Die Gartenlaube (1878)/Heft 20
Am nächsten Morgen, als die Glocken des Domes läuteten, schritt Hofrath Moser, seine Tochter am Arme, langsam und würdevoll nach der Kirche, um dort seinen gewohnten Platz einzunehmen. Die Aufmerksamkeit des frommen alten Herrn war natürlich nur auf den Gottesdienst gerichtet, und deshalb bemerkte er nicht, daß Agnes nicht wie sonst mit niedergeschlagenen Augen andachtsvoll im Kirchstuhl saß, sondern halb ängstlich und halb erwartungsvoll umherspähete. Sie brauchte nicht allzu lange zu suchen; kaum zwölf Schritte von ihr entfernt, in der Nähe der Kanzel, stand Doctor Brunnow und spähete gleichfalls erwartungsvoll umher. Die beiden Augenpaare, die sich mit solchem Eifer suchten, mußten sich nothgedrungen begegnen. Das geschah denn auch, und als Max sah, wie das blasse, zarte Gesichtchen in freudigster Ueberraschung aufleuchtete und von einer förmlichen Rosengluth übergossen wurde bei seinem Anblick, als er einen dankbar innigen Blick der dunklen Augen auffing, die ihm noch nie so ausdrucksvoll erschienen waren, wie heute, da dachte er weder an sein Programm noch an dessen Paragraphen; er dachte nur, daß dieser Kirchenbesuch doch auch seine großen Annehmlichkeiten habe, und setzte sich mit einer Energie nieder, die seinen Entschluß, die ganze Predigt von Anfang bis zu Ende auszuhalten, auf das Deutlichste bekundete.
Er hörte nun allerdings die Predigt, ob mit oder ohne Andacht, mochte dahingestellt bleiben, aber dafür hatte er einer der eifrigsten Kirchgängerinnen alle Andacht geraubt. Es ließ sich wirklich schwer entscheiden, wer von den Beiden eigentlich der Bekehrte war. –
Am Nachmittage desselben Tages fand nun wirklich die beabsichtigte Zusammenkunft statt, die der Zufall außerordentlich begünstigte. Hofrath Moser hatte die Einladung eines Collegen angenommen und befand sich in der Stadt. Frau Christine war gleichfalls ausgegangen; es bedurfte also nicht einmal eines Vorwandes, und der Besuch Gabrielens bei Agnes Moser einerseits und das Eintreffen des Assessor Winterfeld, der seinen Vorgesetzten verfehlte, andererseits machten sich so zwanglos, daß beides immerhin für einen Zufall gelten konnte.
„Verzeih, daß ich zu diesem Mittel griff!“ sagte Georg hastig, sobald er sich mit Gabriele allein sah. „Mir blieb keine Wahl, und ich habe es dem Freiherrn offen erklärt, daß ich es auch gegen seinen Willen versuchen werde, Dich noch einmal zu sehen und zu sprechen. Ich komme, Dir Lebewohl zu sagen – vielleicht auf Jahre.“
Gabriele war bleich geworden, und ihre Augen hafteten mit dem Ausdruck des Schreckens auf dem Redenden.
„Um Gotteswillen – was ist geschehen?“
„Nichts von meiner Seite, was Dich beunruhigen könnte. Es ist die Hand Deines Vormundes, die uns so unerbittlich trennt. Er kündigte mir gestern meine Versetzung nach der Residenz und an das Ministerium an. Du siehst, wie weit sein Einfluß reicht und wie er ihn zu brauchen weiß, wenn es gilt, uns von einander zu reißen.“
„Nein, nein, Du darfst nicht fort,“ rief Gabriele angstvoll und schmiegte sich, wie Schutz suchend, an ihn. „Du darfst mich jetzt nicht verlassen, Georg. Nur jetzt laß’ mich nicht allein!“
„Weshalb nicht?“ fragte er betroffen. „Quält man Dich so sehr um meinetwillen? Freilich, ich hätte es ahnen können! Raven ist hart und rücksichtslos bis zur Grausamkeit, sobald man sich gegen seinen Willen auflehnt. Du wirst mit Vorwürfen, mit Quälereien und Drohungen verfolgt, nicht wahr, Gabriele? Man bietet Alles auf, Deinen Widerstand zu brechen? Sprich, ich muß die Wahrheit wissen.“
Das junge Mädchen machte eine matte, verneinende Bewegung.
„Du irrst, davon ist keine Rede. Mein Vormund hat seit jenem Tage, wo er mir erklärte, daß er unwiderruflich bei seinem Nein bleibe, Deinen Namen nicht wieder genannt und auch die Mama veranlaßt, mich mit den Vorwürfen zu verschonen, mit denen sie anfangs auf mich einstürmte, aber er geht seitdem mit einer Eiseskälte an mir vorüber, und ich – Georg, ist es denn nicht möglich, daß Du in meiner Nähe bleibst?“
„Ich kann nicht,“ sagte Georg, der selbst nur mit Mühe seine tiefe Erregung beherrschte. „Ich muß dem Rufe folgen; es ist unmöglich, ihn abzulehnen. Unter anderen Umständen würde ich diese neue Lebensrichtung ja mit Freuden begrüßen; sie eröffnet mir eine ganz andere Zukunft als meine Stellung hier in R., wo das Uebergewicht, das der Freiherr nach allen Richtungen hin ausübt, jede selbstständige Regung und jedes eigene Streben unterdrückt, aber ich weiß nur zu gut, daß diese sogenannte Beförderung nur den Zweck hat, mir mein Höchstes, Theuerstes, Deine Liebe, zu rauben und Dich mir auf immer zu entreißen. Dein Vormund hat zwei mächtige Bundesgenossen zu Hülfe gerufen, die Zeit und die Entfernung. Vielleicht verhelfen sie ihm doch zum Siege.“
[324] „Niemals!“ brach Gabriele leidenschaftlich aus. „Er soll und wird nicht siegen. Ich habe es Dir versprochen, ich halte Wort.“
Georg hörte nicht die verhaltene Angst, die auch jetzt wieder in dem Tone lag; er hörte nur die ungewohnte Willenskraft darin, und trotz der Abschiedsstunde leuchtete in seinem Antlitz ein Strahl des Glückes auf. Er hatte nur zu sehr gefürchtet, die Geliebte auch jetzt wieder so kindisch, so sorglos und gleichgültig gegen die Trennung zu finden, wie einst, wo sie seinem Schmerz auch nicht das mindeste Verständniß entgegenbrachte. Es beseligte ihn unendlich, daß auch sie seine Trennung so schmerzlich empfand, daß sie ihn so angstvoll zurückzuhalten strebte, und ihr leidenschaftlich gegebenes Versprechen erfüllte ihn mit nie gekanntem Entzücken. Im überströmenden Gefühl beugte er sich nieder und küßte ihre Hand.
„Ich danke Dir,“ sagte er innig. „Aber Du bist seltsam verändert, seit wir uns nicht gesehen haben. Wo ist denn die sonnige Heiterkeit meiner Gabriele geblieben, die sonst, noch mit der Thräne im Auge, schon wieder lächeln konnte? Einst sagtest Du mir im Scherze: ‚Du kennst meine eigentliche Natur noch gar nicht.‘ Ich habe sie wirklich nicht gekannt – das fühle ich in diesem Augenblicke.“
Das junge Mädchen blieb die Antwort schuldig, aber die rosigen Lippen hatten in der That das Lächeln verlernt; sie schienen ein geheimes Weh zu verschließen, das sich nicht in Worten erleichtern konnte.
„Verzeih, wenn ich Dich verkannte!“ fuhr Georg mit steigender Zärtlichkeit fort. „Ich bekenne es – ich habe oft an Dir gezweifelt und mit Bangigkeit der Stunde entgegengesehen, die den unausbleiblichen Kampf mit Deiner Familie bringen mußte. Jetzt sehe ich, daß Du auch tief und ernst empfinden kannst, und jetzt glaube ich an Dich und Deine Liebe, auch wenn ein Raven mit seinem Machtgebote dazwischen tritt.“
Gabriele zuckte bei den letzten Worten zusammen; sie hob das gesenkte Auge empor. Es war ein Blick, den Georg nicht zu enträthseln vermochte, ein Blick voll Angst, Schmerz und rührender Bitte, aber schon im nächsten Momente wurde das Alles verdunkelt von einem Thränenstrom, der unaufhaltsam hervorstürzte.
„Meine arme Gabriele,“ flüsterte der junge Mann zu ihr niedergebeugt. „Du bist so wenig an Leid und Kummer gewöhnt, und gerade ich muß es sein, der sie Dir bringt. Aber wir waren ja darauf gefaßt, für unsere Liebe zu kämpfen; jetzt ist die Zeit da; wir müssen ertragen und überwinden. Vielleicht bereut Freiherr von Raven es doch noch einmal, in solcher Weise die Vorsehung gespielt zu haben. Er entläßt einen Feind mehr in die Welt und keinen so unbedeutenden, wie er glaubt.“
Gabrielens Thränen stockten; sie entzog dem Sprechenden die Hand, die er noch in der seinigen hielt. „Ihr seid – Feinde geworden?“
„Ich bin längst der Gegner Ravens gewesen. Frage mich nicht weshalb! Dir gegenüber kann und will ich Deinen Vormund und Verwandten nicht anklagen; das gehört vor ein anderes Forum. Aber glaube mir, er hat viel Haß und Feindschaft herausgefordert, hat seine Macht oft genug in einer Weise gebraucht, die unheilvoll geworden ist für seinen Wirkungskreis und einst noch unheilvoll für ihn selber werden wird. Er that nicht gut daran, mich mit eigener Hand aus dem Bannkreise seiner Persönlichkeit zu stoßen, der mich, wie so viele Andere, gefesselt hielt und dem ich mich nicht entziehen konnte, obgleich ich fühlte, daß er meine Willenskraft lähmte. Doctor Brunnow warnte mich nicht umsonst vor der dämonischen Macht dieses Mannes; auch mich hat sie oft bewundern gelehrt, wo ich hätte verurtheilen sollen. Jetzt ist der Bann gebrochen, und dort in der Residenz fallen auch die Rücksichten, die mich meinem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber banden.“
„Was meinst Du?“ fragte Gabriele unruhig. „Ich verstehe Deine Andeutungen nicht.“
„Du sollst sie auch nicht verstehen,“ sagte Georg fest, „aber versprich mir eins! Was Du auch hören magst, glaube nicht, daß persönliche Feindschaft oder niedrige Rache für einen versagten Wunsch mich zum Handeln treibt. Ich hatte längst beschlossen, den Kampf mit dem Gouverneur unserer Provinz aufzunehmen, weil er angenommen werden mußte und weil sich sonst Niemand fand, der es wagte, dem allmächtigen Raven die Stirn zu bieten. Ich hatte meine Waffen bereit – da lernte ich Dich kennen und erfuhr, daß der Mann, den ich auf Tod und Leben bekämpfen wollte, mein ganzes Lebensglück in Händen hielt, und da sank mir der Muth. Es mag unrecht, mag feige gewesen sein, aber ich möchte den sehen, der an meiner Stelle anders gehandelt, der es vermocht hätte, sich selbst all die Liebes- und Lebenshoffnungen zu zerstören, die ihm eben erst erblüht waren. Jetzt sind sie zerstört. Dein Vormund hat mir mit grenzenloser Härte auch für die Zukunft Deine Hand versagt, er, der nicht mehr wie ich zu bieten hatte, als er um die Tochter des Ministers warb. Wir sind als offene Gegner geschieden; jetzt werde ich mich nur noch von dem leiten lassen, was ich für Pflicht anerkenne. Und nun – lebe wohl!“
Gabriele hielt ihn zurück. „Georg, so darfst Du nicht von mir gehen, nicht mit diesen dunklen Drohungen, die mich namenlos ängstigen. Was hast Du vor? Ich will und muß es wissen.“
„Erlaß mir das!“ sagte der junge Mann, sanft, aber entschieden ablehnend. „Um Deiner selbst willen darf ich Dir die Mitwissenschaft nicht auferlegen. Du bist nicht frei wie ich. Du bleibst hier in der Nähe Deines Vormundes, im täglichen Verkehr mit ihm. Du würdest es wie eine Schuld empfinden, hättest Du auch nur in Gedanken Antheil an irgend Etwas –“
„Das ihn bedroht?“ fiel Gabriele mit so eigenthümlich vibrirender Stimme ein, daß Georg stutzte.
„Den Freiherrn von Raven meinst Du?“ sagte er langsam. „Traust Du mir irgend etwas Ehrloses zu?“
„Nein, nein – aber ich fürchte – für Dich, für uns Alle.“
„Sei ruhig, ich kämpfe mit offenem Visir und spreche im Namen von Hunderten, die nicht zu sprechen wagen. Der Gouverneur von R. mag antworten, wie es ihm gut dünkt. Er ist der Mächtige, dessen Stimme vor allem gehört wird; die Gefahr ist allein auf meiner Seite, aber auch das Recht. – Und nun laß uns scheiden! Wenn es irgend möglich ist, so erhältst Du Nachricht von mir aus der Residenz, aber wenn auch keine einzige Zeile bis zu Dir gelangen sollte, Du weißt es ja, daß Du allein mein ganzes Denken und Streben ausfüllst und daß ich mein Recht auf Deine Hand nicht fahren lasse, ich müßte denn aus Deinem eigenen Munde hören, daß Du mich aufgiebst.“
Er zog sie in seine Arme, zum ersten Male wieder seit jenem Tage, wo er ihr seine Liebe gestanden hatte. Der Abschied war kurz und schmerzvoll; noch ein paar innig und leidenschaftlich geflüsterte Worte, ein letzter Händedruck – dann riß sich Georg los und ging.
Gabriele war auf einen Sessel niedergesunken und hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Thräne auf Thräne tropfte zwischen den Fingern nieder, und doch galt dieses leise, halb unterdrückte Weinen nicht der Trennung allein. Es war noch ein anderes, unnennbares Weh, das durch die Seele des jungen Mädchens zog und mit geheimnißvoller, aber furchtbarer Gewalt die ganze Vergangenheit auszulöschen drohte. Georg hatte Recht; er kannte Gabrielens eigentliche Natur bisher wirklich noch nicht, wenn diese Natur sich aber auch jetzt entschleierte – er war es nicht, der sie geweckt hatte.
Die letzten Wochen im Raven’schen Hause waren allerdings nichts weniger als angenehm gewesen. Zwar hatte sich dort im äußeren Leben nichts geändert; man sah und sprach sich nach wie vor bei Tische und bei gesellschaftlichen Veranlassungen, aber die frühere Unbefangenheit des Verkehrs hatte einer Gezwungenheit Platz gemacht, die wie ein schwerer Druck auf jedem Einzelnen lastete. Die Baronin fand sich in ihrer gewohnten Oberflächlichkeit noch am leichtesten damit ab. Sie begriff gar nicht, wie ein unbedeutender und flüchtiger Liebesroman, der ja nicht viel mehr als eine Kinderei war, den Freiherrn so tief und nachhaltig verstimmen konnte. In ihren Augen war die Sache mit dem energischen Verbot ihres Schwagers und der Entfernung des Assessor Winterfeld aus R. vollständig zu Ende und Gabriele mußte jetzt zweifellos zur Besinnung kommen. Die Mutter hatte ein, wie sie meinte, unfehlbares
[325] Mittel in Bereitschaft, um jenen romantischen Jugendtraum bei ihrer Tochter in den Hintergrund zu drängen – die Bewerbung des jungen Lieutenant Wilten, der mit seinen Absichten jetzt deutlicher hervortrat.
Oberst Wilten hatte seit jenem Festabende, wo er bemerkte, wie sehr sein ältester Sohn von dem Anblicke und den Reizen der jungen Baroneß Harder gefesselt war, den Plan einer Verbindung festgehalten. Da der Freiherr sich den ersten Andeutungen gegenüber sehr unzugänglich zeigte, so wandte der Oberst sich an die Baronin, die er denn auch seinen Wünschen geneigter fand. In der That ließ sich nicht viel gegen die Partie einwenden, die selbst einer anspruchsvollen Mutter genügen konnte. Die Wilten gehörten einem altaristokratischen Geschlechte an und waren mit den vornehmsten Familien des Landes verwandt oder verschwägert. Sie waren allerdings nicht reich, aber dieser Mangel wurde durch Gabrielens Mitgift und dereinstiges Vermögen abgeglichen, wenn, wie es zu erwarten stand, der Freiherr die Verbindung genehmigte. Albrecht von Wilten war ein junger, hübscher Officier, dem die Uniform vorzüglich stand und der ebenso vorzüglich ritt und tanzte. Er war ein liebenswürdiger Cavalier, wußte angenehm zu unterhalten und schien Gabriele wirklich tief und aufrichtig zu lieben. Kurz, er besaß alle Eigenschaften, welche Frau von Harder von ihrem künftigen Schwiegersohne verlangte, und der Oberst und dessen Gemahlin, denen die präsumtive Erbin des Freiherrn von Raven als Schwiegertochter sehr erwünscht war, überhäuften Mutter und Tochter mit Aufmerksamkeiten.
Die Baronin sondirte zuvörderst bei ihrem Schwager. Sie machte freilich die unangenehme Entdeckung, daß Gabriele durch ihren Trotz und Eigensinn das frühere Wohlwollen des Vormundes vollständig verscherzt hatte, denn er nahm den ganzen Plan mit eisiger Gleichgültigkeit auf. Er erklärte zwar, daß er nichts dagegen einzuwenden habe, verweigerte aber jedes Eingreifen seinerseits und überließ Alles der Mutter allein. Diese gewann indeß die tröstliche Ueberzeugung, daß ihre Tochter als Baronin Wilten im ungeschmälerten Besitz all’ der Rechte bleiben werde, die das Testament des Freiherrn ihr verhieß, und damit fiel auch das letzte Bedenken. Gabriele durfte allerdings von dem Plane noch nichts wissen; sie schien den jungen Officier nicht ungern zu sehen, verhielt sich aber ihm gegenüber ziemlich kühl und zurückhaltend und legte seinen Huldigungen offenbar keine tiefere Bedeutung bei. Sie weigerte sich deshalb auch nicht, die Mutter zu begleiten, als diese eine Einladung nach dem Wilten’schen Landsitze annahm, der einige Meilen von der Stadt entfernt am Fuße des Gebirges lag. Die kränkliche Gattin des Obersten pflegte dort den Sommer zuzubringen; sie war noch nicht wieder nach R. zurückgekehrt, und da der Herbst noch schöne, sonnige Tage versprach, so ruhte Lieutenant Wilten nicht, bis er die Zusage eines Besuches erhielt. Er nahm natürlich sofort Urlaub, um den Damen bei diesem Herbstaufenthalt Gesellschaft zu leisten, und auch der Oberst machte sich auf kurze Zeit von den Pflichten seines Dienstes frei. Die Sache war also angeknüpft, und man beschloß, das Weitere den jungen Leuten selbst zu überlassen.
Der Freiherr, dem die Einladung gleichfalls galt, hatte sich mit der Ueberhäufung von Geschäften und der Nothwendigkeit entschuldigt, bei der fortgesetzt unruhigen Stimmung, die in der Stadt herrschte, auf seinem Posten zu bleiben. Die Damen reisten also allein ab, und Gabriele athmete auf, als der Wagen aus dem Portal des Regierungsgebäudes rollte. Sie hatte unter den Erlebnissen der letzten Wochen am schwersten gelitten, und doch hatte Raven Wort gehalten; kein Blick, kein Laut erinnerte sie mehr an jenen „unbewachten Augenblick“, den sie vergessen sollte, wie er ihn vergessen zu haben schien. Er nannte den Namen Georg Winterfeld’s nicht wieder seit dem Tage, wo er dem jungen Mädchen ankündigte, daß der Assessor R. verlassen habe, um seine Stellung in der Residenz anzutreten, doch der Freiherr selbst war seitdem noch verschlossener und unzugänglicher, als sonst. Er beherrschte und leitete Alles mit gewohnter Energie, aber zwischen ihm und Gabriele schien sich eine endlose Kluft aufgethan zu haben, die jede Möglichkeit der Annäherung oder Versöhnung ausschloß. Es lag eine Eiseskälte in seinem Benehmen gegen sie, und sie griff mit einer förmlichen Hast nach dem Vorschlage der Mutter, nur um auf kurze Zeit einem Zusammenleben zu entgehen, das mit jedem Tage unerträglicher wurde. Auch Raven schien die Trennung zu wünschen, denn er hatte nichts gegen den Ausflug einzuwenden und gab sofort seine Einwilligung, als die Baronin ihn auf volle vierzehn Tage ausdehnte.
Es war am letzten Tage dieses Aufenthaltes, als der Gouverneur nach dem Wilten’schen Landsitze hinausfuhr, um die Damen abzuholen. Die Baronin hatte sich eine Erkältung zugezogen und wagte es nicht, bei der ziemlich rauhen Witterung eine Fahrt von mehreren Stunden zu unternehmen. Sie wollte erst am nächsten Tage in Begleitung des Obersten und seiner Gattin nach der Stadt zurückkehren während Gabriele den Vormund schon heute zurückbegleiten sollte. Raven, der in den Vormittagsstunden gekommen war, wollte gleich nach Tische wieder fort, und Oberst Wilten bemühte sich vergeblich, ihn gleichfalls zum Bleiben zu bewegen.
„Ich kann nicht,“ sagte der Freiherr, während Beide, im Gespräch begriffen, im Gartensalon auf und nieder schritten. „Ich darf unter den jetzigen Umständen die Stadt nicht auf länger als höchstens einige Stunden verlassen und habe selbst für diese kurze Abwesenheit Anordnungen getroffen, um sofort erreichbar zu sein, wenn irgend etwas vorfällt.“
„Ist die Lage so bedrohlich?“ fragte der Oberst, der seit acht Tagen auf seinem Gute war.
„Bedrohlich?“ Raven zuckte die Achseln. „Man schreit und lärmt noch ärger als sonst und giebt mir durch gelegentliche Krawalle das Mißfallen der guten Stadt R. an meiner Person und meinem Regiment hinreichend zu erkennen. Ich habe einige der ärgsten Schreier, die in offener Versammlung die Nothwendigkeit meiner Absetzung decretirten, ergreifen und dingfest machen lassen, und darüber giebt es nun Empörung an allen Ecken und Enden. Der Bürgermeister war selbst bei mir, um im Namen der Gerechtigkeit die Freilassung der Verhafteten zu verlangen. Ich war genötigt, dem Herrn bemerklich zu machen, daß meine Geduld jetzt erschöpft sei, und daß ich in anderer Weise eingreifen werde, als es bisher geschehen ist.“
Die Worte verrieten trotz ihres sarkastischen Anfluges doch eine tiefe Gereiztheit, auch Wilten war ernst geworden.
„Es gährt schon seit Monaten,“ bemerkte er. „Wenn der drohende Ausbruch bisher vermieden wurde, so danken wir das nur dem äußerst taktvollen Benehmen des Polizeidirectors.“
„Er und seine Beamten werden aber der wachsenden Aufregung nachgerade machtlos gegenüber stehen; der Polizeidirector liebt viel zu sehr die halben Maßregeln, als daß ich mich ernstlich auf ihn verlassen könnte. Was ich auch befehlen und anordnen mag, ich finde stets ein gefügiges Entgegenkommen, aber sobald es sich um die Ausführung handelt, giebt es Hindernisse und Zögerungen ohne Ende, und wir kommen nicht von der Stelle. – Es ist mir lieb, daß Sie morgen ohnehin nach der Stadt zurückkehren; ich hätte Sie sonst ersucht, Ihren Urlaub abzukürzen. Sie sind Commandant der Garnison, und ich weiß nicht, ob und wie bald ich das Militär brauchen werde.“
„Excellenz, das sollten Sie lieber vermeiden,“ sagte der Oberst eindringlich. „Das sind Gewaltschritte, die nicht mehr zurück gethan werden können, und Sie wissen, meine Instructionen –“
„Weisen Sie an, die Garnison zu meiner Verfügung zu stellen!“ fiel der Freiherr ein.
„Nein, sie weisen mich nur an, Ihnen im äußersten Nothfalle meine Unterstützung zu leihen,“ entgegnete der Oberst, gereizt durch den herrischen Ton, „und man wünscht beim Armeecommando ernstlich, daß dieser Fall vermieden werde. Es läßt sich da wirklich kaum eine Grenze ziehen, wo Ihre Verantwortung aufhört und wo die meinige beginnt. Ich würde Bedenken tragen, jetzt schon das Militär eingreifen zu lassen.“
„Das ist natürlich,“ sagte Raven kurz. „Sie sind Soldat und gewohnt, sich der Disciplin zu beugen; ich habe mir von jeher in meiner Stellung die Freiheit und Unabhängigkeit des Handelns gewahrt. Seien Sie indeß überzeugt, daß ich thun werde, was in meinen Kräften steht, um Ihnen das Bedenken zu ersparen!“
„Wir wollen hoffen, daß es nicht zum Aeußersten kommt,“ lenkte der Oberst ein, der nichts weniger wünschte, als den Freiherrn zu erzürnen. Er rechnete gerade jetzt sehr auf dessen Freundschaft, und da er voraussah, daß das bisherige Gesprächsthema [326] nur Gelegenheit zu neuer Reizung geben werde, ließ er es fallen und ging zu einem anderen über, das ihm nahe am Herzen lag.
„Ich kehre jedenfalls morgen auf meinen Posten zurück,“ begann er wieder. „Mein Albrecht ist schon seit einigen Tagen wieder in der Stadt; es ist ihm freilich schwer genug geworden, sich loszureißen und den Pflichten seines Dienstes zu folgen. Er liegt ganz und gar in den Fesseln einer gewissen jungen Dame.“
Raven schwieg; er blieb wie zufällig an der Balconthür stehen und blickte halb abgewendet in den Garten hinaus.
„Ich darf wohl annehmen, daß Ihnen die Wünsche und Hoffnungen meines Sohnes nicht mehr unbekannt sind,“ fuhr Wilten fort, „Wünsche, die meine Frau und ich im vollsten Maße theilen. Wenn wir dabei auch auf Ihre Unterstützung rechnen dürften –“
„Hat sich Lieutenant Wilten bereits erklärt?“ unterbrach ihn der Freiherr, noch immer in seiner Stellung verharrend.
„Noch nicht! Fräulein von Harder nahm eine etwas zurückweisende Haltung an, und Albrecht wagte es daher nicht, sogleich mit seiner Bitte hervorzutreten. Ihnen gegenüber wird er das aber schon in den nächsten Tagen thun. Er darf doch wohl auf Ihre Fürsprache rechnen, das Wort eines Vaters ist ein mächtiger Beistand.“
„Eines Vaters!“ wiederholte Raven; es klang wie die herbste Ironie.
„Nun, oder dessen, der die Stelle des Vaters vertritt. Auch die Frau Baronin meint, daß Ihre Autorität bei ihrer Tochter schwer in’s Gewicht fallen werde.“
Raven fuhr mit der Hand über die Stirn und wandte sich langsam um.
„Sobald Lieutenant Wilten sich mir erklärt hat, werde ich Gabrielen seinen Antrag mittheilen und ihre Antwort fordern. Beeinflussen kann und will ich mein Mündel nicht.“
„Davon ist ja auch keine Rede,“ fiel der Oberst ein. „Wenn die junge Baroneß aber einwilligt, so handelt es sich doch vor allen Dingen um die Zustimmung des Vormundes. Die Frau Baronin hat meinem Sohne Hoffnung darauf gemacht.“
„Ich habe meiner Schwägerin bereits erklärt, daß ich nichts einzuwenden habe,“ sagte der Freiherr, dessen Lippen zuckten, als erduldete er eine innere Marter, während seine Stimme die gewohnte Ruhe behielt. „Die Entscheidung aber hängt einzig und allein von Gabriele ab. Will die Mutter sie beeinflussen, so mag sie es thun – ich enthalte mich jedes persönlichen Eingreifens.“
Der Oberst schien betroffen und ein wenig beleidigt durch diese kühle Aufnahme seiner Pläne, aber er schrieb sie der Verstimmung zu, in welche die Ereignisse in der Stadt den Gouverneur versetzt hatten. „Ich begreife, daß Sie jetzt den Kopf voll von ganz anderen Dingen haben,“ erwiderte er. „Aber wenn solch ein junger Hitzkopf, wie mein Albrecht, verliebt ist, so fragt er nicht viel darnach, ob Zeit und Umstände seiner Werbung auch günstig sind, und will sich durchaus nicht zum Warten bequemen. – Um aber wieder auf die Abreise zu kommen; wäre es nicht besser, Sie ließen die Damen noch eine Zeitlang hier? Der Aufenthalt in R. ist jetzt nicht angenehm, und meine Frau würde sich mit Freuden entschließen, um ihrer lieben Gäste willen den Landaufenthalt zu verlängern.“
„Ich danke,“ lehnte Raven ab. „Es soll nicht heißen, daß meine Verwandten der Stadt fern bleiben, weil ich die Lage für bedrohlich erachte. Dergleichen Gerüchte sind bereits aufgetaucht, und es ist die höchste Zeit, daß sie widerlegt werden.“
Oberst Wilten sah ein, daß er diesem Grunde weichen müsse, und fügte sich. Es blieb also bei der beschlossenen Abreise, und einige Stunden später kehrte der Freiherr mit Gabriele nach der Stadt zurück, wo der Oberst mit den beiden anderen Damen am nächsten Mittag eintreffen wollte.
Es war ein kühler, etwas stürmischer Herbsttag, wo Regenschauer und Sonnenblicke beständig abwechselten. Die ersteren hatten zwar gegen Mittag aufgehört, aber die jetzt schon sinkende Sonne kämpfte noch immer mit dem Gewölk, das den ganzen Himmel umzogen hielt. Raven war trotz der wenig einladenden Witterung, seiner Gewohnheit gemäß, im offenen Wagen gekommen, und die schönen, in ganz R. wegen ihrer Schnelligkeit berühmten Pferde trugen das leichte Gefährt wie im Fluge dahin. Von Seiten der beiden Insassen wurde die Fahrt größtenteils schweigend zurückgelegt. Der Freiherr schien ganz mit seinen Gedanken beschäftigt, und Gabriele sah gleichfalls stumm in die Gegend hinaus. Der Wind blies schärfer von den Bergen her, und das junge Mädchen zog den Mantel fester um die Schulter. Raven bemerkte es.
„Dich friert,“ sagte er. „Ich hätte bedenken sollen, daß Du bei solcher Witterung nicht an die Fahrt im offenen Wagen gewöhnt bist. Ich werde das Verdeck schließen lassen.“
Er wollte dem Kutscher einen Befehl geben, aber Gabriele hielt ihn zurück. „Ich danke. Ich ziehe selbst diese rauhe Luft dem geschlossenen Wagen vor, und der Mantel schützt mich ja vollkommen.“
„Wie Du willst.“ Der Freiherr beugte sich nieder; er hob die Wagendecke empor, die herabgeglitten war, und legte sie um die schlanke Gestalt seiner jungen Begleiterin, die jetzt leise und beinahe scheu sagte: „Onkel Arno, ich habe eine Bitte an Dich.“
„Ich höre,“ versetzte er einsilbig.
„Wenn dieser enge Verkehr mit der Familie des Oberst Wilten auch in der Stadt fortgesetzt werden soll, so erlaß wenigstens mir die Betheiligung daran!“
„Weshalb?“
„Weil ich während unseres Landaufenthaltes entdeckt habe, daß die Mama einen ganz bestimmten Plan verfolgte, als sie die Einladung annahm, einen Plan, den auch Du begünstigt.“
„Ich begünstige nichts!“ sagte Raven kalt. „Deine Mutter handelt ganz nach eigenem Wunsche und auf eigene Verantwortung. Ich stehe der Sache vollständig fern.“
„Man wird aber Deine Entscheidung fordern,“ erwiderte Gabriele. „Wenigstens hat mir die Mama angedeutet, daß Albrecht von Wilten nächstens eine Bitte an Dich richten wird, die –“
„Dich betrifft,“ ergänzte Raven, als sie inne hielt. „Das ist allerdings wahrscheinlich, aber darüber hast Du allein zu entscheiden, und ich werde den jungen Baron auf Deine Antwort verweisen.“
„Erspare ihm und mir das!“ fiel das junge Mädchen hastig ein. „Es würde für ihn ebenso kränkend sein, ein Nein aus meinem Munde zu hören, wie es mir peinlich wäre, es auszusprechen.“
„Du bist also entschlossen, seinen Antrag zurückzuweisen?“
Sie schlug das Auge groß und vorwurfsvoll auf. „Das fragst Du noch? Du weißt ja, daß ich einem Anderen mein Wort gegeben habe.“
„Und Du weißt, daß ich jenes übereilte Versprechen nicht als eine Fessel anerkenne, die Dich binden könnte. Weil ich einem Anderen mein Wort gegeben habe! – das klingt sehr pflichtgemäß. Früher sagtest Du: ‚Weil ich einen Anderen liebe!‘“
Die Bemerkung mußte wohl treffen, denn in dem Antlitz Gabrielens stieg eine dunkle Röthe auf und sie umging die Antwort.
„Albrecht von Wilten war mir bisher gleichgültig,“ entgegnete sie. „Seit ich weiß, daß seine Hand mir aufgedrungen werden soll, habe ich einen Widerwillen gegen ihn gefaßt. Ich werde nie seine Gattin werden.“
Die Brust des Freiherrn schien sich unter einem tiefen Athemzuge zu erweitern, aber er versetzte in dem eisigen Tone, den er während des ganzen Gespräches festgehalten hatte:
„Ich will Dich zu einer Wahl weder zwingen noch überreden. Wenn Du wirklich fest entschlossen bist, dem jungen Wilten ein Nein zu geben, so ist es allerdings besser, sein Antrag unterbleibt überhaupt. Ich werde dem Oberst mittheilen, daß er sich keine Hoffnung machen darf; es soll schon morgen geschehen.“
Was ist und was will „Gesundheitslehre“?
Oft hört man sagen, die Hygiene[1] oder Gesundheitslehre sei eine neue Wissenschaft, und erst jetzt beginne eine erfolgreiche, rationelle Gesundheitspflege; aber die Hygiene ist ihren thatsächlichen Grundlagen nach so alt, wie das Menschengeschlecht, welches sie von jeher erfahrungsgemäß und instinctmäßig betrieben hat, gerade so wie Essen und Trinken. Wenn die Menschen hätten warten müssen, bis ihnen die Wissenschaft Anleitung gegeben hätte, wenn sie nicht von Anfang an praktisch hygienisch vorgegangen wären, so hätten sie sich nie über den thierischen Zustand hinaus entwickeln, sich nie über die ganze Erdoberfläche verbreiten können, gerade so wie sie verhungert und verdurstet wären, wenn der Gebrauch von Speise und Trank davon abhängig gewesen wäre, daß man zuvor die Gesetze der Ernährung gekannt hatte. Neu ist nur, daß man jetzt nach einer wissenschaftlichen Begründung der praktischen Hygiene sucht. Es muß Alles erst thatsächlich bestehen oder, wie man gewöhnlich sagt, „geschaffen sein“, ehe man etwas wissenschaftlich erkennen und durchdringen kann. So setzen nicht nur die Naturwissenschaften die Natur voraus, sondern es ging auch der Politik und Staatswissenschaft die thatsächliche Bildung von Gemeinwesen und Staaten vorher, ebenso wie Wirthschaft, Handel und Verkehr der Nationalökonomie, wie Gewerbe und Industrie der Technologie und den Ingenieurwissenschaften.
Unter solchen Umständen liegt die Frage nahe, was es denn nützt, wenn sich die Wissenschaft zur Empirie (Erfahrungswissen) gesellt, oder was es schadet, wenn die Praxis allein ihren Weg verfolgt? Ganz allgemein ausgedrückt, ist der Unterschied ein ähnlicher, wie zwischen Handlungen aus Instinct und aus Selbstbewußtsein, also eigentlich wie zwischen Thier und Mensch. Erst von dem Augenblicke an, wo man sich um das Warum des Thuns kümmert, wo man die Gesetze erkennt, nach welchen sich das Geschehen richtet, wird es möglich, eine tiefer gehende Kritik zu üben und wesentliche Verbesserungen einzuführen. Einige Beispiele mögen anschaulich machen, wie sehr sich auch in anderen Dingen die Praxis ändert, sobald sie von der Wissenschaft berührt und durchdrungen wird, wenn sie, so zu sagen, zum Bewußtsein kommt.
Schon vor ein paar tausend Jahren hatten die alten Römer gefunden, daß ein vulkanischer Sand (Puzzolanerde) mit gelöschtem Kalk gemengt einen vorzüglichen hydraulischen (unter Wasser erhärtenden) Mörtel giebt. Auf ihren Eroberungszügen durch die damalige Welt fanden sie noch hier und da einen Ort, wo ein zu diesem Zwecke geeignetes Material vorkam, z. B. der Traß am Rhein. Die Gegenden um Puteoli und an der Eifel blieben noch das ganze Mittelalter hindurch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts die privilegierten Fundorte für dieses zu Wasserbauten unentbehrliche Material, welches von da aus weit in alle Wett geholt wurde. Man wußte eben nicht, warum Puzzolanerde und Traß mit Kalk unter dem Wasser erhärten. Als aber die Wissenschaft die Ursache des Erhärtens herausgebracht hatte, lernte man bald überall, wo thonhaltige Kalksteine vorkamen, hydraulischen Kalk brennen, und wo diese sich nicht fanden, mischte man einen geeigneten Thon mit Kreide, brannte das Gemenge und stellte auf diese Art den Portlandcement her, der besser ist als Puzzolanerde und Traß.
Die Alten kannten so gut wie wir den Blitz und seine Wirkungen, und sie kannten auch die Metalle, aber es konnte ihnen nicht einfallen, Blitzableiter herzustellen, weil sie nicht wußten, daß der Blitz ein elektrischer Funke ist und daß die Elektricität durch Metalle abgeleitet wird, was erst in der Neuzeit die Wissenschaft gelehrt hat.
Die alten Römerstraßen, deren großartige Ueberreste wir heutzutage in Deutschland noch finden und anstaunen, sind gewiß ein sprechender Beleg dafür, wie entwickelt bei ihren Erbauern schon der Sinn für den Weltverkehr, für Verkehrswege war. Sie hätten für Errichtung von Eisenbahnen alle materiellen Bedingungen und auch den hinreichenden Unternehmungsgeist gehabt, aber sie wußten noch zu wenig von den Gesetzen der Schwere und der Reibung, nichts von den verschiedenen Aggregatzuständen der Körper und der Ausdehnungskraft des Wasserdampfes. Erst nachdem man sich lange Zeit mit der Ermittelung der physikalischen und mechanischen Gesetze befaßt und viele davon gefunden hatte, war es möglich, an praktische Anwendungen zu denken, die über das Gewöhnliche und Nächstliegende hinausgingen.
Nicht minder, als die physikalische und mechanische Praxis wird gegenwärtig die gesammte chemische Technik von der Wissenschaft beeinflußt, beherrscht und umgewandelt. Die Schwefelsäure, das Vitriolöl, destillirte man sonst tropfenweise aus geröstetem Eisenvitriol. Nachdem die Wissenschaft ermittelt hatte, daß das Vitriolöl, mit dem man so viele chemische Processe veranlassen konnte, eine Verbindung von Schwefel und Sauerstoff sei, lernte man es bald durch Verbrennen von Schwefel in Strömen darstellen, und man nennt jetzt nicht mit Unrecht das Schwefelsäurehydrat, wie es in den Bleikammern gewonnen wird, die Mutter der technischen Chemie.
Und so scheint es mir auch ein naturnothwendiger Schluß zu sein, daß es mit unserer hygienischen Praxis ebenso kommen muß, wenn wir sie einmal wissenschaftlich durchdrungen haben. Unsere Häuser zu bauen und einzurichten unsere Kleider anfertigen zu lassen und zu tragen, unsere Mahlzeiten zu bestellen, uns verschiedenen Beschäftigungen hinzugeben, haben wir bisher ohne alle Wissenschaft fertig gebracht und haben uns dabei, was Gesundheit anlangt, nur von instinctiven Anforderungen leiten lassen. Wenn wir uns nun zu fragen anfangen, was wir mit der herkömmlichen Praxis für unser Wohlbefinden denn Alles bezwecken, welche Mittel uns zur Erreichung dieser principiellen Zwecke zu Gebote stehen, und wenn wir diese Fragen zu beantworten gelernt haben, dann wird es sich wie von selbst ergeben, daß wir gar Vieles anders, besser und wohlfeiler machen können.
Der wissenschaftliche Betrieb der Hygiene ist noch jung, und daß er nicht älter ist, hat seinen Grund darin, daß erst andere Disciplinen, namentlich die Physiologie und Pathologie, vorausgehen und bis zu einem gewissen Grade entwickelt sein mußten, ehe man festen Grund bekam, um darauf Brücken in’s Gebiet der Hygiene schlagen zu können. Hygiene ist nach meiner Ansicht eine auf Gesundheit und Verhütung von Krankheit gerichtete, auf physiologischer und pathologischer Grundlage ruhende Wirthschaftslehre.
Die Betriebsmittel der praktischen Hygiene sind bisher fast ausschließlich rein auf dem Wege der Erfahrung entstanden, müssen nun aber auch wissenschaftlich betrachtet und zergliedert, auf ihre Werthigkeit geprüft werden. Da es in dieser Richtung sehr viel zu untersuchen giebt, so muß daraus ein eigenes Geschäft gemacht und ein Platz dafür ausfindig gemacht werden. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als auch dieses wissenschaftliche Geschäft dorthin zu verweisen, wo schon andere mit Erfolg betrieben werden: an Hochschulen und an Akademien, und namentlich haben sich zunächst die medicinischen Facultäten darum zu kümmern.
Da aber die Ausübung der Hygiene nicht einem besonderen Stande ausschließlich obliegt, sondern neben dem Arzte auch der Architekt und Ingenieur, der Verwaltungsbeamte, der Schulmann, der Fabrikbesitzer, ja schließlich jeder Familienvater und jede Mutter und Hausfrau mitzuwirken haben, so muß das Interesse und ein gewisses Verständniß dafür in den weitesten Kreisen geweckt und wach erhalten werden.
Man kann die Hygiene in ihren praktischen Theil: „die Gesundheitspflege“ und in ihren theoretischen: „die eigentliche Gesundheitslehre“ theilen. Obschon erstere in letzterer ihre Begründung zu suchen hat, so befaßt man sich aus naheliegenden Gründen doch auch gegenwärtig, wo man bereits nach der Theorie fragt, noch mit Vorliebe mit Gesundheitspflege und strebt in populären Schriften diese dem größeren Publicum zur Anschauung zu bringen. Vom Standpunkte der theoretischen Gesundheitslehre aus ist aber noch wenig geschehen, um sie ihrem gegenwärtigen Stande entsprechend [329] im Volke zu verbreiten. Ein Buch, welches dazu dienen, und welches dem gebildeten Publicum, namentlich auch Lehrern an Volks- und Mittelschulen empfohlen werden könnte, sollte leicht faßlich geschrieben sein und doch vollständig auf dem Boden der Wissenschaft stehen. So allein ist zu hoffen, gesunde Anschauungen über die hygienischen Fragen, die jetzt überall aufgeworfen und besprochen werden, im Volke allgemein zu verbreiten, was auch auf die Praxis nur fördernd zurückwirken wird.
Vor einiger Zeit kam, gelegentlich einer Plenarversammlung des bairischen Obermedicinalausschusses, dieser Mangel zur Sprache, und es wurde von vielen Seiten der Wunsch geäußert, daß für seine Abstellung in passender Weise gesorgt werde möchte. Auf meine Veranlassung unterzog sich Herr Dr. Erismann dieser Aufgabe und hat nun in seiner „Gesundheitslehre für Gebildete aller Stände“[2] das ganze Gebiet in zwei Hauptabschnitten behandelt. Er bespricht unter I. „Allgemeine Lebensbedingungen“: die Luft, den Boden, das Klima, die Ortsanlage, das Wohnhaus, Kleidung und Hautpflege, die Ernährung; unter II. „Lebensbedingungen der verschiedenen Altersstufen“: die erste Kindheit, die Schule, die Berufsthätigkeit, und hat einen Anhang über „Volkskrankheiten“ beigegeben. Er trägt vor, was man Bestimmtes über die einzelnen Dinge weiß, verschweigt aber auch nicht, wenn so manche Frage von großer Wichtigkeit noch als eine offene erklärt werden muß. Es ist Gewissenssache, in Fragen von großer Tragweite nie mehr zu behaupten, als fest begründet ist, und es kann dem Allgemeinen nur nützen, wenn auf immer festere Begründung gedrungen wird. Unsere gesammte Sanitäts-Polizei leidet noch vielfach an der Schwäche ihrer wissenschaftlichen Begründung, und in dieser Beziehung kann die Wissenschaft für die Praxis noch sehr viel thun. Die Sanitäts-Polizei soll praktische Gesundheitswirthschaft sein, und da ist zuvörderst Klarheit über den Nutzen der gesteckten Ziele nöthig, denn sonst läuft man Gefahr, nutzlos oder selbst mit Einbuße zu wirthschaften. Manche Maßregeln – ich will keine besonders nennen – sollten in ihrem Werthe nicht mehr so bestreitbar sein, wie es heutzutage noch bei manchen der Fall ist. Hygienische Verordnungen, die so nach bloßem Gutdünken verfaßt werden, sind oft sehr theure Recepte, welche zwar nicht in der Apotheke, aber in der Gemeinde und im Staate bereitet werden. In dieser Beziehung halte ich es für bedenklich, der Entwickelung der Wissenschaft zu sehr vorauszueilen und Gesetze über Dinge zu geben, deren natürliche Gesetze man noch zu wenig studirt hat, dagegen ist es praktisch nützlich, das Wissen in diesen Punkten zu befestigen und zu erweitern.
Erismann war sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe vollkommen bewußt und ist mit Vorsicht aufgetreten. Die Fachleute, das heißt die Vertreter der wissenschaftlichen Hygiene, werden mit ihm, wenn auch nicht in allen, so doch in den meisten Punkten übereinstimmen. Er selbst äußert in der Vorrede, daß er von einer vorurtheilsfreien Kritik auf Fehler in seiner Darstellung aufmerksam gemacht zu werden hofft. Da es gegenwärtig nicht meine Absicht ist, eine Kritik zu schreiben, so will ich davon Umgang nehmen, wo ich hier und da anderer Ansicht bin, aber ich kann mit bester Ueberzeugung die Aufmerksamkeit eines größeren Leserkreises auf das Buch und seinen wichtigen Inhalt lenken. Es ist so geschrieben, daß nicht nur Naturforscher und Aerzte, sondern auch Techniker, Staatsbeamte, Mitglieder von Gemeindebehörden, Schulmänner, kurz, die Gebildeten aller Stände es verstehen werden, für welche es geschrieben ist und die Alle dazu bestimmt sind, an den Aufgaben und an der weiteren Entwickelung der Hygiene mitzuarbeiten.
Auch noch aus einem anderen Grunde erfreut mich das Erscheinen des Buches von Erismann. Ich bin schon oft der Frage begegnet, was es denn so Wichtiges in der Hygiene vorzutragen und zu forschen gäbe, daß es sich lohnte, einen eigenen Professor dafür an jeder medicinischen Facultät anzustellen. Schon aus dieser populären Darstellung kann man erkennen, wie groß jetzt bereits der Umfang des Gegenstandes und wie unendlich viel noch zu arbeiten ist. Diese Arbeit wird aber nie in erforderlichem Maße geschehen, wenn nicht für besondere Arbeitskräfte und Arbeitsplätze, wenn nicht für hygienische Lehrstühle und Attribute an den Universitäten gesorgt wird.
Epistel an Emanuel Geibel.[3]
Mit Rückert und mit Platen
Hast Du mich treu berathen:
Und ist mein Reim gerathen, –
Das dank’ ich Deiner Kunst.
Jedoch in eignen Weisen:
Das höre Du mit Gunst! –
Ja, schlürf’ ich hier im Norden,
An Thule’s Nebel-Borden,
Aus Deiner letzten Gabe,
Aus Deinen „Spätherbstblättern“,
Gereift in allen Wettern,
In heißen und in kalten,
So ruf’ ich: „Heil dem Alten,
Des deutschen Wohllauts weichem,
Romanisch formenreichem,
Herrn Gottfried’s Süße gleichem
Heil ihm und seinem Psalter!“
Wer von uns Jüngern just nicht schlecht
Die Reime reimt und radebrecht,
Der dankt es Dir, Du Weibel
Wie schaltest Du in München
Auf handwerkmäßig Tünchen!
Dem Falschreim wurde höllenangst,
Dem Flickwort bange, banger, bangst.
„Hiatus? Elisionen?
Könnt Ihr’s nicht abgewöhnen?
Schock Schwere Noth Schwadronen –
Poeten wollt Ihr heißen?
Doch nicht allein dies A B C
Erlernten wir in Deiner Näh’:
Auch, daß die Weihe müsse schweben
Um echten Dichters Lied und Leben,
Und daß Du selbst nie ausgelernt;
Wie rasch da Eitelkeit zerschmolz
Vor Deinem tief bescheid’nen Stolz!
Auch jetzt sprichst Du bescheiden
Und doch lauscht, sehr zu neiden,
Aus dieser Blätter Schooß,
Aus dieser Reben-Laube
Die goldne Spätherbst-Traube.
Die Roms und Hellas’ Strahl gestreift:
In Deutschland beut uns Keiner
Trank, edler, weicher, reiner,
Fein-blumiger als Deiner.
Königsberg, 1. Mai 1878.
[330]„Mutter, meine Tafel ist zerbrochen; ich habe auch keinen Stift mehr.“ Oft genug wird uns diese Klage in weinerlichem Tone von unserer lieben Jugend vorgetragen, und die Antwort erfolgt, je nach dem Stande der elterlichen Finanzen, bald in beruhigenden, bald in zürnenden Worten.
Den Lieferanten, welche der kleinen Armee diese ebenso zweckmäßigen wie zerbrechlichen Waffen für die ersten aller ernsten Gänge herstellen, ist es freilich nur zu gönnen, daß die Kleinen so ungeschickt und die Tafeln und Griffel so kurzlebig sind. Denn dadurch wird für eine im Ganzen arme Gebirgsbevölkerung eine immer fließende Quelle des Erwerbs geschaffen.
Der südöstliche Theil des Thüringer Waldes mit seinen langgezogenen monotonen Bergrücken, wie sie der Grauwackenformation eigen sind, ist seltener als der nordwestliche mit dem Formenreichthum seiner Porphyrbildungen das Ziel der Erholungsreisenden, die Gegend von Schwarzburg etwa ausgenommen. Aber das Gebirge hält seine Bewohner in anderer Weise schadlos. Einst führte das Quarzitgestein der Grauwacke Gold, welches den Anbau hinlänglich lohnte; so bei Steinheide im meiningischen Kreise Sonneberg, bei Reichmannsdorf im Kreise Saalfeld, bei Sachsendorf im Kreise Hildburghausen. Von Reichmannsdorf berichtet die Sage, der Bergbau auf Gold, welcher bereits im 12. Jahrhundert betrieben wurde, sei so ergiebig gewesen, daß die dortigen Einwohner an Festtagen mit Kugeln von Gold nach goldenen Kegeln geschoben hätten.
Diese goldene Zeit ist allerdings längst dahin. In Steinheide schläft der Bergbau schon seit dem dreißigjährigen Kriege, und ein Versuch, der im ersten Viertel unseres Jahrhunderts gemacht wurde, ihn wieder in’s Leben zu rufen, endete mit gänzlicher Erfolglosigkeit. In Sachsendorf zeugen nur noch eine Reihe die Wiesen verunstaltender vergraster Halden, der Abraum der Goldwäsche, von der Arbeit und dem Gewinne der Väter auf diesem Gebiete. In Reichmannsdorf kam bereits im Jahre 1706 dem Herzog Johann Ernst von Coburg, welcher die dortige Goldbergwerke wieder in Betrieb setzte, ein aus diesem Golde geprägter Ducaten auf zwölf Reichsthaler.
Nicht besser ist es dem Thüringer mit manchen anderen Bergwerksanlagen ergangen, und man trifft an vielen Orten verlassene, verfallene Stollen und Schachte.
Dagegen ist ihm neben dem Eisen und dem Kaolin (Porcellanerde) führenden Sandstein, welche jedoch beide erst in zweiter Linie in Betracht kommen, der Thonschiefer treu geblieben. Das der silurischen und devonischen Grauwacke zugehörige Schiefergestein lagert in bedeutender Mächtigkeit in den meiningischen Kreisen Saalfeld und Sonneberg, sowie in den benachbarten baierischen und schwarzburgischen Landestheilen. Es wird zu Dach-, Tafel-, Griffel- und Wetzsteinschiefer verwendet, sowie zu einer Reihe anderer Gegenstände für den häuslichen Gebrauch. Weit berühmter aber sind die Dachschieferbrüche von Lehesten, welche bereits im 13. Jahrhundert in Betrieb waren und an Spaltbarkeit, Feinheit und Dauerhaftigkeit ihres Materials noch heute in Deutschland ihres Gleichen suchen. Wir wählen gerade diese alten Brüche, um den Lesern das Terrain, in welchem die Schieferindustrie ihr Material gewinnt, auch im Bilde vorzuführen.
Schon zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zogen die Sonneberger Kaufleute die Schiefertafeln und Schieferbücher aus Lehestener Schiefer allen anderen vor. Die dortige Gegend ist daher der Sitz einer regen Schiefertafelindustrie. Die Arbeit auf den hierzu geeigneten Brüchen wird theils zu Tage, theils unterirdisch betrieben. Die Einen brechen das Gestein; Andere verarbeiten es. Das gebrochene Gestein muß bis zur weiteren Verwendung feucht gehalten werden, da es im trockenen Zustande unbrauchbar ist. Zu dem Behufe wird es in Gruben oder in den in der Nähe der Brüche erbauten sogenannten „Spalthütten“ untergebracht. Hier erwärmen auch die Arbeiter in der kalten Jahreszeit, welche in den Bergen oft über sieben Monate dauert, ihre schlotternden Glieder; hier bereiten sie die einfache Mahlzeit, deren immer wiederkehrenden Grundstoff die Kartoffel („Erdapfel“) bildet. In diesen Hütten werden die gebrochenen Schiefer leicht gespalten und mit einem Meißel nothdürftig geebnet. Die Weiber tragen dann das so zubereitete Material in Körben auf dem Rücken nach Hause. Man denke sich dazu die nicht selten steilen Bergwege und den fußtiefen Schnee, und man wird begreifen, daß dies der sauerste Theil der ganzen Arbeit ist, bei welcher sich manche Frau Krankheit und Tod holt, – obgleich die Frauen des Thüringer Waldes unglaubliche Strapazen gewöhnt sind. Daheim legt man die Schieferplatten unter eine rechteckige Form von der Größe, welche die Tafel haben soll, und ihr Umfang wird mit einem eisernen Griffel darnach bezeichnet. Hierauf werden sie mit einem der Zuckerschneide ähnlichen Messer beschnitten, mit einem breiten Meißel eben geschabt und mit einem Wetzstein abgeschliffen. Die Rahmen werden aus dem leichtspältigen Holz der Fichte gespalten und gehobelt, mit der Maschine „genuthet“ und, nachdem die Zapfen ausgeschlossen worden sind, in die Tafel eingefügt. So übernimmt sie der Kaufmann. Will er noch ein Uebriges thun, so läßt er das leichte Gefüge an den am meisten gefährdeten Ecken mit Blech beschlagen und die Rahmen mit bunten Arabesken und nutzbaren Sprüchlein versehen.
Seltener als der Tafelschiefer ist in Deutschland der Griffelschiefer. Der Hauptort ist Steinach, ein Städtchen von viertausend Einwohnern, zwei Stunden nördlich von Sonneberg. Die Ader des brauchbaren Gesteins ist nicht sehr mächtig, die Bloßlegung und Ausbeutung desselben bei der Masse der es umgebenden leichtlöslichen Geschiebe nicht ohne Gefahr. Das gewonnene Steinmaterial muß, wenn es nicht sogleich verarbeitet wird, gerade so aufbewahrt werden wie der Tafelschiefer. Es wird zunächst, und zwar am Griffelbruch selbst, mit einer gewöhnlichen Handsäge in Stücke geschnitten, ungefähr von der Größe und Form der Back- oder Ziegelsteine. Hierauf werden die Steine hinab in’s Dorf befördert und in den Wohnungen der Arbeiter mit der Säge in Plättchen von etwa fünf Centimeter Breite und der Länge und Stärke eines Griffels geschnitten. Von diesen Plättchen werden dann mit der Axt, gerade so wie man Holz spaltet, Stäbchen abgetrennt, welche vermittelst einer einfachen Maschine, deren Hauptbestandtheil ein unten geschärfter Trichter mit Tretvorrichtung zum Niederdrücken des letzteren, die erforderliche Rundung erhalten: die Griffelstäbchen werden einzeln unter die geschärfte Mündung des Trichters gesetzt; dieser wird niedergedrückt und der Griffel oben wohlgerundet herausgenommen.
In dieser Gestalt kommen die Griffel schon theilweise zum Versandt und genügen so vollständig dem Bedürfniß. Da jedoch das kleine Völkchen die schön bemalten, vergoldeten und versilberten Griffel den einfach schieferfarbigen bei weitem vorzieht, so werden die Rohgriffel an Ort und Stelle entweder in die Werkstatt des „Malers“ geschickt, welcher sie in möglichst saftigen Farben und mit schraubenförmigen Ringeln bemalt, oder sie gehen durch flinke Frauen- und Kinderhände, welche sie mit buntem Papier bekleben. So übernimmt sie der im Fabrikorte oder in dessen Nähe ansässige Kaufmann. Er verpackt sie in Kästchen zu hundert Stück, diese wieder in größere Kisten und sendet sie in die Welt hinaus, wo sie, bald wie Besenstiele, bald wie die feinste Feder gehandhabt, ihre grundlegende Culturmission erfüllen, aber in den seltensten Fällen ihr – natürliches Ende erreichen.
Letzteres ist übrigens leider auch bei ihren Erzeugern der Fall; denn das Griffelmachen ist vorzüglich wegen der Menge des abfallenden Schieferstaubes eine sehr gesundheitsschädliche Arbeit, und die, welche sich anhaltend damit beschäftigen, sterben meist nach langem Siechthum in den besten Jahren dahin. Dabei hinterlassen sie in der Regel eine zahlreiche Familie in den traurigsten Verhältnissen.
Der Kinderreichthum der Steinacher ist von Alters her sprüchwörtlich. Das Volk behauptet:
Wer durch Steinach geht und sieht kein Kind,
Durch Steinheide und spürt kein’ Wind,
Durchs Sonneberg ohne Spott,
Der hat viel Gnad’ von Gott.
Hatten doch nach verbürgten Nachrichten im vorigen Jahrhunderte drei Brüder daselbst zusammen nicht weniger als [331] siebenundsechszig, drei andere sogar einundsiebenzig Kinder. Daß es gerade Griffelmacher gewesen sind, will ich nicht behaupten. Diese starke Vermehrung der Bevölkerung, verbunden mit dem Rückgange oder der Erschwerung anderer heimischen Industriezweige hat trotz der gesundheitswidrigen Einwirkung des Griffelmachens in den letzten Jahrzehnten dem Geschäfte eine steigende Zahl von Kräften zugeführt und so eine Ueberproduction veranlaßt. Wenn beispielsweise, wie es der Fall ist, dreihundert zu einer Genossenschaft vereinigte Arbeiter mit ihren Familien allein wöchentlich vier Millionen Griffel produciren, so erklären sich Geschäftsstockungen zur Genüge, wie jene, welche in der zweiten Hälfte der sechsziger Jahre die Preise der Griffel auf neunzehn Kreuzer (vierundfünfzig Reichspfennige) für das tausend herabdrückte. Wenn da eine Familie unter Anspannung aller Kräfte bei einer Arbeit vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, wobei auch die Kinder oft noch vor Beginn der Frühschule mithelfen mußten, tausend Rohgriffel an einem Tage fertig brachte, so hatte sie neunzehn Kreuzer, sage neunzehn Kreuzer, verdient. Unter solchen Umständen war der Hunger täglicher Gast am Tische der Armen und sie konnten froh sein, wenn sie noch jene „Päcktlesbrühe“ (Cichorienkaffee) die oft genug nicht einmal die entfernteste Bekanntschaft der edlen Kaffeebohne gemacht hat, und Kartoffeln als einzige Nahrung hatten.
Die Zeit solcher Entbehrungen ist glücklicher Weise und hoffentlich für immer vorbei. Im Jahre 1868 vereinigten sich die bis dahin einander entgegenarbeitenden Griffelmacher zu der bereits erwähnten Genossenschaft, welche, dank ihrer Fähigkeit, den Markt zu beherrschen, von Zeit zu Zeit die Production einstellte und die Preise nach und nach bis zu zwei Mark für das Tausend in die Höhe trieb.
J. W. Schmitz war, als Robert Blum am 8. Juni 1827 bei ihm engagiert wurde, ein Mann in der Vollkraft seiner Jahre; höchst unternehmungslustig, den Gewinn, wie alle Sanguiniker, im Voraus nach den denkbar höchsten Sätzen discontirend, auf Verluste und andere böse Chancen gänzlich unvorbereitet und darum durch jedes Mißgeschick, das ihn traf, in die übelste Stimmung versetzt, nur allzu bereit, in mißlicher Lage Anderen sein Wort so wenig zu halten, wie das Glück ihm Wort gehalten. [332] Dabei war er in gewisser Hinsicht, nämlich in der Mechanik und Astronomie und einigen anderen Zweigen der Naturwissenschaft gut unterrichtet. Sein ganzes Leben hindurch betrachtete er die Beseitigung des allgemeinen Vorurtheils, welches seit Kepler und Newton an die Schwerkraft der Erde glaubte, als die wichtigste Unterbeschäftigung neben seinem eigentlichen Lebensziele, der Straßenbeleuchtung. Seine Opposition gegen die Anziehungskraft der Erde bildete gewissermaßen die noble Passion seines ganzen Daseins. Er bediente sich zur Beseitigung dieses Vorurtheils der im Kampfe gegen Naturgesetze auch heute noch etwas zweifelhaften Angriffswaffe der Broschüre im Selbstverlage. Ungeheuere Stöße Maculatur hat er in seinem langen Leben für diese Ueberzeugung auf eigene Kosten drucken lassen. Glücklicher Weise folgten auch diese Stöße dem von ihm gehaßten Gesetz und blieben liegen, wo sie lagen. Schmitz war in den Niederlanden aufgewachsen und erzogen und hat immer in seinem Stil, seinem Charakter und seinem Geschäftsgebaren einen stark mynheerlichen Accent bewahrt.
Als Robert Blum bei Schmitz eintrat, glitt dessen Glücksschiff eben mit voller Fracht und vollen Segeln auf hoher Fluth vor dem Winde dahin. Schmitz’ Erfindung, die Straßenbeleuchtung durch Laternen mit einem Lichte zu besorgen, schien für ein Jahrhundert die Concurrenz auf diesem Felde auszuschließen. Eine große Anzahl speculativer Männer heftete sich an seine glückverheißenden Schritte. Nicht lange nach Blum’s Eintritt bei Schmitz wurde dessen Geschäft in eine Actiengesellschaft umgewandelt. Indessen sehr bald stellte sich für die Unternehmungen Schmitz’, die auf Rüböl als Beleuchtungsstoff basirten, ein sehr böser Concurrent ein, der nach kurzem theoretischem Zweikampfe einen wahrhaft glänzenden Sieg davontrug: das Gas. Schmitz und seine Actiengesellschaft blieben bankerott auf dem Platze – Schmitz natürlich nur, um im Bunde mit dem siegreichen Gegner, dem Gase, neue Siege zu erfechten. Aber die Erzählung dieser Schicksale seines Lebens liegt jenseits der Aufgabe dieser Blätter. Robert Blum ist bei Schmitz nur zur Propaganda für die Laterne mit einem Licht und Rübölflamme verpflichtet gewesen und ist mit diesem Panier gestiegen und gefallen. Das Gas hat er in einer ganz andern Berufsstellung, beim Stadttheater zu Leipzig, schätzen gelernt – aber erst viel später.
Als Robert Blum seinen Dienst bei Schmitz antrat, störte kein Wölkchen den beiderseitigen Frieden. Täglich mehr überzeugte sich der Principal, daß er in dem neuen Gehülfen einen wahren Schatz gefunden habe. Die complicirtesten Aufträge und Arbeiten erledigte Robert geschickt, umsichtig, rasch, zu Schmitz’ vollster Zufriedenheit. Eine Treue, einen Fleiß und Eifer entwickelte Robert im Dienste, eine so glückliche Auffassungsgabe und ein solches Talent zu eigener Initiative, daß Schmitz ganz erstaunt war. Gern gab er seiner Zufriedenheit durch freiwillige Gehaltszulagen Ausdruck. Zuletzt, 1830, war der Gehalt Robert’s, bei freier Station, auf – fünf Thaler pro Monat gestiegen! Mit dieser Summe hat Robert seine Wäsche und Garderobe bestritten, das Hoftheater in München und später Vorlesungen an der Berliner Hochschule besucht, seine Eltern und Geschwister unterstützt und alle seine unschuldigen Vergnügungen bezahlt. Mit diesem Einkommen hielt sich Robert für einen Krösus; demjenigen, der es ihm gewährte, hat er sein ganzes Leben, trotz der schmählichen Behandlung, die derselbe Mann ihm später angedeihen ließ, die aufrichtigste Dankbarkeit bewahrt.
Das Leben bot ja Robert auch in dem neuen Dienste ein so heiteres, glückliches Antlitz, wie der Arme es bisher noch nie geschaut hatte. Jetzt durchflog er das blühende Rheinland, das er früher mühsam und sorgenvoll am Wanderstabe durchmessen, dazu den ganzen sonnigen Süden Deutschlands in einem bequemen Reisewagen, an der Seite eines leidlich gebildeten, ihm zugleich aus Eigennutz und natürlicher Regung gewogenen Mannes, der viele Menschen und Länder gesehen, der in den Naturwissenschaften zu Hause war, der dem erstaunten jungen Manne sogar offenbarte, daß Erde, Sonne, Planeten und Fixsterne eigentlich auf ganz falschen Bahnen wandelten und reuig umkehren würden, wenn er, Schmitz, ihnen das schriftlich bewiesen haben würde. Dazu nun das Robert bis dahin unbekannte herrliche Gefühl völliger Freiheit von drückender Erdensorge, das Bewußtsein, daß er und seine Arbeit geschätzt werde von Demjenigen, von dem sein Wohlergehen abhing, bald nachher auch zum ersten Male die stolze Befriedigung, daß ihm wichtige fremde Interessen allein, zu selbstständiger verantwortlicher Erledigung übertragen wurden. Man kann sich denken, welches Maß von Glückseligkeit und Dankbarkeit in dieses reine arme Herz einzog.
Schon am 9. Juni 1827 verließ Robert mit Schmitz Köln und fuhr nun wochenlang durch das frühlingsgrüne reiche Land; das ganze Entzücken über die herrliche Reise mit wenig Worten in sein „Reisejournal“ eintragend. Am 10. Juni ist Mainz, am 12. Juni Frankfurt erreicht. Hier wird einige Tage gerastet, die alte Kaiserstadt – in der später der „Gelbgießer“ Blum seinen Sitz im deutschen Parlament finden sollte – mit Andacht durchwandert. Am 16. Juni ging es weiter nach Darmstadt, den folgenden Tag bis Heidelberg. Bis zum 21. Juni wird Württemberg (Stuttgart, Eßlingen, Göppingen bis Ulm) durchfahren, dann zwei Tage später, über Günzburg, Augsburg und Dachau, München gewonnen.
In München ist Robert vom 23. Juni bis 29. November 1827, also über fünf Monate geblieben. Er hat den größeren Theil dieser Zeit allein den Schmitz’schen Geschäften vorzustehen gehabt, die in der Hauptsache darin bestanden, die Laterneneinrichtung im königlichen Schlosse zu leiten. Bei dieser Gelegenheit hatte Blum eines Tages eine flüchtige, aber bedeutsame Unterredung mit König Ludwig dem Ersten von Baiern.
Viel Zeit blieb Robert übrig, um seinem Wissensdrange zu genügen. Und welche Fülle von Anregung gewährte hierfür München! Ein Gang durch München schon bietet, wie Moritz Carrière mit Recht einmal bemerkt, dem Nachdenkenden ein Bild der Bau- und Kunstgeschichte von zwei Jahrtausenden; ein Gang um München zeigt die unendliche Gestaltungskraft der Natur in aller Fülle und Mannigfaltigkeit. Im Jahre 1814 erst hatte König Maximilian der Erste begonnen, das enge und traurige Nest, das in seinem Aeußeren seit 1791 noch immer aussah wie eine geschleifte Festung und sich seit 1806 noch nicht ordentlich als Residenz hatte fühlen lernen, in eine stattliche, heitere Königsstadt umzuschaffen. Und dieses Werk hatte König Ludwig der Erste mit augusteischer Freigebigkeit und kunstsinnigster Prachtliebe fortgesetzt. Eben als Robert in München eintraf, war unter Klenze’s Leitung das neue Hoftheater nach dem Brande von 1823 in vollendeter Schönheit aus dem Schutte erstanden, die herrliche Glyptothek ihrer Vollendung nahe, dem öffentlichen Besuch bereits geöffnet, der Königsbau des Alten Schlosses am Max-Joseph-Platz, die Alte Pinakothek und andere Prachtbauten im Entstehen begriffen. Durch den Reichthum und die Bedeutung seiner Kunstschätze, vor Allem durch die Sculpturensammlung der Glyptothek, überragte München damals unstreitig alle anderen deutschen Städte bei weitem, obwohl die Stadt kaum mehr als fünfzig- bis sechszigtausend Einwohner gezählt haben mag. Dazu nun das ganz eigenthümliche, von den Gewohnheiten des Rheinländers so weit abliegende und doch jeden Fremden so gemüthlich anheimelnde Volksleben des altmünchener Bürgers, mit seinem trockenen Humor, seiner biederen Schwerfälligkeit und genußfreudigen Behaglichkeit. Alles das hat Robert lebhaft angezogen und gefesselt. Die Architektur- und Kunstschätze der schönen Kirchen Münchens, die Hoftheater, die Gemäldegallerie und Glyptothek, das polytechnische, anatomische und naturhistorische Museum, vor Allem aber die königliche Bibliothek hat er, nach seinem Reisejournal, fleißig besucht.
Alle seine Freistunden des Tages widmete er dieser Bereicherung seines Wissens, seiner Geschmacks- und Kunstbildung; der Abend wurde so oft als möglich im Theater, ein guter Theil der Nacht in ernste Studien aller möglichen Fächern des Wissens, in denen Robert bei sich Bildungslücken entdeckt hatte, hingebracht. In dieser Hinsicht war die Reise mit Schmitz von Köln nach München von größter Wichtigkeit für Robert gewesen. Sie hatte ihm bei sich selbst überall eine, wie er meinte, fast bodenlose Unwissenheit enthüllt, an deren Ausfüllung er nun mit eisernem Fleiße arbeitete. Leider sind auch aus diesen Tagen Briefe Robert’s an die Seinen nicht erhalten. Dagegen finde ich in seinem „Stammbuche“ Blätter von den wenigen jungen Männern, mit denen er in München Anknüpfung suchte, welche beweisen, daß er damals mit größtem Eifer insbesondere philosophischen Studien nachgegangen sein muß und das Bedürfniß empfand, das in der Stille der Nacht beim Lampenschein aus weltweisen Büchern in sich Aufgenommene mit den Freunden zu [333] durchsprechen. Einige der Genossen scheint der metaphysische Gelbgießer, nach ihren Stammbuchblättern zu schließen, beinahe bis über die Grenzen vernünftiger Erkenntniß hinaus gefördert zu haben. Sicher ist, daß Robert sich sowohl in München, wie später in Berlin, seiner sorgenlosen Freiheit vollkommen würdig gezeigt, von jeder Verirrung, welche die fröhliche Großstadt nahelegen und leicht verzeihen mochte, ferngehalten hat.
Auf demselben Wege, den er auf der Hinreise genommen, kehrte Robert Ende November nach Heidelberg, von dort über Mannheim und Worms nach Hause zurück, wo er am 12. December eintraf; jedoch nur, um bereits am 15. Elberfeld aufzusuchen, wo er bis zum 20. September 1828 in der Gesellschaft Schmitz’ verweilte, da dieser sein Geschäft dorthin verlegt hatte. Hier wußte er sich seinem Principal immer unentbehrlicher zu machen. In jeder Freistunde aber, namentlich in der Nacht, wurde an der Erweiterung des Wissens und der Bildung gearbeitet, auch die erste sehr bescheidene Grundlage einer eigenen Bibliothek gelegt. Nur ganz vorübergehend ist er im September und October 1828 auf einer Geschäftsreise nach Coblenz und Kreuznach bei den Seinen in Köln gewesen. Am 12. October theilte Robert den Eltern mit, daß Schmitz beabsichtige, einen Theil seines Geschäfts nach Berlin zu verlegen und ihn dorthin mitzunehmen. Auf unbestimmte Zeit nahm er Abschied von den Seinen.
In der That wurde dieser Aufenthalt in Berlin zu dem längsten, freudigsten und bedeutsamsten, den Blum seiner Verbindung mit Schmitz verdankte. Am 24. November 1828 ward die Reise von Elberfeld aus angetreten. Sie führte Robert über Iserlohn, Paderborn, Warburg nach Kassel – dessen herrliche Umgebungen tiefen Eindruck auf Robert machten – dann nach Münden, Göttingen, Mühlhausen, Langensalza, Gotha, Erfurt und Weimar – mit Behagen verzeichnet er in seinem Reisejournale jede landschaftliche Schönheit, welche ihm die Winterreise durch Norddeutschland bietet. Nirgends sucht er seinen Genuß zu verkümmern durch Vergleiche mit dem so viel verschwenderischer ausgestatteten, im Sommer besuchten Süden. Vom Weine Naumburgs sagt er höflich, er sei „dem Moselwein an Geschmack ähnlich“. Mit Andacht erblickt er bei Merseburg in der Ferne das Schlachtfeld von Lützen, tritt er in Wittenberg an Luther’s und Melanchthon’s Gruft. Dann aber schreibt er in sein Reisejournal am 21. December: „Jenseits der Elbe nimmt die Fruchtbarkeit allmählich ab und nicht weit von ihren Ufern beginnen die einförmigen, traurigen und unabsehbar-flachen Sandwüsten, die sich bis zur Ost- und Nordsee fortziehen und nur selten von einzelnen Hügeln desselben Stoffes unterbrochen werden. Auf den reizenden Fluren dieser deutschen Sahara erblickt man nichts als elende Dörfchen, magere Tannenwälder und nur zuweilen pflanzen sich auf kleinen, sehr mühsam bearbeiteten Sandflächen verkrüppelte Haber- und Kornähren und etwas Kartoffeln fort, die den genügsamen Bewohnern ihre kärgliche Nahrung geben; nicht selten aber giebt es auch unabsehbare Strecken, auf welchen weder ein Strauch noch ein Gräschen fortkommen kann. Daß es Ausnahmen und einzelne fruchtbare Stellen giebt, ist bekannt; allein sie sind selten!“ Von dem heldenmüthigen Kampfe, den in dieser „deutschen Sahara“ das preußische Volk mit der Ungunst der Elemente durch Jahrhunderte geführt, um den Boden überhaupt culturfähig zu machen, und wie durch diesen Kampf nicht auch wenigsten die Entwickelung des Charakters jenes deutschen Volksstammes möglich wurde, der vereint mit seinem hochsinnigen Fürstenhause einst die feindseligen Gestalten bändigen sollte, welche der Gründung eines deutschen Nationalstaates entgegenstanden, davon konnte der heißblütige junge Rheinländer freilich damals noch keine Ahnung haben. Er urtheilte vorläufig so herb und verächtlich über Preußen, wie die meisten seiner Heimathsgenossen damals thaten. Und noch nachdem er Berlin kennen gelernt hatte und dieser Stadt die wichtigste Förderung seiner Kenntnisse verdankte, schrieb er, allerdings in tiefster gemüthlicher Depression, in Oranienburg in sein Reisejournal: „Die Gegend ist sandig, traurig und einförmig, kurz preußisch.“
Noch in ganz anderem Maße als in München wurde ihm in Berlin Gelegenheit geboten, seine Kenntnisse zu vervollkommnen, alle Lücken seiner Bildung zu ergänzen. Mancherlei Ursachen wirkten hierfür zusammen. Trotz seiner noch nicht 200,000 Einwohner und der gegen die „Präsidialmacht“ Oesterreich in deutschen Angelegenheiten – mit Ausnahme der Zoll- und Handelspolitik – äußerst vorsichtigen Politik der Regierung Friedrich Wilhelm’s des Dritten, war Berlin doch schon damals unzweifelhaft die geistige Hauptstadt Deutschlands. Solche Vielseitigkeit von Interessen vertrat keine Stadt in so vorzüglicher Weise wie Berlin. Es ist ein schönes Zeugniß sowohl für die Klarheit der Beobachtung, wie für die Gerechtigkeit Robert Blum’s, daß er sehr bald nach seiner Ankunft in Berlin in sein Reisejournal schrieb: „Prächtige Haupt- und Residenzstadt, ohnstreitig die schönste in Deutschland.“ So schrieb der junge Mann, der noch begeistert war von den Kunstschätzen und Kunstbauten Münchens und sehr gering dachte vom „traurigen preußischen Wesen“. In der That hatte aber auch Berlin damals eben durch Schinkel’s und Rauch’s geniale Schöpfungen auch in künstlerischer Hinsicht ein ganz neues Gepräge gewonnen. Alle die monumentalen Bauten und Bildwerke, die sie bis zu Robert’s Ankunft in Berlin geschaffen, feiert dieser begeistert in seinem Journal. Ebenso entzückt ist er von den älteren Meisterwerken Schlüter’s und Anderer, dem Brandenburger Thor, den Kunstsammlungen Berlins, für deren Schätzung sein Verständniß in München geschärft war. Freudig ergeht er sich in den Anlagen des Thiergartens, den Lenné kurz zuvor in einen der schönsten Parks der Welt umgeschaffen hatte. Hier überkommt ihn auch ein Begriff von der gewaltigen, fast heroischen Arbeit, die dazu gehörte, auf solchem Boden diese Stadt und Umgebung zu schaffen. „Man wähnt sich in diesen Pflanzungen wirklich auf einen ganz anderen Boden versetzt,“ schreibt er, „es macht daher einen ganz eigenen Eindruck, wenn man aus dieser künstlichen Ueppigkeit heraustritt und auf einmal die mageren, einförmigen Sandflächen vor sich sieht.“ Bei einem Besuche in Charlottenburg spricht er gerührt von dem Grabmal „der verewigten Königin Louise“.
Zu dieser Freude an den, seinen in München gebildeten Schönheitssinn vollauf befriedigenden Kunstschöpfungen trat nun hinzu die Wahrnehmung, daß der Volkscharakter der Berliner weit entgegenkommender, redelustiger, in Vielem mit seinem eigenen Naturell weit übereinstimmender sich erwies, als der Münchener. Den energischem Fleiß, den durch keine Widerwärtigkeit zu störenden fröhlichen, immer zu einem Scherz bereiten Gleichmuth, die durchaus realistische, immer kritische und vorsichtige Beobachtungsgabe des Berliners gewahrte er mit Vergnügen an dem Völkchen der Hauptstadt. Er fühlte sich wohl da, wie zu Hause, denn er fand hervorragende Eigenthümlichkeiten seines Wesens hier allgemein verbreitet. Daß er alle Bildungselemente, die Berlin bot, so vollständig und segensreich in sich aufnahm, verdankt er außerdem der Länge seines dortigen Aufenthaltes. In München hatte er nicht ein halbes Jahr zugebracht. In Berlin blieb er mit kurzen Unterbrechungen fast zwanzig Monate, bis zum 9. August 1830.
Den allerbedeutendsten Einfluß aber dankte er der Berliner Hochschule. Sie war in den schlimmsten Jahrzehnten, welche die Reaction über Deutschland gebracht hat, immer der Freistuhl der deutschen Wissenschaft und Forschung geblieben. Kein Censor und kein Demagogenriecher durfte es wagen, das freie Wort des Katheders in Fesseln zu schlagen. Die Redefreiheit, die heute für die deutschen parlamentarischen Versammlungen gewährleistet ist, bestand damals eigentlich nur für die Lehrstühle der Hochschulen, gewiß für die Berliner. In allen Facultäten lehrten die gefeiertsten Namen deutscher Wissenschaft. Im Jahre 1829 hatte man in Berlin auch formell gebrochen mit dem System argwöhnischer Ueberwachung, welches die unseligen Karlsbader Beschlüsse seit einem Jahrzehnt auch Preußen scheinbar zur Pflicht gemacht hatten. Von da ab übten Rector und Universitätsrichter die Ueberwachung, die bis dahin einem Regierungsbeamten übertragen war. Von 1830 an wurde auch Nichtstudenten der Besuch der Vorlesungen gestattet: vierhundertsechsundfünfzig machten sofort davon Gebrauch, unter ihnen Robert Blum. Die systematische und rein wissenschaftliche Behandlung der Lehrfächer, zu denen Robert sich besonders hingezogen fühlte, machten seine fleißigen nächtlichen Studien erst wahrhaft fruchtbar.
In dieses über alle Erwartung glückliche Leben schlug plötzlich wie ein Wetterstrahl aus heiterem Himmel die Ordre, Robert solle sich unverzüglich zur Ableistung seiner Militärpflicht [334] in Prenzlau beim vierundzwanzigsten Infanterieregiment stellen. Selbstverständlich mußte er Ordre pariren, obwohl dieser Gehorsam voraussichtlich gleichbedeutend war mit dem Verluste seiner Stellung und dadurch auch mit der plötzlichen Vernichtung seiner schönsten Fortbildungshoffnungen. Damals, auf der Fußwanderung von Berlin nach Prenzlau (30. März 1830), schrieb er das „traurig und einförmig, kurz preußisch“ in sein Reisejournal. In Prenzlau erging es ihm weit besser, als er erwartet hatte – denn er sehnte sich niemals danach, zu untersuchen, ob er einen Marschallsstab im Tornister trage – nach sechs Wochen schon (15. Mai 1830) hatte man sich überzeugt, daß der Rekrut Blum zu schwache Augen habe, um einen ordentlichen Vierundzwanziger abzugeben, und entließ ihn daher zur Reserve. Er hat des Königs Rock nie wieder angezogen.
Am 17. Mai schon traf er wieder in Berlin ein. Er hoffte Schmitz so vernünftig zu finden, ihn nicht für die allgemeine Wehrpflicht – die einem holländischen Gemüth allerdings ein Gräuel war und heute noch ist – verantwortlich zu machen. Aber Schmitz war in Geschäften eben in Holland und Frankreich abwesend. Seine Geschäfte gingen schlechter und schlechter. So beging er die Ruchlosigkeit, seinen treuesten Mitarbeiter gänzlich mittellos in Berlin zu lassen, ohne auf seine Briefe zu antworten. Robert wußte freilich von der mißlichen Lage des Principals nichts. Alles, was der treue Mensch eingenommen, hatte er, selbstlos denkend, und Anderen vertrauend wie immer, dem Principal vorher eingesendet. Endlich, nachdem in zwei Briefen Schmitz’ die dringende Bitte Robert’s um Geld ganz unberücksichtigt gelassen, schrieb Robert am 1. Juli 1830 unter Anderem: „Es wird überflüssig sein, Ihnen eine Schilderung von meinen jetzigen Umständen zu entwerfen, da Sie sich selbst leicht vorstellen können, wie dem zu Muthe ist, der bei einem, wie Sie selbst wissen, impertinenten Wirthe eine Zeit lang seine Bedürfnisse borgte, und nun am Ende des Monats nicht im Stande ist zu zahlen. Außerdem daß ich schlechtes Essen für einen zu theueren Preis“ – er zahlte für Kost und Logis elf Groschen pro Tag – „nehmen muß, wird mir nun jede Mahlzeit mit verächtlichen und mißtrauischen Blicken vorgesetzt und Spottreden und Sticheleien als Gewürze aufgetragen. Denn ohne Geld ist es unmöglich auszuziehen. – Hätten Sie die Güte gehabt, mir nach Prenzlau zu melden, daß Sie hier mit Niemandem wegen meines Unterhaltes ausdrücklich gesprochen hatten, so hätte ich mir die mich hier erwartenden Unannehmlichkeiten eher vorstellen können und würde auf militärische Kosten meine Reise nach Köln gemacht haben; ich hatte alsdann pro Meile einen Groschen, und wenn auch Dürftigkeit mich auf der Reise drückte, so war ich doch jetzt der Gefahr nicht ausgesetzt, die mich nun bedroht, nämlich: daß mein Wirth mir den ferneren Unterhalt verweigert und mir die Thür weist. Wenn ich durch Ausschweifungen in Vorschuß gerathen wäre oder durch Nachlässigkeit der Gesellschaft einen Schaden von einigen tausend Thalern verursacht hätte, so würde ich das jetzige Verfahren als eine Vorsichtsmaßregel von Ihrer Seite und als Strafe für meine Fehler betrachten; da ich mir aber nichts dergleichen vorzuwerfen habe, etc.“
Darauf antwortete Schmitz von Köln am 18. Juli: „Lieber Blum. Ihre Klagen vom 1. dieses thun mir sehr leid und sind gegründet. Ihr früheres Schreiben schien mir Vorwürfe oder einen der Sache nicht angemessenen Ton zu enthalten, und da ich Sie übrigens gern habe und Sie selten zurecht zu weisen habe, zerriß ich es lieber, als es zu beantworten. Verlieren Sie den Muth nicht, ich habe manche Schwierigkeit überstiegen. ... Ich konnte bis jetzt weder Kleinigkeiten noch große Summen berichtigen. Jetzt werden Sie nicht lange mehr warten und alle Bedürfnisse erhalten... Ich hoffe nur, Ihr jetziger Müßiggang wird auf Ihr ferneres Betragen keine nachtheilige Wirkung haben und daß ich Sie wie zuvor zurückfinden werde.“
Noch ehe Blum diese Antwort besitzen konnte, schrieb er am 20. Juli 1830, daß er sich wundere und erstaunt sei, daß Schmitz auf einen Brief von Blum’s Eltern „ganz kaltblütig einige Bemerkungen niedergeschrieben habe, ohne es der Mühe werth zu halten, über meine Erhaltung nur ein Wort zu erwähnen, und man braucht doch gewiß keine großen logischen Kenntnisse zu haben, um zu wissen, daß der Lebensunterhalt, den Sie als eine nicht bemerkenswerthe Nebensache zu betrachten scheinen zum Fortbestehen durchaus nothwendig ist. ... Es scheint mir die Pflicht eines jeden Mannes zu sein, für die in seinen Diensten stehenden Leute zu sorgen ... und ich glaube, daß es gewiß gegen die Billigkeit ist, einen Menschen mit in der Welt herumzuführen und ihn dann plötzlich an einem fremden Orte brod- und hoffnungslos sitzen zu lassen, wenn er sich keines Fehlers schuldig machte, der solches Verfahren rechtfertigen könnte.“
Um diese Rechtsdeductionen zu würdigen, muß auf Grund der mir vorliegenden Abrechnung Blum’s für die Jahre 1828 bis 1830, die Schmitz später anerkannte, constatirt werden, daß Blum schon am 30. März 1830 ein Guthaben von acht Thaler elf Silbergroschen zwei Pfennig an Schmitz hatte, welches neuerdings auf fast siebenundzwanzig Thaler gestiegen war, wie Schmitz später gleichfalls anerkannte. Der Gehalt, den Blum bescheiden immer „Lohn“ nennt, war am 30. März 1830 seit sechszehn ein viertel Monaten nicht mehr baar gezahlt worden! Daher war das weitere Verlangen Blum’s in diesem Briefe, in Zukunft möge pünktlicher gezahlt werden, gewiß gerechtfertigt; „sonst müsse er seine Stelle aufgeben, da er gar nichts besitze, um zuzusetzen.“ Er verlangte deshalb schriftlichen Vertrag und betonte, daß er Arbeitsüberstunden bisher nie berechnet habe.
Die Antwort (etwa vom 28. Juli) auf diesen Brief war überschrieben: „N. für R. Blum“ und lautete: „Wenn man Leute zu ernähren hat, die nichts verdienen, und von denen, die man für schönen Vortheil betheiligt, hinterrücks verlassen wird, bis man ihnen mit eigenem Fond wieder Courage macht, so bieten sich leicht viele Schwierigkeiten. ... Sie sind eben aus dem Dienst entlassen worden. Ich erneuere Ihnen Solches hierbei. ... Ich finde es auch nicht für gut, für die Dienste, die Sie mir bis heran zu leisten fähig waren, mehr als das nothwendige Unterhalt zu geben. Auch bin ich weit entfernt, Ihnen einen schriftlichen Vertrag als Sinecure zu geben.“ Wenn Blum für Ueberstunden keine besondere Vergütung gefordert habe, „so mögen Sie dies gegen Monate müßig sitzen compensiren, während welchen mancher Sie entlassen hätte. Geht es Ihnen bei anderen gut, so werde ich diesen Verlust, sowie den eines anderen Jungen Mannes, den ich früher erzogen hatte, gern ersehen. ... Später können Sie einmal bei mir anfragen, nachdem Sie eine bessere Schule der Erfahrung durchgegangen seyn werden, als die, deren Sie sich jetzt rühmen. Hr. Grebin wird Ihnen zustellen, was Ihnen gebürt. Schmitz.“
Robert war zu arm, das schnöde hingeworfene Almosen auszuschlagen. Am 5. August quittirte er Herrn A. L. Grebin in Berlin über sechsunddreißig Thaler, mit welchen der „Lohn“ vom 18. Mai bis „ultimo July d. J.“ und die „Reisekosten von hier nach Cölln“ beglichen waren, und machte sich am 9. August über Potsdam, Brandenburg, Genthin, Magdeburg, Helmstedt, Braunschweig, Hildesheim, Hameln, Paderborn, Soest, Lennep zu Fuß auf den Heimweg nach Köln. Am 22. August langte er hier an, nachdem er neunundsiebenzig ein halb Postmeilen in dreizehn Tagen zurückgelegt.
Das Verhältniß zu Schmitz war für immer gelöst, der Riß unheilbar geworden. Es nützte nichts, daß Robert auf die Rückseite einer leeren Schulheftseite seiner ältesten Stiefschwester, die sich auf der Vorderseite abmühte, den Worten: „Mit dem Maß, womit dem ihr messt, wird auch euch gemessen werden“ einen bedenklich unkalligraphischen Ausdruck zu geben, das Concept eines rührend-versöhnlichen Briefes schrieb.
Die Geschäfte des Beleuchtungsmannes gingen noch zu schlecht. Das Rüböl war soeben auf’s Haupt geschlagen. Das Gas triumphirte. Das war der Grund von Robert’s Entlassung, alles Andere Vorwand.
Robert war nun wieder einmal brodlos.
Eh’ Du zur Tagesarbeit ziehst,
Bleib’ einen Augenblick zur Stelle
Und denk’, ob Du so glücklich siehst
Des Abends wohl die heim’sche Schwelle.
Drück’ auf die Lippen einen Kuß
Der Theuren, die Du Dir erlesen;
Wer weiß, ob’s nicht der Scheidegruß
Für dieses Leben ist gewesen?
Dein Kind, o herze es doch erst,
Drück’s an die Brust, als säh’st Du’s nimmer
Wer weiß denn, ob Du wiederkehrst,
Und ob Du scheidest nicht für immer?
Dann geh’ an’s Tagwerk wohlgemuth,
Frisch, fromm und frei; laß Dir nicht bangen;
Es ist mit Dir nebst Gottes Hut
Der beste Segen mitgegangen.
Und bricht ein Unglück schnell herein,
Das nimmer Dich nach Haus läßt kommen, –
Ein Trost mag es den Deinen sein,
Daß Du doch Abschied noch genommen.
Daß Thiere in Geister- und Teufels-Geschichten eine bedeutende Rolle spielen, ist männiglich bekannt. Hunde, Katzen, Schlangen, Uhu’s erscheinen in solchen Geschichten vielfach – wenigstens ihrer äußeren Gestalt nach, als Werkzeuge geheimnißvoller böser Mächte. Freilich handelt es sich dabei nicht um wirklich lebendige, natürliche, aus Körper und Seele bestehende Wesen, sondern eben nur um deren Schein, dessen belebende oder wirkende Macht als eine übernatürliche gedacht wird. Auch im modernen Spiritismus, bei den angeblichen Erscheinungen und Einwirkungen der Seelen oder Geister Verstorbener auf das Diesseits und bei magischen Wirkungen überhaupt spielen Thiere eine Rolle. Angebliche Thatsachen zeigen nämlich, daß auch Thiere in spiritistischer Materialisation oder Verkörperung erscheinen oder magische Wirkungen hervorbringen können. Da diese spiritistischen Thiere besonders geeignet sind, das ganze Treiben der Spiritisten in charakteristischem Lichte erscheinen zu lassen, so dürfte eine kurze Darstellung und Würdigung der Sache nicht uninteressant sein.
Die Familie Eddy, bestehend aus drei Söhnen und zwei Töchtern, ist in Nordamerika weit und breit bekannt durch die Begabung, den Geistern der Abgeschiedenen als Medium (Mittel oder Organ) zur Wiedererscheinung in körperlicher Form zu dienen. Ihre Urgroßmutter war 1692 in Salem wegen Hexerei zum Tode verurtheilt, jedoch durch Freunde aus dem Kerker befreit worden. Diese Eddy’s, in einem alten Farmerhaus wohnend, werden wegen der genannten Eigenschaft von zahlreichen Fremden aufgesucht, denen sie für 8 Sch. die Woche Aufnahme gewähren. Mehr als zweitausend Geister sollen bei ihnen in den verschiedensten Costümen binnen zwölf Monaten aus dem Cabinet in den Zuschauerraum hervorgekommen sein. Herr Pritchard, ein Berichterstatter, der sich lange bei den Eddy’s aufhielt, sah dort eine Anzahl seiner verstorbenen Verwandten und eine Menge anderer Geister Verstorbener in leiblicher Gestalt wieder erscheinen. Vier oder fünf weibliche Geister, berichtet er, trugen Kinder auf ihren Armen, setzten sie auf den Boden oder führten sie an der Hand; die Kinder schlangen manchmal ihre Arme um der Mutter Nacken. Ein Indianerkind, eingewickelt nach Indianermanier, hörte er schreien, ein Indianermädchen brachte auf seinem Finger ein Rothkehlchen, das wie ein lebendes hüpfte und zirpte. Er hörte auch die Geister in allen Abstufungen sprechen, vom leisesten Wispern bis zur lauten natürlichen Stimme. Er sah sie scheinbar in Seide, Baumwolle, Merino, Tarlakan gekleidet, sah Soldaten und einen Seecapitain in Uniform, Frauen in reich gestickten Roben, indianische Krieger in verschiedenen Costümen. Einmal reichte man Honto (Geist eines Indianermädchens) eine brennende Pfeife; sie ging rauchend umher und bei jedem Zug erhellte sich durch den Wiederschein des Feuers ihr bronzefarbiges Gesicht, sodaß jeder Zug sichtbar ward etc. (S. Max Perty: Der jetzige Spiritismus etc. 1877 S. 166).
Das sind also Geister aus dem Jenseits, die durch Vermittelung der genannten Eddy’s sich materialisirten, das heißt wieder körperliche Gestalt annahmen. Alles wie bei uns: Reichgeschmückte Frauen, schreiende Kinder, Uniformen, Tabak etc. Nur der Maßkrug fehlt und die Whiskyflasche, um das Jenseits ganz gemüthlich erscheinen zu lassen und dem Tode vollends alle Schrecken zu nehmen. Es ist kaum zu bezweifeln, daß auch diese trostspendenden Güter dort nicht unerschwinglich sind. Dabei gilt den spiritistischen Gläubigen dies Alles als baare Münze, als unumstößliche „Thatsache“, durch die Erfahrung, durch die Sinne bezeugt, an der nur ein ganz ungläubiger, Alles verneinender Mensch zweifeln könne. Ja diese spiritistische Gläubigkeit ist so stark resp. blind, daß als zwei von den Brüdern Eddy „abfielen“, von den Spiritisten sich abwandten, auch dieser wichtige Umstand den Glauben nicht erschütterte. Ihr Abfall wurde, wie es auch bei der kirchlichen Orthodoxie üblich ist, lediglich schlechten Motiven, nicht besserer Einsicht und Ueberzeugungstreue zugeschrieben. Und als die Abgefallenen nun gegen den Spiritismus gerichtete Vorstellungen gaben, wurden ihre Leistungen von den Spiritisten als ganz unbedeutend und unzulänglich bezeichnet. Wieder ganz so, wie es bei jeder blinden, parteisüchtigen Orthodoxie üblich ist, welche die Leistungen derer herabzuwürdigen pflegt, die, besserer Einsicht folgend, sie verlassen – wenn sie dieselben auch zuvor in den Himmel erhoben hätten.
Wir wollen indeß all dies bei Seite lassen und auch die ganze oben erwähnte materialisirte Geistergesellschaft nicht in nähere Betrachtung ziehen; uns interessirt vielmehr hier nur das erwähnte Rothkehlchen, das mit den materialisirten Geistern erschien und wie ein lebendes hüpfte und zirpte. Woher kam dieses Rothkehlchen nach dem Glauben der Spiritisten? Aus nichts konnte es nicht wohl geschaffen sein; als künstlicher Automat kann es von ihnen auch nicht betrachtet werden, da nach ihrer Meinung all dergleichen Dinge hier unbedingt ausgeschlossen sind; ebenso wenig aber konnte ein natürlich lebender Vogel hier vorgeführt werden, da es sich ja um Geistererscheinungen handelt und dabei jeder natürliche Apparat streng ausgeschlossen sein soll. Demnach können die Spiritisten diesen erscheinenden Vogel gleichfalls nur als Verkörperung der Seele eines Rothkehlchens betrachten, wie sie den ebenfalls erscheinenden Säugling als materialisirte Seele eines Kindes ansehen, nicht aber als seelenloses Product, wie etwa die Kleidungsstücke, in denen die Seelen erscheinen. Das heißt: die Seele des Rothkehlchens hat aus dem Medium Kraft und Stoff erhalten, sich mit seinem Vogelleib wieder zu umkleiden. Also leben nach dem durch Augenschein begründeten, durch „Thatsachen“ bezeugten Glauben der Spiritisten auch die Vogelseelen im Jenseits fort; wenn aber die Vogelseelen, dann leben doch auch die Seelen der Thiere überhaupt fort, und zwar nicht blos der großen vollkommenen Thiere, sondern wohl auch der niederen Lebewesen, der mannigfaltigen Insecten, kurz, die Seelen von all dem, was da kreucht und fleucht; denn warum sollten gerade diese kleinen Thiere ausgeschlossen sein, da manche im Diesseits so namhafte Seelenfähigkeiten bekunden, wie z. B. die Bienen, die Ameisen etc.? Und so eröffnet sich dem Glauben der Spiritisten eine herrliche Perspective in’s Jenseits. Die Annehmlichkeiten, welche die Thiere im Diesseits genießen, werden tröstlicher Weise im Jenseits nicht entbehrt; die Liebhaber von Hunden und Pferden können getrost das Diesseits verlassen, und die zärtlichen Pflegerinnen von Schoßhündchen, Katzen, Canarienvögeln u. dergl. m. brauchen nicht untröstlich zu sein, wenn sie von ihnen scheiden müssen; sie können sie wohl wieder finden. Die Sache hat freilich auch ihre Bedenken. Wenn alle diese Thiere, diese Insecten, Bandwürmer und die mikroskopischen lebenden Wesen fortdauern, so kann es an mancher Belästigung auch kaum fehlen und Reinlichkeit – wenn es erlaubt ist, dies anzudeuten, – kann auch im Jenseits als dringendes Gebot erscheinen.
Noch ist zu bemerken, daß die Spiritisten diesen „Thatsachen“ gemäß einen ganz richtigen Instinct in der Sitte uncultivirter Völker der Vergangenheit und Gegenwart erkennen müssen, auf den Gräbern Verstorbener nicht blos Sclaven und Frauen, sondern auch Thiere zu schlachten, damit sie sich derselben im Jenseits sogleich bedienen können. Ueberhaupt muß der Spiritismus die Glaubensvorstellungen der Wilden und der von Wissenschaft und Aufklärung noch wenig berührten Völker über das Jenseits und den Zustand der Abgeschiedenen für viel richtiger erkennen, als die geistigere Auffassung gebildeter Menschen oder gar des bösen, „oberflächlichen Rationalismus“. Wenn solche Völker den Glauben haben, im Jenseits ihre Kämpfe und Zechgelage fortsetzen zu können, oder reiche Jagden abzuhalten, liebliche Mädchen zu finden etc., so entspricht dies ganz wohl der Behauptung der Spiritisten, daß die Menschenseelen im Jenseits noch in jenem Zustande sich befinden, jene Neigungen haben, in jener Unwissenheit befangen sind – wie bei ihren Lebzeiten auf Erden. Der Spiritismus wird also die Menschen noch weit mehr als die gläubige Orthodoxie vor der Vernunftaufklärung bewahren und mit aller Entschiedenheit von den vernunftgemäßen Anschauungen der modernen Bildung und Wissenschaft befreien müssen. Er kann sich ganz wohl in seiner Weise den achtzigsten Satz des famosen päpstlichen Syllabus aneignen, der jede Versöhnung mit der modernen Civilisation als verdammenswerthes Beginnen zurückweist.
[337] Noch in anderer Weise wird im Spiritismus den Thieren eine besondere Stelle zugetheilt und eine erhöhte Bedeutung gegeben. Nicht blos ihre Unsterblichkeit kommt als „Thatsache“ zur Kunde der Gläubigen, sondern auch die Erfahrung, daß manchen derselben höhere, übernatürliche Kräfte innewohnen und daß sie daher Dinge zu vollbringen vermögen, die kein sterblicher Mensch und am wenigsten die menschliche Wissenschaft, der „flache Rationalismus“ zu Stande bringen kann.
So werden z. B. viele Geschichten berichtet von mysteriösen Quälereien der Pferde während der Nacht, wodurch manche dieser Thiere zu Grunde gehen. Ein solcher Vorfall trug sich im Jahre 1838 in Eßlingen in Württemberg zu, wo damals ein württembergisches Reiterregiment in Garnison lag (Perty a. a. O. S. 322). Einige Pferde von Officieren, die in einem besonderen Stalle sich befanden, waren jeden Morgen ganz in Schweiß gebadet und todtmüde, sodaß ihre Besitzer in die größte Sorge geriethen, ihre um hohen Preis angekauften Lieblinge könnten zu Grunde gehen. Kein Mittel wollte helfen, bis endlich der Bediente erklärte, wenn man ihm ein paar Gulden gäbe, so solle der Teufelsgeschichte bald abgeholfen sein. Die Herren erklärten, wenn nur die Pferde gerettet würden, dürfte er auch das abenteuerlichste Mittel nicht scheuen, worauf er dann aussprach, nur durch einen ganz schwarzen Bock, an dem kein weißes Härchen sei, der aber ziemlich theuer zu stehen komme, könne hier geholfen werden. Der Bock ward für Geld herbeigeschafft, und von diesem Augenblicke an hörte die Belästigung der Pferde auf. So die ganz ernsthaft erzählte Geschichte.
Da nun nach spiritistischen Annahmen die nächtliche Quälerei der Pferde nicht anders zu erklären ist, als durch Einwirkungen von Geistern, so hat hier also ein Bock, ein natürlicher Bock, über die Geister gesiegt und demnach beurkundet, daß in ihm auch „übernatürliche“ Kraft verborgen sei. Gläubige Sachverständige erklärten zwar die Sache dahin, daß die Hexe, welche bisher die Pferde geritten, nunmehr den Bock reite und daher die Pferde verschone. Da aber der Bock sich ganz wohl dabei befand, so muß er jedenfalls mit „höheren“ Kräften ausgestattet gewesen sein, um dies ohne Gefährdung aushalten zu können. Die Sache ist zuverlässig höchst merkwürdig. Nicht blos keine natürliche Wissenschaft konnte Hülfe bringen (vom „flachen Rationalismus“ läßt sich ja nichts anderes erwarten), sondern auch geistliche Mittel helfen offenbar nichts, wie sie denn auch in anderen derartigen Fällen nichts helfen. Der Bock aber besiegt diese magische Macht, ohne einer besonderen Ermächtigung zu bedürfen und ohne eine Teufelaustreibung anzuwenden. Kein Wunder wäre es also, wenn ein solches Thier der besonderen Verehrung der Gläubigen empfohlen würde, und es zeigt sich hier wiederum, wie sehr die alten und die uncultivirten Völker mit ihrer Thierverehrung im Rechte waren gegenüber der flachen Aufklärung der neueren Zeit mit ihrer rationalistischen Philosophie und Naturwissenschaft.
Und doch klagen die Spiritisten noch über Vernachlässigung der Geisterkundgebungen von Seite der Wissenschaft und fordern die wissenschaftlichen Forscher zur Prüfung auf. Diese aber sind für solche Erscheinungen durchaus nicht die befähigtsten Richter, weil sie es dabei nicht mit der ehrlichen Gesetzmäßigkeit der Natur zu thun haben, daher trotz aller Vorsicht leicht hinter’s Licht geführt werden können, wodurch die Wissenschaft der Gefahr sich aussetzt, in Mißcredit zu gerathen. Viel competenter in solchen Angelegenheiten geheiligten Schwindels sind die Meister der natürlichen Zauberei und Taschenspielerkunst, obwohl auch sie nicht ganz gesichert sind vor Betrug und fuß- und händegewandter Täuschung. Wie vorsichtig die wissenschaftlichen Forscher sein müssen und wie ihre Betheiligung dem gläubigen Publicum gegenüber mißbraucht wird, haben wir an dem Schicksale des Gutachtens gesehen, das Professor Th. Schwann in Lüttich über die stigmatisirte Louise Lateau abgab. Er ließ sich bestimmen, wenigstens als Privatperson den Versuchen an dieser frommen Jungfrau am 26. März 1869 beizuwohnen, und obwohl er sich nichts weniger als günstig ausgesprochen hatte, ward doch sogleich von den geistlichen Theilnehmern, wie in allen ultramontanen Blättern verkündet und trotz aller Gegenerklärung aufrecht erhalten, daß der anerkannte Mediciner sich zu Gunsten des wunderbaren und übernatürlichen Charakters der Erscheinung ausgesprochen habe (Dr. Th. Schwann: „Mein Gutachten etc.“ 1875).
Ein wissenschaftliches Gutachten gegen die Erscheinung wurde also dem gläubigen Volke als ein Zeugniß für das „Wunder“ verkündet und zur Befestigung von Wahn und Aberglauben verwendet, trotz allen Protestes seines Urhebers. Der gläubige Spiritismus würde kaum anders verfahren, zum mindesten doch einem ungünstigen Urtheil der Wissenschaft ohne Bedenken von seinem Glaubensstandpunkt aus jede Anerkennung versagen. Wissen wir doch, wie erbittert die Wortführer sich oft gegen den „Rationalismus“ äußern. Und wie wenig sie geneigt sind, ihre Ueberzeugung von einem thatsächlichen Erscheinen und Wirken der Geister aufzugeben, das zeigt unter Anderem deutlich ihr Verhalten gegen die zwei Brüder Eddy, welche nicht blos den Geisterglauben aufgaben, obwohl sie „Mediums“ waren, sondern sogar Gegenbeweise zu liefern unternahmen. Man verwarf diese und verdächtigte die Personen, sowie sie gegen die gläubige Meinung auftraten.
Die Wissenschaft hat also allen Grund, hier mindestens recht vorsichtig zu sein und lieber manches verblüffende Räthsel noch ungelöst zu lassen, als sich der Gefahr auszusetzen, von einer geschickten Verschmitztheit genarrt und herabgewürdigt zu werden.
Zur richtigen Würdigung des Spiritismus in seinem Verhältniß zur Wissenschaft genügt es vorläufig, die historisch begründete Thatsache zu kennen, daß durch Wunderglauben, durch Zauberei, Geister- und Teufelsbeschwörungen und -Erscheinungen noch niemals ein Volk sich aus Unwissenheit und Barbarei zur Bildung und Gesittung erhoben hat, sondern daß dies stets nur durch natürliche Forschung, durch Wissenschaft und die davon ausgehende Bildung geschah; daß dagegen Zauberei und Geisterwesen stets in dem Maße abnahm, als die Wissenschaft und Bildung in einem Volke fortschritt. Mit dem modernen Spiritismus ist es nicht anders. Er enthält nichts, was die Menschheit in irgend einer Beziehung zu fördern vermag; er führt vielmehr nur zu alten verlassenen Vorstellungen uncultivirter Völker zurück. Irgend eine Besserung des physischen oder geistigen Lebens aber ist nicht von ihm zu erwarten. Oder haben alle diese heraufbeschworenen Geister jemals unser Wissen bereichert, uns neue und wichtige Erkenntnisse offenbart, bringen sie etwas mit sich, was irgend das Leben zu bessern vermag? Daß der Glaube an Zauberei, an Hexen und Geister der Humanität nicht günstig sei, ist aus der Geschichte doch hinlänglich zu erweisen. Selbst den tröstlichen Glauben an die Unsterblichkeit, auf deren Bestätigung durch das Wiedererscheinen der Seelen Verstorbener die Spiritisten so vielen Werth legen, können dieselben nicht fördern, denn das Jenseits wird vom Spiritismus zu den plattesten aller diesseitigen Zustände und Strebungen herabgedrückt, wodurch er gänzlich unfähig wird, edle Beweggründe für höheres Streben in der Menschheit anzuregen.
Aber an der Sache ist noch eine andere Seite. Allenthalben ist es Drang und Sitte bei cultivirten Völkern, den Verstorbenen am Grabe den Wunsch nachzusenden, daß sie des ewigen Friedens theilhaftig werden mögen. Es kann daher nicht wohlgethan sein, diesen Frieden im Interesse menschlicher, noch dazu ganz trivialer und unfruchtbarer Neugierde stören zu wollen. Als unschicklich und durchaus unstatthaft müßte es darum erachtet werden, die Geister Verstorbener zu einem kindischen Rumoren in Möbeln, zum Schreiben leeren Wortkrams auf Schiefertafeln, zu schauspielerischem Auftreten und Entfalten von Toiletten und anderen dergleichen Albernheiten zu veranlassen oder gar zu nöthigen – selbst wenn man es wirklich vermöchte. Doppelt verwerflich ist dies, wenn es sich um die großen erhabenen Geister der Menschheit handelt, die im Leben das Höchste angestrebt, auch mehr oder minder erreicht haben und Wohlthäter und Vorbilder für alle Zeiten geworden sind. Diese nun in den kleinlichen Rollen als Tischklopfer, Schreiber von Lappalien durch die Hand Anderer etc. verwenden zu wollen, das ist eine Erniedrigung, eine Verunehrung dieser edlen Seelen, welche Seitens des rechten Pietäts- und Anstandsgefühls stets die entschiedenste Zurückweisung erfahren sollte. Dem Wilden kann man dergleichen Gebahren mit ihren Abgeschiedenen zu Gute halten, nimmermehr aber civilisirten Menschen.
„Aber die Thatsachen?“ so höre ich fragen, „aber das große wissenschaftliche Problem, das hier zur Erforschung und Lösung vorliegt?“ – Selbst wenn wir ein solches Problem zugeben, so weit abnorme, aber ganz natürliche Verhältnisse dabei zur Erscheinung [338] kommen, so liegt doch keine Berechtigung vor, solche Dinge absichtlich und künstlich hervorzurufen, wie man ja auch niemals eine Epidemie absichtlich hervorrufen oder fördern wird, um diese Krankheit zu studiren. Vollends diejenigen aber, welche glauben, daß bei solchen Spielereien wirklich Geister, Seelen von Verstorbenen im Spiele seien, handeln frivol, wenn sie die Erscheinungen künstlich zu Experimenten hervorrufen, die weiter keinen Nutzen bringen, als daß sie die Neugierde reizen und Zeitvertreib gewähren. Man will die Thiere vor willkürlicher Verwendung zu nutzlosem Experimentiren im vermeintlichen Interesse der Wissenschaft schützen, und lebende Menschen sind ganz davor bewahrt. Sollen gerade die Todten einer rein frivolen Neugierde preisgegeben sein und gerade durch Leute, die an Unsterblichkeit der Seele glauben und sich dessen besonders rühmen? Sokrates, Paulus, Christus selbst etc. sind doch wahrlich nicht dazu da und haben nicht dadurch Bedeutung für die Menschheit zu erlangen, daß sie spiritistische Mediums von Stadt zu Stadt begleiten und zu deren Lebensunterhalt für einige Groschen klopfen oder tüchtige Sätze schreiben und dergleichen. Und selbst auch die übrigen Abgeschiedenen, wer sie auch gewesen, sollten davon verschont bleiben, wie Raritäten auf Jahrmärkten zur müßigen Unterhaltung verwendet zu werden – verwendet wenigstens der Behauptung oder der angeblichen oder wirklichen Willensmeinung dieser Mediums nach und im Glauben des wundersüchtigen Haufens, der niemals vergeblich zu solchen pikanten Schaustücken eingeladen wird.[4]
- ↑ Hygieine anstatt Hygiene zu schreiben und zu sprechen, halte ich nach sonstigem deutschem Sprachgebrauch nicht für gerechtfertigt. Die Gründe dafür habe ich in einer Notiz in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ vom 5. December 1877, Außerord. Beilage, angegeben, welche auch in das „Bair. ärztl. Intelligenzblatt“ 1877 Nr. 50 übergegangen ist.
- ↑ Verlag der M. Rieger’schen Universitäts-Buchhandlung (Gustav Himmer) in München 1878. 8. 428 Seiten. Preis 3 Mark.
- ↑ Veranlassung zu obiger Huldigung bot die jüngste poetische Gabe Geibel’s, welche unter dem Titel „Spätherbstblätter“ erschienen ist und von dem Dichter selbst als seine „letzte“ bezeichnet wird.
D. Red.
- ↑ Wir befinden uns in der Lage einen interessanten Beleg dafür zu geben daß die fragwürdige Rolle, welche im Spiritismus die Thiere spielen, bei den Spiritisten selbst nicht unbeachtet geblieben ist. Einer jener tiefsinnigen Popularphilosophen, wie sie an jeden mystischen Krimskrams sich anhängen, ein Herr J. Lohse in Hamburg, hat bereits im Jahre 1872 in seiner Broschüre „Jesus Christus und seine Offenbarungen über Zeitliches und Ewiges“ der Welt die Möglichkeit geboten, jene Thiererscheinungen aus einer richtigen spiritistischen Weltanschauung heraus zu begreifen. Nach dem Büchlein des Herrn Lohse, dessen Inhalt ihm direct von Christus übermittelt worden in der Absicht, die früheren durch die Bibel aufbewahrten mangelhaften Offenbarungen zu corrigiren, entwickelt sich die Welt in dreifachem Ausflusse aus Gott. Zuerst erscheint die Materie, später der Geist. Letzterer ist anfangs in der unorganischen Materie eingekörpert und gelangt nach einer Seelenwanderung durch das Pflanzen- und Thierreich schließlich vom arabischen Pferde direct zur Menschenexistenz. Die in unserem Artikel erwähnte Rothkehlchenseele dürfte damals soeben eine kleine Erholungspause zwischen zwei Einkörperungsstadien gemacht haben und heute bereits den Körper eines Vierfüßlers bewohnen, um dereinst zu einem menschlichen Dasein befördert zu werden.
Vielleicht interessirt es unsere Leser, auch über die späteren Schicksale dieser ehemaligen Rothkehlchenseele etwas zu erfahren. Die menschliche Seele hat eine Reihe Geisterregionen vor sich, welche sie, zum Theil schon bei Lebzeiten, in allmählicher Vervollkommnung zu durchklettern vermag. In der ersten Region wird ihr ein Schutzgeist aus der zweiten zugesellt, welcher ihre Entwickelung bis zum Uebergange in diese zweite leitet. Beim Uebergange, sozusagen als Abgangszeugniß, bekommt sie den dritten Urausfluß aus Gott eingepflanzt: den göttlichen Keim oder Geist. Der Act der Einpflanzung ist die Wiedergeburt. Die Entfaltung dieses Keimes, welche die Seele höher und höher führt, überwacht der heilige Geist, später Christus, endlich Gott selber. Der heilige Geist hat sich seither erst bis zur sechsten, Christus bis zur dreißigsten Region emporgeschwungen.
Der weitere Inhalt des wunderlichen Systems gehört nicht hierher. Wohl aber mögen einige Citate aus Vor- und Nachwort gestattet sein. Nachdem der Verfasser seine Verwunderung ausgesprochen, daß so wenige Menschen sich dem Spiritimus zuwenden, von dessen Wahrheit sich jeder leicht überzeugen könne, und die Frage, ob man Jedem anrathen solle, Umgang mit Geistern zu cultiviren, mit Nein beantwortet hat, bemerkt er: „Jeder Mensch, der noch nicht in der Erlösung steht ..., kann eben vermöge seines Standpunktes nur mit Geistern im All (auf der ersten Stufe) verkehren, die oft noch weniger wissen, als er, und sich selbst vielleicht ein Vergnügen daraus machen, ihn irre zu leiten; dagegen kann jeder Mensch, welcher erlöst ist oder der Erlösung nahe steht, mit Geistern auf den höheren Planeten und denen, die in der zweiten Region stehen, verkehren und durch diese viel erfahren, was ihm sehr nützlich sein kann. Wenn er aber hier in der zweiten Region steht, kann er auch mit Geistern in der dritten Region verkehren und wenn er sehr hoch in der dritten steht, was hier möglich ist, kann er mit Geistern noch höherer Regionen und sogar mit Christus selbst schreiben. Referent hat früher mit verschiedenen Geistern der zweiten Region geschrieben, mit Francke aus Dresden (?), mit Schleiermacher und besonders mit Baader; auch in der dritten Region mit Petrus, Paulus und Johannes. Gegenwärtig schreibt er seit einem halben Jahre mit Christus“ – was die Veranlassung zur Herausgabe der betreffenden Schrift ist. Am Schluß dann folgendes Gespräch zwischen Herrn J. Lohse, Moses, Paulus, Christus: „‚Moses, kennst Du meine Schrift mit Christus?‘ ‚Ja, die kenne ich.‘ ‚Bist Du damit zufrieden?‘ ‚Ja, sehr bin ich das.‘ ‚Hast Du jetzt schon gewußt, was ich schreibe?‘ ‚Nein, das habe ich nicht.‘ – ‚Paulus, kennst Du meine Schrift mit Christus?‘ ‚Ja, die kenne ich.‘ ‚Billigst Du, daß ich Manches anders darstelle, als Du es gethan?‘ ‚Ja, das billige ich sehr: thue es!‘ ‚Auch Johannes und Petrus?‘ ‚Ja, ebenso wie ich.‘ ‚Habt Ihr das jetzt alles schon gewußt, was ich schreibe?‘ ‚Nein.‘ ‚Können noch alle Geister bis zur dreißigsten Region daraus lernen?‘ ‚Ja, das können sie.‘ ‚Thun sie es auch?‘ ‚Ja, das thun sie.‘ – ‚Christus, soll ich das eben von Paulus Gesagte dem Schlußworte beifügen?‘ ‚Ja, das sollst Du, ganz so wie es gesagt ist.‘“ – – Und nun wage noch zu zweifeln, Welt!D. Red.
Farbenmusik. Seit jeher hat sich eine Vergleichung der Töne mit den Farben aufgedrängt; die Maler sprachen von Farbentönen wie die Musiker von Klangfarben und beide von Harmonien, Dissonanzen etc. der Farben und Töne. Als Newton das weiße Sonnenlicht durch das Prisma in eine Farbenscala zerlegt hatte, da stellte er, einzig der siebentönigen Tonleiter zu Liebe, sieben Hauptfarben auf; andere Forscher fanden, daß die Vocale ganz deutliche Farben besäßen, das; z. B. i gelb und u blau seien, ja Leonhard Hoffmann in seinem Buche über die Farbenharmonie (1786) verglich das reine Blau dem Tone der Violine, das Grün der Menschenstimme und fand die Klänge der Clarinette gelb, der Trompete hochroth, des Waldhorns purpurn, des Fagotts violet, des Violoncells indigoblau etc. Auf diese Vergleiche gestützt versuchte zuerst der Physiker Bertrand Cassel (1688 bis 1757) ein Farbenclavier zu construiren, in welchem das Erscheinen harmonischer und dissonirender Farben in bestimmter Folge den Eindruck einer Farbenmusik hervorbringen sollte. Diese Idee ist ihrer Zeit sehr viel besprochen worden, aber es scheint nicht, daß sie jemals mit einigem Erfolge ausgeführt worden wäre. Neuerdings hat der englische Physiker Sedley Taylor in Cambridge, von den Versuchen mit dem Telephon ausgehend, einen Apparat erdacht, der das Schauspiel einer Farbenmusik in prachtvollster Weise verwirklicht, und den er Phoneidoskop genannt hat. Das Instrument, welches von der Firma C. Tisley u. Comp. in London bezogen werden kann, besteht einfach aus einer metallenen Röhre von der Gestalt eines L, die auf einem kleinen Gestell befestigt ist. An das wagerechte Rohr ist ein Gummirohr mit Mundstück befestigt, um bequem den Klang der Stimme, einer Stimmgabel oder eines musikalischen Instrumentes in das Rohr einzuleiten. Auf die obere Oeffnung werden kleine Blechscheiben gelegt deren verschieden geformte Oeffnungen durch einen Kameelhaarpinsel und gutes Seifenwasser mit einer Seifenblasenhaut versehen werden. Sobald man nun mittelst des Mundstückes einen musikalischen Ton auf das farbespielende Häutchen leitet und dasselbe gleichsam zum schwingenden Telephonplättchen macht, bilden sich prachtvolle Farbenwirbel mit dazwischen stillstehenden Farbenstreifen ähnlich den Klangfiguren, die aber beständig Färbung, Form und Geschwindigkeit ändern, je nachdem das Häutchen dünner wird, der Ton wechselt oder seine Stärke verändert. Die in das Rohr gesungene Tonleiter bringt eine ganze Folge der herrlichsten kaleidoskopischen Farbenmuster, die sich in unerschöpflicher Fülle immer neu und anders gestalten, bis dazwischen schwarze Streifen und Punkte entstehen, worauf das Häutchen platzt.
Freudiger Bericht und neue Bitte. „Sicherlich giebt es noch kinderlose Ehepaare genug, die ihr Herz nicht an einen Hund oder eine Ratte, an einen Canarienvogel oder einige Blumenstöcke verloren haben und die sich freuen, ein armes Kind und mit ihm sich selbst glücklich machen zu können“ – mit dieser Zuversicht sprach die „Gartenlaube“ im vorigen Jahrgange (S. 768) die Bitte für drei arme Schullehrerskinder aus, und schon auf S. 800 konnten wir melden, daß alle drei Waisen eine neue Heimath und neue Eltern gefunden haben. Der Segen jener Bitte ist aber noch größer geworden. Es hatten sich weit mehr Eltern angeboten, als Kinder da waren. Diesem Mangel sollte rasch abgeholfen werden. Wir dürfen nicht verschweigen, daß uns dazu der menschenfreundliche Eifer eines Schulmannes, den selbst ein Häuflein Kinder in die Sorgen und Freuden der Würde eines Vaters und Familienhauptes längst eingeweiht hat, in opferfroher Weise behülflich war. Dank seiner gewissenhaften Bemühung können wir heute berichten, daß auf jene Bitte hin im Ganzen zwölf Kinder, lauter arme Waise, welche öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten oder „Mindestfordernden“ zugefallen wären, liebe Eltern und das Glück der Familienerziehung gefunden haben. Zwei Mädchen und ein Knabe, die bisher unzertrennlich gewesen waren, blieben beisammen, einen einjährigen Knaben holte der neue Vater selbst zur Weihnacht ab und stellte ihn seiner Gattin unter den Christbaum. – Ja, es ist noch schön auf der Welt, wo die reine Menschenliebe so zu handeln vermag. Diese erhebende Erfahrung giebt uns den Muth zu der folgenden weiteren Bitte, die gewiß nicht unerhört bleiben wird.
Ein dreizehnjähriger Knabe von sehr gewinnender körperlicher und geistiger Bildung steht in Gefahr, am Unglück seiner Mutter mit zu Grunde zu gehen. Sie haben in jahrelanger Trübsal gelebt und – „das Elend nietet fester, als das Glück“. Der Knabe hat Niemanden auf der Welt, als seine Mutter; erliegt sie den Entbehrungen, was wird aus ihm? Sie, einst eine tüchtige, hochgebildete Lehrerin aus bester Familie, ist durch Krankheit in Noth gerathen und aus der Noth nicht wieder emporgekommen. Vielleicht erfreut das Herz kinderloser Eheleute der Gedanke, dem begabten Knaben den Lebenspfad zu ebnen, vielleicht auch findet für die Mutter sich eine Hand, welche ihr hilft, sich mit ihren reichen Kenntnissen als Lehrerin ihr Brod wieder zu erwerben. Wir dürfen für diese Unglücklichen nicht ohne höhere Erlaubniß sammeln, aber wir werden Denjenigen, welche sie direct unterstützen oder des jungen Menschen sich annehmen wollen, gern die nöthige Adresse mittheilen.