Die Gartenlaube (1878)/Heft 46
Lieschen war aufgesprungen, versuchte aber nicht mehr zu fliehen, sondern blieb regungslos stehen. Das Abendroth verglühte eben am Himmel, seinen purpurnen Schein durch das Fenster werfend, und umwob die reizende Mädchengestalt mit rosigem Lichte. Die alte Baronin schreckte zurück, als sähe sie ein Gespenst, und streckte erschreckt die Hände gegen sie aus. „Dio mio! Es ist unerhört!“ rief sie, und trat mit dem Fuße auf. „Sind Sie immer nur hier, um mich zu erschrecken?“
„Es thut mir leid, Frau Baronin, daß ich stets das Unglück habe –“
„Allerdings wunderhar, vor solch einer holden Erscheinung zu erschrecken!“ sagte der Oberst; er war in den Rahmen der Thür getreten und schaute bewundernd zu dem jungen Mädchen hinüber. „Darf ich bitten, meine Gnädige, der jungen Dame mich vorzustellen?“
Die Angeredete zuckte mit den Achseln, indem sie einen beinahe mitleidigen Blick auf den alten Herrn warf, und trat zum Fenster.
„Nun, dann muß ich mich selbst vorstellen, mein Fräulein – Oberst von Derenberg!“ sagte er verbindlich.
„Dies ist meine Freundin, Onkel, Lieschen Erving,“ ergänzte Nelly die Vorstellung. Das junge Mädchen verbeugte sich leicht.
„Erving?“ wiederholte fragend der alte Herr.
„Die Tochter des jetzigen Besitzers der Derenberg’schen Forsten, Onkel,“ bestätigte Nelly und heftete ihre Augen voll auf sein etwas geröthetes Gesicht.
„Ah so,“ erwiderte er. Darum kam mir der Name so bekannt vor. „Ihr Herr Vater ist wahrscheinlich ein Liebhaber des edlen Waidwerks?“
„Ja, Herr Oberst, und außerdem verbraucht er viel Holz in seiner Papierfabrik.“
„Ah, eine Papierfabrik besitzt Ihr Herr Vater? Aber Holz – ich meine, das bessere Papier soll meistenteils aus Lumpen gemacht werden?“
Ueber Lieschen’s Gesicht zog ein schalkhaftes Lächeln.
„Gewiß, Herr Oberst. Darum heißt auch unsere Fabrik in der ganzen Umgegend die Lumpenmühle, mein Vater der Lumpenmüller und ich Lumpenmüllers Lieschen.“ Sie lachte jetzt wirklich über das ganze liebliche Gesicht.
„Lumpenmüllers Lieschen?“ wiederholte der Oberst ebenfalls lächelnd und sah belustigt zu ihr hinüber. „Das ist allerdings ein Name, der nicht für Sie zu passen scheint.“
„Ich trage ihn doch gern,“ sagte sie, „jedes Kind nennt mich so, schon immer haben die Töchter aus unserem Hause diesen Beinamen gehabt, entweder Lumpenmüllers Grethchen, oder Minchen, oder Lisett–“. Sie erschrak, als die diesen Namen so unabsichtlich aussprach, und sah scheu zu der alten Dame hinüber, die noch immer am Fenster stand und sich eben jetzt so rasch umwandte, als habe sie eine Natter gebissen.
„Lisett?“ wiederholte sie. „Sie haben da eben einen Namen genannt, auf den Sie sich nicht so stolz berufen sollten; diese Lisett war eine Leichtsinnige, die ihren Eltern viel Kummer gemacht hat –“
„Das Andenken an Großtante Lisett ist mir heilig,“ erwiderte das junge Mädchen scheinbar ruhig, „sie war nicht leichtsinnig; sie war nur sehr unglücklich, aber, wie man mir versichert, nicht durch eigene Schuld, Frau Baronin.“ Ihre Lippen zuckten vor Erregung, als sie diese Worte sprach, und aus ihrer Stimme klang das stürmische Klopfen ihres Herzens.
„Was ist das für eine Lisett? Wer war sie?“ erkundigte sich Blanka lebhaft, die eben in’s Zimmer trat. „Wer schmäht sie, und was hat sie denn verbrochen?“ Sie stand jetzt zwischen Lieschen und der Großmutter, und ihr Köpfchen wandte sich rasch von der Einen zur Andern.
„Sei nicht so bodenlos neugierig, mein Kind!“ beruhigte der Oberst, „ich sagte es Dir schon einmal, alte Schlösser haben ihre Geheimnisse, und –“
„Wer sagt Ihnen denn, Oberst, daß, das Schloß etwas mit jener Angelegenheit zu thun hat?“ Die alte Dame war leichenblaß geworden.
„Je nun,“ erwiderte er bedächtig, und sah scharf zu ihr hinüber, „ich combinire gern –“
„Sehr bedauerlich, Herr Oberst, daß Sie nicht Romandichter geworden sind! Sie haben ihre Carrière verfehlt.“
„Adieu, Nelly,“ flüsterte Lieschen, sich zu ihr niederbeugend und einen Kuß auf die Wange der Freundin drückend, dann verneigte sie sich leicht gegen die Anwesenden und schritt aus dem Zimmer; sie floh förmlich den Corridor entlang und über den freien Platz vor dem Schlosse. In der Lindenallee stand sie plötzlich vor – Army.
„Fräulein Erving –“ Sie sah zu ihm auf; seine Züge waren ernst. „Fräulein Erving –“ wiederholte er – „haben Sie gehört, was dort gesprochen wurde in unserer Wohnstube?“
„Ja!“ erwiderte sie fest.
„Es ist nicht gerade sehr – wie soll ich sagen? – sehr
[754] discret, zu horchen, wenn Familienangelegenheiten besprochen werden –“
„Ich habe nicht gehorcht, Herr Baron!“ rief sie stolz; „wäre ein anderer Ausgang aus dem Zimmer gewesen, ich hätte es gern verlassen, für mein Leben gern, denn –“
„Sie konnten durch das Wohnzimmer gehen –“
„Nein! Ihre Frau Mutter selbst hat mich gebeten, die Wege Ihrer Frau Großmutter nicht zu kreuzen, denn sie kann mich nicht leiden; ich bin ja eine Tochter des Hauses, in welchem man anständiger Weise nicht verkehren kann, Herr Lieutenant – Sie wissen es ja; ich war also gezwungen zu bleiben; ich wäre am liebsten aus dem Fenster gesprungen.“ Ein bitterer Zug lag um den kleinen Mund, als sie die Worte sprach.
„Nun, jedenfalls möchte ich Sie bitten nicht über das Gehörte zu sprechen. Das Opfer, diese pikanten Auseinandersetzungen nicht weiter zu berichten ist gewiß ein schweres – ich glaube es schon, unsere Familie bietet ja jeder Zeit Stoff der Unterhaltung in Fülle für die Kreise der Umgegend; aber ich denke, Sie werden dieses Opfer bringen, wenn ich Sie daran erinnere, daß wir früher getreue Freunde waren – nicht wahr, Lieschen?“ Er hielt ihr die Hand hin, aber das junge Mädchen wich zurück und verschränkte die Arme über die Brust.
„Eines Versprechens bedarf es wohl kaum,“ erwiderte sie tonlos, „übrigens würde ich jedenfalls geschwiegen haben, denn der Inhalt Ihrer Gespräche beleidigte ja teilweise meinen Vater – meinen Vater, in dessen Hause Sie so gern weilten zu eben jener Zeit, als wir noch die ‚getreuen Freunde‘ waren, wie Sie bemerkten.“
Er trat bestürzt zurück. „Wie? Ich habe kein Wort über Ihren Herrn Vater gesagt.“
„Aber angehört, als man ihn Parvenü nannte, – als man ihm nachsagte, er hasse den Adel und die Familie Derenberg besonders und er sinne auf Rache – und das ruhige Anhören einer Verleumdung, während man die Ueberzeugung von ihrer Unwahrheit in sich trägt, ist eine Bestätigung derselben. Ihr Zartgefühl scheint unter Umständen zu versagen, Herr Lieutenant!“
Ein Gefühl tiefster Bitterkeit, mit dem heißen Weh hoffnungsloser Liebe gemacht, quoll in ihr auf. Aber erst als sie, mit einer kühlen Wendung ihm den Rücken kehrend, ohne Umsehen hastig ein Stück der Allee hinabgeschritten war, brachen schwer und langsam die Thränen aus ihren Augen. Sie sah es nicht, wie er noch lange ihr nachblickte und erst, nachdem ihre schlanke Gestalt verschwunden war, mit finster gefalteter Stirn zögernd dem Schlosse zuschritt. – –
Als Army in das große Zimmer zu den Uebrigen trat, schien etwas Ruhe nach dem Sturme eingekehrt zu sein, wenigstens schwieg Jeder. Der Oberst hatte sich eine Cigarette angezündet und lehnte anscheinend in behaglichster Stimmung in einem der tiefen altmodischen Sessel, während die alte Baronin kerzengerade auf dem Sopha saß und in nervöser Hast mit ihren schlanken weißen Fingern spielte. Blanka aber stand in der tiefen Fensternische und schaute in den Park hinaus; die lange Schleppe ihres dunkelblauen Reitkleides lag unbeweglich auf dem alten Parquet, und sie verharrte auch noch regungslos, als ihr Bräutigam an ihre Seite getreten war. Er überhörte die unwillige Frage der alten Dame, die ihm zurief, wo seine Mutter sei und ob sie nicht bald komme. Er sah nur die reizende Gestalt neben sich, die in dem knappen Reitkleide noch zierlicher, noch kinderhafter erschien als sonst, und er nahm leise eine der schweren goldigen Haarsträhne, die losgelöst auf dem blauen Sammet lagen, und drückte seine Lippen darauf. Die junge Dame schüttelte, ohne sich umzusehen, heftig mit dem Kopfe, und die kleinen Hände griffen rasch nach dem Haare und zogen es über die Schulter.
„Blanka!“ sagte er vorwurfsvoll und bog sich vor, um in ihr Gesicht zu sehen. Sie wandte den Kopf ab und blickte, scheinbar mit Interesse, in den stillen grünen Garten hinaus.
„Habe ich Dich beleidigt, Blanka?“ fragte er leise. „Bist Du mir böse?“
Sie hielt sich mit einer hastigen Bewegung beide Hände vor die Ohren. „Nein, nein, um Gotteswillen, nein!“ rief sie leidenschaftlich, sich mit einem Rucke umwendend, „ich bitte Dich, Armand, frage nicht so lächerlich! Du siehst doch, ich habe augenblicklich keine Lust, Dein Liebesgeflüster und Deine Zärtlichkeiten mit anzuhören; jeder Andere würde es sofort begriffen haben, und Du fragst, ob ich böse bin, und Gott weiß, was für Unsinn noch!“ Sie trat ärgerlich mit dem Fuße auf.
Das Gesicht Army’s war dunkelroth geworden. „Verzeihe,“ sagte er und schritt zu dem Pianino. Er schlug den Deckel auf und that ein paar Griffe.
„Bitte, spiele nicht!“ rief Blanka, indem sie wieder die Hände zu den Ohren führte.
Er stand auf. „Dann bitte, spiele Du!“ bat er, „ich möchte gern ein wenig Musik hören; sie hat für mich so etwas Beruhigendes, Versöhnendes.“
„Ja, bitte, spiele, mein Schätzchen!“ rief auch der Oberst, der von der ganzen kleinen Scene nur dieses Letzte gehört hatte und dem es angenehm zu sein schien, die peinliche Stimmung zwischen ihm und der alten Dame auf diese Weise vertuschen zu können.
„Auf dem Instrumente dort?“ fragte sie. „Nein, darauf kann ich nicht spielen; nicht einmal hören mag ich die klimprigen Töne. Uebrigens bin ich auch zu fatiguirt von dem weiten Ritt,“ setzte sie hinzu.
Einen Moment blitzte es in Army’s Augen zornig auf; dann ging er zu dem alten geschmähten Instrumente, schloß den Deckel und trat wieder zu seiner Braut; sie hatte die kleine Reitpeitsche zur Hand genommen und spielte mit deren silbernem Griff, während die alte Dame sich erhob und das Zimmer verließ.
„Ich nehme an, Du bist wirklich angegriffen, sonst wäre es mehr als bloße Laune, wenn Du Dich auf meine Bitte geweigert hättest, zu spielen,“ bemerkte er mit erzwungener Ruhe.
„Nimm es an, lieber Junge, nimm es an!“ sagte lachend der alte Herr und schlug ihn auf die Schulter, „man kommt ja so am weitesten; ich sehe, Du wirst vortrefflich mit ihr fertig werden.“
Army biß sich auf die Lippen.
„Darf ich Dich nach Deinem Zimmer führen?“ fragte er dann zu seiner Braut gewandt, „ich schlage Dir vor, Du legst Dich ein wenig und ruhest, vielleicht bekomme ich nach Tische noch etwas von Dir zu hören, nicht wahr?“
„Ich glaube nicht,“ erwiderte sie, „denn ich habe Kopfweh und werde heute in meinem Zimmer bleiben.“
Der Oberst lachte. „Na, gute Nacht denn, und gute Besserung,“ und damit schritt er, noch lächelnd und dem Neffen zunickend, aus dem Zimmer. Blanka nahm die Schleppe ihres Reitkleides über den Arm und folgte ihm; sie ging, ohne ein Wort zu sprechen, an ihrem Bräutigam vorüber.
„Blanka!“ sagte er leise und vertrat ihr den Weg, „willst Du mir nicht Gute Nacht sagen?“
„Du behandelst mich wie ein unartiges Kind,“ rief sie leidenschaftlich und trat zurück, „ich wundere mich, daß Du nicht verlangst, ich solle Abbitte thun; es ist Dir ganz gleich, ob ich Kopfschmerzen habe oder nicht –“
„Weder das Eine noch das Andere. Ich verlange weder Abbitte, noch verweigere ich Dir mein Bedauern, daß Du Kopfschmerzen hast, aber mir ist es unmöglich, so ohne ‚Gute Nacht‘ von Dir zu gehen. Nicht wahr, das ist im Grunde auch nicht angenehm, Blanka? Wenn zwei Menschen sich so lieb haben, wie wir, dann ist das Verlangen nach einer Verständigung, nach einem Aussprechen so natürlich.“
Er war bei diesen Worten näher zu ihr getreten und wollte sie an sich ziehen, aber sie wich ihm aus mit einer ungeduldigen Bewegung, und um ihren Mund legte sich einen Moment ein spöttischer Zug.
„Wenn Du mich wirklich lieb hättest,“ entgegnete sie schroff, „so würdest Du mir nicht solche alberne Moralpredigten halten wollen, da Du doch weißt, daß ich angegriffen bin. – Es ist schrecklich,“ fügte sie hinzu, „was Du für eine Auffassung von unserer gegenseitigen Stellung zu haben scheinst; dieses ewige Rücksichtnehmen, dieses Anlehnen des Einen an den Andern, ohne einen freien Willen äußern zu dürfen, dieses Aufgehen in einander – eine drückende, entsetzliche Kette ist es, aber kein Glück. Ich will frei sein – hörst Du? frei sein!“ wiederholte sie noch einmal, und gleich darauf fiel der schwere Thürflügel dröhnend zu hinter der zierlichen Gestalt.
Er stand wie betäubt und starrte auf die Thür, die sie seinen Blicken entzogen hatte. Es war still geworden in dem großen [755] Zimmer; das Abendroth warf seinen glühenden Schimmer durch die Fenster und erfüllte das Gemach mit rosiger Dämmerung, und allmählich verblich der purpurne Schein, und die grauen Schleier des Abends sanken verdüsternd herab. Der junge Mann trat zum Fenster und schaute unverwandt hinaus in die abendliche Landschaft, die Lippen wie im tiefsten Unmuth auf einander gepreßt, aber dann zuckte er zusammen; von droben her trafen Klänge sein Ohr. Hastig öffnete er das Fenster, und noch deutlicher schwebten sie jetzt zu ihm herunter, dort oben wurde der Faust-Walzer gespielt, so rhythmisch und schwungvoll, wie sie es nur verstand; Perlschnüren gleich rollten die Passagen, und dazwischen hob sich, meisterhaft vorgetragen, die Grundmelodie hervor.
„Sie spielt!“ murmelte er, und seine geballte Hand fiel zornig aus das harte Fensterbrett. Sind sie aber ohne Tück’, so ist’s fürwahr ein großes Glück, lachte er bitter auf; dann verließ er das Zimmer.
Draußen umfing ihn eine weiche milde Abendluft. Er lenkte seine Schritte unwillkürlich an dem Schloßgraben entlang, auf dem der Hollunder jetzt seine abgeblühten Zweige hervorstreckte, und blieb dann unter ihrem Fenster stehen. Dicht neben ihm stieg der alte Thurm massig empor, und die weißen Kletterrosen, die sich an ihm hinausrankten, leuchteten hell aus der Dunkelheit zu ihm herüber – dort oben war das Spiel verstummt. Doch nein, da begann es von Neuem – eine düstere schwermüthige Melodie; er kannte ja den Text:
„Da steht auch ein Mensch und schaut in die Höhe,
Und ringet die Hände vor Schmerzensgewalt,“
wie meisterhaft wurde er vorgetragen! Dann verstummte plötzlich die Musik mit einem schrillen Mißklange.
Army athmete wie erleichtert auf. In seinem Herzen, das so ehrlich und heiß liebte, mühte er sich vergebens ab, das Wesen seiner Braut zu enträthseln; mit aller Gewalt drängte sich ihm heute Abend die bange Frage auf! Wenn sie Dich nicht liebte? „Lieber den Tod, als ihr entsagen!“ murmelte er weiterschreitend und dachte unwillkürlich an Agnese Mechthilde und den Junker von Streitwitz, der hier im Garten begraben liegen sollte. Verstimmt bog er in den grünen Laubgang ein, der ihm am nächsten lag. Der heutige Nachmittag mit all dem unangenehmen Erlebten stieg wieder vor ihm auf; widerwärtige Empfindungen bemächtigten sich seiner; die Erinnerung an das Gespräch zwischen Onkel und Großmama mit den vielfach malitiösen Andeutungen, die wie aufflammende Leuchtkugeln häßliche Streiflichter auf die Vergangenheit geworfen, die Erinnerung an die eigensinnige Erklärung Blanka’s, nicht hier wohnen zu wollen, und dann an die strafenden Worte, die ihm Lieschen zugerufen dort in der Allee, als er sie bitten wollte, von dem Gehörten nichts zu verrathen! Sie hatten ihn tief beschämt, diese einfachen Worte, der vorwurfsvolle schmerzliche Blick; er hatte den braven Mann dort unten in der Mühle verleumden lassen, ohne ein Wort zu seiner Vertheidigung zu sagen – aus Gedankenlosigkeit, seine gespannte Aufmerksamkeit war ja dem Wortwechsel gefolgt, der seinen Lieblingswunsch so rauh vereitelte, den Wunsch, mit Blanka hier zu wohnen in dem Schlosse seiner Väter. Aber Lieschen mußte meinen, er denke ebenso wie – „o nein, nein, gewiß nicht; ihr Vater ist ein ehrlicher, braver Mann.“ Das wäre ja auch schließlich Alles verteufelt gleichgültig – nein, das zuletzt Erlebte, das hatte den tiefsten Stachel in seine Brust gedrückt. Die heftigen Worte seiner Braut klangen ihm wieder in die Ohren: „Was hast Du für eine Auffassung von unserer gegenseitigen Stellung?“ und dann: „Eine Kette ist es, eine drückende Kette, aber kein Glück.“
„Eine „Kette“!“ wiederholte er halblaut, indem er stehen blieb, aber dann sagte er rasch: „Ah bah, Mädchenlaunen, weiter nichts! Sie ist auch zu schön, zu stolz, – ein zu eigenartiger Charakter, um sich in die engen Grenzen zu schmiegen, die einer Frau eigentlich gezogen sind.“ Er hätte das bedenken sollen, meinte er; er durfte nicht immer und immer wieder versuchen, sie für seine Ansicht zu gewinnen, es mußte erniedrigend für sie sein; sie hatte Recht, mißgestimmt zu werden, seine schöne, stolze, geliebte Braut. Und sie liebte ihn ja doch; sie hatte es ihm so oft auf seine stürmischen Fragen versichert. Im Herbst, hatte Onkel Derenberg gesagt, im Herbst, da würde sie ganz die Seine, unentreißbar die Seine. Mußte nicht vor dieser seligen Gewißheit alles gegenwärtige Leid verschwinden?
Der Nachtwind hatte sich aufgemacht; er bog über dem Haupte des jungen Mannes die Zweige zusammen, daß sie leise rauschten, und kräuselte die Fläche des dunklen Teiches zu Army’s Füßen; er scheuchte die trüben Gedanken in weite, weite Fernen und trug versöhnende Liebe und weiches süßes Sehnen durch die stille warme Sommernacht. „Im Herbste,“ sagte Army noch einmal leise, „im Herbste, dann kommt das Glück.“
Der Sommer war vergangen, und der Herbst trat seine Herrschaft an und begann das Land der Wälder bunt zu färben; ein krystallklarer blauer Himmel wölbte sich über der Erde; in der Lindenallee des Schloßparkes lagen die ersten welken Blätter am Boden, und im Erving’schen Garten blühten die Astern und Georginen in buntester Farbenpracht. Ueber die Weinspaliere waren Netze gezogen, um den naschigen Sperlingen das Schmausen zu verwehren; auf dem Laube der Obstbäume aber lugten die gereiften Früchte goldgelb und rothbäckig hervor und warteten des Pflückens.
Es war in der Mühle Alles im gewohnten Geleise weitergegangen; wie rasch war der Sommer verflogen! und nun freute man sich auf die langen Winterabende am warmen Ofen. Die Leute in der Mühle freuten sich freilich noch auf etwas Anderes; wußten sie doch Alle, sowohl die Arbeiter in der Fabrik wie die Mine und Dörte in der Küche und der Peter im Stalle, daß es bald eine Braut im Hause geben werde; wer Augen hatte zu sehen, dem war es sonnenklar, daß Herr Selldorf und „unser Lieschen“ ein Brautpaar werden würden. Dem hübschen blonden Manne guckte ja die Liebe so deutlich aus den ehrlichen hellen Augen heraus, und mit keinem Menschen war der Hausherr so vertraut und herzlich umgegangen, und keiner seiner Collegen hatte so freundliche Blicke aus den Augen von Lieschens Mutter empfangen, wie er. Selbst die Muhme nickte ihm stets so wohlwollend zu und sagte mitunter in der Küche, wenn von ihm gesprochen wurde: „Ein Prachtmensch, der Selldorf!“ Nur Lieschen schien von alledem nichts zu bemerken; zwar war sie stets freundlich und artig gegen den Volontair des Vaters und stellte die großen Sträuße Vergißmeinnicht, die er ihr zuweilen mitbrachte, sogleich in frisches Wasser, aber sonst konnte kein Mensch die Liebe bemerken, die sie absolut für ihn fühlen sollte, so sehr sich auch Mine und Dörte Mühe gaben.
„Sie thut nur so,“ meinte die Letztere, „das ist so Mode bei den Vornehmen, aber inwendig, da steht’s anders, gelt, Muhme?“
„Die viel schwatzen, lugen viel!“ hatte die Muhme geantwortet; „kümmere Dich nicht um die Liesel, sondern bleib’ bei Deinem Kochtopf! Wird schon einmal Hochzeit sein hier im Hause. Wer der Bräutigam ist, mag Gott allein wissen; wir können nicht in die Zukunft sehen, und darum halt den Mund über Dinge, die Euch nichts angehn! Aber Ihr habt nichts weiter im Kopfe, als das Mannsvolk und das Heirathen. Die Liesel weiß recht gut: ‚Freien ist wie Pferdekauf, Mägdlein thu die Augen auf‘!“ Und dazu hatte sie ernsthaft mit dem Kopfe genickt. Aber so sehr auch sonst ihre Worte in Ansehen standen, diesmal ging ihre Rede zu einem Ohre hinein und zum andern hinaus; sie wußten es ja zu genau, die Mädchen, daß Herr Selldorf ein Auge auf das Fräulein habe, und die Zeit würde es ja lehren, wer Recht hatte.
Einstweilen heimste die Muhme in Keller und Speisekammer ihre Wintervorräthe mit gewohnter Emsigkeit ein, und Lieschen mußte überall helfen und dabei sein, „denn guck’, mein Herzel, es ist für den künftigen Haushalt,“ sagte die alte Frau. Heute nun schüttelte und rüttelte es schon den halben Nachmittag ganz gewaltig in den ehrwürdigen Nußbäumen hinter dem Hause, und Blätter und Früchte fielen zur Erde, auf der eine große Leinwandplane ausgebreitet lag; der Peter und der Christel schlugen mit langen Stangen unbarmherzig in das Gezweig, und drei bis vier Kinder krabbelten jubelnd am Boden und überkugelten sich ordentlich in der Hast des Aufsammelns.
Lieschen, welche heute Besuch von Nelly hatte, war vor Kurzem erst mit dieser von den Kindern hinweg und aus dem Garten gegangen, und nun standen die beiden Mädchen in der Laube vor dem Hause, an dem Sandsteintische, über den die Muhme ein weißes Tuch deckte, und warteten schweigend, bis [756] die Alte das Kaffeegeschirr von der Bank genommen und auf den Tisch gestellt hatte.
„Muhme, nicht wahr, Du trinkst Deinen Kaffee hier draußen bei uns?“ fragte Lieschen, als jene fertig war.
„Kann ich thun,“ erwiderte die Muhme, „in der Wohnstube ist ohnehin Besuch.“ Sie setzte sich zu Nelly auf die Bank und bat Lieschen, ihr eine Tasse zu holen. „So fleißig?“ meinte sie dann, als das junge Mädchen neben ihr aus einem Körbchen eine Stickerei hervorgezogen hatte und eifrig zu sticken begann.
„Für den Army ein Hochzeitsgeschenk!“ erwiderte diese freundlich.
„Lieber Gott,“ sagte die alte Frau, und nahm dankend die gefüllte Tasse aus Lieschen’s Hand, „er ist auch noch recht jung; es ist mir immer, als sei es erst gestern, da er über den Mühlensteg gesprungen kam in seinem schwarzen Sammetkittel.“ Nelly nickte, Lieschen aber sah unwillkürlich hinüber zu der kleinen Brücke, unter der das Wasser klar und straff dahinschoß.
„Wer ist denn beim Vater drinnen?“ fragte sie mit gepreßter Stimme, als wollte sie das Gespräch auf etwas Anderes lenken; zu gleicher Zeit lächelte sie ihrer Mutter zu, deren Gesicht einen Augenblick am Fenster sichtbar wurde.
„Ein fremder Herr – ich kenne ihn nicht“, antwortete die Muhme, setzte dann aber plötzlich ihre Tasse hin, schob die Brille etwas herunter und sah darüber hinweg scharf nach dem Wege jenseits des Wassers. „Heiliger Gott,“ sagte sie dann, „war das nicht die Sanna, Nellychen, die dort zwischen den Bäumen ging? Jetzt ist sie hinter den Ellern und Weiden, – ich habe sie lange nicht gesehen, aber ich meine, ihr Gang ist’s gewesen. Siehst Du, wahrhaftig sie ist’s,“ rief sie und deutete auf die große Gestalt in dem dunklen Kleide und der weißen Schürze, die eben eilig die Brücke betrat.
„Die Sanna!“ rief auch Nelly und sprang auf, „mein Gott, was ist denn da passirt?“
„Die Frau Baronin lassen bitten,“ tönte die fremdartig accentuirte Stimme der alten Dienerin, deren harte Züge von eiligem Gehen geröthet erschienen, „das gnädige Fräulein sollen sofort zu ihr kommen.“
„Um Gott, Sanna!“ fragte hastig das junge Mädchen, ihre Stickerei zusammenraffend, „was ist passirt? Zur Mama soll ich kommen oder zur Großmama?“
„Zur Frau Großmama natürlich,“ erwiderte die Alte, ohne auch nur den Blick zur Muhme oder zu Lieschen zu wenden, die der Freundin behülflich waren, die bunte Wolle in den Korb zu legen, „die Frau Großmama ist sehr böse, daß Sie nicht zu Hause waren, so böse, daß ich mich sofort aufmachte, um hierher zu laufen, weil die Frau Mama meinte, Sie wären wieder in der Mühle, und Heinrich hatte keine Zeit; er muß Briefe auf die Post tragen.“
„So sag’s doch, Sanna,“ bat Nelly und schaute angsterfüllt zu der großen hageren Frau hinauf, „ist jemand krank oder sind schlechte Nachrichten da?“
„Die Frau Großmama hat einen Brief mit einer Trauernachricht bekommen,“ erwiderte die Alte und streifte mit finsteren Blicken die Muhme, die aufgestanden war.
„Um Gotteswillen!“ schrie Nelly, und schaute mit Entsetzen zu Sanna hinüber, „es ist doch nicht Army? Sanna, liebste Sanna, Du weißt es gewiß – sag’s doch! Ich bitte Dich,“ und sie lief zu ihr hinüber und faßte flehend ihre Hände. Lieschen aber setzte sich auf die Steinbank, es war ihr, als trügen sie ihre Füße nicht länger, und sie schaute mit großen weitgeöffneten Augen wie abwesend auf die Gruppe.
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte achselzuckend die alte Dienerin, während Nelly die Hände vor’s Gesicht schlug und abermals schluchzend ausrief:
„Army! Allmächtiger Gott, wenn es Army wäre!“
„Beruhige Dich, Nellychen,“ tröstete jetzt die Muhme und nahm das weinende Mädchen in die Arme, „Dein Bruder ist es nicht; sie würde sonst nicht so ruhig dastehen – geh rasch nach Hause und sei getrost! Er ist es nicht.“
„Ach, Muhme,“ schluchzte sie, „ich kann vor Angst kaum stehen.“
„Meinen Sie nicht, gnädiges Fräulein!“ sagte nun auch die alte Sanna, das „gnädige Fräulein“ scharf betonend; „die Gräfin Stontheim ist gestorben, mir hatte aber die Frau Großmama verboten, hier in der Mühle davon zu sprechen, denn sie will alles Geklatsche möglichst vermeiden, und hier –“
Sie verschluckte das Uebrige, indem sie einen feindseligen Blick auf die Muhme warf, die noch immer neben dem weinenden Mädchen stand.
„Nun, nun,“ bemerkte diese, „Ihr könnt’s immer für Euch behalten, Jungfer Sanna, was geht’s mich an, ob die Tante gestorben ist oder nicht. Aber Ihr braucht darum dem armen Kinde nicht solchen Schrecken in die Glieder zu jagen mit der Todesnachricht; es war noch Zeit, wenn sie es zu Hause erfuhr.“
„Ich habe mit Ihnen gar nichts zu verhandeln; ich thue, was mich meine Herrschaft heißt,“ erwiderte die alte Dienerin geringschätzig.
„O ja! Dafür kenne ich Euch noch von früher“, sagte die Muhme, der das Blut plötzlich hell in das Gesicht stieg; sie sah ihre Freundin durchdringend an.
„Ich komme ein Stückchen mit Dir, Nelly,“ rief Lieschen, wie aus einer Erstarrung erwachend, und folgte der voran eilenden Freundin, während Sanna keine Miene machte, ihr zu folgen, vielmehr wie angewurzelt stehen blieb.
„Was meinen Sie denn?“ fragte sie und schaute mit dem Ausdruck unversöhnlicher Feindschaft zu der Muhme hinüber, die eben das Kaffeeservice zusammensetzte. Wie diese beiden Frauen sich gegenüberstanden, war es unverkennbar, daß hier ein alter, lange verhaltener Haß in einem Augenblick wieder in vollen lodernden Flammen emporschlug.
„Was ich meine?“ erwiderte die Muhme und trat, ihre ehrlichen Augen auf die große dunkle Gestalt richtend, furchtlos einen Schritt näher. „Was ich meine? Ei, Jungfer Sanna, das solltet Ihr doch nicht erst fragen; ich seh es an Eurem Gesicht, daß Ihr es wißt, gar genau wißt – es hat doch gewiß oft genug an Eurem Kopfkissen geruckt und gezuckt und Euch nicht schlafen lassen in langen bangen Nächten, und hat auf Eurer Brust gelegen wie ein Alp, der nicht gewichen ist, und wenn Ihr hundertmal Euren Rosenkranz abgebetet habt und alle Heiligen angerufen – das war das Gewissen, Jungfer Sanna, und ein böses Gewissen hat Wolfszähne; die fassen scharf und tief –“
Die Geschichte lehrt uns, daß der menschliche Gedanke da, wo ihm im praktischen Leben am wenigsten Raum zu seiner Bethätigung gelassen wird, sich häufig in die entlegensten Winkel der Geisteswelt flüchtet und sehr oft sich schließlich in die närrischsten, wunderlichsten Träumereien eines idealen Daseins verirrt. Dies geschieht sowohl in der Religion wie in der Politik.
Nun liegt allerdings die Politik dem einfachen Naturmenschen stets ferner, als die Religion, und eben deshalb ist das russische gemeine Volk weit entfernt, politischen Ideen, neuen Gedanken oder Einrichtungen auf diesem Gebiete nachzujagen. Ihm ist alle Politik beschlossen in dem Väterchen Czar, und allenfalls knüpft sich eine politische Empfindung noch an das Mütterchen Moskau. Der politische Gedanke beginnt erst mit dem Zöglinge einer Lehranstalt, dem Officier, dem Beamten, dem Sohne der wohlhabenderen Stände, kurz mit dem sogenannten gebildeten Russen, dessen Bildung jedoch wiederum einer eigenthümlichen Beschränkung unterliegt. Der Russe ist seiner ganzen Naturanlage nach dem harten, andauernden Studium abgeneigt. Er ist begabt: rasch faßt sein Verstand die Dinge auf; nach allen Seiten wendet sich sein Scharfblick; er ist im Ganzen, was man geistvoll nennt. Aber in die Tiefen dringt dieser bewegliche Geist schwer ein, während anderseits das ebenso bewegliche Gefühl des Russen ihn auch wieder zu raschem Wechsel im Seelenleben anstachelt.
So war es von jeher eine Eigenthümlichkeit der studirenden russischen Jugend, daß sie sich mit den verschiedensten Zweigen des Wissens oberflächlich bekannt machte, daß sie sich encyclopädisch
[757] [758] ausbildete, ohne ein Fach gründlich kennen zu lernen. Als nun in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts in Europa der Nationalismus alle geistigen Gebiete beherrschte, als das Studium der exacten Wissenschaften, der Mathematik, Physik, der Naturwissenschaften im Allgemeinen auf den Hochschulen zu blühen anfing, da warf sich die Menge russischer Studenten, welche in Ermangelung guter russischer Lehranstalten die deutschen Hochschulen aufsuchte, mit Eifer auf die Anschauungsweise dieser rationalistisch-naturhistorischen Richtung. Büchner und Moleschott wurden die Lehrer vieler junger Russen, die in den materialistischen Gedankenkreisen dieser neuen Propheten die unbegrenzte Freiheit des Denkens fanden, von der sie daheim nicht die Möglichkeit geahnt hatten. Das Freiheitsjahr 1848 that das Seine dazu, um überall in den revolutionären Verbindungen Deutschlands, Oesterreichs, Frankreichs russische Namen auftauchen zu lassen. Hier hörte man auch zuerst von den Bakunin und Tschernischewski. Als dann später die Wasser der Revolution sich verliefen, zogen sich gleich vielen revolutionären Westeuropäern auch diese Russen nach England und vornehmlich nach der Schweiz zurück. Hier wurde dann später der Herd der russischen Demokratie und des russischen Communismus in Genf und Zürich gegründet.
In den Köpfen jener russischen Emigranten und Emigrantinnen gestaltete sich das abenteuerlichste Gebilde von Staatswesen aus, das man ersinnen kann. Oder genauer gesprochen: es entwickelte sich in jenem „Nihilismus“, wie er, von dort ausgehend und dort genährt, bald auch in Rußland um sich griff, ein Staatsidealismus, der an Inhaltsleere seines Gleichen sucht. Der Nihilismus jener Zeit hatte zum eigentlichen Inhalt die Negation alles Bestehenden, zur Aufgabe die Zerstörung aller gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Formen. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 ging durch die Mittelclassen des russischen Volkes ein Gefühl von unbegrenzter Vorwärtsbewegung. Die jungen Leute, welche etwas mit Physik, etwas mit Mill, etwas mit Büchner, etwas mit A. Comte sich beschäftigt hatten, ergriff eine undeutliche Erwartung, daß nun Alles und Jedes im Lande „ganz anders“ werden müsse. Und da es trotz aufmerksamer Beobachtung ihnen schien, daß nichts anders werde, so meinten sie, es sei an ihnen, die Umgestaltung herbeizuführen. Sie versuchten hier anzufassen und da zu ändern, aber überall mußten sie bemerken, daß sie nicht vorwärts kamen. Da bildete sich denn jene Art von Nihilismus heraus, welche sich gänzlich von dieser jammervollen Welt lossagte und nur noch in ihren Idealen lebte. Diese Leute gingen durch’s Leben wie Nachtwandler: sie entsagten allen äußeren Bedürfnissen, verachteten alle Bequemlichkeit des Lebens, gute Kleidung und reine Wäsche, gute Luft und gutes Betragen. Noch in den siebenziger Jahren begegnete ich einmal einem sonst liebenswürdigen, geistvollen und vielbelesenen Nihilisten aus einem der vornehmsten russischen Fürstengeschlechter. Als wir eines Abends, aus dem Theater kommend, uns in höchst angenehmer Weise über das Stück unterhielten, wobei er ebenso scharf wie kenntnißreich urtheilte, wünschten wir das Gespräch bei einem Abendessen fortzusetzen. Er forderte mich auf, in einen zufällig gerade an dem Wege liegender Wirthskeller zu gehen. Wir steigen die Stufen hinab, und wie ich die Thür öffne, dringt mir ein dicker Qualm von Tabak, Branntweinduft und den ekelsten Gerüchen aller Art aus der Schenke entgegen, in welcher das niederste Volk zechte. Ich wandte mich ab mit der Bemerkung, da könnten wir nicht eintreten. Und der Fürst lachte halb ärgerlich, halb höhnisch: „Da sehe man wieder den Aristokraten hier, in solchen Localen, sei ihm am wohlsten.“ Und doch war er ein feiner Kopf, ein feiner Gesellschafter und eine feinfühlende Seele.
Doch ich habe mit diesem Beispiel bereits meiner Schilderung vorgegriffen. So, wie mein Bekannter, waren die Nihilisten vor 1870 noch nicht. Es waren eben Träumer, wandelnde Leichen, die mit der Welt und den Menschen nichts zu thun haben wollten, weil sie beide für dessen unwerth hielten. Natürlich gab es da mancherlei Schattirungen bis zu den Vätern dieser Richtung hin, welche den radicalsten Communismus predigten und für die Revolution in aller Welt Propaganda machten. Eine Aenderung in der Haltung des Nihilismus in Rußland begann 1873, nachdem inzwischen die Zahl seiner Anhänger sich bedeutend vermehrt hatte. Hierzu hatte die Durchführung des Classicismus in den höheren Lehranstalten erheblich beigetragen. Nach langen Kämpfen war die nicht classische Bildung der mittleren Lehranstalten von den Hochschulen ausgeschlossen und damit die Anforderung an die Kenntnisse des zu Aemtern aufstrebenden jungen Mannes bedeutend gesteigert worden. Die Folge war, daß die Jugend schaarenweise die verlangten Prüfungen nicht machen, die Lehrcurse nicht durchlaufen konnte und daher mit halber Bildung und ohne Aussicht auf gutes Fortkommen aus den Lehranstalten trat.
Die russischen Lehranstalten, besonders auch die Universitäten, werden nun zumeist von unbemittelten Söhnen aus den Kreisen der Beamten, der Kaufleute und Priester besucht und etwa vier Fünftel aller Studirenden der russischen Universitäten sind als unbemittelt von der Zahlung der Collegiengelder befreit. Eine große Menge der nun ohne Beendigung ihres Lernplanes und ohne Aussicht auf ein Amt abgehenden Jugend warf sich dem Nihilismus in die Arme. Da wurde denn 1873 von der Oberleitung in Genf der Beschluß gefaßt, nunmehr praktisch an’s Werk zu gehen. Der Umsturz des Bestehenden sollte beginnen und von Genf her wurde der Kampf mit zahlreichen Schriften eröffnet, die heimlich über die Grenze geschafft und dort von Gesinnungsgenossen weiter befördert und verbreitet wurden. Zugleich zogen die Jünger des Nihilismus umher und suchten ihre Lehre dem niederen Volke verständlich zu machen. Die Lehre war einfach genug: die Steuern seien erdrückend; die Lage des Volkes sei unerträglich, woran die Regierung und die oberen Classen schuld seien; daher müsse das Volk aufstehen, Regierung, Adel, Geistliche, Beamte, Kaufleute niedermachen und allgemeine Gleichheit herstellen. Alle staatlichen Einrichtungen sollten aufhören: kein Czar, keine centrale Regierung, kein Heer, kein Erbrecht, kein Sondereigenthum, keine Ehe, keine Kirche sollte mehr sein, gemeinsam Alles, gleich Alles und Jedes. Bald rührte sich aber nun die Regierung. Erst einzeln, dann im Mai 1875 an einem bestimmten Tage zu Tausenden wurden diese Revolutions-Jünglinge und -Jungfrauen von der Polizei gepackt und in’s Gefängniß geworfen. Er folgten lange Voruntersuchungen und weitere Verhaftungen, bis aus der ganzen Zahl einer Schaar von hundertdreiundneunzig Personen der Proceß gemacht wurde. Das war der berühmte Monstreproceß vom October vorigen Jahres, der damals ganz Rußland in Aufregung versetzte. Man wird sich erinnern, welch einen Eindruck dieser Kampf der absoluten Staatsgewalt mit einer Schaar halber Kinder machte. Denn es war ein Kinder-Kreuzzug, der unternommen wurde. Zum weitaus größten Theile sind die verurtheilten Streiter für „Gleichheit und Freiheit“ Jünglinge und Jungfrauen im Alter zwischen sechszehn Jahren und der Mitte der Zwanzig gewesen.
Der heutige Nihilist steht dem Socialdemokraten schon sehr nahe, nur ist sein Weg zu dieser Geistesrichtung ein anderer. Da kommt der Sohn eines Landpredigers aus einem entlegenen Dorfe in die Stadt, in die mittlere Schule, auf die Universität. Mit dürftigen Mitteln sucht er vorwärts zu kommen. Aus einer Welt, in die kein Strahl des modernen Denkens gefallen ist, in der das melancholische Lied des Bauern über die endlose Ebenen ohne Echo dahintönt, wo die einzige Abwechselung des Jahres in dem Kommen und Gehen eines eisigen Winters und eines glühenden Sommers oder in den Träumen besteht, die dem Bauer der Branntwein vorzaubert, wo es ein vielumstauntes Wunder der Culturwelt ist, wenn der heimkehrende Soldat aus Moskau oder Charkow einen Bilderbogen mit bunten Thiergestalten heimbringt, wo in völliger Oede und Bewegungslosigkeit nur der Polizeiunterofficier, der Friedensrichter und der Gutsherr herrschen - aus einer solchen Welt, in welcher der Einzelne niemals zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, wird der Jüngling in die entlegene Stadt versetzt, wo ihm Alles fremd, neu ist und doch Alles mit Recht so anders zu sein scheint. Warum sollte denn nicht auch das Buch Recht haben, welches ihm in die Hand fiel und in dem zu lesen stand, daß Jedermann gleiche Rechte habe mit dem reichen Kaufherrn, der eben drunten unter den Fenstern des Dachstübchens im stattlichen Wagen vorüberrollt, daß es die Schuld der Regierung sei, wenn im heimathlichen Dorf jene schreckliche Oede herrscht, deren Grauen der Student eben in dem Ferienaufenthalt wieder so tief, doppelt und zehnfach so tief wie ehedem, da er noch nichts Anderes kannte, empfunden, daß es Schuld der Regierung sei, wenn der Vater des Studenten, der Bauer im Dorfe, so arm und jener Kaufherr so reich ist?
Und da kommt denn ein Camerad, der draußen in Zürich [759] war, und erzählt, wie dort Alles so herrlich, der Bauer reich, das Leben wechselvoll, die Bildung groß sei, und dies Alles, weil dort Regierung und Volk ganz anders seien. Und darum müsse auch hier Alles anders werden, und es komme nur darauf an, daß sich Männer fänden, es zu wollen – dann werde es anders werden. Warum sollte denn das nicht wahr sein? Und der Student liest Büchner oder die Schriften Tschernichewski’s, und wenn die Zeit des Examens kommt, fällt er durch und muß die Universität verlassen. Wohin soll er sich wenden? Ins Dorf zurück, in die ewige Nacht dieser Einöde? Nein, nimmermehr! Der Kreis ist ja bald gefunden, wo das Höchste an Leistung, an Ruhm, an Thaten geboten wird: mit Gleichgesinnten vereint wird die Umwälzung unternommen, die absolute Umwälzung des Bestehenden. Denn nur die heutige Form ist ja an Allem schuld; das Volk, das Land, warum sollten sie von Natur anders sein, als jene reichen Länder und Völker der Gleichheit und Freiheit? Wie erhebend ist es, so Gewaltiges zu unternehmen, mit Gleichgesinnten Gleiches zu wirken, überall hin den allumfassenden Gedanken zu tragen, Alles zu theilen mit den Genossen für den großen Zweck! Nicht lange besinnt sich der Zwanzigjährige; am kürzesten besinnt sich gerade der Slave, wenn er von einer Empfindung ergriffen wird. Er grübelt nicht, denkt nicht nach über die Ziele seines Thuns; es hat Revolutionen gegeben überall; es hat Freiheit gegeben überall – warum nicht in Rußland? Das Wie mag sich nachher finden, das Was ebenso. Und so wandert er hinaus, als Arbeiter unter die Arbeiter des Dorfes, der Fabrik, als Lehrer in die Volksschule und lehrt seine Revolution. Und Söhne vornehmer Eltern, Töchter aus vornehmen Häusern legen in der That die Sitten und Kleider der Cultur ab und stehen barfuß an der Spule in der Fabrik oder am Bottich in der Brennerei, um nach der Arbeit ihren Mitarbeitern von dem großen Elende des Volkes und der großen Revolution zu erzählen.
Der ungeheuere Gegensatz zwischen dem Leben und Denken des einfachen Russen aus dem Dorfe und dem Leben und den Gedanken Europas, wie eine tausend Jahre alte Geschichte und stete Entwickelung sie herausgebildet haben – das ist es, was hauptsächlich diese Erscheinungen voll weitklaffenden Widerspruchs in Rußland hervorruft. Und wo das Selbstbewußtsein im Einzelnen einmal geweckt ist, da steigert es sich alsbald doppelt und dreifach durch den Gegendruck der Staatsgewalt. Es ist ein pathologisches Interesse, was uns zuerst ergreift bei Betrachtung jener Mädchen und Jünglinge, die im December 1877 vor der Kasaner Kirche in St. Petersburg tumultuirten und von dem Volke der Straße der Polizei überantwortet wurden. Es ist ein pathologisches Interesse, welches uns diese Wera Sassulitsch beobachten läßt, welche vor zehn Jahren der politischen Verbindung mit jenem von der Schweiz an Rußland ausgelieferten und nach Sibirien verbannten Netschajew verdächtigt wurde, welche dann, von einem Gefängnisse zum anderen geschleppt ohne Rechtsspruch, ihre Jugend mit gemeinen Verbrechern zusammen oder in elenden Orten des nordöstlichen Rußlands unter öffentlicher Aufsicht verbringen mußte und welche dann eines Tages von der Nachricht der harten Behandlung eines wegen Nihilismus Verurtheilten so sehr ergriffen wurde, daß sie sich zum Urheber dieser Härte, einem der höchsten Staatsbeamten, durcharbeitete und ihn mit dem Revolver bestrafte.
Gegen diese Kraft des Willens und Fühlens, welcher in der Oeffentlichkeit des russischen Reiches keine ruhige Bethätigung ermöglicht, welche auf die Maulwurfsarbeit unklarer Agitation beschränkt ist, konnte bisher mit allen den alten Gewaltmitteln der Abschreckung und Einschüchterung nichts ausgerichtet werden. Seit der Transportirung Netschajew’s, seit den schweren Verurtheilungen im großen Nihilistenproceß von 1877, und dem genannten Angriffe auf den obersten Polizeichef hat sich die Bewegung vielmehr unter den Wirrungen und Aufregungen des Orientkrieges in fortwährenden Aeußerungen und Explosionen kundgegeben, die unzweideutiges Zeugniß ablegen von dem Vorhandensein einer für den Staat und die persönliche Sicherheit höchst gefährlichen Gährung. Nicht gar lange nachdem Wera Sassulitsch wegen ihres Attentats auf Trepow von den Petersburger Geschworenen freigesprochen worden, endete ein ganz ähnlicher Proceß vor den Geschworenen in Moskau mit demselben Resultat. Und bei den Fällen, die zu gerichtlicher Entscheidung kamen, blieb es nicht. In der Morgenfrühe eines schönen Sommertages wird auf offener Straße ein in Petersburg aus der Kirche heimkehrender hoher Staatsbeamter erstochen, und die vornehm aussehenden Thäter fahren in ihrem bereit stehenden eleganten Fuhrwerk davon, ohne daß bis jetzt eine Spur von ihnen entdeckt wurde. Dabei laufen aus den verschiebenden Theilen des Reiches Berichte von aufrührerischen Bewegungen, gewaltsamen Auflehnungen und Widerspänstigkeiten der Nihilisten und Nihilistenschwärmer ein, und die massenweise Verhaftungen und Bestrafungen scheinen mehr für die Steigerung und Verbreitung des Unheils, als für seine Beseitigung zu wirken. Aus den philosophischen Träumern und düsteren Phantasten sind verzweifelte und entschlossene Rebellen geworden, die das Martyrium nicht fürchten und ihre Zwecke zunächst mit der Waffe des Dolches und Revolvers verfolgen.
Und dies Alles scheint nicht mehr das Werk zufälliger Regungen einzelner exaltirter Köpfe, oder zufällig und gelegentlich sich zusammenfindender Menschenhaufen zu sein. Wie aus Briefen und Decreten eines „Allgemeinen russischen Comités für revolutionäre Propaganda“ hervorgeht, die ganz offen an bestimmte Adressen gerichtet werden, besteht eine lautlos wirkende, bis jetzt unfind- und unfaßbare Organisation, die in jeder größeren Stadt ihre Abtheilungen hat und von welcher die betreffende Bewegungen und Unternehmungen geplant, befohlen und geleitet werden. Einige Uebertreibung in der Vorstellung von der eigenen Macht, etwas renommistisches Flunkern und Klappern wird in diesen Schriftstücken des geheimen Revolutionscomités wohl mit unterlaufen, die als Wappen ein Beil zwischen einem Revolver und Dolch zeigen. Aber eine ganze Reihe unleugbarer Thatsachen läßt gleichwohl die Lage dieser Verhältnisse als eine drohende erkennen. Kein europäisches Land und am wenigsten das benachbarte deutsche Volk hat ein Interesse dabei, in Rußland das Verbrechen als eine öffentliche Gewalt etablirt und solche wüste Krankheitszustände zu ansteckender Ausdehnung gelangen zu sehen, welche bei ihrem ungestörten Fortgange auch für uns eine unangenehme Bedeutung gewinnen könnten. So niedrig nun aber auch der Werth der politischen Ideale wie des politischen Denkens der Nihilisten steht, man kann immerhin nicht leugnen, daß eine gewisse Kraft des Willens und des Fühlens sich in ihnen, in den heutigen Vertretern dieses Namens kundgiebt, wie wir dies ebenso bei den westeuropäischen Genossen des russischen Nihilismus, bei der internationalen Socialdemokratie vor Augen haben. Um so mehr muß verständige Einsicht auf den Wunsch Nachdruck legen, daß man dort auch den Gewaltmaßregeln ernstgemeinte politische und volksthümliche Reformen zur Seite gehen lasse, welche Licht in die Köpfe bringen und jenen so vielfach kraft- und geistvollen Elementen den Weg zu erfolgreichem und ehrenvollem Wirken für das Gemeinwohl zeigen. Für die loyale und eingehende Erörterung dieser großen Fragen sollten die officiösen russischen Federn sich patriotisch die Genehmigung erkämpfen, statt daß sie neuerdings wieder ohne jeden ersichtlichen Grund einem glühenden und sicher dem Beruhigungswerke nicht dienlichen Racenhasse gegen Deutschland Luft zu machen suchen.
Wenn es auch im Allgemeinen wahr sein mag, daß man sich, wenn man vor kurzem einen „Weltjahrmarkt“ besucht hat, die nächsten erlassen darf, da sie erst in Jahrzehnten eine wirklich veränderte Physiognomie zeigen können, so hat doch der neueste jedenfalls Etwas vor allen früheren voraus, den „Great-Eastern unter den Luftballons“. Es ist ja richtig, schon die Pariser Weltausstellung von 1867 verdankte demselben Aussteller ein ähnliches Titanenwerk, aber gegen den Nachfolger betrachtet, war das nur so ein Ballon d’essai, wie die Diplomaten sagen, ein Probeballon, der höchstens ein Dutzend Personen 200 Meter emporführte, während wir heute unsere „Spritzfahrt in’s Blaue“ zu 40 bis 50 Personen gemeinschaftlich unternehmen und bis [760] auf die anständige Höhe von 600 Metern ausdehnen können. Herz, was begehrst Du mehr? Deinen alten Wunsch, einmal wie ein Vogel mit den Wolken dahin zu schweben, hier kannst Du ihn ohne Gefahr und Sorge, in kurzer Zeit und um ein Geringes erfüllen, zu Deinen Füßen die ganze Welt – denn in diesen Tagen vereinigt das moderne Babel alle Nationen – liegen sehen, und dabei so sanft fahren, daß es Dir keine Eisenbahn, kein Schlitten, ja kein Nachen in Zukunft mehr recht machen wird.
Solchen Leistungen entsprechend ist denn auch der Andrang zu diesen Luftschifffahrten sehr groß, und an guten Tagen benutzen 4 bis 500 Personen die Gelegenheit, sich einmal hoch über das Irdische zu erheben. Bis zum 6. October hatten 21,600 Fahrgäste sich an den bis dahin stattgehabten 748 Auffahrten betheiligt. Herr Heinrich Giffard, der Erbauer und Unternehmer, hätte viel Geld verdienen können, wenn das kolossale Werk nicht erst Ende Juli, sondern gleich im Anfange der Ausstellungszeit fertig gewesen wäre. Doch wird das diesen, durch die Erfindung seiner Dampfstrahlpumpe zum reichen und berühmten Manne gewordenen, Ingenieur wenig grämen; hat er doch die Genugthuung, alle seine Berechnungen und Luftpläne völlig bewährt zu sehen, und seiner Vaterstadt – er ist am 6. Februar 1825 in Paris geboren – ein Schauspiel zu gewähren, auf welches ganz Frankreich mit Stolz blickt und, wie wir hinzufügen müssen, nicht ohne Berechtigung. Denn der neue Ballon captif ist nach jeder Richtung hin ein Meisterwerk.
Bereits die Probefahrt, welche am 23. Juli stattfand, bewies dies und gewährte auch den Nichtbetheiligten ein in seiner Art höchst sehenswerthes Schauspiel. Inmitten des Tuilerienhofes, im Angesichte der geschwärzten Mauern der von der Commune geschaffenen Palast-Ruine, gar nicht weit von dem Platze, auf welchem Charles und Robert am 1. Dezember 1783 zum ersten Male einen Luftballon mit Wasserstoff füllten, erhob sich der aufgeblähte Riese wie eine mächtige weiße Domkuppel, die hohen Schloßmauern, die ihn umgaben, überragend. Wenn der Ballon nämlich so weit herniedergezogen ist, daß die Gondel dicht über der Erde schwebt, so erhebt sich die Wölbung der Kuppel 55 Meter über den Boden, den Raum manches großen hauptstädtischen vierstöckigen Hauses übertreffend, enthält dieser Ballon bei einem Durchmesser von 36 Metern nicht weniger als 25,000 Cubikmeter Gas. Die mit dem leichtesten Stoffe, der uns zur Verfügung steht, gefüllte Riesen-Gas-Blase kann ein Gewicht von 25,000 Kilogramm angehängt erhalten, ehe sie ebensoviel wiegt, wie die von ihr verdrängte Luftmasse; sie wiegt freilich, mit Allem was drum und dran hängt, schon selber ihre 14,000 Kilogramm. – Doch wir wollten ja von der Probefahrt erzählen.
Es war ein seltenes Vertrauensvotum für Herrn Gissard, zu welchem sich die ersten Notabilitäten der Pariser Wissenschaft und Presse eingefunden hatten; denn die amtliche Prüfung der Festigkeit des Kabels fand erst am folgenden Tage statt. Da sah man außer dem Polizeipräfecten und mehreren höheren Beamten den berühmten Zoologen Milne-Edwards, den Chemiker Baron Thénard, den Astronomen Taussen, den Geologen Daubrée und manchen anderen berühmten Mann die Gondel besteigen, und endlich folgte – rührend zu sehen – die greise Mutter Gaston Tiffandier’s, des vielgenannten Luftschiffers, der die Leitung der ersten Fahrt übernommen und den Bau mit überwacht hatte, zum besten Beweise, daß hier trotz der noch ausstehenden amtlichen Abnahme nichts zu riskiren war. Kurz nach fünf Uhr Nachmittags schwang sich dieser Vogel Rok der Wirklichkeit majestätisch mit seiner seltenen und ausgezeichneten Last empor, um sie eine halbe Stunde später, nach dem Genusse des unvergleichlichen Panoramas, welches Paris, zumal jetzt, darbietet, der Erde und der harrenden Menge wiederzugeben.
Am andern Tage fand dann vor der dazu ernannten amtlichen Commission die Kabelprobe statt, welche ergab, daß dieses gegen den Ballon zu immer stärker werdende Seil, selbst an seinem dünnsten, untersten Ende, einem Gewichte oder Zuge von 24,000 Kilo widersteht, sodaß ohne Bedenken die amtliche Erlaubniß zur alltäglichen öffentlichen Benutzung gegeben werden konnte, da dem Ballon ja durch das große zu tragende Gewicht genugsam Zügel angelegt sind, um ihn vor dem Gelüste, einmal durchzugehen, zu bewahren. Die große Widerstandsfähigkeit des Kabels ist auch nur in Anbetracht dort oben wehender Winde, die auf eine so große Masse trotz ihrer Rundung mit ziemlicher Gewalt wirken, vorgesehen worden; übrigens läßt man an windigen und regnichten Tagen den Ballon, der sonst seine 10 bis 16 Auffahrten an einem Tage ausführt, nicht aufssteigen. Durch Anwendung von Metalldraht hätte man ein noch widerstandsfähigeres Drahtseil bei geringerem Gewicht herstellen können, aber man fürchtete wohl nicht ohne Grund, daß man damit einen ungeheuren Blitzableiter herstellen würde, der unter Umständen eine Katastrophe herbeiführen könnte.
Die Umsicht, mit welcher das ganze Werk unternommen und vollendet wurde und welche das Vertrauen des Publicums völlig rechtfertigt, geht am besten aus der höchst interessanten Darstellung hervor, welche Herr Gaston Tissandier von den gesammten Herstellungsarbeiten in einem besonderen Buche,[1] dem wir die meisten Zahlen und Einzelnheiten entnehmen, gegeben hat. Dem Urheber der gigantischen Idee standen nicht nur die mit seinen beiden ersten Riesenballons gesammelten Erfahrungen und seine Beherrschung der sich darbietenden mathematischen und mechanischen Probleme zu Gebote, sondern auch als praktischer Luftschiffer wußte Giffard den sich darbietenden Schwierigkeiten im Voraus zu begegnen. Er gehört nämlich zu den ersten und erfolgreichsten Luftschiffern, welche die Lenkung und Steuerung eines Ballons mittelst Dampfkraft versucht haben, und mit Recht sagt Tissandier in der erwähnten Schrift: Wenn einem lebenden Ingenieur die Lösung dieses Problems beschieden sein sollte, so dürfte dies Giffard sein. Schon im Jahre 1852 versuchte er einen rachenförmigen Ballon mittelst einer Dampfflügelschraube dem Winde entgegenzuführen, und der wenigstens teilweise Erfolg verführte ihn, 1855 einen zweiten Versuch mit einem Ballon zu machen, der die Gestalt einer siebenzig Meter langen Cigarre darbot, indessen ebenfalls keinen genügenden Erfolg ergab, obwohl diese Form für einen von Dampfkraft getriebenen Ballon die richtigste sein dürfte.
Der gefesselte Ballon bietet natürlich ein von dem freifliegenden völlig verschiedenes mechanisches Problem dar, schon insofern, als er seine Gasfüllung nicht für eine einzige Auffahrt empfängt, sondern, um das Unternehmen lucrativ zu machen, mehrere Monate bewahren soll. Ein solcher Ballon muß also aus einem bedeutend stärkeren und dichteren Stoffe gefertigt werden, als ein gewöhnlicher. Demgemäß ist derselbe aus sieben über einander liegenden Schichten gefertigt, die, wenn wir von der Innenseite nach außen gehen, in nachstehender Reihe folgen: Auf ein innerstes Gewebe (Mousselin) folgt ein Kautschukblatt, darauf eine sehr feste Leinwandlage, hierauf ein zweites Kautschukblatt, eine zweite gleich starke Leinwandauflage, eine Schicht vulcanisirten Kautschuks und endlich wieder Mousselin. Letzterer ist mit Leinölfirniß und der ganze Ballon endlich mit einer weißen Farbe überstrichen, damit die Hülle sich in der Sonne so wenig wie möglich erwärme. Die Fabrikation der 4000 Quadratmeter dieses siebenfachen und dreifach mit Kautschuk gedichteten Stoffes hat fünf Monate gedauert, obwohl theilweise die Nächte zu Hülfe genommen wurden.
Man kann sich die Anfertigung des Ballons aus diesem Stoffe am besten wie die eines Erdglobus denken, der bekanntlich aus lauter von Pol zu Pol gehenden spindelförmigen Streifen zusammengesetzt wird. Aus dem vorher auf seine Festigkeit und sein Ausdehnungsvermögen geprüften Stoffe wurden nun 1456 Felder zugeschnitten, daraus 104 schiffchenförmige Streifen und aus diesen der Globus selbst zusammengenäht. Die mit der Nähmaschine gemachten Nähte, zu denen beiläufig 50,000 Meter Faden erforderlich waren, wurden innen und außen mit Mousselinstreifen beklebt, die mit flüssigem Kautschuk bestrichen waren, um so eine vollkommene Dichtigkeit zu erzielen. Diese Dichtungsstreifen nebst Kautschuk besitzen allein ein Gewicht von circa 6 Centnern, während der Ballon über 100 Centner wiegt.
Eine ganz besondere Fabrikationsmethode erforderte auch das Netzwerk, welches den Ballon mit 52,000 Maschen umspannt, um das beträchtliche Gewicht der Gondel und ihrer Gäste, des Kabels etc. gleichmäßig auf die gewaltige Oberfläche zu vertheilen. 26,000 Meter Seil von 11 Millimeter Dicke und hierzu von 110 Arbeitern in einer theatersaalartigen Werkstätte mit 3 über einander laufenden Rundbalconen zu diesem Netze, welches man wohl auch wie dasjenige gewisser Gefäßnetze im thierischen Körper [761] ein „Wundernetz“ nennen kann, verknotet worden. Doch ich drücke mich falsch aus, Knoten durfte man bei der Dicke des Seiles nicht machen, weil diese, mindestens hühnereidick, zu sehr auf den Ballonstoff gedrückt und gerieben haben würden; es wurde also eine Kreuzungsmethode erfunden, welche den Knoten ersetzt, ohne dicke reibende Quasten zu erzeugen. Von diesem Netz hängen 64 Tragseile herab, die je zu zweien eine Schlinge bilden, welche einen Rollenzug trägt. Von den 32 Rollen gehen wieder ebenso viele stärkere Seile aus, in deren Schlingen 16 Rollen hängen, von denen dann 16 Seile ausgehen; diese tragen den starken Ring aus Eisen und Holz, an welchem mittelst eines zweiten Ringes einerseits die Gondel, andererseits das Kabel befestigt ist.
Die Gondel besteht aus einer ringförmigen Gallerie aus Nußbaumholz mit Eisensteifung von im Ganzen 6 Meter Durchmesser. Der Rundgang, den sie bietet, um von ihr zwischen den Tragseilen hindurch die Vogelschau und das Wolkenpanorama zu genießen, ist überall 1 Meter breit, sodaß sich 2 Personen bequem ausweichen können; der doppelte Boden enthält Ballast und sonstiges Material. Innerhalb dieses ringförmigen Balcons, der also einen 4 Meter im Durchmesser haltenden offene Raum umschließt, geht das Kabel hinab, aber es ist nicht unmittelbar an dem Ballon, sondern an einer sinnreich construirten stählernen Federwage aufgehängt, die durch vier nach den vier Weltgegenden gerichtete Zifferblätter den Luftreisenden jeden Augenblick kund thut, wie groß die aufsteigende Kraft des Ballons und die Kraft des Windes ist. In Betreff des Kabels brauchen wir nach dem schon Angeführten nur hinzuzufügen, daß es 660 Meter lang und an dem oberen Ende 0,085, an dem unteren 0,065 Meter stark ist.
Um mittelst dieses Kabels den aufgestiegenen Ballon immer wieder herabzuziehen, dienen zwei etwa hundert Meter abseits aufgestellte Dampfmaschinen von dreihundert Pferdekraft, welche eine eiserne Winde von siebenzehn Decimeter Durchmesser und zehn Meter Länge in Bewegung setzen; in die eingegrabenen hundertacht Schraubengänge derselben legt sich das Kabel beim Herunterwinden ein. Dabei sind einige Nebenapparate in Thätigkeit, die das große Erfindungsgenie des Mannes bewundern lassen, der dieses Titanenwerk erdacht und ausgeführt hat. Von der Dampfwinde läuft das Kabel nämlich durch einen nicht ganz fünfzig Meter langen unterirdischen Tunnel bis in den weiten, wie ein Amphitheater mit gemauerten Stufenreifen umfaßten Erdkessel, über welchem der Ballon schwebt und in seiner Ruhezeit von acht oder sechszehn Seilen gehalten wird, die an ebenso vielen in einem Kreise um diese Vertiefung aufgeführte Mauerpfosten befestigt sind. Das Kabel nun läuft hier zunächst über ein großes eisernes Rad, welches, wie jene alten Oellampen, aus denen man nichts verschütten konnte, oder wie ein Erdglobus, so aufgehängt ist, daß es bei aller nothwendigen Festigkeit seiner Stellung jeder beliebigen Wendung folgen kann, die der Wind vermittelst des Ballons, der ihm ungefähr tausend Quadratmeter Angriffsfläche bietet, dem Kabel geben will. Das zweite Paar Zeugen für das besondere Ingenium ihres Ingenieurs sind zwei Luftbremsen, die von der Kraft des aufsteigenden Ballons selbst in Thätigkeit gesetzt werden und die es verhindern, daß der Luftwagen sein Ziel wie die meisten irdischen Fahrzeuge mit einem Ruck erreicht, der da oben Schrecken- und Angstgefühl veranlassen könnte, und die es andererseits ermöglichen, auch an jedem Punkte unterwegs ohne Ruck anzuhalten.
Wir haben zunächst nur noch einige Worte über die Füllung des Riesenballons zu sagen, die also nicht wie gewöhnlich mit Leuchtgas, sondern mit dem leichteren Wasserstoffgas geschah, welches bei der Auflösung von Eisen in verdünnter Schwefelsäure gewonnen wird. Auch der hierzu dienende Entwickelungsapparat, der in der Stunde zweitausend Cubikmeter Wasserstoffgas liefern kann, enthält sehr sinnreiche Einrichtungen, auf die hier freilich ebenso wenig wie auf die übrigen Einzelheiten eingegangen werden kann. Das Gas wird gewaschen, getrocknet und abgekühlt, ehe es in den Gasometer und von da in den Ballon tritt. Zur Erzeugung der zur Füllung des Ballons erforderlichen Gasmenge - wir haben sie oben angegeben - wurde nicht weniger als 190,000 Kilogramm Schwefelsäure und 80,000 Kilogramm Eisenspähne verbraucht.
Nachdem wir uns so eine Idee von der Solidität und Sicherheit, ja der Eleganz dieser Lösung des Problems eines modernen „Drachenwagens mit regelmäßigem Betrieb“ überzeugt haben, werden wir der Versuchung nicht widerstehen können, es einmal den Göttern Griechenlands, die sich bekanntlich stets des Drachenwagens bedienten, gleichzuthun. Wir betreten die Gondel wie einen Dampfer vermittelt einer kleinen Landungsbrücke, die vom Rande des Erdkessels angelegt und nachher weggezogen wird. Sechszehn Personen lösen die Haltseile, und der Ballon, der sich wie ein ungeduldiger Vogel vor dem Auffluge hin- und herwiegt, steigt leicht wie eine Lerche mit seinen vierzig Passagieren auf. Zwei Mitglieder der auch in Deutschland wohlbekannten Luftschifferfamilie Godard pflegen die Fahrt zu leiten. Ohne Stoß zieht es uns nach oben; „die Erde flieht zurück“; das Panorama von Paris mit seinem Gold und seinem Elend entfaltet sich immer weiter; wir durchschneiden eine Nebelschicht, welche die Menge unten „Wolke“ nennt, und genießen, nachdem sie sich zertheilt hat, ein Kreis-Panorama von hundert Kilometern Durchmesser. Niemand, der den Rath der Führer befolgt, nicht auf das Kabel, sondern immer in die Ferne zu sehen, ist schwindlig geworden; wie eine starre Säule steht bei ruhiger Luft das Kabel senkrecht, und wir glauben unter uns das Volk der Zwerge mit seinen spielzeugartigen Palastbauten und Kirchen zu sehen. Vielleicht beginnt ein leiser Wind im Tauwerk zu säuseln, oder wir werden, einem stärkeren Hauche preisgegeben, weit in seiner Richtung fortgeführt, vielleicht bis über das andere Ufer der Seine oder bis über das Palais Royal oder sonst wohin, drei- bis vierhundert Meter im Umkreise.
Die Fahrt ist so angenehm, daß sich bei dem mäßigen Preise von ungefähr sechszehn Mark schon Gewohnheitsgäste gefunden haben, welche die Fahrt bei schönem Wetter alle Tage mitmachen. Namentlich geschieht dies von Seiten der beliebten Schauspielerin Fräulein Sarah Bernhardt, die anfangs die Fahrt nur aus Neugierde mitmachte, neuerdings aber als Cur gebraucht. Gleich bei der ersten Ausfahrt bemerkte sie nämlich, daß ihre Athmungsbeschwerden in der höheren und reineren Atmosphäre vollkommen verschwunden und seitdem ist sie ein fast regelmäßiger Gast des gefesselten Ballons geworden. Am 3. October hat, wie die Pariser Zeitungen meldeten, ein kleiner munterer Engländer einige hundert Meter über Paris das Licht der Welt erblickt, gewiß ein bisher nicht dagewesenes Beispiel eines hochgeborenen Herrn.
Bei einer vor Kurzem vorgenommenen genauen Untersuchung des Ballons, seines Kabels und seiner Maschinen hat sich alles im besten Zustande gezeigt, insbesondere auch die Dichtigkeit des Ballons gegenüber dem ungemein leicht durch die feinsten Poren entschlüpfende Gase. Ohne Zweifel werden die großen Annehmlichkeiten einer solchen Luftfahrt, nachdem einmal das System sich vollkommen ausgebildet und bewährt hat, in einer nicht zu fernen Zukunft dazu führen, daß jede Großstadt ihren gefesselten Ballon während der Sommermonate unterhält. Im vorigen Monat ist auch bereits der Berliner Luftschiffer Damm bei dem dortigen Magistrate um eine Concession zur Anlage eines gefesselten Ballons eingekommen, doch ist seine absonderliche Idee, denselben vom Rathhausthurme steigen zu lassen aus Verkehrsrücksichten abschlägig beschieden worden.
Die Wissenschaft würde dabei nicht leer ausgehen. Der große Pariser Ballon ist bereits im letzten Sommer, mit allen nothwendigen Instrumenten versehen, als regelmäßiges meteorologisches Observatorium für die höheren Regionen benutzt worden und man darf von der Ausbildung dieser Methode vielleicht die besten Hoffnungen für Aufhellung gewisser meteorologischer Fragen, als Luftströmungen, Luftelektricität, Ozongehalt etc. der höheren Regionen hegen, da sie thatsächlich ganz andere Verhältnisse darbietet als z. B. ein Berg-Observatorium, welches doch immer der Erdoberfläche angehört. Auch in anderer Beziehung hat man einige merkwürdige Wahrnehmungen machen können, z. B. über die Hörbarkeit von Concerten, welche man in hundert Meter Höhe veranstaltete, wobei manchmal ein sehr schönes Echo von den Ruinen der Tuilerien vernehmbar ward. Man konnte ganz wohl gemeinschaftlich mit einem unten verbliebenen Orchester operiren und die himmlischen Klänge an bestimmten Stellen der Composition pünktlich einfallen und herniederschweben lassen. Die Himmelsmusik der alten Heiligenbilder war zur Wirklichkeit geworden.
Jedem Luftreisenden drängt sich unvermeidlich unterwegs die Frage auf: „Was würde geschehen, wenn das Kabel nun doch einmal risse?“ So wenig wahrscheinlich das ist, muß man die Möglichkeit natürlich zugeben, und sie ist auch wirklich in [762] Betracht gezogen. Man würde dann eben einfach eine freie Luftfahrt wider Willen machen, und dafür sind die Ballastsäcke, die Ankern etc. im doppelten Boden der Gondel, die Ventile am Ballon und die begleitenden Luftschiffer von Erfahrung vorgesehen. Unter der kaltblütigen Leitung erfahrener Führer sind freie Luftfahrten verhältnißmäßig sehr ungefährliche Reisen, denn da oben giebt es weder Prellsteine, noch Gelegenheit zu Zusammenstößen oder zum Umwerfen. Im letzten Sommer stiegen beispielsweise in Berlin an jedem Sonntage drei bis vier Ballons mit Passagieren aus den verschiedensten Vergnügungslocalen auf und mehrere in der Woche obendrein, aber nicht ein einziger Unfall hat sich bei dieser großen Zahl von Luftfahrten ereignet. Selbst im schlimmsten Falle ist also mit diesen Auffahrten, der menschlichen Berechnung nach, keine besondere Gefahr verbunden, zumal eine Möglichkeit des Platzens vom Ballon hier gar nicht in Frage kommt, und man kann nur wünschen, daß bald allerorten ein gefesselter Ballon dem uns eingeborenen Triebe, es einmal den Adlern gleichzuthun Befriedigung verschaffen möge.
Nachdem wir dem Leser in unseren früheren Skizzen eine Reihe Bilder aus dem Leben und Treiben der großen Hansastadt Hamburg (1877, Nr.25; 1878, Nr. 28) vorgeführt, möge er uns heute nach einem abgelegenen stillen Winkel des Wesergebietes begleiten.
Im Westen der Lüneburger Haide entspringt ein Flüßchen, die Wümme, welches in vielen Windungen der Weser zufließt und kurz vor seiner Mündung in dieselbe sich mit einem anderen, nördlich aus den Mooren herunterkommenden Wasserlauf, der Hamme, in der Nähe von Lesum vereinigt. In dem Zipfel Landes nun zwischen den beiden genannten Flüssen, der aus Sumpf-, Marsch- und Moorland besteht und alljährlich von ihnen förmlich eingeweicht wird, liegt nahe der Hamme das Dorf Waakhausen, das Ziel unserer Wanderung.
Das Sumpfgebiet des St. Jürgenlandes hinter uns lassend, betreten wir in nordöstlicher Richtung ein sich etwas erhebendes Terrain, auf dem sich nach allen Seiten hin ausgedehnte Weidegründe ausbreiten, hier und da unterbrochen von einzelnen aus Eichen, Erlen, Tannen etc. sich zusammensetzenden Büschen, die wie Oasen im Grünlande liegen. Der des Landes Kundige weiß, daß solch ein Busch die Existenz eines Bauerngehöftes andeutet, denn jedes derselben sitzt, gleich dem Nußkern in der Schale, behaglich im Innern eines solchen Busches oder „Kampes“.
Von allen Seiten ertönt fast ununterbrochen der Ruf des Kukuks; wenn Niederdeutschland einen Wappenvogel wählen sollte, so müßte es unbedingt dieser sein, denn sein weitschallender Ruf begleitet uns durch alle Niederungen und erst wenn wir auf die Geest hinaufgestiegen sind, bleibt er mehr hinter uns zurück.
Während wir in der schattenlosen Landschaft, von den Strahlen der Sonne arg bedrängt, an weidenden Rindern und Pferden vorüber, vorwärts schreiten, tauchen vor uns dichtere Landmassen auf – die Waldungen, in denen wir unser Ziel zur suchen haben. Auch der Boden beginnt sich zu ändern, Moor- und Haideland, mit einzelnen Birken und Nadelbäumen bestanden, tritt an Stelle der ausgedehnten Wiesen, und endlich gelangen wir in den Schatten eines dichten Gehölzes – hier aber ist guter Rath theuer, denn wenn uns auch der Weg einigermaßen beschrieben ist, so müssen wir doch sehr auf der Hut sein, daß wir nicht vom gebahnten Pfade ab in die ringsum drohenden Sümpfe gerathen.
Wir entdecken bald einen Weg, der seitab in das sumpfige Gehölz, und zwar durch eine reizende frische Vegetation mit malerischer Gruppirungen, über grüne Wiesen, dann wieder durch Haide und Wald in regellosen Windungen führt, bis wir plötzlich mit einem Aufrufe des Staunens aus dem Holze auf eine Lichtung hinaustreten, deren Anblick allerdings zu den lebhaftesten Zeichen der Verwunderung berechtigt.
Wenn ein europäischer Maler ein von einem Erdbeben heimgesuchtes Land des tropischen Amerikas darstellen wollte, so brauchte er sich nur mit Pinsel und Palette an die Stelle zu setzen, an der wir eben aus dem Walde heraustraten. Erdschollen von einem Umfange und einer Mächtigkeit, daß sie beide Eichbäume zu tragen vermöchten, sind wild über einander gestaut – hier steigt eine solche kerzengerade aus der Erde empor – dort bäumen sich zwei wie im Kampfe gegen einander – weiterhin sieht, es fast aus, als rollten schwarzbraune Wogenkämme heran – dazwischen laufen tiefe Risse und Spalten hin, welche sich zum Theil mit trübem Schlammwasser angefüllt haben. Gesteigert wird der wüste Eindruck noch dadurch, daß jede Scholle die helle Pflanzendecke des ruhig weitergrünenden Haidelandes, selbst mit kleineren Bäumen untermischt, auf ihrem Rücken trägt, während sie im grellen Contraste dazu von allen anderen Seiten den düstergefärbten Moorboden aufzeigt. Ein Bild von wirklich unheimlichem Eindrucke.
Von den hier thätigen Gewalten und Erscheinungen werden wir gleich reden; für jetzt wenden wir uns dem jenseits sich zeigenden erhöhten Wege zu, in dem wir mit Recht den sogenannten „Todtenweg“ vermuthen, einen mit Sand belegten Moordamm, der im Winter noch über das Wasser emporragt, wenn ringsum schon Alles überschwemmt ist.
Auf dem Todtenwege angelangt, gewahren wir ein neues Bild der Zerstörung: hier blicken wir weithin über Getreidefelder – ein Gemenge von über einander gedeckte Schollen, auf denen die Getreidehalme nach allen Richtungen hinauswachsen; in dem niedriger liegenden Acker hockt hier und dort mitten im Getreide, wie eine Kröte im Blumenbeete, ein großer schwarzer Brocken Moorlandes mit Haidevegetation auf dem borstigen Rücken, der offenbar zwischen den Kindern der Ceres nichts zu suchen hat.
Wir schreiten jetzt auf eines der wenigen und vereinzelt in der Nähe des Todtenweges liegenden Häuser zu, um das Wirthshaus herauszufinden, denn der Durst macht sich peinlich geltend. Da erfahren wir denn zu unserer nicht gerade angenehmen Ueberraschung, daß wir, um dahin zu gelangen, westwärts an der und jener Haidestrecke vorüber, dann über der „hohen Steg“ und endlich seitwärts am Wasser hingehen müssen, also ungefähr noch eine gute Viertelstunde Weges vor uns haben. Es ist eine Eigenthümlichkeit „Niederdeutschlands“, daß die Gehöfte bald in größeren, bald in kleineren Entfernungen, aber fast durchweg isolirt liegen, und ein solches Dorf kann daher oft den vierfachen Flächenraum eines mitteldeutschen einnehmen, ohne mehr als die Hälfte von dessen Seelenzahl zu besitzen. Wir wandern also westwärts weiter; auf den zum Theil gleichfalls geborstenen Strecken „Haidelandes“, an denen wir vorüberkommen, sitzen nun, gleichsam als Pendants der Moorstücke im Roggenfelde, Brocken dieses Roggenfeldes selbst in einzelnen Exemplaren verstreut, deren Halme sonderbar genug über dem Haidekraut emporragen, als schauten sie sehnsüchtig nach den Genossen in ihrer eigentlichen Heimath hinüber. Jetzt gelangen wir auch an den „hohen Steg“, dessen Bau seinen Namen rechtfertigt, indem man auf Stufen mit Geländer versehen an dem einen Ufer hinauf und an dem andern ebenso hinunter steigt. Man könnte versucht sein, diese sonderbare Bauart als eine Concession an die eigenthümlichen Bodenerscheinungen zu betrachten, doch ist dies nicht der Fall, sondern die Gründe dafür sind hier dieselben wie im Spreewalde für die nämliche, nur etwas halsbrechendere Construction – die Möglichkeit nämlich, hochbeladene Heukähne hindurchtransportiren zu können. Endlich liegt auch das ersehnte Wirthshaus auf hoher Warf vor uns. Es unterscheidet sich durch rein gar nichts von den Bauernhäusern, nicht einmal durch ein äußeres Abzeichen.
[763] Beim Eintritt in die Deele empfängt uns der dicke Qualm eines auf der Herdkuhle eben neuangeschürten Torffeuers, und eine Frau tritt uns mit der Frage nach unserem Begehr entgegen.
„Unterkommen und Wasser!“
Dem ersteren wird entsprochen, indem wir in die Dönse (Stube) geleitet werden, dem letzteren, indem unsere Wirthin bald mit einigen Gläsern voll – Kaffee erscheint. Wir machen ihr begreiflich, daß wir für später keinen Kaffee verschmähen werden, vor der Hand aber ein Glas frisches Wasser haben möchten.
„Dat is Water,“ erklärt unsere Hebe, auf die braune Flüssigkeit im Glase zeigend.
„Dat – is – Water?!“
„Ja, dat is Water.“
Unsere Bestürzung über diesen zweifelhaften braunen Stoff ist daher nicht gering, und so bleibt nichts übrig, als zum Bier zu greifen.
„Beer? ne, Beer, dat hefft wi nich.“
Auch kein Bier! „Na, wat hefft Se denn?“
„Snaps.“
Man bedenke – in unsere heißen, ausgedörrten Kehlen – Schnaps! Vor diese Alternative gestellt, beginnen wir schon mit der braunen Flüssigkeit im Glase zu liebäugeln, als es uns vorkommt, wie wenn sich etwas darin bewege, und bei näheren Hinschauen nehmen wir denn wahr, daß eine Menge kleiner Thierchen in der Form und Größe von „Hüppers“ (plattdeutsche Bezeichnung des Flohes) mit großer Schnelligkeit darin umherschießen. Das genügt freilich! Doch wir können auf den Genuß um so eher verzichten, als sich den Conflicte von Leib und Seele gegenüber eine einsichtsvolle Kuh in’s Mittel legt, indem sie uns durch ihr Gebrüll an die Existenz von Milch erinnert. Und Milch gab es, viel Milch, vortreffliche Milch, die wir in durstigen Zügen schlürften.
Wir haben diese ganze Scene in ihren Details wiedergegeben, weil sie besser als irgend eine ausführliche Schilderung ein bezeichnendes Licht auf die Zustände in dieser Gegend wirft. Selbst ein Trunk frischen Wassers ist dem Bewohner versagt – Wasser haben sie überall genug, zu Zeiten mehr, als ihnen lieb ist – aber ein Wasser, das von den modrigen Substanzen des Moorbodens, vegetabilischen und animalischen, vollständig angefüllt und braungefärbt ist. Sie trinken daher auch nie Wasser, sondern immer „Kaffee“ – wenigstens nennen sie das Gebräu so – wobei dann der Kaffee den das Wasser belebenden Thierchen gegenüber die Rolle von Insectenpulver übernehmen muß; gewiß eine neue Auffassung dieser edeln, in unserem großen Vaterlande so verschiedenartig gemißhandelte Colonialfrucht!
Nachdem wir uns noch durch den Genuß von Schinken, Eiern und Schwarzbrod zur Genüge gestärkt und erquickt haben, machen wir uns von Neuem auf den Weg, um einige der vereinzelt liegende Gehöfte zu besuchen und uns dort von den Bewohnern genauere Auskunft über die wunderbaren Erscheinungen ihres Heimathdorfes zu holen. Ueberall werden wir in der düsteren Deele mit einem treuherzigen Händedruck empfangen, ein Stuhl von alterthümlicher Form wird uns an die schweelende Herdkuhle gerückt, und nachdem wir, Hals, Nase und Augen voll Torfgeruch unser Wandersprüchlein hergesagt, von wannen wir kommen, was wir wollen etc., verschwindet der Hausvater in der Dönse und kehrt gleich darauf mit einer Flasche nebst Spitzgläschen zurück, um uns den unvermeidlichen Willkommenschnaps zu credenzen. Um die Leute nicht zu kränken, thun wir Bescheid, indem wir uns bemühen, die entsetzliche Grimasse beim Hinunterschlucken in ein verbindliches Grinsen zu verwandeln. Von diesen Details abgesehen hinterläßt der schlichte gastfreundliche Empfang in der alterthümlichen Umgebung einen ebenso angenehmen wie charakteristischen Eindruck.
Die Erklärungen aber, welche wir auf unsere Fragen erhielten, ergaben Folgendes.
Die Ufer der Hamme, obgleich sie auf beiden Seiten des Flusses zunächst Grünland und weiterhin Moor aufweisen, unterscheiden sich doch wesentlich. Auf dem rechten Ufer ist ausgesprochen Marschlandschaft, von Wasserrinnen durchschnitten, weit ausgedehnt bis zum Teufelsmoor hin, wo sie dann in das öde, düstere Hochmoor übergeht, welches nördlich bis dicht an die Geest heranreicht. Das linke Ufer dagegen zeigt zwar auch Marschland, aber allenthalben von Sumpf durchsetzt, und auch nicht in der gleichen Ausdehnung; völlig eigenartig aber ist die Erscheinung des Moorbodens. Erstlich tritt hier der Charakter des Hochmoors zurück und die Oberfläche trägt verschiedenste Vegetation, Wald, Wiesen, Getreidefelder und Haide; dann aber, und das ist für uns hier das Wichtigste, liegt das Moor mit seinen unteren Schichten auf dem Sande des ehemaligen Meeresbodens, über dem es emporgewachsen ist, unverbunden auf, ungefähr wie ein gestrandetes Floß. Die Folge hiervon ist, daß, wenn die Weser, Hamme und Wümme zu schwellen anfangen, das Wasser zwischen jenen Sandboden und das Moorfloß eindringt und das letztere in die Höhe hebt. Dann beginnt für die Waakhausener Bäume, Felder und Wiesen ein in Wirklichkeit „flottes“ Leben – sie schwimmen! Ist die Thatsache einer ganzen schwimmenden Landschaft an sich schon und namentlich für unsere Begriffe von einem soliden Erdboden etwas höchst Wunderbares, ja Lächerliches, so verwickeln sich die Verhältnisse erst recht dadurch, daß die verschiedenen Theile des fraglichen Gebietes ganz verschiedene Schwimmfähigkeit besitzen.
Dieselbe hängt im Wesentlichen von drei Factoren ab. Erstens von der Mächtigkeit und Qualität und dem entsprechend von dem Gewichte des schwimmenden Moorbodens. Die Mächtigkeit des Moores wechselt zwischen fünfzehn und dreißig Fuß. Ebenso ist die Qualität eine verschiedene und zwar eine dreifache, indem zu oberst eine weiße, in der Mitte eine braune und zu unterst eine schwarze Moorschicht lagert. Da nun das Wasser nicht nur unter die gesammte Moorschicht, sondern auch zwischen die beiden unteren schweren Schichten einerseits und die obere, sehr leichte andererseits einzudringen vermag, so wird dadurch die Verschiedenartigkeit des Aufschwimmens erst recht vermehrt. Die Mächtigkeit der oberen Schicht beträgt zwischen fünf Fuß und zwanzig Fuß.
Hierzu kommt zweitens die Zerschneidung des Terrains, theils durch Wasserläufe, hauptsächlich aber durch Grenzgräben und Canäle, welche die einzelnen Terraingruppen isoliren und zu einer um so selbständigeren Bewegung befähigen. Drittens aber tritt noch, und zwar als eine Hauptsache, die dem Wasserdrucke entgegenwirkende Belastung der Oberfläche hinzu. Naheliegend ist eine solche Belastung durch den Häuser- und Wegebau. Abgesehen von der eigenen Schwere, werden diese Häuser noch auf einer Warf und einer Unterlage von Sand über dem Moorboden errichtet; ebenso werden zur Festigung der Wege Sand und Grus verwendet, und es ist natürlich, daß diese Belastung den Häuser wie Wege tragenden Boden niederhält.
Ueber den Grad, welchen die Belastung erreichen muß, um das Moorstück unter Wasser zu drücken, kann man wohl nichts Definitives feststellen; zwar gab einer der Bewohner an, es genüge schon eine Lage von zwölf Zoll Sand, um eine größere Strecke zum Sinken zu bringen; doch wirken hier noch so verschiedene andere Bedingungen mit, daß man dies wohl nicht als Norm ansehen kann.
Weit wichtiger, und zwar die ganze Landwirthschaft der Waakhausener beherrschend, ist aber die Belastung der Felder durch Dung und Sand; das ist so recht geeignet, zu zeigen, wie die Verhältnisse hier vollständig auf dem Kopfe stehen. Während anderwärts eine dauernde Bodenmelioration ein Zeichen des Fortschritts bedeutet, ist sie hier nicht nur nicht durchführbar, sondern selbst jede unmittelbare Düngung und Verbesserung der Ackerkrume führt das betreffende Feld je um einen Schritt seinem Untergange näher. So lange ein Feld schwimmt, ist es zur Production vortrefflich geeignet; von oben her ist der Boden durchlassend, während die Bewässerung von unten her Nichts zu wünschen übrig läßt. Wird aber die Oberfläche auf die angegebene Weise durch Dung etc. beschwert, so kommt schließlich der Zeitpunkt, wo der Moorgrund nicht mehr zu steigen vermag, der Acker wird überfluthet und geht schließlich der Bewirthschaftung vollständig verloren. So lange der Boden also nur als Wiese benutzt wird, bleibt er stets schwimmend. Die Aecker dagegen schwimmen, je nachdem sie von den angegebenen Bedingungen beeinflußt werden, dem Raume und der Zeit nach verschieden auf, am spätesten diejenigen welche dem vollständigen Untergange am nächsten sind; diese könnten dann nur für die Sommersaat benutzt werden. Das Ufer der Hamme ist allerdings zunächst derselben kleigrundig und vom Schlamme beschwert und deshalb versumpft, aber da, wo in der Richtung nach dem Dorfe zu der [764] Moorboden beginnt, besteht der Sumpf aus solchen durch Schlamm überdies niedergedrückten und untergegangenen Feldern.
Das Aufsteigen des Landes kann die Höhe von drei Meter erreichen, in seltenen Fällen und nur bei ganz besonderen Hochfluthen kommt es an vier Meter heran. Man kann sich aber vorstellen, welche vollständige Veränderung nun im Aussehen der Gegend vor sich geht. Das Land fängt an sich zu trennen, neben einem zum Teiche gewordenen Acker steigt der Wald empor und sieht wie von einer Hügelreihe in die Fluth hinab; neben den Warfen der Häuser berstet das Erdreich, löst sich von diesem los, und der Bauer, welcher vordem von seiner Warf herab in seinen Eichenkamp und Garten und auf seine Wiesen hernieder sah, blickt jetzt zu ihnen hinauf, ja beim Höhertreiben des Landes muß er sogar mit Leitern auf dasselbe klettern! – Ebenso verwandeln sich die Wege in Folge ihrer Schwere in Canäle, neben denen das Terrain an der Seite wie ein hohes Ufer emporsteigt. Auch die Brücken und Stege über die Canäle kommen in ähnliche Lage; bald bleibt der eine Steg, wenn er tief eingerammte Träger besitzt, in der Tiefe, während die Ufer hüben und drüben aufschwimmen, bald steigt er nur mit dem einen Ufer und folglich nur mit einem Ende in die Höhe, während das andere mit dem noch nicht oder überhaupt nicht auftreibenden gegenüberliegenden Ufer unter Wasser verbleibt, sodaß ein solcher Steg dann aussieht, als mache er verzweifelte Anstrengungen an dem Wasser auf’s Trockne zu klettern.
Da aber, wo die verschiedenen eben geschilderten Bedingungen des Druckes und Gegendruckes in Conflict gerathen, fängt das Land an, der Kreuz und Quer zu bersten und zeigt, nachdem sich das Wasser verlaufen, jene unheimlich wüsten Bilder, wie sie uns auf dem Wege nach dem Dorfe in Erstaunen setzten.
Wer aber meint, das sei Alles, der irrt; es kommt noch viel bunter. Wenn nämlich jener Unhold, der Niederdeutschland ganz besonders zu seinem Tummelplatz ausersehen – wenn der
[766] Nordweststurm sich in ungewöhnlicher Stärke erhebt und sich auf das schwimmende Waakhausen wirft, die Fluth der Hamme rückwärts staut, die Aeste der Bäume erfaßt und damit einzelne Landparzellen gleichsam an den Haaren hin- und herzerrt, dann fängt in der That Alles an, „drunter und drüber“ zu gehen – und zwar ist das wörtlich zu nehmen.
Leichtere Partieen spazieren über schwere und zum Theil gesunkene hinweg, schieben sich bald neben, bald über einander, und jene Stücken Moorbodens im Roggenfelde oder Roggenfeldes im Haideland, wie wir sie auf unserem Wege beobachten konnten, sind dann gewissermaßen die Visitenkarten, welche das eine bei seinem Besuche dem andern zurückgelassen hat. Uebrigens muß sich der Besitzer des Grundstückes, auf dem sich eine größere Portion solchen fremden Landes niedergelassen hat, sehr dazuhalten, dieselben zu entfernen, so lange noch Hochwasser ist, sonst mag er zusehen, wie er damit fertig wird, jedenfalls kann er später nur unter mühsamer Arbeit seinen Saatboden wieder freilegen.
Während der Sturm hier in solcher Weise wirthschaftet, sprengt er an einer anderen Stelle die Canäle und Grenzgräben zu breiten Wasserspalten auseinander, an einem dritten Punkte aber reißt er einem Bauer eine ganze Parzelle aus seinen Grundstücken, treibt sie als schwimmende Insel in die zum See gewordene Umgebung der Hamme und landet sie bei einem andern Bauern.
Die Waakhausener haben dann ihre liebe Noth, wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, und es kommt ihnen dies durchaus nicht lächerlich vor, wie es uns allerdings erscheinen muß, wenn wir uns vorstellen, daß der eine Bauer beim andern seinen Garten abholt, wie man bei uns etwa einen verlaufenen Hammel reclamirt.
Berstet das Land in unmittelbarer Nähe von Baumwurzeln oder steigt es ungleichmäßig, so kommt es vor, daß die daraufstehenden Bäume umsinken wie Schlagbäume, sogar in ganzen Reihen, einer über den anderen, daß sie sich aber, wenn der Boden in seine Normallage zurückkehrt, kerzengerade wieder aufrichten.
Allerdings muß hier ausdrücklich hervorgehoben werden, daß alle die zuletzt geschilderten Erscheinungen mehr den Charakter von acuten Fällen tragen, durch ungewöhnliche Fluthen oder Sturm hervorgerufen, daß dagegen die alljährlich wiederkehrenden Erscheinungen ein regelmäßiges Steigen und Sinken im Zeitraume vom Spätherbst bis zum Frühjahr darstellen, wobei natürlich auch Verschiebungen und dergleichen, nur nicht in so großer Ausdehnung, eintreten.
Mitten in dem Umsturz des Bestehenden fällt dem Menschen eine nicht minder wunderliche Rolle zu. So lange die Fluth eine gewisse Höhe nicht überschreitet, ragt das Haus auf seiner für eine normale Ueberschwemmung berechneten Wurf darüber empor; wächst der Fluthstand aber, so tritt das Wasser in das Haus, und nun werden mehrere Manipulationen nöthig, für welche sich die Bewohner eine gewisse traditionelle Technik ausgebildet haben. Vor allem muß zweierlei sicher gestellt werden: das Vieh und das Herdfeuer. Das Vieh wird in seinen Ständen auf Blöcke gestellt, über welche querhin Bohlen und Bretter gelegt werden – das sogenannte „Aufblocken“ der Kühe. In gleicher Weise wird das Feuer der Herdkuhle, welches sich zu ebener Erde befindet und auf Grund verschiedener Einrichtungen an diese eine Stätte gebunden ist, vor dem Wasser geschützt, indem man auf Blöcken und Brettern Steine zusammenlegt und darauf das Feuer anzündet. Ferner wird der Dünger, um ihn vor dem Wegspülen zu bewahren, mit Strohgeflechten umgeben. Die Menschen selbst aber steigen auf Leitern zum Boden hinauf, wo sie während der Dauer der Ueberschwemmung verbleiben und mit den Schinken um die Wette räuchern mögen.
Jene eben geschilderte Situation giebt unsere Illustration wieder. Kann man sich ein barockeres Bild denken? Draußen vor der Thür schwankt ein hochaufgetriebener Eichenkamp hin und her, wie ein Schiff vor Anker; unten fluthet das Wasser mit leichtem Wellenschlage in die düstere Deele hinein, während oben der Rauch des Herdfeuers in trägen Wolken hinauszieht; drüben an der Seite blicken die Kühe von ihrem erhöhten Stande verwundert in die fremdartige Situation hinab, während an der aufgeblockten Herdkuhle die Hausfrau, mitten über dem Wasser stehend, die Speisen mit demselben Gleichmuth zubereitet, wie in trockenen Tagen. Und dazu heult der Sturm um die altbemoosten Hausgiebel, setzt pfeifend durch die kahlen Aeste des Kamps und jagt an der Seite, wo das Haus offen liegt, hohe Wellen in förmlicher Brandung gegen die Außenwandung, welche auch, wenn nicht genügend fest hergestellt, dem Durchspülen ausgesetzt ist.
Doch läßt sich das Alles ansehen, so lange die gastliche Flamme des Herdfeuers noch herausfordernd in die unten emporleckenden Fluthen hinabschaut; wenn diese aber höher und höher steigen – wenn das Feuer erlischt, dann ist der Moment gekommen, da der Mensch mit Vieh und all dem Seinen auf den neben dem Hause schwimmenden Kamp übersiedelt, wobei namentlich der Transport der Kühe die größten Anstrengungen erfordert. Dort wird nur unter einem Nothdache campirt, bis die Fluth wieder einigermaßen gesunken ist, und das kann sogar mehrere Wochen dauern. Doch gehört ein solcher Fall zu den seltenen.
Unser Bild von den Waakhausener Zuständen würde kein vollständiges sein, wenn wir zuletzt nicht auch noch den Zimmermann besuchten, der in Waakhausen eine viel bedeutungsvollere Rolle spielt, als in anderen Dörfern. Das hängt so zusammen. Jedermann weiß, daß Torfmoor ein Körper von verhältnißmäßig geringer Dichtigkeit ist und folglich durch eine darauf ruhende Last zusammengepreßt werden kann; da nun diese Substanz den Grund bildet, auf welchem die Waakhausener Gehöfte ruhen, so ist die Folge davon, daß die Häuser, den Moorboden zusammendrückend, einzusinken beginnen und natürlich meist nicht gleichmäßig, sondern auf der einen Seite mehr als auf der andern. Um dem allzu tiefen Sinken zu begegnen, hilft man sich mit dem sogenannten Schrauben, das im Durchschnitt nach Ablauf eines Decenniums nöthig zu werden pflegt.
Das Schrauben nun ist Aufgabe des Zimmermanns, in dessen Eigenthum sich auch die dazu nöthigen Apparate befinden. Dieselben bestehen aus vier Theilen; zunächst aus einer Unterlage, an Form einer Eisenbahnschwelle ähnlich, ungefähr fünf Fuß lang mit flachen Aushöhlungen, in welche die unteren Schraubenenden passen. Darauf ruht eine zweite Holzbohle von derselben Form, aber mit Schraubengängen an den beiden Enden. In diese letzteren werden die ungefähr vier Fuß langen Schrauben eingeführt. Sollen sie nun in Thätigkeit kommen, so wird unter dem Grundbalken des Hauses ein Loch ausgehöhlt, groß genug, die beiden beschriebenen Bohlen hineinzuschieben, was dergestalt geschieht, daß das eine Ende mit der einen Schraube sich an der Innenwand, das andere mit der anderen Schraube außerhalb des Hauses an der Außenwand befindet; durch das Schrauben trennen sich nun die beiden Bohlen, und der so entstehende Zwischenraum wird mit Sand und anderem festem Material ausgefüllt. Je nach der Größe des Hauses werden zugleich 15 bis 20 solcher Schrauben in Thätigkeit gesetzt, und das Haus wird dadurch oft bis zu einem halben Dutzend Fuß in die Höhe gebracht. Dieses Schrauben hat freilich die zwei Nachtheile, daß es erstlich ziemlich viel Kosten verursacht, und dann, daß das Haus häufig in seinem Gefüge darunter leidet. Deshalb suchen die Bewohner in dem schiefgesunkenen möglichst lang auszuhalten und ihren Haushalt unter einem Winkel von 70 Grad weiter zu führen – in solch einem Hause ist dann Alles schief, und man ist fast versucht, die Bewohner darauf hin anzusehen, ob nicht der Eine eine hohe Schulter, der Andere eine hohe Hüfte habe.
Mit dem Besuche beim Zimmermann schließt aber unsere Entdeckungsreise, und wir wenden uns unserem Wirthshause zu. Der Abend ist inzwischen über die stille Gegend gekommen, der Ruf des Kukuks ist verhallt – wir wandern den neuen Canal entlang, dessen schwarzbraunes Wasser träge über eine düstere Vegetation ebenso schwarzbrauner am Moorboden wuchernder Pflanzen hinzieht, bis wir unser Ziel erreicht haben.
Im Wirthshause wird uns nach einem frugalen Abenbrod [767] eines der dort üblichen wunderlichen Betten zu Theil, und den dicht über unserer Nase herabhängenden Bettquast anstierend, wir mögen wollen oder nicht, schlafen wir ein, um am anderen Morgen noch halb im Schlafe mit dem Gedanken zu erwachen: Herr Gott, raucht der Ofen! bis wir, zu voller Besinnung gelangt, zwar unseren Irrthum in Bezug auf einen Ofen erkennen, aber an dem Torfrauche, den man im ganzen Hause riecht und schmeckt, wahrnehmen, daß die Herdkuhle an der Zubereitung unseres Frühstücks des bereits beschriebenen Kaffees, thätig ist, den wir mit Resignation einnehmen, um alsbald unsern Wanderstab weiter zu setzen.
Das Lachen ist nur dem Menschen eigenthümlich; denn was man an den Thieren davon beobachtet haben will, ist doch von dem herzlichen Lachen eines Menschen himmelweit verschieden. Es ist aber auch nur der Mensch, welcher Vernunft besitzt, das heißt die Fähigkeit, Begriffe zu bilden. Wo immer nur wir lachen, spielt ein Begriff seine Rolle dabei. Nun liegt es aber im Wesen des abstracten Denkens, daß die Begriffe niemals die Wirklichkeit in allen ihren Theilen zu decken vermögen. Wie dies zu verstehen ist, wird am besten gleich ein Beispiel erläutern. Der Begriff „Garderobe“ bezeichnet die Gesammtheit der Kleidungsstücke einer Person. Stehe ich vor dem geöffneten Schranke und betrachte alle meine Kleider, so habe ich ein Wirkliches – genauer: eine anschauliche Vorstellung – zu dem Begriff Garderobe, den ich schon vorher im Kopfe mit mir herum trug. Wie nun aber, wenn ich ein armer Teufel bin und nur einen Anzug, den ich auf dem Leibe trage, besitze? Dann giebt dieser die Gesammtheit meiner Kleidungsstücke ab, also kann ich mit gutem Rechte ihn „meine Garderobe“ nennen. Dabei wird freilich die eine wesentliche Beziehung am Begriff, die Gesammtheit von mehreren Anzügen nicht erfüllt, und von diesem Gesichtspunkte aus könnte dann geradezu Einsprache gegen die Anwendung des fraglichen Begriffs überhaupt erhoben werden. Läßt man ihn aber gelten, auch wenn man dies paradox nennen wollte, so sieht man, daß dann eine gewisse Verschiedenheit zwischen Begriff und realem Gegenstand eingetreten ist, welche „Incongruenz“ genannt werden mag. – Mit dieser Erläuterung sind wir nun schon fähig geworden dem Wesen des Lächerlichen näher zu treten, denn es besteht dies in nichts Anderem, als in der plötzlichen, unerwarteten Wahrnehmung einer solchen Incongruenz zwischen Begriff und Wirklichkeit.
Ueber das eben behandelte Beispiel existirt ja auch eine ganz hübsche Anekdote. Da lachte der König über einen Gascogner, den er bei strenger Kälte in leichter Sommerkleidung sah; dieser aber sagte zum König: „Hätten Eure Majestät angezogen was ich angezogen habe, so würden Sie es sehr warm finden.“ Auf die weitere Frage, was er denn angezogen habe, antwortete er: „Meine ganze Garderobe.“
Wo immer man Jemand lachen sieht, kann man die plötzliche Entdeckung einer entsprechenden Incongruenz nachweisen; und zwar wird eine solche um so mehr zum Lachen reizen, je größer dieselbe auf der einen Seite dem Entdeckenden erscheint; dann aber auch, je überraschender für ihn der Gegensatz auftritt, je mehr er neu für ihn ist. Da Beides sich für die verschiedenen Menschen verschieden stellt, so begreift es sich, warum häufig genug etwas den Einen zum Lachen reizt, wobei ein Anderer keine Miene verzieht.
Die Wirkung des Lächerlichen wird entweder durch das Wort vermittelt, oder sie ergiebt sich irgendwie durch unmittelbare Anschauung.
Wenn wir an die Spitze der ersteren Art des Lächerlichen die große Classe der Witze und Scherze stellen und behaupten, daß beide im Grunde nur dadurch verschieden sind, daß der besonders drastische Scherz als Witz bezeichnet wird, so sehen wir zunächst von dem Sprachgebrauch ab, auch Handlungen als „Scherz“ zu bezeichnen. Daß in jedem gegebenen Falle die Frage: ob Witz oder Scherz? von verschiedenen Personen verschieden beantwortet werden wird, ergiebt sich aus dem vorhin Gesagten. Die Fähigkeit zu beiden ist recht eigentlich ein Geschenk der Götter, womit nicht gesagt sein soll, daß sich diese Fähigkeit nicht, wie jede andere, bis zur Virtuosität ausbilden läßt. Der feine, formgeschliffene und zugespitzte literarische Witz oder Scherz ist am häufigsten das Product ernster Arbeit; in diesem Sinne gilt Mirza Schaffy-Bodenstedt’s „Gute Witze wollen erdacht sein“. Erfreulicher freilich ist immer jenes ungezwungen sich ergebende Funkenspiel von Scherz und Witz, welches unter Lichtglanz und Gläserklang als Würze heiterer Geselligkeit aufsprüht. In allen Fällen entspricht Witz und Scherz unserer aufgehellten Erklärung: bei beiden handelt es sich um die Aufstellung einer Incongruenz zwischen Begriff und Wirklichem. So, wenn – um nur ein Beispiel anzuführen – Saphir in einem Federkriege von dem „an Geist und Körper gleich großen“ Schauspieler Augeli sprach. Derselbe besaß, wie stadtbekannt war, eine winzige Statur, und so muß sich zur Heiterkeit des Lesers neben den Begriff „groß“ als Wirkliches geradezu das verhältnißmäßig Kleine stellen.
Während beim eigentlichen Witze oder Scherze die Gleichheit im Begriff liegt, die Verschiedenheit in der Wirklichkeit, ergiebt eine Umkehrung dieses Verhältnisses den Schlüssel zur Erklärung des sogenannten Wortspiels oder Wortwitzes. Beim Witz also werden zwei sehr verschiedene Gegenstände – in der ersterzählten Anekdote beispielsweise: einziger Rock und umfangreiche Auswahl von Anzügen des Königs – unter einen Begriff – Garderobe – gebracht, beim Wortspiel aber zwei verschiedene Begriffe unter ein Wort, unter den gleichen Wortlaut, der ein Wirkliches, ein Reales ist. Es stellt sich dabei eine ähnliche Incongruenz ein, wie oben, nur häufig matter, weil nicht im Wesen der Dinge, sondern im Zufall des Gleichklangs begründet. Verbindet sich mit dem äußerlichen Gleichklang zugleich eine entsprechende tiefere innere Beziehung, dann wird freilich das Wortspiel dafür doppelt wirksam. – Die Wortspiele stellen nun bei weitem das größte Kontingent der Belustigungen und Scherze, wenn auch in Deutschland noch nicht einmal in dem Maße, wie in England und Frankreich, wo auf den einzelnen Wörtern fast durchgehend mehr Bedeutungen gehäuft sind. Auch hier zur völligen Klarstellung einige Beispiele! Im Gespräche mit dem Kaiser über den Feldzug von 1859 soll der österreichische Feldherr Ghulai gesagt haben: „Bei Magenta habe ich gefehlt.“ Worauf der Kaiser: „Und ich bei Solferino.“ Gewandt parirte der Hofmann diese Selbstanklage seines Monarchen, indem er einwarf: „Nein, Majestät, Radetzky hat gefehlt.“ Mit demselben Worte „fehlen“ verbinden wir zwei ganz verschiedene Begriffe, nämlich „Fehler machen“ und „abwesend sein“. Der dadurch möglich gemachte Wechsel der Beziehungen, der momentan ein paradoxer ist, ergiebt eine lächerliche Wirkung.
Als ein König von Frankreich bei Tafel saß, fiel ihm auf, wie sehr verlangend sein Hofnarr nach Rebhühnern, die auf eine besondere Weise zubereitet waren, blickte, und gütig rief er ihm zu, daß ihm die Schüssel ganz allein gehören solle.
„Sire, mit den Rebhühnern?“
„Ja, mit den Rebhühnern,“ rief lachend der König, und bezahlte so mit dem Golde der Schüssel das improvisirte Wortspiel und die – Unverfrorenheit seines Lustigmachers. – „So lange sie mich nicht ansprach, hat sie mich sehr angesprochen, als sie mich aber angesprochen hatte, sprach sie mich nicht mehr an“ – ebenfalls ein Spiel der beiden Begriffe des nämlichen Wortes, wobei für den Augenblick Incongruenzen in gewissem Sinne sich einstellen. Das Wortspiel ist überhaupt die bequemste Form für die Zweideutigkeit, welche auch schwächeren Köpfen zu Gebote steht; schon darum braucht die größere Häufigkeit derselben uns nicht Wunder zu nehmen.
Von hier führt ein allmählicher Uebergang zu all den Räthseln, Sinnspielen, Bonmots, Kalauern, welche nicht immer eigentlich zum Lachen reizen, jedoch den Geist leicht und angenehm beschäftigen und in der Gesellschaft besonders beliebt sind.
Anstößige oder scandalöse Dinge sind in der Gesellschaft nur dadurch mitzutheilen, daß man sie durch allgemeine Begriffe ausdrückt. Da aber zu diesen sehr viele concrete Vorstellungen in Beziehung gebracht werden können, ergiebt sich häufig, daß das Wiederzugebende nicht nur eine Incongruenz zu jenen zeigt, sondern oft geradezu in einen Gegensatz zu denselben tritt; wie, wenn man von Einem, der sich betrunken, sagt: „Er hat des Guten zu viel gethan.“ Mit diesem Beispiel streifen wir schon an die Zweideutigkeit oder Aequivoke. Es werden dabei stets Begriffe genannt, welche an und für sich harmlos sind, in Beziehung jedoch zu dem gerade anschaulich Vorliegenden auf eine anstößige Vorstellung leiten. Die Zweideutigkeiten (Aequivoken) treiben sich in verschiedenen Gestaltungen herum; nicht selten auch in der Form des Räthsels. In den meisten Fällen werden sie zu bloßen Wortspielen, von welchen bereits früher die Rede war.
Versteckt sich der Scherz hinter den Ernst, so entsteht die Ironie. Man geht dabei mit scheinbarem Ernste auf die Meinung und Ansichten des Anderen ein, bis er endlich durch das Resultat der Auseinandersetzung an uns und vielleicht auch an sich selbst irre wird. In der Alltäglichkeit findet sich die Ironie häufig genug. Ist sie sehr scharf und ätzend, so wird sie zum Sarkasmus, in vollendeter Form mit didaktischen Zwecken zur sogenannten sokratischen Methode.
Dagegen entsteht die sogenannte gemeine Ironie, wenn mit plumper Absichtlichkeit ein anschaulicher Gegenstand unter den Begriff seines Gegentheils gebracht wird. Wie etwa, wenn ich von Regen triefend ausrufe: „Welch schönes Wetter heute!“ – oder wenn ich einen Spitzbuben einen „Ehrenmann“ nenne.
Es giebt eine sehr verbreitete Gattung des Lächerlichen, welche sich an diese gemeine Ironie unmittelbar anschließt. Es ist das die Parodie. Wo in den Vorgängen und Worten eines ernsthaften Gedichtes oder Dramas hohe Begriffe und große Motive bei hochstehenden Personen eintreten, schiebt die Parodie unbedeutende, niedrige Persönlichkeiten – oft sogar Thiere – oder kleinliche Motive ein, sodaß dadurch eine Incongruenz und mit ihr die lächerliche Wirkung erreicht wird, wenn auch nur bei Leuten mit besonderem Geschmacke. Man denke an die verschiedenen Parodien welche. z. B. Schiller’s „Lied von der Glocke“ hat erdulden müssen, oder an das „Wagalaweja“ des Schusterjungen, der Schläge bekommt. Es sind eine Menge Redensarten im Gange, welche den Charakter der Parodie tragen; so spricht man von einem „Schwabenstreiche“, wo Einer besonders täppisch gewesen, oder von „ungemischter Freude“, die keinem Sterblichen zu Theil wird, wenn man merkt, wie sehr Bier oder Wein verwässert worden ist.
Das Umgekehrte der Ironie der hinter den Scherz sich versteckende Ernst, ist der eigentliche Humor. Daher auch das unbestimmte Gefühl vom tieferen Werthe, welches alle guten Producte desselben erzeugen, und die instinctmäßige Gewißheit, daß man es bei ihnen mit nichts weniger als Späßen und Scherzen um ihrer selbst willen zu thun habe. Der Humor ist die Weise geistesfrischer, warm und edel fühlender Naturen, die [768] weder sich noch auch die Welt ausgeben können, die, um nicht weinerlich zu sein – eben Humoristen sein müssen. Die typische Figur derselben ward Till Eulenspiegel, ihr Attribut die Pritsche; der Wahrspruch aller Humoristen ist jenes Wort von Christofel von Grimmelshausen:
„Es hat mir so wollen behagen,
Mit Lachen die Wahrheit zu sagen.“ –
Daß sich oft die lächerliche Wirkung ohne oder wider die Absicht des Betheiligten einstellt, ist bekanntlich gar nicht selten der Fall. Dieser Art ist beispielsweise jene Grabschrift, welche ein freigelassener Neger seinem Kinde hatte setzen lassen; sie begann: „Liebliche, früh gebrochene Lilie“ etc. Zum Begriff einer solchen gehört bekanntlich durchaus die weiße Farbe – und hier als Gegenstand der Anwendung ein schwarzes Mädchen! Als Jemand äußerte, daß er gern allein spazieren ginge, meinte ein Anderer: „Dies thue ich auch gern; da können wir nun zusammen gehen.“ Die begriffliche Maxime: was zwei gern thun, können sie zusammen thun, wird hier auf den Fall angewendet, wo Gemeinschaftlichkeit ausgeschlossen ist. – Eine junge Dame antwortet ihrem Tänzer, der von ihren Eigenschaften schwärmte und zuletzt von der „holden Sittsamkeit“ sprach, die ihr aus den Augen leuchte – „nein, wie Sie schmeicheln können!“ Wenn sie damit Heiterkeit erregt, geschieht dies dadurch, daß sie den sonst richtigen Gedanken, daß Höflichkeiten auf dem Balle nicht ernstlich zu nehmen sind, auf den besondern Fall anwendet, wo eine Unwahrheit einer argen Beeinträchtigung ihrer eigenen moralischen Unanstößigkeit gleichkommen würde.
Wir kommen jetzt zur zweiten Gattung des Lächerlichen, in welcher die Anschauung dieselbe Rolle spielt, wie in der bisher behandelten das Wort: die Anschauung einer Situation, eines Bildes, einer Handlung, – sei es in der Wirklichkeit, sei es in der Vermittlung durch bloße Schilderung, – welche eine Incongruenz zu den in unserem Kopfe vorhandenen begrifflichen Voraussetzungen ergiebt.
Der Ursprung des Lachens, welches uns beim Anblick eines unzureichend Bekleideten überkommt, manchmal trotz unseres gleichzeitigen Mitleids, ordnet sich dieser Gattung des Lächerlichen ein. Es drängt sich uns dabei die Wahrnehmung einer Incongruenz auf gegen den allgemeinen Gebrauch, sich der Temperatur entsprechend zu kleiden. Zugleich sehen wir an diesem Beispiel, daß es gar nicht immer nothwendig ist, das betreffende Begriffliche auszusprechen, nur muß es im Kopf des Lachenden vorhanden sein. Altmodische oder auffällige Anzüge üben aus ähnlichem Grunde eine leichte komische Wirkung aus, ebenso wie ein plötzliches Stolpern, und das um so mehr, je gravitätischer der Gang vorher war. Auch die Bewegungen der Affen buchen für uns etwas Lächerliches, weil wir durch eine gewisse Aehnlichkeit jener mit dem Thun und Treiben der Menschen veranlaßt werden, den Begriff des Menschenthums unbewußt anzuwenden, von dem aus dann freilich sich zahlreiche Incongruenzen einstellen. Hier muß auch die erheiternde Wirkung der Münchener und anderer Bilderbogen genannt werden; die Anschaulichkeit wird durch die carikirten oder doch derb realistischen Illustrationen vermittelt, und so hat Meister Busch schon manche Grille hinweggescheucht.
Handlung ist das Element des Lustspiels, der Komödie. Das Komische derselben muß daher zum größten Theil in diese Gattung des Lächerlichen in die der närrischen Handlungen einzureihen sein. Begriff und Grundsatz, nach welchem gehandelt wird, ist dabei im Allgemeinen ganz richtig, nur unter den zur Darstellung gebrachten Verhältnissen ergiebt sich eine Incongruenz. Beispiele anzuführen, kann hier wohl füglich unterbleiben; jedes Lustspiel bietet deren eine Fülle.
Die Begriffe, welche wir als vorweg bestehend bei dieser Gattung des Lächerliche vorauszusetzen haben, sind entweder unsere eigenen oder die eines Anderen. Während wir im ersteren Falle eine belustigende Ueberraschung spüren, lachen wir andernfalls über den Andern, halten ihn bei öfterer Wiederholung in der unbewußte Erzeugung jener Incongruenzen für einen Narren. Wer nun den Narren oder Lustigmacher zu spielen hat, muß geflissentlich solche Begriffe und Handlungen in Beziehung bringen, welche eben Inkongruenzen aufzeigen. So muß also eigentlich der Komiker erst einen Witz in seinem Kopfe produciren, den er jedoch nicht ausspricht; er begeht vielmehr eine solche Handlung, als ob das Paradoxe zwischen dieser und seiner Maxime ihm verborgen geblieben wäre. Indem dieses sich nun dem Zuschauer aufdrängt, erzielt der Narr die Wirkung, das heißt die belustigende Ueberraschung, welche er erst vorbereitet hatte.
Zur Narrheit gehören auch alle sogenannten Don-Quixoterien. Es werden dabei vorgefaßte, meist romantische oder moralische Begriffe auf niedrige Alltäglichkeiten angewendet. Bei aller Idealität des Charakters bringt es deshalb der Ritter Don Quixote, wie auch sein modernes Ebenbild Don Larioz, nur zu Ungereimtheiten und zu Schaden an Leib und Seele. Während hier wirklich vollzogene oder als solche mögliche Handlungen vorliegen, wird es bei den Münchhauseniaden versucht, mit der ernstesten Miene von der Welt unmögliche Handlungen als vollzogene dem Zuhörer aufzubinden.
Zur Narrheit gehört endlich auch die Pedanterie. Sie besteht darin, daß man dem eigenen Verstande mißtraut, im gerade vorliegenden Falle das Richtige unmittelbar zu treffen, und dazu lieber die Vernunft zu Hülfe ruft, das heißt immer von allgemeinen Regeln, Begriffen, Maximen ausgeht. Da nun diese nie für alle Fälle passen, nie die Mannigsfaltigkeit der realen Welt erreichen können, da, „so fein auch die Mosaik des abstracten Wissens sein mag, doch die Grenzen der Steine stets bleiben und nicht der stetige Uebergang und die feinen Modificationen des Anschaulichen erreicht werden können“, so geräth auch der Pedant allerorten in Differenzen und zeigt sich unklug und unbrauchbar. In diesem Sinne ist auch das Wort Vauvenargues’[WS 1] treffend, daß Niemand größere Fehler mache, als derjenige, der nur nach Reflexion handle.
Unsere Theorie des Lächerlichen erschließt uns auch das Wesen des Ernstes. Besteht jenes in einer eintretenden Incongruenz zwischen Gedachtem und Veranschaulichung, so ist letzterer die ungestörte Uebereinstimmung dieser beiden Vorstellungsarten. Der Ernste ist überzeugt, daß er die Dinge denkt, wie sie sind, und daß sie sind, wie er sie denkt. Aber eben darum ist dann auch der Uebergang vom Ernste zum Lachen gerade durch Kleinigkeiten zu bewirken, und wer des ganzen Ernstes fähig ist, kann um so herzlicher lachen. Das wesentlich Subjektive dieses ganzen seelischen Processes beim Lachen aber erklärt eben, daß derselbe Witz bei verschiedenen Personen in verschiedenem Grade zum Lachen reizt; bei Leuten ohne geistiges Leben, ohne Gedanke und Begriffe, versagt auch die beste Leistung Saphir’s – oder aber sie lachen über Alles. Daß das Prädicat „lächerlich“ so beleidigend ist, wo man von ernsten Dingen spricht, ist nun auch leicht zu erklären, indem mit ihm gerade ausgesagt wird, daß zwischen Begriffen und Wirklichkeit nicht alles in Ordnung ist, wie denn auch das Hohngelächer eines Verzweifelnden den Eintritt der Erkenntniß bezeichnet, wie wenig die ihm schrecklich enthüllte Wirklichkeit gedeckt wird durch die Gedanken und Hoffnungen, welche er von Schicksal und Menschen gehegt hatte.
Wenn man noch fragen wollte, warum denn die Wahrnehmung einer Incongruenz des Gedachten und Wirklichen uns lachen mache, so wäre eine Antwort darauf nur durch eine weitere Theorie oder Hypothese möglich, welche gewissermaßen noch weiter hinter die Oberfläche des Wissens zurückgehen müßte. Sie muß außerhalb des Rahmens unserer heutigen Betrachtungen liegen. – Nach einem Ausspruche Voltaire’s bedarf man, um langweilig zu sein, nur Eines: man muß Alles sagen; ich will zum Schlusse die Hoffnung aussprechen, daß ich mich heute in dieser Beziehung nicht versündigt habe.
Noch einmal die deutsche Kunst auf der Pariser Weltausstellung. Zu unserem mit diesem Gegenstand sich beschäftigenden Artikel in Nr. 42 der „Gartenlaube“ noch eine Ergänzung: Der als Autor des Entwurfes zu den beiden Pforten des Ausstellungssaales erwähnte Münchener Bildhauer heißt Gedon. Lorenz Gedon aber hat nicht nur den Entwurf zu diesen Pforten gefertigt, sondern der Entwurf zu der Anordnung und Ausschmückung des Ausstellungssaales überhaupt rührt ganz allein von ihm her. Im vorigen Jahre hatte er auf der kunstgewerblichen Ausstellung in München das Arrangement und die Ausführung der Abtheilung „Unserer Väter Werke“ ganz selbstständig besorgt und dadurch einen großen Theil zu dem bedeutenden Erfolge der Ausstellung beigetragen. Der umsichtige Oberleiter der deutschen Kunstausstellung in Paris, Anton von Werner, hatte in Gedon den Mann richtig erkannt, der mit wahrhaft künstlerischem Geschmack mit einer von warmem Patriotismus getragenen Thatkraft in der gegebenen kurzen Frist jenen so wesentlichen Theil der Aufgabe vorbereiten und durchführen konnte. Wie jeder große Feldherr weiß, welche Aufgaben er seinen einzelne Generalen stellen kann, so hat Anton von Werner sein Feldherrntalent bewiesen, indem er Gedon mit vollem Vertrauen in jener Richtung ganz selbstständig nach eigenem Plane vorgehen ließ.
Gedon hat, was daheim vorzubereiten möglich war, in München nach seinen Entwürfen, unter seinen Augen und seiner Leitung fertigen lassen. Mit dieser Ausrüstung und umgeben von seinem Generalstabe zog er etwa eine Woche vor Beginn der Ausstellung in’s Feld. Dieser Stab bestand aus seinem Freunde, dem Maler Heinrich Lossow, und zweiunddreißig schlichten, aber guten und erprobten Münchener Arbeitern.
Wie er alle in München mit den Vorarbeiten Beschäftigte zu rastlosem Eifer und außergewöhnlicher Thätigkeit anspornte, so hat Gedon seinen Generalstab mit dem patriotischen Gedanken beseelt, daß es gelte, eine deutsche That zu thun, den Siegen auf blutigem Schlachtfelde einen neuen auf dem friedlichen Felde der Kunst anzureihen.
Wir haben gesiegt. Die deutsche Kunstausstellung in Paris übertraf, wie unser Artikel mit Recht hervorhebt, „als Ganzes in ihrer edeln Würde, ihrer geschmackvollen Einrichtung und Ausstattung, ihrer einladenden freundlichen Stimmung die ganze lange Reihe der Nachbarn – ihr kleiner Saal war der schönste der gesammten Kunstausstellung aller Völker.“ Und das war – wie wir gern hinzufügen – wesentlich das Werk Lorenz Gedon’s.
gingen ferner ein: Reinertrag eines Concerts des Gesangvereins zu Gröditz M. 18.35; C. K. in London M.15; Wilh. Müller in Straßburg i. E. M. 3; Revierförster Schmidt im Morgenröthe M. 5; Sammlung der Expedition des „Freiberger Anzeigers und Tageblatts“ M. 49.50; A. in Vallene M. 1; O. R. in W. M. 12.50; gesammelt in Bergheim durch Kreisrentmeister Schäfer M. 7; H. C. M. 5; Sammlung des Männer-Turnvereins in Hettstädt M. 3; „Deutscher Hülfsverein“ in Lausanne M. 25.96; in kleinem Kreise gesammelt in Laupheim M. 12.
Wir schließen hiermit unsere Sammlung und haben den Gesammtbetrag derselben mit M. 7135.43 an den Vorstand der „Marien-Stiftung Frauengabe-Berlin-Elberfeld“ in Berlin eingesandt. Besten Dank den Gebern!
- ↑ Le grand ballon captif à vapeur de M. Henri Giffard. Avec de nombreuses illustrations. Paris. G. Masson. 1878.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Vauvenargue’s