhundert einen Aufschwung genommen, wie er im Hinblick [556] auf seine trefflichen Eisenquellen, warmen Bäder, Kaltwasser-, Fluß-, Fichtennadelbäder nur begreiflich erscheint. Die gesunde Waldluft des 300 Meter hoch liegenden Ortes wirkt nicht wenig zu den vorzügliche Erfolgen der Cur.

Das Edelfrauengrab ist ein Wasserfall, den der Gottschlägbach in einer schaurig wilden Schlucht bildet. Man besucht dieselbe von der badischen Eisenbahnstation Achern aus, von welcher meist der Ausflug nach dem erst kürzlich in der „Gartenlaube“ (Jahrg. 1879, Nr. 8) dem Leser vorgeführten Allerheiligen angetreten wird. Viele Wanderer vereinigen beide Ausflüge. Man pflegt bis Ottenhöfen zu fahren, beginnt dann eine lange, aber genußreiche Fußwanderung und erreicht nach dreiviertel Stunden den Schluß des unteren Bachthales. Dort braust der Bach gewaltig tobend durch die enge und hohe Schlucht, Wasserfälle ganz in der Art der berühmten bei Allerheiligen bildend. Schmale Stege führen an dem Fall hinauf zu einer Höhle, welche einst das Wasser ausgewaschen hat. An diese Höhle und deren Benennung knüpft sich eine Sage, die wir dem Meyer’schen „Wegweiser durch Schwarzwald, Odenwald, Bergstraße und Heidelberg“ – einem, nebenbei gesagt, sehr empfehlenswerten Reisebuche[WS 2] – nacherzählen: „Eine Frau von Bosenstein, ob ihrer Hartherzigkeit von einer dem Hungertod nahen Armen verflucht, gebar in Abwesenheit ihres Gatten sieben Knaben auf einmal. Entsetzt über solchen Segen des Himmels, gab sie einer vertrauten Magd den Auftrag, sechs der Kinder im Teich zu ertränken. Diese, im Begriff den Mord zu vollziehen, wird durch den von der Jagd zurückkehrenden Vater überrascht und befragt, was sie zu thun im Begriff sei.

‚Junge Hunde ersäufen,’ entgegnet verwirrt die Dirne.

Der Ritter aber entdeckt das beabsichtigte Verbrechen, droht der Magd mit dem qualvollsten Tod, wenn sie ihrer Herrin eine Silbe verrathe, nimmt die Kinder und läßt sie heimlich erziehen. Als sie erwachsen sind, nimmt er sie mit auf die Burg und bei fröhlichem Banket fragt er, welche Strafe eine Mutter verdiene, die ihre Kinder ermorden lasse.

‚Lebendig eingemauert muß solch ein Weib werden,’ ruft vorschnell die unnatürliche Mutter.

,So ist’s Dein eigenes Todesurtheil!’ entgegnet der Graf, indem er ihr die sechs ermordet geglaubten Jünglinge vorstellt.

In dieser Höhle nun soll das Urtheil vollzogen worden sein; die Nachkommen Jener sollen aber noch unter dem Namen ‚Hund’ im Kappeler Thal leben.“

Die Sage ist vermuthlich späte Erfindung durch Mißverständniß, denn eigentlich heißt der Ort „der Edelfrauengraben“, auch dürfte hier eine Version der Melusinensage vorliegen. Wenn man die schmalen Stiegen hinaufklimmt, gelangt man zu einem Pavillon, wo sich eine großartige Gebirgsaussicht auf wildverwitterte Felsenkämme zeigt. Ein sehr guter Fußweg führt von da in einer Stunde nach Allerheiligen.

Der Triberger (oder auch: Tryberger) Wasserfall, zu dem wir uns jetzt wenden, ist der „Löwe des Gebirges“, und seit der Eröffnung der sogenannten „Schwarzwaldbahn“ von Offenburg nach Villingen hat der Besuch dieser Sehenswürdigkeit so ungemein zugenommen, daß zeitweise die ganze Gegend, besonders der Ort Triberg von Reisenden überfüllt ist. Die Triberg-Fahrer kommen gewöhnlich von Offenburg mit der genannten Bahn, welche der Semmeringbahn an Kühnheit und Großartigkeit wenig und an Höhe nur um 140 Meter nachsteht, durch das unterste Stück des herrlichen Kinzigthals bis Hausach herauf, ein Stück, das trotz hoher Bergeinrahmungen äußerst lieblich ist. Bei Hausach wendet sich die Bahn südlich in’s Gutachthal. Die Landschaft, zuerst noch anmuthig, nimmt in diesem Thal allmählich einen immer ernsteren, bedeutenderen Charakter an. Bis Hornberg nennen die Leute es noch das „Himmelreich“; hat man dieses sehr malerisch gelegene und eine treffliche Sommerfrische gewährende Städtchen und das Thalthor passirt, welches einst durch ein noch in seinen Trümmern drohend vom Felskegel herabschauendes Schloß vertheidigt wurde, so beginnt die sogenannte „Hölle“, der enge und schroffe Theil, zahlreiche Schluchten und Felsenwände aufweisend, bis nahe bei Triberg der Thalwinkel wieder einen sanfteren Charakter gewinnt. Triberg hat angeblich seinen Namen von drei Bergen, die hier mit drei Thälern zusammentreffen. Der Ort sieht ganz modern aus, seit er nach dem vernichtende Brande von 1826 wieder aufgebaut ist, und erscheint wie ein Muster bürgerlicher Behaglichkeit und einfacher Wohlhäbigkeit.

Der Wasserfall wird mit Recht als ein, wenn auch kleineres, Pendant zum Schweizer Gießbach bezeichnet, weil er, wie jener, besonders durch seine malerische Schönheit, die Gruppirung von Wald auf Felsenterrassen, über welche er fällt, sich auszeichnet; er ist wohl, wenn man von den Alpengegenden absieht, der schönste Wasserfall Deutschlands. Wie der Gießbach, wird er seit Jahren oft bengalisch beleuchtet, und es läßt sich nicht bestreiten, daß der Eindruck in stiller, lauer Sommernacht ein märchenhafter, zauberischer ist, wenn ringsum Alles in Thaldunkel und Waldesschatten liegt, nur oben die Sterne funkeln, und dann allmählich Stämme und Kronen der Bäume, das Gestein, und das schäumende Gewässer in wundersamer, geheimnißvoller Weise aufglühen. Ein bequemer Fußweg führt an den Fällen hinauf und bietet reizvolle Blicke auf das Thal von Triberg. Erwähnt ist das Gutachthal, Hornberg und Triberg auch in Nr. 11 der „Gartenlaube“ von 1869[WS 3], und Nr. 22 giebt eine Wanderung von da über St. Georgenwald hinaus nach Rottweil. Wir halten uns deshalb nicht weiter dabei auf, sondern versetzen uns in den südlichen Schwarzwald, um den Feldberg zu ersteigen.

Man besucht den Feldberg meist von Freiburg aus, der Perle des Breisgaues mit dem wundervollen Münster, welche ein früherer Jahrgang der „Gartenlaube“ (1875, Nr. 42) bereits geschildert hat. Von da aus nehmen wir den Weg wieder durch ein Höllenthal, auf der großen Straße nach Donaueschingen, welche hier gelegt wurde, um Marie Antoinette nach Frankreich zu führen; im October 1796 machte auf dieser Straße Moreau seinen berühmten Rückzug; späterhin wesentlich nachgebessert, war sie für den Verkehr aus Süddeutschland nach dem Breisgau und Elsaß hochwichtig. Geredet ist von diesem Wege schon in Nr. 10 der „Gartenlaube“ 1868. Von dem Wirthshause zum „Stern“, dessen Laube ein hübsches Bildchen von Pixis in jener Nummer darstellt, erreicht man mit der Post oder fußwandernd bald den Titisee, an welchem wiederum ein seit etlichen Jahren als Sommerfrische sehr beliebtes Wirthshaus steht. Von diesem berühmtesten See des Schwarzwaldes wandern wir über Bärenthal im Quellthale der Wutach aufwärts zu dem von unserm Künstler dargestellten Feldsee. Nur 14 Morgen umfassend, in 1113 Meter Meereshöhe gelegen, ist derselbe wegen seiner Scenerie der großartigste des Schwarzwaldes. Ernst und düster sind die tannenbewachsenen, moosbedeckten Felsgesenke des Nordufers, dem der Quellbach der Wutach entrauscht, nackt aber, und ein imposantes Amphitheater bildend, starren die wilden Felsmassen hunderte von Metern am Südufer empor, und über ihnen wölben sich die Kuppen des Feldbergkammes, der sich noch an 400 Meter über den Spiegel des Sees erhebt. Hier ist Alles öde und einsam; nur daß etwa ein Raubvogel kreischt, oder eine der schmackhaften Schwarzforellen über die Wasserfläche sich emporschnellt.

Ein ziemlich steiler, aber ganz gangbarer Zickzackweg führt durch üppigen, labenden Wald zu einem Gasthof auf der Hochfläche empor, dem „Feldbergerhof“, von wo man bis zur höchsten Kuppe noch eine Stunde behaglichen Spazierengehens hat. Auf dem Wege blickt man in die Schlucht des Sees hinab; die Scenerie erinnert lebhaft an den Kamm des Riesengebirges bei den Teichrändern oder Schneegruben. Auf der Platte des Aussichtsthurmes angelangt, überblickt man nach allen Richtungen ein wogendes Meer von Gipfeln. Von seinen meist mit Wald bestandenen Seiten sendet der Feldberg fast regelrecht vier Arme nach den vier Weltgegenden aus, welche dann in zahllosen Aesten und Verzweigungen das große und umfangreiche Schwarzwaldgebirge bilden. Besonders hervor treten die schönsten Aussichtspunkte: Belchen, Blauen, Schauinsland, Höhenschwand. Außer dem Gebirge überblickt man die lachende Rheinebene, aus welcher sich der malerische dreigipflige Kaiserstuhl erhebt, dahinter läuft in langen Zügen, parallel dem Schwarzwalde, der vielkuppige Wasgenwald (oder die Vogesen), südöstlich der Jura, der zu dem ungeheuren Panorama der Schweizeralpen, der österreichischen und baierischen Alpen überleitet. In einer Ausdehnung von etwa 52 Meilen strahlt dieser Alpenwall im Glanze seiner Gletscherkronen – wahrlich ein Panorama, das eine Reise verlohnt! Die Wanderung vom „Stern“ der Hölle bis zum Feldberggipfel erfordert fünf Stunden und ist, wenn man sich Zeit gönnt, nicht eben beschwerlich.

[557]

Die Fürstengruft in der Haseler Höhle.
Nach der Natur aufgenommen von Robert Aßmus.

[558] Abgesehen von den Fernsichten gegen die Alpen hin, beruht die größte Schönheit des südlichen Schwarzwaldes in der Formation seiner vom Centrum her gegen West, Süd und Ost tief und gewaltsam eingerissenen langen Thäler. Oben sind sie, in ihrem Anfange, freundliche, von leichtem Rinnsal durchzogene Wiesenthäler, dann aber wühlen sich die Wasser immer tiefer ein und brechen sich zuletzt meist stundenweit durch gewaltige, schroffe Felsschluchten dem Rheine zu Bahn. Man begreift daher leicht, daß hier ein großer Schatz an landschaftlichen Schönheiten zu heben ist. Hand in Hand mit unserem Künstler, wollen wir nur zwei dieser Auswege aus dem Gebirge schildern: das Albthal mit St. Blasien und das Wehrathal mit der nahen Haselhöhle.

Steigen wir zunächst in das Albthal hinab, welches von allen Schwarzwaldthälern am meisten schweizerischen Charakter trägt! Der Albfluß entspringt ganz in der Nähe des Feldberggasthofes und hat von seinem Ursprunge ab, die Windungen ungerechnet, eine Länge von vier Meilen. Das Thal beginnt als Thälchen zwischen Hochalpenwiesen, senkt sich aber bald tiefer zwischen die Kuppen ein, erreicht dann abwechselnd Waldstrecken und hat nun ganz jenen frischen Hochalpenthalcharakter, bei welchem dem Wanderer das Herz aufgeht, daß er jubelnd singen möchte, wenn sein Fuß ihn leicht und munter thalab trägt. Hier liegen die lang sich hinstreckenden Dörfer, welche die Gemeinde Menzenschwand bilden; sie sind die Heimath des berühmten Malers Winterhalter und in neuerer Zeit als Curort beliebt.

Je mehr sich unser Thal in die Gebirgsmasse einschneidet, desto mächtiger nehmen sich die Thalwände aus, und bei einer Wendung um eine Thalecke sieht der Reisende plötzlich St. Blasien vor sich. Inmitten der dunkelgrünen bewaldeten Berge, welche den kleinen Thalkessel umfangen, erhebt sich über die Baumkronen schon von Weitem die hohe majestätische Kuppel eines Domes. Näher kommend gewahrt man im Hintergrunde eines fast großstädtisch eingefaßten Platzes über einem von riesigen Säulen getragenen Frontispiz den kühn in die Lüfte ragenden Bau wieder – da steht er, der schöne Dom des ehemaligen Klosters St. Blasien, das 858 als „Albzell“ gegründet wurde und von einem ganz ärmlichen kleinen „Klösterle“ sich zu einem geistlichen Reichsfürstenthum mit soviel Besitz entwickelte, daß seine Aebte der Sage nach auf ihren Romfahrten täglich auf eigenem Boden zur nächtlichen Rast einkehren konnten. Seine Besitzungen auf deutschem Boden, ohne die in der Schweiz, konnten bei seiner Säcularisation 1805 auf 5 Millionen Gulden, sicherlich zu niedrig, taxirt werden. Die Geschichte des Reichsfürstenthums St. Blasien ist in Recht und Unrecht höchst interessant. Sie steht mit der des angrenzenden Hauensteiner Ländchens und des Gebietes der nachbarlichen Herren von Tiefenstein, sowie der ebenfalls angrenzenden Grafen von Habsburg im engen Zusammenhang. In den Bauernkriegen und den Aufständen der Hauensteiner („Gartenlaube“ 1868, Nr. 23) wurde St. Blasien öfters hart geschädigt. Der Dom ist im Laufe der Zeit mehrmals niedergebrannt, zuletzt im Jahre 1874. Das Gebäude, welches damals der Flamme erlag, hatte der Abt Martin Gerbert 1785 nach dem Muster des Pantheon von Dixnard aufführen lassen, und der Marmor zu seinen schönen hohen Säulen war im Wutachthal im Schwarzwalde selbst gebrochen. Bei der Sequestration war die kupferne Bedeckung der gewaltigen Kuppel in die Karlsruher Münze gewandert und durch Zinkplatten ersetzt worden.

Es ist kein geringerer als Goethe, der diese Kirche St. Blasiens als einen der schönsten deutschen Tempel pries. In der That gemahnte uns die in dem herrlich bewaldeten Thal aufragende gewaltige Kuppel an die alte Sage vom Tempel des Gral. Der letzte Brand von 1874 erregte weithin schmerzliche Theilnahme, aber die menschlich Beharrlichkeit hat auch hier abermals einen ihrer Triumphe gefeiert: der Bau steht seit Kurzem wieder in alter Herrlichkeit da. Der kleine Thalkessel ist von den Klostergebäuden, die jetzt eine großartige Spinnerei beherbergen, und wenigen Privathäusern, worunter die empfehlenswerthen Gasthöfe, ganz ausgefüllt und eine vielbenutzte Sommerfrische.

Der schweizerhafte Charakter der Gegend erhält sich auch weiter abwärts. Doch ist das Thal nun belebter. Dörfer und Weiler im echten Schwarzwaldbaustil liegen im Thal und auf den Hängen sehr anmuthig. So geht es zwei gute Stunden fort; da verengt sich das Thal abermals zu einem langen Paß. Immer steilere Felsgehänge und Ecken engen den tosenden Fluß ein und lassen endlich an seinem vielgewundenen Ufer nur noch hoch überm Wasserspiegel die Fahrstraße ihren Fortgang finden. Dann kommt eine kleine Thalausweitung bei Tiefenstein, einem kleinen, an einer Bacheinmündung malerisch gelegenen Orte, über welchen die mit frischem Grün überwucherten Ruinen seiner alten Burg auf steilem Bergkegel emporragen.

Und nun beginnt die Glanzstrecke des Thales und zieht sich bis Albbruck, der Station an der Basel-Constanzer Bahn hin, wo der Albfluß in den Rhein mündet. Auf einer Wanderung von etwa anderthalb Stunden blickt man hier von der am linken Berghang geführten Straße in ein enges Felsenthal hinab, ganz von der Art des Bodethales im Harz. In der That gewährt diese Wanderung beständig Hinabblicke, wie der vom „Hexentanzplatz“ nach der „Roßtrappe“ zu; etwas weiter ist das Thal freilich. Fast inmitten der Strecke liegt der Gasthof „Zum Hohenfels“; seine auf schwindelnder Höhe über der Alb erbauten Pavillons gewähren wunderbare Ansichten des Felsenpanoramas. Ein Fußweg führt hinab zu den interessantesten Punkten am Ufer, zu der „Teufelsbrücke“ und dem „Felsenthal“. Der Eindruck dieser Wanderung durch das Albthal wird auch dem von hier in die Schweiz Uebertretenden durch keine Landschaft der letzteren verwischt werden.

Wir müssen aber zur Erläuterung der Skizzen unseres Künstlers uns noch auf einen kleinen Ausflug seitwärts von St. Blasien begeben. Man erreicht, auf vortrefflicher Chaussee wandernd, über den Ort Häusern fort, den höchst gelegenen (1014 Meter) Pfarrort des Schwarzwaldes, Höhenschwand. Der Ort ist bei Bergfreunden schon lange berühmt gewesen wegen seines wunderbaren Alpenpanoramas, welches das vom Feldberg darin übertrifft, daß es die Alpenzüge tiefer hinab, und auch um etwas näher zeigt. Das große, sehr behagliche und comfortable, freilich durch die Verhältnisse zu hohen Preisen genöthigte Hôtel „Höhenschwand“ fand seine Begründung durch ein großes Vermächtniß Winterhalter’s.

Nach etwa zwei Stunden in entgegengesetzter Richtung erreicht die Chaussee von dem Orte Häusern aus die Sommerfrische Schluchsee, am gleichnamigen See gelegen, den uns unser Künstler vorführt. Der Schluchsee kommt dem Titisee, zu dem die Straße über Altglashütte führt, an Größe und Lieblichkeit der Umgebung beinahe gleich. Er ist auch fischreich wie jener. Die Sage läßt in ihm Nixen hausen, welche in den früheren besseren Zeiten oftmals sichtbar sich unter die Menschen mischten; besonders zu den Tänzen an Festtagen stellten sie sich in ihrem schönen glitzernden Putz ein. Aber Zweien erging es einst schlecht. Sie selbst ließen sich von der Schönheit und Liebeswerbung zweier trefflicher Jungen so weit berücken, daß sie die Mitternacht über am Lande blieben, während sie, „wenn die Unke ruft und der Schuhu schreit“, nach dem Gesetze ihres Wasserreiches hätten daheim beim Seekönig, ihrem Vater, sein müssen. Als sie nun endlich unter Bangen und Klagen sich aus den Armen der sie begleitenden Jünglinge losrissen und in die Wellen tauchten, da brausten dieselben sogleich wild auf und färbten sich blutroth. Die armen Jungen aber verzehrte der Gram und die Sehnsucht nach den verlorenen Geliebten.

Unsere Illustration führt uns endlich noch in das Wehrathal und die Haseler Höhle. Das Thal der Wehra, eigentlich wohl Werra, zieht von den Vorstufen des Feldberges, Blößling und Hochkopf her in etwa zwei Drittel der Länge des Albthales gen Süden zum Rheine, wo der Fluß bei der Eisenbahnstation Brennet in letzteren mündet. Meist besucht man das Thal von hier aus. Bis zum Orte Wehr, einem sehr behäbigen, mit guten Gasthöfen ausgestatteten, zu längerem Weilen einladenden Orte, pflegt man zu fahren und dann die Fußwanderung anzutreten, obwohl man auch hier durchweg vorzügliche Straßen hat. Der Ort liegt in einem sich etwas weiter auslegenden, fruchtbaren Thalkessel.

Bald hinter ihm verengt sich aber derselbe, und nun wandert man dem Laufe des wild brausenden, in beständigen Cascaden tosend springenden Flusses entgegen, durch ein enges Felsenthal, wiederum ganz dem der Bode vergleichbar, aber zwei Stunden lang. Felswände und Felskegel von gewaltiger Höhe schieben sich durch einander und lassen dem vielgewundenen Flusse und der Straße kaum noch Raum. In den Schluchten zwischen den nackten Felskolossen ziehen sich außerordentlich schön bewaldete [559] Abhänge hinauf. Wie absichtlich sind die verschiedenen Farben der Laub- und Nadelhölzer zu den das Auge am meisten erfreuenden Zusammenwirkungen gemischt, denn es sind hier etwa siebenzig Holzarten vertreten. Auf der Spitze der höchsten, schroffsten und kahlsten Felswand erblickt man einen kleinen Aussichtspavillon, das „Jägerhäusle“, welches unser Künstler uns nebst der schon früher, näher an Wehr, emporragenden Ruine Bärenfels vorgeführt hat. Von Wehr bis zum Orte Todtmoosau, drei Stunden Weges, zuletzt durch etwas sich erweiternde Thalgehänge, trifft man nur ein „Rasthaus“, Unterkunft für Wagen und Menschen bietend, aber ohne Verpflegung, für die man selbst sorgen mag, wenn man nicht bis Todtmoosau warten will. Das Thal von Todtmoosau bis zu dem als Wallfahrts- und Marktort wie als Sommerfrische vielbesuchten Todtmoos, anderthalb Stunden hinauf, ist wieder ganz Hochalpenthal.

Die „Haseler Höhle“ liegt unfern des Ortes Wehr, in einem Seitenthale bei dem Dorfe Hasel (drei Viertelstunden von Wehr). Die ganze Gegend westlich von Wehr hat eigentlich etwas Unheimliches, so anmuthig sie ist. Ueberall nämlich dröhnt es beim Fahren schwerbelasteter Wagen, selbst stellenweise beim Aufstampfen des wandernden Fußes, in den Tiefen. Dem Gneis- und Granitgestein des eigentlichen Gebirgsmassivs ist hier gegen Westen zu Muschelkalk vorgelegt. Dies giebt, wie man weiß, unterirdische Klüfte und oft meilenweite Gänge, in denen verborgene Wasser rauschen. Der wunderbare See beim nahegelegenen Dorfe Eichen, auf dessen Grunde viele Jahre nur goldige Aehren rauschen, und dann wieder lange Wogenkämme vor dem Winde treiben, verdankt dieser Bodenformation sein sporadisches Erscheinen. Mehrfach sind Höhlungen mit unterirdischen Wassern entdeckt worden; auch sind Erdeinstürze nicht seltene Erscheinungen. Die Haseler Höhle, in welche man, durch lange leinene Kittel gegen das beständig träufelnde Wasser geschützt, hineinwandert, nimmt den flüchtigen Besucher eine Stunde in Anspruch. Sie hat aber Abzweigungen, welche man nicht zu besuchen pflegt und die noch nicht genügend untersucht worden sind. Lange Gänge, mehrere Höhlen, deren schönste, die sogenannte „Fürstengruft“, von unserem Künstler wiedergegeben ist, ein unterirdischer See, ein wildrauschender und unterirdisch verlaufender Bach, überall wunderbare, noch schön weiße Tropfsteingebilde, z. B. Capelle, Mantel, Orgel, Kanzel, Bienenkorb, Sarkophag und Thier- und Menschengestalten, sind die unterweltlichen Wunder, die sich überraschend darstellen. Drei von den Stalaktitsäulen geben beim Anschlag einen reinen Dreiklang.

Zu verwundern ist es nicht, daß solchen Naturspielen gegenüber die Sage von wunderbaren Dingen zu berichten weiß. So heißt die hier bezeichnete Höhle die „Erdmannshöhle“, und zwar nach den sagenhaften Gnomen („Erdmännlein“ sagt dort der Volksmund), welche hier leben sollen. Einst, so will die Sage, verkehrten sie hülfreich mit den Menschen, bis menschliche Neugier, um die Beschaffenheit ihrer stets sorgfältig verborgenen Füße (Schwanen- oder Entenfüße) zu erfahren, einst feingesiebte Holzasche vor den Eingang der Haseler Höhle streute. Die überlisteten „kleinen Leutchen“ zogen sich, theils aus Beschämung, theils aus Zorn über den Undank, in die Erde zurück, und mit ihrer Hülfe ist es nun leider vorbei, bis wieder einmal ein besseres Menschengeschlecht die Thäler dort bewohnt. Aber die Haseler Höhle, ihren Lieblingsort, aus dessen Eingang sie oft nächtlicher Weile zum gestirnten Himmel aufblicken, bewohnen sie noch. Dringt aber ein menschlicher Fuß hinein, so verschwinden sie dem Auge des Menschen. Sie werden zu Stein. Und das sind eben die wunderbaren Gestalten in der Höhle, die der Mensch anstaunt.

Ich schließe mit einer Anführung aus einem Briefe des Herrn Aßmus, welcher im letzten Herbst die Haseler Höhle für die „Gartenlaube“ aufnahm. „Der Herr Bürgermeister,“ so schrieb er mir damals, „an den ich Empfehlungen von Brennet und Wehr hatte, war krank; mich führte, was mir keineswegs unlieb war, seine hübsche, jugendliche Tochter, ‚das Emmele’, mit sanften, blauen Augen und dunklem, prächtigem Haar. Die Schwarzwälderinnen zeichnen sich überhaupt durch üppiges, schönes Haar aus, das meist in langen Zöpfen getragen wird. Zwei junge Bursche begleiteten uns, welche Bündel von Buchenspähnen trugen, um mit diesen unserer Wanderung und meiner Arbeit zu leuchten. Im tiefen Schnee gingen wir zur Höhle. Auf Anrathen des Emmele legte ich meinen Ueberzieher ab, weil es da unten in der Höhle sehr warm sei. Ich zog dann jenen bekannten leinenen Kittel mit Kapuze an, und hinab ging es in die Tiefe. In der Fürstengruft sang ich; die Akustik war herrlich. Das Emmele wußte übrigens recht gut in der Höhle Bescheid, und nicht sie war schuld, daß ich mir einige Male in den engen Gängen an den Stalaktiten tüchtig den Kopf stieß. … Sie haben ganz Recht, daß man den Schwarzwald lieb gewinnen muß. Ich kenne ebenfalls die Schweiz, Tirol, die Karpathen, Harz, Riesengebirge, ein gut Stück von Italien, allein die Herzlichkeit, das biedere Wesen der Schwarzwälder und in Verbindung damit die schöne, oft sehr großartige Natur, lassen den Aufenthalt hier so anmuthend wie kaum sonstwo erscheinen; ich habe mich oft sehr schwer von den lieben Leuten und herrlichen Thälern getrennt.“[1]




Blätter und Blüthen.


Das letzte Fahrzeug der Schiffbrüchigen. Auf weiten Seereisen macht der gelangweilte Passagier die Bekanntschaft der Spielkarten, der Exportbiere, schlechter Romane und anderer höchst überflüssiger Dinge, allein ein Rettungsgurt wird ihm in den allerseltensten Fällen vorgestellt. Ich habe auf hoher See Nächte durchlebt, in denen der Zusammenstoß zweier Schiffe nur mit genauer Noth abgewendet wurde, und andere, in denen der Sturm das Schiff zum Wrack machte, allein die Schreckensnächte gingen vorüber, ohne daß ich in’s Klare darüber kam, ob ein Rettungsgurt am Bord des Schiffes sei oder nicht. In jenen schweren Stunden mag solch ein unscheinbarer Korkgürtel nur schwachen Trost bieten, allein immerhin ist für den Bedrohten ein schwacher Trost besser als gar keiner, und der Passagier findet „in der rauhen ungestümen Wellenwiege“ eher den Schlaf, wenn er weiß, es giebt nach dem Untergang des Schiffes noch eine letzte Hoffnung. Schon aus diesem Grunde sollten die Schiffsrheder eine genügende Anzahl von Rettungsgürteln für ihre Schiffe erwerben. Die Passagiere und Matrosen aber müßten, sobald sie die Fahrt antreten, von dem Vorhandensein der Rettungsapparate in Kenntniß gesetzt und genau darüber unterrichtet werden, wie dieselben zu gebrauchen sind.

Schon in früheren Jahren wurde die Nothwendigkeit der obligatorischen Einführung der Schwimmgürtel betont, allein theils des hohen Preises, theils der ungenügenden Leistungsfähigkeit der Apparate wegen sträubten sich manche Rheder gegen dieses Ansinnen. Das letzte Jahr aber brachte uns Katastrophen auf hoher See, welche die Nothwendigkeit ausreichender Rettungsmittel so laut und überzeugend predigten, daß wohl der Widerstand besiegt wird und man fortan jede Schiffsausrüstung für unvollkommen bezeichnen muß, der die genügende Anzahl von Rettungsgürteln fehlt.

„Der große Kurfürst“, das majestätische deutsche Kriegsschiff, „die Princeß Alice“, der Londoner Vergnügungsdampfer, und endlich „die Pommerania“ aus Hamburg, sie alle fielen im Laufe von fünf Monaten Zusammenstößen zum Opfer und sanken auf fast glatter Wasserfläche. Wie viele Menschenleben hätten in diesen furchtbaren Katastrophen gerettet werden können, wären Rettungsapparate in genügender Zahl und Zweckmäßigkeit vorhanden und wäre das reisende Publicum mit dem Gebrauch derselben vertraut gewesen!

Der „Nautische Verein“, welcher vor längerer Zeit unter dem Vorsitze des Capitains John Gibson in Berlin seinen Vereinstag abhielt, hat sich mit dieser brennenden Frage auf das eingehendste beschäftigt. Vorher schon hatte der Vorstand des Vereins an alle deutschen Rheder die Aufforderung gerichtet, für jede an Bord ihrer Schiffe befindliche Person einen zweckmäßigen Schwimmgürtel anzuschaffen. Der Verein selber wollte die neuesten Rettungsapparate prüfen und die, welche sich als zweckmäßig erwiesen den Rhedern empfehlen. In Folge eines Aufrufes waren mehr als dreißig Schwimmgürtel und Schwimmwesten eingesandt worden, dazu eine Anzahl von radförmigen Korkkränzen oder Bojen, deren äußerer Umfang mit einem Stricke derart besetzt ist, daß dieser dem Schiffbrüchigen[2] einen festen Anhalt bietet. Die Rettungsapparate wurden auf ihre Tragfähigkeit im Bassin einer Schwimmanstalt geprüft. Capitain Graffunder, derselbe, welcher bei der Nachricht vom Untergange der „Pommerania“ die Capitaine der Passagedampfer so eindringlich vor den schnellen Fahrten warnte, denen so manche Rücksicht geopfert werde, erörterte, bevor die Versuche angestellt wurden, die Frage, in welchen Situationen ein Rettungsgürtel gute Dienste leiste. Außer den von uns geschilderten Fällen giebt derselbe noch folgende an: Auf offener See fällt Jemand über Bord. Rettungsbojen werden dem [560] Verunglückten zugeworfen, und es gelingt ihm, eine derselben zu erhaschen. Indessen hat sich das Schiff, dessen Lauf nicht auf einen Ruck gehemmt werden kann, bereits eine gute Strecke entfernt; es muß daher ein Boot ausgesetzt werden. Geschieht dies bei hohem Seegange, so werden mehrere Menschenleben an die Erhaltung des einen gesetzt. Sind aber die Insassen des Bootes mit Schwimmgürteln ausgerüstet, so kann der Schiffsführer mit größter Ruhe das rettende Boot abstoßen sehen.

Am sichersten vielleicht bringt der Schwimmgürtel Denen Rettung, welche sich an Bord eines gestrandeten Fahrzeugs befinden. Wenn die Wogen über das Deck des Schiffes schlagen und die Schiffbrüchigen über Bord werfen, so können diese, falls sie einen Schwimmgürtel besitzen, sehr leicht das Ufer erreichen. Auch in den Fällen, wo ein Wrack bei der Küste liegt und das Rettungsboot sich demselben, ohne Gefahr zu zerschellen, nicht zu nähern vermag, wird es den auf dem Wrack Befindlichen leicht werden, schwimmend das Boot zu erreichen, wenn sie einen Korkgürtel angelegt haben.

Es entsteht nun, nachdem die Nothwendigkeit der Schwimmgürtel genügend nachgewiesen worden ist, die Frage, welche Gürtel die empfehlenswerthesten sind. Die Commission des deutschen „Nautischen Vereins“, welche über diese Frage zu entscheiden berufen war, schloß sofort alle Guttapercha-Apparate von der Concurrenz aus und zwar erstens, weil das Aufblasen derselben zu viel Zeit erfordert, und zweitens, weil eine Reparatur derselben an Bord des Schiffes unmöglich ist. Ferner fanden die mit Oeltuch oder Leinwand überzogenen Gürtel keine Berücksichtigung, weil man die Güte des Materials hier nicht zu untersuchen vermag und weil der Ueberzug beim Verlassen des Schiffes leicht festhaken kann.

Es bleiben also nur die Korkgürtel oder Korkjacken übrig, an welche die Commission folgende Anforderungen stellte: erstens genügende Tragfähigkeit. Man glaubte früher, daß die Tragfähigkeit eines Rettungsgürtels nur zehn Pfund betragen müsse, um einen Menschen über Wasser zu halten. Dies war zu niedrig gegriffen. Die im Bassin angestellten Proben, bei denen sich ein in der gewöhnlichen Seemannstracht befindlicher Mann des Rettungsgürtels bediente, ergaben, daß nur die Gürtel, welche im Wasser etwa zwanzig Pfund Eisen zu tragen vermochten, im Stande waren, den Mann im Bassin so zu halten, daß seine Schultern etwas über die Oberfläche des Wassers traten.

In zweiter Linie kommt die Möglichkeit in Betracht, den Gürtel schnell und bequem anlegen zu können. Im Augenblicke der Gefahr hat sich der Passagiere eines Schiffes in der Regel eine so große Aufregung bemächtigt, daß dieselben die einfachsten Dinge verkehrt anfassen. Ist daher die Construction eines Schwimmgürtels eine sehr complicirte, so wird sich der geängstigte Passagier so leicht nicht zurechtfinden. Die mittlere Zeit, in der ein besonnener Mann einen einfach construirten Gürtel anzulegen vermag, beträgt zwanzig Secunden.

Als das geeignetste Material für den Schwimmgürtel hat sich guter, möglichst leichter Kork erwiesen, der auch allen Anforderungen betreffs der Dauerhaftigkeit entspricht.

Endlich wurde noch die Preisfrage in Betracht gezogen, weil aus der Massenanschaffung den Rhedern eine ganz respectable Ausgabe erwächst. Die Commission glaubte annehmen zu dürfen, daß für den Preis von acht Mark ein zweckmäßiger und guter Korkgürtel herzustellen sei.

Die Korkgürtel, welche die Commission nach eingehender Prüfung einer Empfehlung für würdig erachtete, gehörten den Herren Heinrich Meyer in Bremen, Wehmann in Vegesack und Birth in London. Auch die Schwimmweste des Herrn Arp in Kiel wurde der Empfehlung für würdig erachtet, falls dieser Fabrikant durch eine Vergrößerung der Korkblöcke die Tragfähigkeit noch um drei Pfund erhöht.

Die auserwählten Schwimmgürtel sind alle von höchst einfacher Structur. Sie bestehen aus einem etwa einen Meter breiten Leinwandgürtel, der mit schmalen Korkblöcken reihenweise so besetzt ist, daß der Gürtel leicht beweglich bleibt. Alle diese Gürtel sind hinten offen und müssen dort mit Hülfe zweier starker Bänder, die man vorne verknüpft, verschlossen werden. Die stärksten Korkblöcke befinden sich vorn auf der Brust und zwar aus folgender Rücksicht. Der Schwimmgürtel bewirkt, daß der Schiffbrüchige, welcher ihn angelegt hat, im Stadium der Ruhe aufrecht im Wasser steht; tritt nun bei demselben Bewußtlosigkeit oder Uebermüdung ein, so würde er, wenn der Gürtel vorn offen wäre, vornüberfallen und bald so viel Wasser schlucken, daß der Tod erfolgte. Dadurch, daß der Gürtel vorn geschlossen und stark bewehrt ist, glaubt man einem Vornüberkippen des Oberkörpers vorbeugen zu können. Zur Befestigung des Gürtels dienen außer den an den hinteren Enden befindlichen starken Bändern, welche man vorn zuknöpft, noch zwei Tragbänder an der obern Seite des Gürtels, durch welche man Kopf und Arme steckt. Liegt der Gürtel fest an, so gleicht er – von den Korkblöcken abgesehen – einem Leibchen, wie es kleine Mädchen tragen. Die Korkwesten unterscheiden sich von den Gürteln nur dadurch, daß sie Armlöcher haben und an der Brust höher hinaufreichen.

Der einfachst construirte Korkgürtel hat somit das Feld behauptet; wer die See befährt, achte ihn höher als der Soldat seine Waffe, denn wenn das Schiff auf hoher See sinkt und die Rettungsboote nicht zur Hand oder überfüllt sind, ist der Schwimmgürtel das letzte Fahrzeug des Schiffbrüchigen.




Wanderburschen-Elend. Vor einiger Zeit fand man in verschiedenen Zeitungen die beunruhigende Nachricht, daß in einigen Gegenden Deutschlands in Folge der andauernden Noth und Arbeitslosigkeit unter den wandernden Handwerksburschen und Fabrikarbeitern die sogenannte „Bettlerpest“ ausgebrochen sei. Es ist diese direct durch ungenügende Ernährung, übermäßigen Schnapsgenuß und häufiges Schlafen im Freien bei großen Marschstrapazen veranlaßte ansteckende Krankheit (richtiger Hungertyphus genannt) vielfach in Krankenhäusern constatirt worden, und durch den Gumprecht’schen Aufsatz in unserer Nr. 24 wurde bereits die Aufmerksamkeit größerer Kreise auf diese immerhin bedenkliche Erscheinung gelenkt. Der Zweck des vorliegenden Artikels ist, einige wohlgemeinte Vorschläge zur Besserung dieses socialen Uebels zu machen.

Es existiren im Deutschen Reiche bereits eine große Anzahl von Vereinen zur Verhütung der Hausbettelei (Berlin, Breslau, Leipzig, München, Hannover, Stuttgart, Darmstadt, Göttingen, Osnabrück etc., die zum Theil auch noch weitergehende Wohlthätigkeitszwecke verfolgen), welche das Aufhören des für die Angesprochenen höchst lästigen, für die Ansprechenden aber demoralisirenden Bettelns der arbeitslosen oder arbeitsunlustigen Wanderburschen anstreben und den Betreffenden zum Ersatz dafür an den errichteten Unterstützungsstellen größtentheils Geldgeschenke verabreichen.

Wenn nun alle diese Vereine, deren von den Regierungen und Behörden befürwortete allgemeine Einführung dringend anzurathen ist, nach dem Beispiele des neubegründeten Vereins in Hannover, statt des Geldes nur Marken vertheilten, für welche die Leute warmes Essen, eventuell Nachtlager mit Morgenimbiß in bestimmten, streng controlirten Herbergen erhalten, so dürfte Folgendes erreicht werden:

a) die Wanderburschen bekämen häufiger etwas Warmes zu essen und ordentliche Nachtquartiere;
b) sie würden weniger Geld zum Ankaufe von Spirituosen übrig behalten und seltener Gelegenheit haben, in schlechte Gesellschaft zu gerathen;
c) durch die Entziehung der baaren Geldunterstützungen würde das Vagabondenleben mit der Zeit für die Meisten den Reiz verlieren.

Allerdings ist hierbei vorausgesetzt, daß die Mitglieder der genannten Vereine den eingegangenen Verpflichtungen streng nachkommen und fremde Bettler consequent abweisen. Ein sehr praktisches, hier und da von Behörden und Vereinen (z. B. in Weimar) mit Erfolg eingeschlagenes Verfahren, arbeitsscheue Subjecte zu bessern, besteht darin, daß dieselben eine bestimmte Arbeit, Holzhacken etc. verrichten müssen, bevor sie das übliche Geschenk erhalten. Einige Vereine haben mit dem Unterstützungs- ein Arbeitsnachweisungsbureau verbunden, welche Einrichtung namentlich für größere Städte zur Nachahmung empfohlen werden darf.

Wenn solche Vereine mit Erfolg wirken wollen, so ist es in erster Linie nöthig, daß sich dieselben mit den Armenbehörden, Innungen und sonstigen Unterstützungsstellen der betreffenden Plätze in Verbindung setzen; auch würde es von großem Nutzen sein, wenn eine Vereinigung sämmtlicher im Reichsgebiete bestehender Vereine zu gemeinsamem Wirken und einem organisirten energischen Kampfe gegen die gemeinschädliche Bettelei und das Vagabondenthum, sowie zur kräftigen Steuerung wirklicher Noth, zu Stande käme.

Um die hierzu nöthigen Schritte einleiten zu können, werden hierdurch zunächst alle desfallsigen Vereinspräsidenten gebeten, ihre Adressen an den Kaufmann Gustav Effenberger in Hannover, der dem Vorstande des dortigen Vereins angehört, einzusenden und die eventuellen Statuten, Geschäftsordnungen etc., sowie eine Notiz über die derzeitige Mitgliederzahl ihrer Vereine freundlichst beizufügen. Der Genannte ist auch gern bereit, die Beantwortung etwaiger Anfragen betreffs der Gründung und Organisation solcher Vereine zu vermitteln.




Alpenfreunden und besonders den Alpenvereinen ist aus einem beklagenswerthen Verlust eine traurige Pflicht erwachsen. Von allen Führern im baierischen Hochgebirge wurden als die kühnsten und verlässigsten die beiden Brüder Koser in Garmisch gepriesen. Hunderte von Bergsteigern hatten sie vor Gefahren bewahrt, sie sicher zum Genuß der Riesenbilder der Alpenwelt emporgeführt und glücklich wieder zu Thal gebracht. Nun lebt nur noch einer von ihnen. Joseph Koser hat am 23. Juli bei einer Besteigung der Zugspitze den Tod in seinem Berufe gefunden. Der treue Freund der Familie Koser, der Maler und Director der Partenkirchner Kunstschnitzschule Michael Sachs, schreibt uns darüber: „In dem sogenannten ‚Kamin’, einer der gefährlichsten Stellen dieser Tour, verlor eine Dame aus Magdeburg den Halt; Koser suchte sie zu stützen, wurde dabei niedergerissen und stürzte über 800 Fuß tief auf den Rand des Plattachferners. Dort starb er, nach vierthalbstündigem Leiden, in den Armen seines Bruders. Er war ein Mann wie von Stahl und Eisen, in seinem schweren Berufe voll Muth und Treue und ein Mensch von liebenswürdigstem Wesen.“ Nun steht das Haus des einst so vielgesuchten Mannes in Jammer; die Wittwe und fünf Kinder haben den Ernährer verloren. Bei einem früheren Führer-Mißgeschick wurde uns mitgetheilt, daß es im Plane der Alpenvereine liege, eine Unterstützungscasse für verunglückte Alpenführer und deren Hinterbliebene zu stiften. Sollte dieser Plan noch unausgeführt sein, so dient vielleicht dieser neue Trauerfall zur Beschleunigung der Ausführung. Jedenfalls werden Alpenfreunde und Alpenvereine den Maler Herrn Michael Sachs in Partenkirchen gern in den Stand setzen, Seppel Koser’s Familie vor Noth zu bewahren.




Zur Beachtung. Aus Berlin werden wir telegraphisch benachrichtigt, daß unser allgeschätzter Mitarbeiter Franz Mehring in Folge eines Rückfalles in ein kaum überwundenes schweres Nervenleiden an der Fortsetzung seiner Artikelreihe „Zur Geschichte der Socialdemokratie“ (Nr. 17, 21 und 25) leider einstweilen verhindert ist. Möge der geistvolle und kenntnißreiche Autor, glücklich genesend, bald in der Lage sein, die mit so vielem Beifall aufgenommenen Beleuchtungen der modernen Socialdemokratie zu Ende zu führen! Für die nächsten Wochen werden wir freilich leider außer Stande sein, den Faden jener unterbrochenen Artikelreihe wieder anzuknüpfen und so die Ungeduld unserer Leser zu stillen.
D. Red.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Wir können von unserm Gegenstande nicht Abschied nehmen, ohne des eigentlichen Reiseschriftstellers des Schwarzwaldes zu gedenken, des Dr. Wilhelm Schnars. Ein Kind des Nordens, und als Arzt in Hamburg jahrelang thätig, hat er mehr als jeder Andere, hauptsächlich durch Vermittelung des rüstig wirkenden „Schwarzwald-Vereins“, zur Aufschließung der Naturschönheiten dieses deutschen Gebirges gewirkt. Leider ist der treffliche Mann am 20. Mai in seinem 73. Jahre zu Baden-Baden aus dem Leben geschieden. Das Andenken an ihn, der fünfzehn Jahre lang Land und Leute des Schwarzwaldes mit aller Wärme des Herzens und Schärfe des Geistes erforscht, um in ihrer fortschreitenden Entwickelung seine schönste Lebensfreude zu finden, das Andenken an den Dr. Schnars hat im dankbaren Volksgemüth seine sichere Stätte gefunden.
    D. Red.
  2. Vorlage: Schriffbrüchigen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nenlich
  2. Berichtigung
  3. Vorlage: Nr. 21