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Die Gartenlaube (1877)/Heft 52

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[865]

No. 52.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Nach fünfundzwanzig Jahren!

Vergangen sind nun fünfundzwanzig Jahre,
Seit dieses Blatt hinaus in’s Weite trieb,
Und längst zog heimwärts auf der stillen Bahre
So mancher Freund, der’s las, und der’s beschrieb,
Und ob wir neue immerdar gewannen,
Die Schaar der Treuen täglich sich vermehrt,
Ach! Vieles nahmen Jene mit von dannen,
Das, unersetzlich, niemals wiederkehrt: –
In tiefe Wehmuth muß es uns versenken,
Wenn uns’rer Todten heute wir gedenken.

Und blicken wir auf unser eig’nes Leben:
Kein steter Frühling hat uns angelacht,
Manch’ rauher Sturm ließ auch das Blatt erbeben,
Oft drohte schon des Winters finst’re Nacht;
Doch sei vergessen, was wir je gelitten!
Auch uns’re Mühen krönt der schönste Lohn;
Es ist vollbracht, wofür auch wir gestritten,
Wofür auch wir erfahren Haß und Hohn –
Die lange Schmach der Zwietracht ist vernichtet,
Und neu geeinigt Deutschland aufgerichtet.

Mit allen Fasern haben wir gehangen
An dir, geliebtes, heil’ges Vaterland,
Die rastlos wir um die Getrennten schlangen
Des deutschen Geistes unzerreißbar Band;
Wir haben Noth und Leid mit dir getragen;
Wir kämpfen ohne Wanken immerfort,
Bis du dereinst wirst hoch und herrlich ragen,
Des Rechtes und der Freiheit Felsenhort,
Und daß dein Ruhm von Jahr zu Jahr sich mehre,
Das sei in Zukunft uns’re höchste Ehre!

Doch eine Stätte haben wir erlesen –
Dort ruhen wir am allerliebsten aus;
Dort blüht im Keime still das deutsche Wesen,
Am deutschen Herd im echten deutschen Haus;
Wo hart sich müht der Vater für die Seinen,
Im trotz’gen Knaben schon der Muth sich bäumt,
Ein deutsches Lied die Mutter singt den Kleinen,
Der blonden Jungfrau blaues Auge träumt –
Hier ist des deutschen Lebens Halt und Mitte,
Im Heiligthum der deutschen Zucht und Sitte.

Das ist die Heimath uns’rer stolzen Siege,
Die letzte Hoffnung in der höchsten Noth,
Und haben uns’res Glückes keusche Wiege
Die jüngsten Tage frevelhaft bedroht –
Des Schwindels wilde Jagd, die dumpfe Reue,
Es überwand sie die gesunde Kraft;
Bei seiner Arbeit ist das Volk auf’s Neue,
Die ehrlich nur im eig’nen Schweiße schafft,
Und ob die Frucht einst and’re Schnitter mähen,
Der Zukunft Ernte gilt auch unser Säen.

Albert Traeger.
Die zehnte Sprache.
Novelle von Rudolf Gottschall.
(Schluß.)

Es war ein schwüler Sommertag; der Sonnenbrand lag blendend auf den hellen Sandfelsen an der böhmisch-schlesischen Grenze; desto kühler war es in dem Felsenlabyrinth in Weckelsdorf, dem neu entdeckten Naturwunder. Adersbach ist ein Felsengarten, der mehr im französischen Geschmack nach der Schnur gezogen; Weckelsdorf ist ein Felsenpark, in welchem die Felsen oft als Versatzstücke für landschaftliche Decorationen verwendet und in dem Schatten des Waldes zerstreut sind.

Eine Gesellschaft verschiedener Besucher lauschte gerade in den hohen Hallen des Naturdomes zu Weckelsdorf dem Orgelspiel, welches wie in majestätischen Fugen aus den Spalten desselben hervorzuquellen schien. Der Zauber beruhte zwar auf einer künstlichen Täuschung; es war eine Drehorgel, welche an einer Stelle gespielt wurde, von der aus ihre Klänge in das Felsenlabyrinth eindrangen und durch die Akustik der Natur zu prachtvollen orgelartigen Tönen anschwollen, aber die Täuschung war so wirkungsvoll, daß sich keiner der Anwesenden dem Eindruck feierlicher Andacht zu entziehen vermochte.

Darauf hielt der Fremdenführer in dem Naturdom eine Predigt. Die Narrenfeste Altfrankreichs kehren doch immer wieder, wenn auch in veränderter Form; diese Predigt erinnerte an dieselben. Sie begann mit schwunghaften Versen in Mahlmann’schem Styl und endete mit einer Wendung an die Mildthätigkeit des Publicums und einer Berufung auf den Preistarif.

„Corpo del diavolo!“ brummte einer der Anwesenden in seinen Bart; „auch die erhabensten Natureindrücke kann man nicht ungestört genießen; immer mischt sich die täppische Eitelkeit und Behaglichkeit der Menschen hinein. So macht sich auch dieser Fremdenführer aus den Felswänden ein Piedestal, um seine albernen Verse gegen gleich baare Bezahlung herzudeclamiren. Und diese bunte gemischte Gesellschaft mit den rotheingebundenen Reisebüchern in der Hand und den Ausrufungszeichen im Gesicht! Daß man hier nicht allein wandern darf in der erhabenen Einsamkeit dieser Felswüste – man könnte sich hier oft in das Inferno träumen.“

Zornig schlug der Hauptmann mit seinem Stock an einen der Felsenpfeiler, der die Hallen des Naturdomes bilden half, und ließ dann die Gesellschaft, die sich nach dem pflichtmäßigen Genuß dieses cyklopischen Felsentempels wieder an die enge Pforte drängte, an sich vorüberziehen, etwa wie Polyphem die Hammel des Odysseus und mit einer keineswegs menschenfreundlicheren Gesinnung.

[866] Plötzlich war es ihm – nein, es konnte keine Vision sein.

Hatte doch eben ein Besucher, von Kopf bis zu Fuß sommerlich hell wie ein Kohlweißling, seine Cigarre angebrannt, und bei dem plötzlichen Schein, der die Düsterheit des Felsendomes erhellte, glaubte er ein Gesicht zu erkennen – ein Gesicht, das er seit einem Jahr hundertmal in seinen Träumen gesehen. Doch es war nur ein Augenblick; da verschwand es wieder in der Menge der bunten flatternden Bänder und der Modehüte, die hoch oben auf den aufgethürmten Frisuren saßen. Das Gesicht aber, das er zu erkennen glaubte, trug den schlichten, runden, breitrandigen Strohhut mit den Feldblumen am blauen Bande.

Der Hauptmann hatte nur einen Gedanken, dem Traumbild nachzustürzen, das er im flüchtigen Lichtschein gesehen; draußen im Licht des Tages war keine Täuschung mehr möglich. Doch nicht so leicht war es, seiner krampfhaften Ungeduld zu folgen. Ein langer Zug schöner Damen, zum Theil mit staubaufwirbelnden Schleppen, drängte sich durch die enge Pforte, und die Galanterie gebot ihm, den Parademarsch dieser Modekupfer nicht zu stören. Wenn er sie wieder verlor, nachdem er sie kaum gefunden hatte! Dieser Gedanke ließ ihn alle Rücksicht vergessen. Mit einem kühnen Entschlusse schlüpfte er mitten in den Zug hinein.

Er beflügelte seine Schritte und ging, an verschiedenen Gruppen vorüber, auf den Waldwegen, zu denen sich hier anfangs das Felsenlabyrinth erweitert; doch den entzückenden Strohhut bemerkte er nicht darunter. Sollte sie einen andern Weg nach Weckelsdorf zurückgegangen sein?

In diesen mißmuthigen Gedanken wurde er plötzlich durch den überraschenden Anblick eines großartigen Amphitheaters unterbrochen. Ein herrlicher Architekt, dieser Quadersandstein! Welche prachtvolle Rotunde er hier errichtet hat! O, wenn es Berg- und Waldgeister giebt, so müssen sie in Mondnächten auf diesen Felsenspitzen ihre Nationalversammlung abhalten oder zusehen, wenn drunten in der mit Felsen durchwachsenen Arena die Elfen ihre Mondscheintänze aufführen. Auf der kleinen Bergfahrt, die der Hauptmann unternommen, hatte noch kein Naturschauspiel auf ihn einen so gewaltiger Zauber ausgeübt. Einen Augenblick vergaß er darüber sogar die Hast, welche seine Entdeckungsreise nöthig machte, und bewegte sich in langsamerem Schritt. Plötzlich, als der Weg um eine Felsenecke bog, sah er den schäferlichen Strohhut vor sich; jetzt war kein Zweifel mehr möglich; auf einer Bank saß Hulda – und ganz allein.

„Fräulein Hulda!“ rief er mit einem so triumphirenden Jubel, wie er vom Mast des Schiffes ertönte, als die Genossen des Columbus zuerst das langersehnte Land entdeckt hatten.

Hulda fuhr empor, die linke Hand auf’s Herz gepreßt.

„O, wie möcht’ ich Sie schelten!“ rief der Hauptmann jetzt herzlich auf sie zugehend und ihr die Hand schüttelnd, „so zu verschwinden, ohne eine Spur zu verrathen, so Ihre Freunde im Ungewissen zu lassen! Selbst den Dank für das reizende Vergißmeinnichtkissen konnte ich Ihnen nicht abtragen.“

„Die Verhältnisse zwangen mich dazu,“ sagte Hulda, deren Antlitz eine feurige Röthe überflog.

„Wie bin ich glücklich, Sie wiederzufinden! Wie oft habe ich an Sie gedacht, meine holde Francesca von Rimini –“

„Herr Hauptmann!“ sagte Hulda verlegen.

„Und Sie sind allein hier?“

„Nur mit meinem Vormund, der dort beschäftigt ist das Echo des Amphitheaters mit den Namen aller Hauptfirmen der Hansestadt Bremen zu ermüden.“

„Jetzt müssen Sie mir beichten; hier giebt es kein Entrinnen mehr.“

„Die Umstände, die mich damals bestimmten –“

„Mögen sein, wie sie wollen,“ warf der Hauptmann ein, „das ist gleichgültig. Ich habe ein Jahr lang Ihr Bild im Herzen getragen, ein Jahr lang über dem Räthsel gebrütet, welches den Namen Hulda Freiberg führt. Länger will ich mich nicht mit Schatten quälen – und ich habe ein Recht auf Enthüllungen, da ich sie selbst Ihnen zu geben vermag.“

„Sie selbst, Herr Hauptmann?“ fragte Hulda zweifelnd.

„Ich selbst, und wer weiß, ob das, was ich Ihnen mittheilen kann, nicht in Ihr Leben eingreift!“

„Das ist kaum möglich,“ sagte sie lächelnd, „ich habe den Schleier des Geheimnisses, in das ich mich hüllen mußte, Ihnen gegenüber doch niemals gelüftet, und so neugierig das Bergstädtchen auch ist, es wird doch an seiner unbefriedigten Neugierde, was mich betrifft, noch lange zehren müssen.“

„Sie irren, mein Fräulein. Ihr Schleier ist an einer Stelle durchsichtig; um es zu beweisen, brauche ich blos einen Namen zu nennen.“

„Und dieser Name?“

„John Smith,“ sagte der Hauptmann mit nachdrücklicher Betonung.

Hulda fuhr zusammen. Glücklicherweise ertönte gleichzeitig mit den Worten des Hauptmanns ein Böllerschuß, den der Vormund hatte abbrennen lassen; der Wiederhall sprang von Fels zu Fels, wie ein endloser Donner.

„Wie ich erschrocken bin!“ sagte sie, indem sie die Schuld auf den Lärm des Böllers schob.

„Ihr Vormund wird sich von dem Echo sobald nicht trennen,“ erwiderte der Hauptmann; „wie ich sehe, läßt er den Böller noch einmal laden. Ich beschwöre Sie, mein Fräulein – ein so günstiger Augenblick kehrt uns sobald nicht wieder – reden Sie, brechen Sie jetzt Ihr Schweigen! Das Glück Ihres Lebens steht auf dem Spiel, und ein alter vergessener Freund will nicht in die Einsamkeit zurückkehren, wo er längst seine thörichten Wünsche und Hoffnungen begraben hat, ohne diesen Augenblick für sich und auch für Sie, mein Fräulein, benutzt zu haben.“

„Woher kennen Sie Herrn John Smith?“ fragte Hulda.

„Das ist zunächst mein Geheimniß. Ich kenne ihn nicht, aber glauben Sie mir, Sie sollen ihn durch mich kennen lernen.“

Hulda sah den Hauptmann mit fragenden Blicken an, und seine letzten Worte erweckten in ihr eine unbestimmte Hoffnung; es schien ihr jetzt eine Pflicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie waren ungestört; der Vormund legte ein ganzes Capital in Böllerschüssen an und schien über die reiche Verzinsung durch ein höchst solventes Echo eine kindische Freude zu empfinden: denn man hörte ihn von fern mehrmals applaudiren, als wäre das Echo eine Primadonna oder Ballettänzerin. Freilich wurde die Erzählung Hulda’s oft zur Unzeit durch das lärmende Vergnügen unterbrochen; denn die Interpunction, welche die Böllerschüsse anbrachten, war keineswegs correct.

„Wie ich Ihnen erzählte,“ begann das anmuthige Mädchen, „habe ich meine Eltern verloren; mein Vormund, ein reicher Onkel in Bremen, nahm mich zu sich und verwaltete mein kleines Vermögen; es ist derselbe Herr, der dort so unermüdlich die Gebirgsartillerie commandirt. Trotz mancher Eigenheiten, zu denen auch ein zu häufiger Besuch des Bremer Rathskellers gehört, war er freundlich gegen mich, eine Freundlichkeit, welche nur, wenn die zwölf Apostel ihn in eine erregbare Stimmung versetzt hatten, bisweilen heftigeren Ergüssen Raum gab. Im Uebrigen ist er ein Ehrenmann, nur von engherzigen Lebensansichten. Da traf es sich, daß ein junger Geschäftsfreund aus London zu ihm kam –“

„John Smith,“ warf der Hauptmann dazwischen.

„Derselbe,“ sagte Hulda.

„Ich habe ihn gesehen, bei Ihrem Abbild, der kalten, steinernen Lautenschlägerin, gesehen mit seiner Byron’schen Cravatte, diesen fliegenden Engländer.“

„Ich flößte ihm eine mir unerklärliche Theilnahme ein, denn unsere Naturen sind grundverschieden; mir widerstrebte sein überlegener, spöttischer Ton. Er glaubte, weil er die Welt gesehen, weil er im Osten, wie im Westen zu Hause war, alles verachten zu können, was Anderen heilig ist. Er kam öfter nach Bremen und blieb länger dort, als seine Geschäfte nöthig machten; er nannte mich seine Lotosblume, doch ich hatte keine Lust, mich in einen Sumpf verpflanzen zu lassen, wo diese Blumen mit ihren indischen Göttern blühen. Versumpft erschien mir sein ganzes Wesen, geistig todt, trotz der aufflackernden Lichter des Witzes. Unglücklicher Weise nahm die Verzauberung zu, in die ich ihn versetzt hatte; er hielt bei meinem Onkel um meine Hand an. Ein Geschäftsfreund, eine glänzende Partie – Sie können sich denken, mit welchem Jubel der Antrag aufgenommen wurde. Der Onkel hielt mein Sträuben für eine kindische Laune; es begann eine Zeit der Marter für mich, die mich oft in Verzweiflung versetzte.

Da kam ein Zwischenfall. Ein kaufmännisches Unternehmen des Onkels war gescheitert; er wurde dadurch nicht [867] nur tief geschädigt, sondern gerieth in vollständige Bedrängniß – die helfende Hand von John Smith allein konnte ihn retten. Dieser war zartfühlend genug, mich als Preis seiner Hülfe zu verlangen. Ich wußte keine andere Rettung für mich, als die Flucht; meine Ersparnisse reichten zur Reise aus; mein Clavierspiel genügte, um mir fortzuhelfen. So zerriß ich mit einem kühnen Entschlusse unerträgliche Bande; ich entkam insgeheim und unbemerkt und hoffte in dem fernen Bergstädtchen vor allen Nachforschungen sicher zu sein. Sie hatten meinen blauen Augen und blonden Haaren wohl nicht solche Vermessenheit zugetraut?“

„Vermessenheit? Vielleicht eher als –“

„Herzlosigkeit, wollen Sie sagen? Ich reiste nicht ab, ohne ein Schreiben zu hinterlassen, in welchem ich sagte, daß ich mir ungestörte Bedenkzeit verschaffen wolle, doch daß ich bestimmt niemals Herrn Smith meine Hand reichen würde, wenn er jetzt meinen Onkel nicht aus seiner Verlegenheit rettete. Er hat es gethan; wir sind ihm Dank schuldig.“

Der Hauptmann schleuderte mit seinem Stocke einen Kiesel, der im Wege lag, herunter in die Arena des Amphitheaters.

„Doch auch mein stilles Asyl wurde verrathen. Ein reisender Bremer Kaufmann, der die ganze Provinz mit seinen Kaffeesorten unsicher machte, war auch bis in das Städtchen gedrungen und hatte mich zufällig auf der Straße gesehen. Er berichtete das in Bremen, und die Folge davon war, daß der Vormund und Herr John Smith mich zurückholten; ein fernerer Widerstand war unmöglich, er hätte mich mit den Gerichten in Conflict gebracht.“

„Und Sie sagten mir kein Wort –“

„Was ich in dem Städtchen erlebte, kam mir wie ein schöner Traum vor. Und so wollte ich auch Ihnen wie eine Traumgestalt entschwinden, keine Verwirrung bringen in ein so schönes glückliches Leben.“

„Glücklich? O nein,“ sagte der Hauptmann, „ein Leben ohne Wünsche ist vielleicht Glück, doch es ist ein dumpfes Glück, ein Glück der Unwissenheit. Es giebt auch eine Unwissenheit des Herzens, doch wenn einmal die Ahnung eines schöneren Lebens über uns gekommen ist, wenn glühende Wünsche unser Herz erfüllen, dann, ja dann – doch wo ist Ihr John Smith?“

„Gegenwärtig in Adersbach, wo er sich an Backhühnern und Ungarwein gütlich thut. Er wollte uns nicht hierher begleiten; er hätte nicht Lust, sich bei dem durcheinander geworfenen Kegelspiel der Weckelsdorfer Felsen zu langweilen.“

„Er ist Ihnen hierher gefolgt? So ist er wohl Ihr Bräutigam?“ fragte der Hauptmann zögernd.

„Er betrachtet sich vielleicht so; auch hege ich für ihn einige pflichtschuldige Dankgefühle in meinem Herzen, doch seit ich edle Menschen kennen lernte – was haben Sie mir über ihn mitzutheilen? Woher wissen Sie von ihm?“

„Er wurde erkannt, als er auf Ihrem Balcon stand.“

„Erkannt – und von wem?“

„Von einer meiner Schülerinnen, von Gabriele.“

„Gabriele, immer Gabriele!“ rief Hulda aufgeregt. „Bei jedem Schritte muß ich ihr begegnen.“

„Das arme Mädchen!“

„Arm – und von Ihnen bedauert? Mir kam sie sehr reich vor, reich an Geist und Bosheit. Doch sie und John Smith – wie findet sich das alles zusammen? In welche geheimen Intriguen bin ich verstrickt? Und Sie, der edelste aller Menschen, Sie hätten mit die Hand im Spiele?“

„Gabriele schenkte mir ihr volles Vertrauen.“

„Ich zweifle nicht daran,“ sagte Hulda erblassend mit einem feindlichen Blicke, der ihre sonst so morgenhellen Züge entstellte.

„Gabriele kennt John Smith; sie hat ihn in der Residenz kennen gelernt, als sie dort Gouvernante war. Er hat ihr seine Liebe erklärt.“

„Unmöglich!“ rief Hulda in heller Entrüstung.

„Er hat ihr schriftlich sogar die Ehe versprochen.“

„O diese Gabriele! Sie erzählt ja die reizendsten Märchen, eine allerliebste Scheherezade! Und Sie glauben –“

„Ich glaube es, weil ich den Brief von John Smith gelesen, weil ich ihn längere Zeit in Händen hatte und ihn jeden Augenblick wieder erhalten kann.“

„Von wem?“ fragte Hulda.

„Von Gabriele.“

„Sie correspondiren mit ihr?“

„Bisweilen.“

„O mein Gott! Ich wußte, daß dieses Mädchen mir Unheil bringt.“

„Unheil? Das nennen Sie Unheil? Ist es nicht ein Glück, seine Freunde kennen zu lernen?“

Hulda stand eine Zeitlang in Gedanken verloren.

„Sie sind überzeugt, daß jener Brief von John Smith geschrieben worden?“

„Gabriele lügt nicht. Als sie den Brief erhalten, kam es zu einer Begegnung zwischen Beiden, einer Liebesscene, welche belauscht wurde und das Mädchen um seinen Ruf und seine Stellung brachte. Doch statt sein Versprechen zu erfüllen, verließ er die Residenz am Tage darauf und gab der Geliebten nie mehr ein Lebenszeichen. Sie kennen jetzt John Smith.“

Es trat eine längere Pause ein. Der Hauptmann köpfte mit dem Stocke einige Disteln und begann, als Hulda noch immer schwieg, sogar eine Silberdistel, die mit ihrem Blumenstern am Boden festgewachsen schien, aus der Erde zu graben.

„Kommen Sie zu meinem Onkel!“ sagte Hulda dann mit entschlossener Miene. „Er ist ein Ehrenmann. Ich glaube, Sie haben mir die Freiheit wiedergegeben.“

Eben zog der Bremer Kaufmann die Börse, um die Böllerschüsse zu bezahlen, welche das Amphitheater zu seiner Freude und auf seine Kosten bis in seine Grundfesten erschüttert hatten. Er sah nicht ohne einiges Befremden seine Nichte im Geleite eines fremden Mannes herankommen. Der Hauptmann wurde als der Sprachlehrer aus dem Bergstädtchen vorgestellt, und so gingen sie weiter in freundlichem Gespräch, vorbei an den Obelisken und Pyramiden, den Felsenzungen und Felsennasen der phantastischen Trümmerstadt. Als sie durch das sogenannte Sibirien kamen, wo in den dunklen Felsgängen ein Eiseshauch weht und ein Häufchen Schnee dem heißesten Sommer trotzt, rief Hulda aus:

„So sieht es in manchen Herzen aus, in denen das Eis nimmer schmilzt.“

„Caramba,“ sagte der Hauptmann, „Sie haben Recht.“

Der spanische Ausruf gewann ihm augenblicklich die Theilnahme des Großhändlers, welcher längere Zeit in Südamerika, in Peru und Ecuador, zugebracht hatte. Bald war eine Unterhaltung in fließendem Spanisch in bestem Gange; Hulda hörte mit Freuden zu, obschon sie kein Wort davon verstand. Im lebhaften Gespräch erreichten sie das Gasthaus, wo der Kaufmann es sich nicht nehmen ließ, den theuersten Ungar zu bestellen. Mitten in einem Getümmel von Gästen, bei einem Glase köstlichen Tokaier, machte der Hauptmann seine Eröffnungen über John Smith. Hulda sah an dem Schreck des Onkels, daß der entscheidende Schritt geschehen war; er schien anfangs noch Bedenken zu hegen, die wurden aber durch den Hauptmann siegreich widerlegt.

„Kommen Sie alsbald mit nach Adersbach!“ fuhr der Kaufmann plötzlich in Deutsch heraus; „canario! Die Sache muß noch heute in’s Reine kommen. Es ist Platz in unserem Wagen – seien Sie unser Gast!“ – –

Bald wühlten die Räder der eleganten Equipage den Staub auf den holperigen Landwegen auf, welche die beiden Felsenstädte mit einander verbanden. Der Mond ging blutroth am Horizonte auf; es war ein sternenheller Abend. Der Onkel war auf dem Rücksitz eingeschlafen, von dem Tokaier in süße Träume gewiegt. Der Hauptmann und Hulda saßen lange stumm neben einander.

„Haben Sie bisweilen meiner gedacht?“

„Ach, Ihr reizendes Stübchen war mir eine Welt,“ sagte Hulda, „so unter den Geistern aller Völker und Zeiten zu leben im Verkehr mit allem Schönen und Großen, was sie geschaffen und gedacht!“

„Leider gilt Ihre Theilnahme nur dem Stübchen, nicht dem unheimlichen Bewohner.“

Hulda schwieg. Der Wagen erhielt von einigen Steinen des Weges einen so gewaltigen Ruck, daß der Onkel zu erwachen drohte; doch die Gefahr ging vorüber.

„Und wenn ich Ihnen nun sage, daß Sie das Glück dieser freundlichen Idylle zerstört haben, daß mir alle diese Sprachen [868] jetzt oft erscheinen wie eine babylonische Verwirrung, ein sinnloses Durcheinander der sich abquälenden Menschheit, daß mich ein Zug unbegrenzter Sehnsucht in die Ferne zieht – ich weiß selbst nicht wohin, doch nein, ich weiß es nur zu gut – zu der feindlichen Macht, die meines Lebens stilles Genügen zerstört hat.“

Hulda’s Augen leuchteten. „Sie sprechen wohl von Gabriele?“ warf sie diesmal mehr freundlich als bitter ein.

„Und wieder wie damals vor der Mühle weisen Sie mich kalt zurück. So sagen Sie es doch wenigstens, daß ich Ihnen gleichgültig bin, daß Sie nichts für mich empfinden können!“

„Ich kann nicht lügen,“ flüsterte Hulda.

„O, das war nur ein geflüstertes Wort, doch es ruft mächtig jedes Echo in meinem Herzen wach. Ich bin Ihnen nicht gleichgültig, und dennoch weisen Sie mich zurück.“

Wieder regte sich der Onkel; der Hauptmann hätte ihm in diesem Augenblicke den giftigsten Schlaftrunk geben mögen und sein Seelenheil auf’s Spiel gesetzt. Glücklicher Weise siegte noch einmal der ungarische Trank über die böhmischen Landwege.

„Sie wissen jetzt,“ sagte Hulda, „was mich damals verstummen ließ. Es war die Sorge um Ihre Ruhe. In unklare, verworrene Verhältnisse hätte ich Sie hineingezogen, und wenig Aussicht war auf eine glückliche Lösung. Jetzt, ja seit heute ist es anders geworden –“

Der Hauptmann äußerte seine Freude über das Wort in Ausrufungen aus drei Sprachen und einem warmen, nicht unerwiderten Händedruck.

„Anders – wenn Sie mir Ihre Neigung bewahrt haben, wenn nicht Gabriele –“

„Corpo di bacco!“ rief der Hauptmann ärgerlich, „Mitleid ist nicht Liebe.“

„Nun denn,“ sagte Hulda mit warmer, wachsender Innigkeit, „so mögen Sie es erfahren, daß ich seit unserer Trennung keinen anderen Gedanken hatte, als Sie, daß ich in Sehnsucht Ihrer dachte. Nichtssagend und leer kam mir diese Jugend vor, welche die Begeisterung für das Edle und Schöne verloren hat, alt, abschreckend in ihrer geistigen Verknöcherung, in der kläglichen Lüge, mit der sie Liebe und Bewunderung heuchelte. Da dacht’ ich an Sie, an die Jugendfrische Ihres Geistes und Wesens. Was war nun Bremen und Hamburg, Calcutta und New-York? Ich warf das Städtchen in die Wagschale, und sie sank in unergründliche Tiefen hinunter – mein Alles, mein Leben!“

Der Hauptmann besiegelte dieses Geständniß mit einem feurigen Kuß. Er wunderte sich, daß über sein unerhörtes Glück nicht die Sterne aus ihren Bahnen fuhren; er sehnte sich nach einem mitfühlenden Freunde, und wäre es nur sein Skarnikatis.

Der Onkel fuhr auf und rieb sich die Augen – ein Hofhund hatte mit lautem Geheul angeschlagen; der Wagen rasselte über das Pflaster; man war in Adersbach. John Smith stand, eine feine Havanna rauchend, an der Thür des Wirtshauses.

„Nun, wie geht es den Naturwundern da drüben? Es sollen wunderbare Zahnstocher sein, welche dieser schlesische Gott – Rübezahl heißt er, glaube ich – bisweilen aus Langerweile benutzt. Ich langweile mich riesig, ohne ein Gott zu sein.“

Der Empfang von Seiten Hulda’s und des Kaufmanns war kalt genug, Smith ließ sich indeß dadurch nicht stören; dem Hauptmann gegenüber spielte er den indischen Lord und zeigte freundliche Herablassung. Doch der alte Kaufmann besaß feste Zähigkeit in seinen Vorsätzen; ohne solche Zähigkeit wird man kein Millionär; er wollte das Deck noch heute klären, wie er seiner Nichte wiederholt versicherte, und nahm Smith zu einer wichtigen Unterredung bei Seite. Dieser ließ die Cigarre ausgehen, denn er glaubte, es handle ach um ein glänzendes überseeisches Geschäft. Die Unterredung dauerte eine Stunde lang. Als die beiden Nabobs von einem Spaziergang in die Felder zurückkehrten, bestellte John Smith augenblicklich Pferde und Wagen. Ueber den Inhalt des Gespräches verlautete wenig; Smith erklärte nur, plötzlich abreisen zu müssen, und setzte sich noch zu kurzem, behaglichem Gespräche an den Tisch. Er leitete dasselbe unbefangen auf Gabriele, und Hulda machte aus ihrem Widerwillen gegen das geistig scharfe, aber herzlose Mädchen kein Hehl. Der Wagen des Engländers war vorgefahren.

„Es freut mich, daß sie Ihnen mißfällt, liebe Hulda. Wir haben den gleichen Geschmack. Im Uebrigen ist sie meine Braut, und ich werde sie heirathen. Man muß sein Wort halten; zwei schöne Augen ließen mich dies vergessen.“

Er drückte Hulda freundschaftlich die Hand und empfahl sich, ein Lied trällernd. Von dem schweigsamen Onkel erfuhren sie nur, daß Smith aus seinem Verhältniß und seinem Eheversprechen kein Hehl gemacht, dieses letztere indeß nur für eine Uebereilung erklärt habe.

Im Feuer des ersten Entzückens zögerte der Hauptmann nicht, um Hulda’s Hand anzuhalten. So sah der Gatte freilich nicht aus, welchen der Onkel für seine Nichte im Geiste erkoren hatte, und die Mienen desselben verfinsterten sich in bedenklicher Weise. Er gestand nun, daß er ihn für einen Ehrenmann, aber die Partie für seine Nichte nicht geeignet halte. Ein junger englischer Kaufherr, mit Pflanzungen in Brasilien und einer Estancia in Buenos Ayres mit unermeßlichen Rinderheerden, war sein Ideal gewesen. Er versprach, sich den Antrag, der ihm so plötzlich gekommen, zu überlegen. – –

Monate vergingen; die Brieftauben der Liebe flogen hin und her. Hulda’s zärtliche Zuschriften enthielten Versicherungen ausdauernder Liebe, doch sprachen sie stets von des Onkels hartnäckiger Abneigung, seine Zustimmung zu geben. Endlich kam ein entscheidendes Schreiben. Der Onkel sehe ein, daß er auch den Gerichten gegenüber seine Weigerung nicht aufrecht erhalten könne; er werde der Hochzeit kein Hinderniß in den Weg legen, aber er ziehe seine Hand ab von seiner Nichte, und auf jede Erbschaft müsse sie verzichten. Die Zinsen ihres eigenen, sehr bescheidenen Vermögens werde er ihr nicht entziehen; man erwarte den Hauptmann in Bremen.

Hell brannten die Freudenfeuer in Kopf und Herzen des braven Mannes. Was kümmerten ihn Erbschaft und Zinsen? Sah er doch aus jeder Zeile, wie er von dem reizenden Mädchen geliebt wurde! Das war ein Hin- und Herlaufen; Skarnikatis hatte immer Sonnenschein im Gesichte, der allen Zofen in den Nachbarhäusern auffiel; ja diese wollten sogar einmal eine Thräne in seinem Auge bemerkt haben, die sie nach genauesten Untersuchungen nur für eine Freudenthräne halten konnten; irgend ein Leid war ja dem treuen Diener nicht widerfahren.

Der Hauptmann miethete ein kleines Quartier mit der Aussicht auf die Berge; die Bedientenstube durfte nicht fehlen, und wenn die anderen Stübchen deshalb noch so eng wurden; denn nie hätte er sich von Skarnikatis getrennt. Er sicherte sich eine größere Zahl von Schülern und Schülerinnen, hoffte, daß auch Hulda ihre Clavierstunden fortsetzen würde, und begab sich dann mit seinem litthauischen Freunde auf die Reise nach Bremen. Er hielt es für ein glückliches Vorzeichen, daß an diesem Tage gerade seine italienische Woche begann. Seine Regimentsuniform mit allen Orden hatte er mitgenommen.

Der Empfang am Bahnhofe in Bremen war sehr freundlich; der Onkel schien es für eine Ehrensache zu halten, seine Abneigung gegen die Wahl seiner Nichte keineswegs zur Schau zu tragen. Bei der Vorfeier und der Feier der Hochzeit selbst waren die angesehensten Bremer Patricier mit ihren Frauen und Töchtern zugegen. Der Hauptmann war tief bewegt über die Auszeichnungen, die ihm zu Theil wurden, über die Herzlichkeit, mit der man ihm entgegenkam.

Zurück in das stille Städtchen! Er rüstete am Tage nach der Hochzeit die Abreise und sprach dem Onkel seinen herzlichen Dank dafür aus, daß er, obgleich er die Heirath nicht gebilligt, eine so großartige Hochzeitsfeier veranstaltet habe, die allerdings mit den bescheidenen Lebensverhältnissen, in die er Hulda einführe, in auffallendem Widerspruche stehe. Der Onkel lud ihn ein, noch einen Tag zu bleiben und die Villa in Augenschein zu nehmen, die er sich vor der Stadt habe bauen lassen.

Es war ein schöner Sommertag, als sie hinausfuhren. Schon von der Heerstraße aus sahen sie hinter dem eleganten Gitter hochwipflige Bäume, hinter denen sich das Landhaus verbarg. Da, über reizenden Baumanlagen und Terrassen, die mit mächtigen Oleanderbäumen geschmückt waren, erhob sich der säulengetragene stattliche Bau, gekrönt von einer neunfenstrigen Rotunde. Den Hauptmann ergriff ein Gefühl des Bangens und schwermüthiger Bedrängniß. An so glänzende Verhältnisse war Hulda gewöhnt – wie würde sie sich zurechtfinden in einem ängstlich kleinen, auf den täglichen Erwerb angewiesenen Leben!

[869]

Dr. von Lauer, Leibarzt des Kaisers.
Facsimile-Holzschnitt nach Anton von Werner’s „Studienköpfen“.


Zwischen diesen Gefühlen schwankend, folgte der Hauptmann der Führung des Onkels, zunächst durch die reizende, blumengeschmückte Veranda in eine Reihe von Zimmern, die neu und elegant möblirt, mit prächtigen Tapeten und Teppichen geschmückt waren. Das eine der Zimmer schmückte ein schöner Concertflügel; der Hauptmann wollte seinen Augen nicht trauen, als er im Käfig denselben Vogel erblickte, der ihm gegenüber im Fenster gehangen, unter derselben Epheuumrankung; ja, war es möglich? da stand ja die Lautenschlägerin von Epheu umrankt, ganz wie ihm gegenüber auf dem Balcon.

„Das ist Hulda’s Zimmer, wenn sie zum Besuche kommt,“ sagte der Onkel erläuternd.

Ehe sie die Treppe hinaufstiegen, mußte der Hauptmann sich noch das Bedientenzimmer ansehen. Es war sehr sauber [870] und geräumig und mit jeder Bequemlichkeit ausgestattet. Auch bemerkte er zwei große Bilder; das eine stellte ein Artilleriemanöver vor, das andere eine Elenjagd. In dem Stangenreiter des einen Geschützes auf dem ersten Bilde, sowie in einem Hülfsjäger auf dem zweiten glaubte er die breiten Gesichtszüge seines treuen Dieners wiederzuerkennen.

„Das ist für Skarnikatis, wenn Ihr hier zum Besuche kommt,“ erläuterte der Onkel.

Diese Aufmerksamkeit rührte den Hauptmann so, daß ihm die Thränen in die Augen traten; er belohnte sie mit einem herzlichen Händedrucke.

Nun ging es die Treppe hinauf; doch was der Hauptmann hier erblickte, war ganz geeignet, ihn außer Fassung zu setzen.

Unter einer Kuppel, die ein schönes Oberlicht gewährte, befand sich eine Rotunde, von welcher neun fächerförmige Ausstrahlungen nach den Fenstern zu gingen. Diese durch Zwischenwände geschiedenen Räumlichkeiten konnten als eben so viele Zimmer betrachtet werden. In der Mitte der Rotunde stand ein großer runder Tisch, mit Schreibzeug jeder Art versehen. Ueber jedem Eingang nach den Seitenräumen befanden sich Vorhänge in bunter Farbe; der Hauptmann erkannte bei näherem Hinblick, daß dieses die Landesfarben waren, die seine Pfeifengalerie schmückten. Er schritt in das französische Zimmer; an beiden Seiten standen Repositorien mit prachtvoll eingebundenen Werken der französischen Literatur, unterbrochen nur auf der einen Seite von einem Sopha, über dem kostbare Meerschaumköpfe mit französischen Quasten hingen, auf der andern von einem Stehpult. Er schritt in das englische Zimmer; hier trugen die Repositorien die ausgesuchtesten Werke der englischen Literatur und die Quasten der Pfeifen die englischen Landesfarben. Fast erschrocken über diese Entdeckung und zweifelnd an seinen gesunden Sinnen, schritt der Hauptmann von Zimmer zu Zimmer, in das spanische, italienische, russische, schwedische, polnische, türkische, griechische; überall dieselbe Einrichtung, überall dieselbe glänzende Bibliothek, auch wo es sich um die seltenen Werke der wenig bekannten Sprachen handelte.

„Sesam, thu’ Dich auf! Aber träum’ ich denn?“ rief der Hauptmann, als er zu dem Onkel und seiner jungen Frau von seiner Wanderung zurückkehrte. „Es ist unmöglich; es kann nur ein Traum sein.“

„Aber glaubtest Du denn, wackerer Schwiegersohn,“ fuhr der Onkel fort, „daß ich den Liebling meines Herzens, so viel Sorgen er mir auch gemacht, daß ich meine Hulda in die Welt hinausziehen lassen würde, ohne für sie und den Gatten ihrer Wahl zu sorgen? Diese Wahl – ich gestehe es – hat mich anfangs befremdet; sie entsprach nicht meinen Erwartungen, doch der eine Gedanke: das ist ein Ehrenmann – schlug alle Bedenken nieder. Fast schien es mir strafbar, daß ich sie hegen konnte; ich mußte gut machen, was ich verschuldet hatte. Diese Villa, lieber Schwiegersohn, gehört Dir und Deiner Frau; sie ist Euer Hochzeitsgeschenk, und herzlich freu’ ich mich, daß ich Euch in meiner Nähe habe.“

Der Hauptmann, immer mehr verwirrt, stotterte Worte des Dankes und küßte sein liebes Weibchen. Dann aber kamen neue Skrupel und Zweifel über ihn.

„Doch das Quartier, das ich dort schon gemiethet habe –“

Onkel und Nichte konnten ein heiteres Lachen nicht unterdrücken, daß sich der brave Mann so wenig in seine neuen Verhältnisse zu finden wußte.

„Ihr lacht? Der Onkel mag lachen! Der ist ein reicher Mann. Doch wir? Was sollen wir thun? Dort habe ich meine Privatstunden; ich fand jetzt neue Schüler und Schülerinnen. Und hier? Wie sollen wir in dieser herrlichen Villa leben? Dazu muß man reich sein.“

„Er hat nicht Unrecht, der brave Schwiegersohn,“ sagte der Onkel schmunzelnd, „doch warum ist er so leichtsinnig und stürzt sich in eine Ehe, ohne sich nach den Verhältnissen seiner Braut zu erkundigen? Bester Hauptmann, Hulda ist ja Erbin einer halben Million, die ich für sie verwalte, und vom heutigen Tage ab erhaltet Ihr die vollen Zinsen ihres Vermögens.“

„Ich bin glücklich,“ rief Hulda, „Du liebtest ein armes Mädchen um seiner selbst willen; Andere liebten mein Geld. Diese Liebe verbürgt mir ein dauerndes Glück.“

Und in herzlicher Umarmung konnte der Hauptmann die Betäubung verbergen, in die ihn diese unerwartete Enthüllung versetzt hatte.

„Doch so innig ich Dich liebe, ich will nicht blos der Mann meiner Frau sein. Ich habe ein großes Werk unter der Feder, ein militärisches Lexikon in neun Sprachen; jetzt habe ich Muße, es zu vollenden; es bringt mir einen sicheren Gewinn.“

„Ohne Sorge, mein Freund! Doch die Privatstunden hören auf,“ flüsterte Hulda.

„Nicht alle,“ sagte der Hauptmann, indem er sie an’s Herz drückte, „der Cursus, der jetzt beginnt, soll erst mit unserem Leben enden.“

Die schönsten Flitterwochen folgten. – Das junge Paar hörte, daß Smith Gabriele geheiratet habe. Bald aber kam die Nachricht, daß er wenige Tage nach der Hochzeit nach Calcutta abgereist sei, von wo er erst nach langen Jahren zurückkehren werde. Mrs. Smith blieb zurück und hatte an ihrem Namen zu leiden, da sie durchaus die Zisch- und Gurgellaute der englischen Sprache nicht zu beherrschen vermochte; eine so wenig englische Mistreß erregte besonders bei den echten Söhnen John Bull’s achselzuckendes Mitleid. Im Uebrigen wußte sie sich über die Abwesenheit ihres Gatten, die sich in ein chronisches Uebel für ihr ganzes Leben verwandelte, zu trösten. Es fanden ihretwegen mehrere Duelle statt, und die Chronik der Residenz kam nicht zu Athem, wenn sie von ihr zu erzählen hatte.

Der Hauptmann und seine junge Frau lebten in ungestörtem Glück und Einverständniß in der reizenden Villa. Bald fanden sich kleine Schüler und Schülerinnen ein, welche, zum Hohn für alle Grammatik, die Muttersprache mit den Ausrufungswörtern begannen und dann erst zu den Hauptwörtern Papa und Mama übergingen.

„Du meine zehnte Muse!“ sagte der Hauptmann oft, wenn seine Hulda traulich an seinem Arbeitstisch saß. „O, schöner als alle neun Sprachen, die ich so lange studirt, ist die zehnte, die Du mich gelehrt hast: die Sprache des Herzens.“




Die Mädchenpensionate der französischen Schweiz.
II.

Seien wir ehrlich! Auch unser höheres Mädchenschulwesen liegt noch vielfach im Argen; auch in unsern Instituten wird den Mädchen noch viel leerer Formenkram aufgenöthigt, ihnen viel fertigpräparirte Lehre statt selbstgewonnener Erkenntniß eingegeben. Erst in neuer und neuester Zeit zeigt sich bei uns ein allgemeines Streben zum Besseren; neben den höheren städtischen Mädchenschulen blühen trefflich geführte Privatanstalten, in anderen aber verbirgt sich auch heute noch mehr Oberflächlichkeit und Halbheit, als man in dem Volke der Denker für möglich hält. Kommt aber eine Schülerin solcher Anstalten auch noch in ein französisches Pensionat, das mit der Mädchenerziehung einfach Handel treibt, dann ist sie in den wichtigsten Entwickelungsjahren einem Einfluß anheimgegeben, dem sie vielleicht ihr ganzes Leben lang verfallen bleibt.

Nehmen wir an, das Mädchen hat die beiden unteren Stufen der Anstalt durchlaufen und ist jetzt so weit, von der Sprache ungehindert, an allen Unterrichtsfächern teilnehmen zu können. Was findet es dann?

Der Lehrer oder die Lehrerin trägt vor; die Schülerinnen schreiben nieder. Die Notizen werden nach der Stunde ausgearbeitet und für das nächste Mal auswendig gelernt. Manche Lehrer machen es sich noch bequemer: sie geben einen Abschnitt im Geschichtsbuch auf, und die Mädchen sagen ihn in der nächsten Stunde der Reihe nach auswendig her. Ein anderer verbindet vielleicht gleich ein französisches Exercise damit und läßt ein Stück übersetzen.

Das ist der Geschichtsunterricht, und es mag oft dem deutschen Gefühl unserer Mädchen wohlthätiger sein, daß keine [871] weiteren Betrachtungen daran geknüpft werden. Denn wenn es vorkommt, daß ein Director zwei junge Deutsche, die in ihrer Pension den Sedantag in harmloser Weise durch schwarz-weiß-rothe Schleifen auf den weißen Kleidern ehren wollen, daß er diese Beiden heftig und in Gegenwart des ganzen Pensionats vom Frühstückstisch hinweg weist mit dem Befehl, sich anders anzuziehen, dann ist wohl auch von diesem Director nicht besondere Parteilosigkeit und Objectivität bei seinem Geschichtsunterricht zu erwarten. Etwas Parteinahme gegen Deutschland findet sich in sehr vielen dieser Industrie-Institute. Es ist dies eine instinctive Selbstwehr; sie leben nur durch ihr Französisch und stellen sich unwillkürlich jeder Macht, die das Franzosenthum bekämpft oder bekämpft hat, entgegen.

An ähnlicher Weise wie der Geschichtsunterricht wird auch der in den übrigen Fächern ertheilt. Es sei nochmals erwähnt, daß es glänzende Ausnahmen in dieser Unterrichtsweise giebt, aber es sind Ausnahmen. Nicht nur von deutscher Seite wird dieser Vorwurf gegen die Pensionate der Südwest-Schweiz erhoben, die eigenen Landsleute, die Deutsch-Schweizer, Lehrer, die an deutschen und[1] welschen Schulen gewirkt, Eltern, deren Kinder die beiderseitigen Anstalten besucht, die Schüler selbst, wenn sie reif genug geworden, um den Unterschied zu erkennen, bezeugen es: die Lehrkunst dieser Pensionate ist das Auswendiglernen.

Diese Institute versprechen zu viel; sie wollen in dem kurzen Jahr zu viel geben und erreichen deshalb fast nichts. In dem einen Jahr, von dem mindestens das erste Viertel der Bewältigung der neuen Lehrsprache gehört, von dem ferner acht Wochen Ferien abzuziehen sind, also in sieben Monaten wollen sie noch einmal den gesammten Stoff der Schuljahre durchjagen. Dabei bleibt dann freilich keine Zeit zu eingehenden Untersuchungen; mit eignem Suchen nach der Wahrheit, mit selbstständigem Folgern und Urtheilen kann man sich nicht aufhalten. Alles wird schon hübsch zubereitet den jungen Mädchen als geistige Nahrung eingegeben, und sie brauchen es nur hinunterzuschlucken.

Nicht das ist das Bedenkliche dabei, daß die Schülerinnen so Manches, was sie noch hätten erlernen können und sollen, auf diese Weise nicht erlernen, auch nicht, daß sie im Institut Vieles wieder vergessen, was sie in der Schule gelernt; beides ist schade, ist sehr zu bedauern, aber wirklich verderblich ist ein Anderes. Die jungen Mädchen gewöhnen sich, dieses leichte und mühelose Drüberweghuschen für ernste Arbeit zu halten; die Erzieher selbst oder doch die, die sich so nennen, bringen ihnen diese Meinung bei, und jedes aufmerksame Auge erkennt wohl, wohin solche von den Lehrern selbst protegirte Oberflächlichkeit führen kann. Jede Arbeit, die ein Leben füllen soll, erfordert Mühe und Anstrengung. Wenn unsern Mädchen gesagt wird: „In diesem Jahr sollt ihr lernen,“ so müssen sie eben lernen, das heißt geistig arbeiten. Das Lernen in diesen Pensionen aber ist keine Arbeit, es ist Spielerei, und die Jahre des Spiels sind für Mädchen dieses Alters lange vorüber.

Die hier geschilderten Anstalten haben meist noch irgend einen Nebenzweck. Entweder soll die Schülerin auch neben der französischen Sprache etwas Wirthschaftsthätigkeit üben lernen, oder wenn sie kränklich ist, soll sie sich in gesunder und milder Gegend erholen – solche Pensionate finden sich bei Vevey und Montreux – oder sie soll, ehe sie als fertige Dame in die Welt tritt, noch ein recht vergnügtes Jahr unter Altersgenossinnen verleben, oder endlich sie soll für die Gesellschaft, in der sie einst leben wird, sich in der Pension Tournüre und Auftreten erwerben. Den beiden letzten Forderungen entsprechen die sogenannten Vergnügungspensionate.

Wir wollen nicht erörtern, ob für ein Mädchen, das wirthschaften und geselliges Auftreten üben soll, nicht just für seine Verhältnisse und seinen Kreis das Elternhaus der geeignetste Boden und die Augen der Mutter die beste Leitung sind; es giebt ja leider Verhältnisse genug, wo Beides der heranwachsenden Tochter nicht ist und nicht sein kann, was es sollte. Gewiß ist, daß die betreffenden Anstalten auch solchen Nebenzweck vollständig und zur Zufriedenheit der Eltern erfüllen. Ebenso gewiß ist, daß die jungen Mädchen fast ausnahmslos vergnügt und froh ihr Pensionsjahr dahinleben. Sie verkehren täglich und stündlich mit Altersgenossinnen; Freundschaften werden geschlossen, und die herrliche Natur, die zu jedem Fenster herein grüßt, erfüllt, wenn vielleicht auch unbewußt, das junge Herz mit Licht und Sonnenschein. Dazu genießen die französischen Schweizerinnen mit Recht den Ruf großer Liebenswürdigkeit. Die Vorsteherin eines Pensionats weiß die jungen Seelen sich schnell zu gewinnen, und es werden wenig Institute zu finden sein, wo nicht das herzlichste und innigste Einvernehmen zwischen Zöglingen und Vorsteherin herrschte. Was Letztere fehlt in Unterricht und Erziehung oder fehlen läßt, das geschieht nicht aus Leichtsinn oder gar bösem Willen, sondern aus Nichtwissen.

Und wenn nun die Tochter jubelnd in’s elterliche Haus zurückkehrt, dann wird sie ein hübsches, vielleicht sogar ein elegantes Französisch sprechen, lesen und schreiben können; sie wird, wenn der Lehrer gut war, Fortschritte in der Musik gemacht haben, sie wird der Vorsteherin entweder einige häusliche Verrichtungen oder ein gewandtes geselliges Auftreten abgelauscht haben, sie wird Sehnsucht haben nach ihr, nach den Freundinnen, nach dem Alpenland, sie wird zärtliche Briefe dorthin senden – aber an allgemeiner Bildung hat sie nichts hinzuerworben, was ihr nicht eine Schule der Heimath in der halben Zeit und mit einem Viertel der Kosten hätte gewähren können.

In einem Bericht, der sich zwar bestrebt, die guten Seiten rückhaltlos anzuerkennen, der aber auch die Klagen, welche bisher von Eltern und Lehrern zurückgekehrter Schülerinnen nur in Privatkreisen geführt wurden, in’s weitere Publicum trägt, dürfte sich von den betreffenden Anstalten fast wie von den Frauen sagen lassen: die Besten sind die, von denen man am wenigsten spricht. Doch auch diese Besten seien kurz erwähnt. Sie werden von tüchtigen Erziehern geleitet, die sich schon an Schulen der Schweiz oder des Auslandes oft jahrelange praktische Erfahrung gesammelt haben. Mit der großen Schwierigkeit, zu Gunsten der französischen Sprache alle übrigen Fächer auf ein Minimum von Zeit und Arbeit anweisen zu müssen, kämpfen auch sie. Auch bei ihnen ist die Sprache der Hauptunterrichtsgegenstand, aber sie ist nicht Alleinherrscherin. Sie beschränken die Zahl der übrigen Fächer und in dem einzelnen Fach das Jahrespensum; sie geben weniger als die andern, aber sie geben Gutes. Zwar finden wir auch hier noch bei einzelnen eine Vorliebe für das Auswendiglernen, die unsere deutsche Schule (auch die der deutschen Schweiz) verurtheilt. Aber daneben zeigt sich doch immer das Streben, den Schülerinnen wirklichen Stoff und Gehalt mitzutheilen; wir finden strengere Anforderungen an die Lernenden. Mit einem Wort, hier will man erziehen und lehren, dort nur den Lehrstoff abhaspeln, den der Prospect versprochen hat. Dem innern Bau einer solchen wirklichen Lehranstalt finden wir auch da und dort eine oder einige Classen für Nichtpensionäre eingefügt. Eltern, die am Orte selbst wohnen, können besser als die im Auslande beurtheilen, welche Anstalten etwas leisten, welche nicht; in erstere schicken sie ihre Kinder, wenn diese keine öffentliche Schule besuchen sollen.

Die Institute, denen es nur um ein Geschäft zu thun ist, zählen nach Hunderten; die wirklichen Erziehungsanstalten erreichen kaum die Zehner. Wenn es ein Zufall ist, so ist es jedenfalls ein uns ehrender, daß gerade unter der geringen Zahl der Letzteren auch deutsche Namen sich finden. Einen ganz hervorragenden Platz aber nehmen die Schulen der Brüdergemeinde ein. Die deutsche Pädagogik wirft den Herrnhutern ein starres Festhalten am Alten, ein Zurückbleiben hinter den Fortschritten vor, die diese Wissenschaft in neuerer Zeit gemacht. Hier ist wohl nicht der Ort, ein Für oder Wider über Princip oder Methode darzulegen. Das aber darf in einer Beurtheilung der Mädcheninstitute der Westschweiz nicht verschwiegen werden, daß die Anstalten der Herrnhuter dort aus der Fluth von Nichtigkeit und Oberflächlichkeit hoch emporragen und unter den guten in erster Reihe stehen. Von ihnen gilt speciell, was vorhin im Allgemeinen gesagt worden.

Es läßt sich nicht rathen: „Schickt eure Töchter dort hin“, oder „schickt sie nicht!“. Der Einen kann dasselbe Haus wirklichen Gewinn bringen, das auf die Andere nachtheilig und verderblich gewirkt hat. Wir konnten nur darlegen, was die Schülerinnen dort finden, was sie dort entbehren; wir konnten nur melden, was man als sicher von den Pensionaten erwarten darf, und wir konnten nur zu erklären suchen, warum dieses Sichere ein so Geringes ist. Ob das junge Mädchen auf einige Zeit in den geschilderten Boden zu versetzen ist, das hängt [872] lediglich von den Verhältnissen der Familie und der Individualität der Schülerin ab. Aber die eine Mahnung sei doch noch ausgesprochen: das Gute, das die Institute bieten, wirkt um so mächtiger und sicherer, die Gefahren, die sie für den sich entwickelnden Charakter bergen, verschwinden um so mehr, je reifer an Urtheil und Verständniß, je fester im Wissen und Können die Schülerin in den ihr neuen Kreis eintritt.

Laßt die deutsche Schule erst ihr ganzes, volles Werk an euren Mädchen thun, ehe ihr sie in ein französisches Pensionat schickt! Laßt es erst den ganzen Schulgang zu Hause durchmachen, laßt es Alles lernen, was die Schule der Heimath bietet, und dann erst, wenn euch dann das Bischen Französisch noch die Trennung von eurem Kinde werth ist, dann schickt es in’s Welschland! Dann werden außer dem Gewinn an Sprachfertigkeit auch gute Kräfte um so reicher auf die junge Seele einwirken, die der Prospect nicht ausdrücklich verspricht, die sich aber aus einer neuen Umgebung, aus einer streng geregelten Häuslichkeit, aus einer großen schönen Natur von selbst ergeben.

Das Kind ist in der Heimath herangewachsen; Menschen und Verhältnisse dort waren ihm von früh an vertraut; es hat sie hingenommen, wie sie waren, ohne viel darüber nachzudenken. Jetzt kommt das Mädchen unter fremde Menschen; es sieht neue Lebensgewohnheiten; es vergleicht; es beobachtet; es folgert; die Fremde lehrt auf einmal die ferne Heimath in einem neuen Lichte erkennen, und dieses neue Verständniß des Alten hilft ihm zum Erfassen des Neuen; wozu es bisher in der Schule von Andern methodisch angeleitet worden, das thut es jetzt selbstständig. Dazu übt die streng durchgeführte Tagesordnung einen sehr heilsamen Einfluß auf den Charakter, jeder Beschäftigung ist ihre ganz bestimmte Zeit angewiesen – da gilt kein Aufschieben einer mißliebigen Arbeit, kein Ausdehnen der Stunde, die uns besondere Freude bringt. Der Perpendikel herrscht und die Glocke ist die Verkündigerin seiner Befehle. Die große Kunst des Lebens, mit der Zeit Haus zu halten, wird hier gelehrt, und Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Selbstüberwindung können nur gewinnen. Und um nun das Letzte und Schönste zu nennen: den meisten Instituten der Cantone Waadt und Genf glänzt ein See, den die Dichter aller Nationen in ihren Liedern gefeiert, ohne seine Schönheit ausgesungen zu haben; ernste, starre Berge von gewaltigen Formen bewachen ihn; Europas höchster Riese, der Mont Blanc, schaut in gar manches Pensionatsfenster; üppige Vegetation umgrünt die Häuser; alte Thürme und Schlösser spiegeln sich in dem tiefblauen Wasser; das sagen- und liederumsponnene Chillon steigt geisterhaft weiß aus dem Wasserspiegel auf. Den Instituten von Yverdon, Grandson, Neuchâtel, Montmirail und Neuveville aber schimmert in der Ferne die ganze Alpenkette von den Häuptern der Mittelschweiz bis zum Mont Blanc; auch ihnen spielen die klaren Wellen eines Sees zu Füßen. All diese Herrlichkeit aber legt sich täglich und stündlich den jungen heranreifenden Menschenkindern an’s Herz; sie wissen es vielleicht selbst nicht, wie sie sich davon erfüllen lassen, und durch Zahlen und bestimmte Formen ist gewiß der Gewinn nicht auszudrücken, den eine schöne Natur der Seele bietet, aber denken wir uns ein junges Leben gerade in der Zeit, wo Körper und Geist dem Dunkel der Kindheitszelle entschlüpft sind, unter der Einwirkung einer mit jeder Schönheit geschmückten Landschaft, und wir werden uns sagen müssen, daß hier Geist und Körper Einwirkungen erfahren, die für das ganze Leben nachhalten sollten.

Und so hätten wir denn nach Wissen und Gewissen Alles dargelegt, was die Institute der französischen Schweiz unseren Mädchen nützen und was sie schaden, die Bilanz aber aus dem Für und Wider muß ein Jeder sich selbst ziehen und speciell für sein Kind abwägen. Vielleicht kommt eine Zeit, wo der Staat sich von den Pensionen, die höhere Lehranstalten sein wollen, zuerst den Nachweis führen läßt, daß sie dies können. Im Canton Bern arbeitet eine Partei eifrig daran, für alle Stände in’s Gemein unentgeltlich Secundarschulen (also höhere Schulen) durchzusetzen; wenn diese Partei durchdringt, wenn auch die anderen Cantone Berns Beispiel folgen, dann dürften auch an die Privatinstitute höhere staatliche Anforderungen gestellt werden.

Doch sind das zwei große „Wenn“, die ihrer Erfüllung noch sehr fern sind, und es fragt sich, ob man die Erfüllung überhaupt wünschen soll. Doch bis auf die eine oder die andere Art in der allgemeinen Instituts-Calamität Abhülfe gefunden worden ist, läßt sich nur die Warnung wiederholen: Was eure Mädchen wissen sollen und müssen, das laßt sie zu Hause in der Schule lernen, und wenn sie das gelernt haben, dann schickt sie, wenn ihr das wünschenswerth haltet, noch auf ein Jahr fort!

Zum Schluß aber sei noch der Heimath erzählt, wie deutsche Mädchen in der fremden Pension das Sedanfest gefeiert haben.

Schon Wochen vorher war ausgerechnet worden, daß der Festtag diesmal auf einen Sonntag fällt. Heimliches Einüben der Wacht am Rhein, lebhaftes Besprechen während des täglichen Spazierganges, Toilettenberathungen leiteten das Ereigniß schon lange zuvor ein. All diese Vorverhandlungen mußten natürlich in französischer Sprache geführt werden. Aber als der Abend des ersten September und damit der Vorabend des Festes kam, da sprachen auf einmal nach Schluß des Unterrichts alle die jungen Mädchen (vierzehn an der Zahl) nur deutsch. Wenn man weiß, daß jedes deutsche Wort mit fünf Centimes gebüßt wird, wenn man die unausbleibliche Redseligkeit bei solch einer Extra-Gelegenheit kennt, so muß man sich sagen, daß dies unter Umständen ein theueres Vergnügen werden konnte. Die Lehrerschaft staunte, aber sie schritt nicht ein. Den nächsten Tag aber, also am Festtag selbst, wurde Nachmittags feierlich die größte Gartenlaube in Beschlag genommen, jede Deutsche, mit einer deutschen Schleife geschmückt, holte Confect, Chocolade oder irgend eine andere Herrlichkeit hervor und diese Süßigkeiten, der Gesang von Vaterlandsliedern und natürlich wieder nur deutsche Reden feierten die Bedeutung des Tages. Die andern Pensionärinnen umstanden die Gesellschaft anfangs in stummer Verwunderung. Theilnahme, Spott, Freude, verletztes Nationalgefühl spiegelten sich auf den jungen Gesichtern und endlich gab letzteres einer Französin die Worte ein: „Sie müssen berauscht sein.“

Ja, sie waren es, aber nur von der Liebe zum fernen Vaterlande, von dem Stolz auf seine Größe, von der Sehnsucht nach ihren Lieben zu Hause, mit denen sie sich heute in der Sedanfeier geistig vereint wußten. Am Montag aber schien das Strafgericht kommen zu sollen. Die erste Frage an sämmtliche Schülerinnen lautete: „Wer hat vorgestern und gestern deutsch gesprochen?“

Die vierzehn Deutschen erhoben sich wie ein Mann.

„Warum thaten Sie’s?“

„Es war unser Nationalfesttag; da können wir nicht französisch sprechen.“

Die Antwort genügte. All die Fünf-Centimes-Stückchen blieben ruhig in den Taschen und unsere jungen Landsmänninnen waren so stolz und so glücklich, als hätten sie einen großen Triumph gefeiert. Sie durften es sein.

Mit diesem freundlichen Bilde schließen wir unseren Rundgang durch die Institute der französischen Schweiz. Mögen unsere jungen Mädchen dort sich deutsches Wesen und den rechten deutschen Stolz bewahren; gerade dieser wird ihnen helfen, neben der schönen Landessprache auch die gefällige Form französischen Wesens, die Liebenswürdigkeit im Verkehr verstehen zu lernen und sich anzueignen.



Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich.
Von Moritz Busch.
5. Bismarck und Favre in Haute Maison. – Ankunft im Schlosse Rothschild’s. – Schlechter Empfang. – Endeckungsreisen in Haus und Park. – Eine verkannte Göttin des Barons.
Nachdruck verboten.

Ich übergehe wieder eine große Anzahl interessanter Erinnerungen aus den ersten drei Wochen des September, um dann Einiges über unsern Aufenthalt in Ferrierès, dem Schlosse des Pariser Goldonkels Rothschild, mitzutheilen. Die Stationen auf unserer Reise waren Rethel, wo wir uns nur einen Tag aufhielten, Reims, wo wir am 5. eintrafen, um am 14. wieder wegzufahren, Château-Thierry im Thale der Marne und Meaux, die Stadt Bossuet’s, wo das große Hauptquartier [873] am 15. gegen Abend anlangte und bis zum 19. verblieb, und wo der Kanzler in dem stattlichen Hause des Vicomte de la Motte auf der Rue Tronchon wohnte, während ich mein Quartier unmittelbar gegenüber bei einem Baron de Vaudeuvre hatte, der ausgeflogen war.

Man war hier nur noch etwa fünfzig Kilometer von Paris entfernt und schon unter den ersten unvermischten Galliern, die inzwischen, wie bekannt, die Republik erklärt und eine Regierung der nationalen Vertheidigung eingesetzt hatten. Schon am 15. erfuhr man, daß letztere mit uns unterhandeln wollte, indem Sir Edward Mallet, ein Attaché der englischen Gesandtschaft in Paris, beim Chef erschien, um anzufragen, ob er geneigt sei, mit Jules Favre die Bedingungen eines Waffenstillstandes zu besprechen. Der Kanzler sollte ihm geantwortet haben: „Die Bedingungen eines Friedens, ja, die eines Waffenstillstandes, nein“ – was nach späteren Vorgängen wohl nicht richtig war.

Am 19. früh hörten wir, daß Favre sich für zwölf Uhr Mittags habe ansagen lassen. Zwei Stunden vorher machte sich Alles auf Befehl des Chefs zur Abreise bereit, und als Favre um zwölf Uhr noch nicht da war, wurde aufgebrochen. Doch ließ der Minister auf der Mairie einen Brief für Jenen zurück und sagte dem Bedienten der Vicomtesse, er möge ihn, falls er noch käme, darauf aufmerksam machen. Der Kanzler und die Räthe waren bei dieser Tour zu Pferde und ritten nach einiger Zeit den Wagen voraus, von denen ich den zweiten allein einnahm. Wir folgten erst im Marnethale dem Laufe des Canals und verließen diesen dann beim Dorfe Mareuil, um auf der Höhe über dem uns zur Rechten bleibenden Flusse weiter zu fahren.

Hier kommt uns zwischen den Ortschaften Mareuil und Montry an einer Stelle, wo die Chaussee unter breitwipfeligen Bäumen stark bergab geht, eine zweispännige Kutsche mit zugemachter Decke entgegen, in der mehrere Herren in Civil und ein preußischer Officier sitzen. Unter den Civilisten ist ein graubärtiger Herr mit hervortretender Unterlippe. „Das ist Favre,“ sage ich zum Kanzleidiener Krüger, der hinter mir sitzt: „wo ist der Minister?“ Er war nicht zu sehen, aber wahrscheinlich vor uns und der langen Colonne von Fuhrwerken, welche uns die Aussicht versperrte. Ich ließ rascher fahren, und nach einer Weile begegnete uns der Chef, mit Hatzfeldt und Keudell zurückreitend, in dem Dorfe Chessy, wo Bauern ein todtes Pferd mit Stroh und Häckerling bedeckt hatten, welches brannte und ganz abscheulich roch. „Favre ist vorbei, Excellenz, da hinauf,“ sagte ich.

„Weiß schon,“ erwidert er lächelnd und trabte weiter.

Tags darauf erzählte uns Graf Hatzfeldt Einiges von der Begegnung des Kanzlers mit dem Pariser Advocaten und Regenten. Der Minister und der Graf waren uns wohl eine gute halbe Stunde Wegs voraus gewesen, als Hofrath Taglioni, der Chiffreur des Königs, ihnen gesagt, daß Favre vorbeigefahren. Er war eine andere Straße gekommen und hatte die Stelle, wo diese in die unsrige mündete, später als der Chef passirt. Der letztere war ungehalten, daß er davon nicht eher benachrichtigt worden. Hatzfeldt jagte Favre dann nach und kehrte, als er ihn gefunden, mit ihm um. Nach einer Weile kam ihnen Graf Bismarck-Bohlen entgegengeritten, der es dem mit Keudell noch weit entfernten Chef melden mußte. Endlich sahen sie bei Montry denselben herankommen. Man wollte hier in ein Haus. Sie wurden aber auf das hochliegende Schlößchen Haute-Maison, zehn Minuten Wegs von da, aufmerksam gemacht, und so begab man sich dahin. Hier trafen sie zwei württembergische Dragoner, von denen der eine seinen Karabiner nehmen und vor dem Hause Wache stehen mußte. Auch ein französischer Bauer fand sich vor, der im Gesichte aussah, als ob er soeben eine Tracht Prügel bekommen, und den man fragte, ob es hier wohl etwas zu essen und zu trinken gäbe. Während sie noch mit ihm sprachen, trat Favre, der inzwischen mit dem Chef hineingegangen, auf einen Augenblick heraus und hielt seinem Landsmann eine Rede voll Pathos und Hochsinn. Es wären Ueberfälle vorgekommen, aber das dürfe nicht sein. Er sei Mitglied der neuen Regierung, die das Wohl des Vaterlands in die Hand genommen und dessen Würde zu vertreten habe, und er fordere ihn im Namen des Völkerrechts und der Ehre Frankreichs auf, zu wachen, daß man diese Stätte heilig halte. Seine, des Regenten, und ebenso seine, des Bäuerleins, Ehre forderten dies gebieterisch, und dergleichen mehr. Der gute dumme Bauernknabe zeigte diesem Wortschwall ein sehr einfältiges Gesicht; er verstand davon offenbar so wenig, als ob es Griechisch gewesen wäre, und machte eine Figur, daß Keudell sagte: „Wenn der uns vor Ueberfall behüten soll, da ist mir der Soldat dort doch viel lieber.“

Von anderer Seite hörte ich noch, daß Favre von den Herren Rink und Hell, früheren Legationssecretären Benedetti's, und von dem Fürsten Biron begleitet gewesen, und daß für ihn hier im Dorfe Quartier bestellt worden. Keudell aber erzählte: Als der Bundeskanzler aus dem Zimmer, wo er sich etwa drei Viertelstunden mit jenem besprochen, wieder heraustrat, fragte er den Dragoner vor der Thür, woher er wäre. „Aus Schwäbisch-Hall.“ – „Na, Sie können sich was darauf einbilden, bei der ersten Friedensverhandlung in diesem Kriege Wache gestanden zu haben.“

Wir Andern hatten inzwischen eine Weile in Chessy auf die Rückkunft des Kanzlers gewartet und waren dann, vermuthlich mit dessen Erlaubniß, weiter gefahren, bis wir nach etwa zwei Stunden Ferrières erreichten. Wir befanden uns jetzt innerhalb der Zone, welche die Franzosen um Paris geflissentlich verwüstet hatten. Doch war die Zerstörung hier noch mäßig, nur schien die Bevölkerung der Dörfer, die wir berührten, von den Mobilgarden zum großen Theil verjagt worden zu sein. Nirgends hörte man einen Hund, dagegen sahen wir in einigen Höfen Hühner umhergehen. An den meisten Thüren, die wir passirten, stand mit Kreide „Corporalschaft N.“ oder „1. Officier und 2 Pferde“ oder etwas Anderes der Art geschrieben. In den Dörfern befanden sich oft städtische Häuser, seitwärts Villen und Schlösser mit Parks, was auf die Nähe der Großstadt deutete. Von Wachtposten am Wege und anderen Vorsichtsmaßregeln wie vor Château-Thierry und Meaux war hier nichts zu bemerken, was für den Chef, wenn er spät und mit schwacher Begleitung nachkam, bedenklich werden konnte.

Endlich, als es zu dämmern anfing, fuhren wir in das Dorf Ferrières und bald darauf in das daneben gelegene Gut Rothschild's hinein, in dessen Schloß der König und mit ihm die erste Staffel des großen Hauptquartiers für längere Zeit Wohnung nahm. Der Minister sollte in den letzten drei Zimmern im ersten Stock des rechten Flügels Quartier haben, wo er auf die Wiesen, den Teich und den Park des Schlosses hinaussah; das Bureau etablirte sich in einer der größeren Stuben des Parterre, während wir in einer kleineren speisten.

Es war schon dunkel, als der Chef auch eintrat und sich bald nachher mit uns zum Diner setzte. Während wir aßen, ließ Favre anfragen, wann er kommen könne, um die Unterhandlungen fortzusetzen, und von halb zehn bis nach elf Uhr hatte er in unserm Bureau eine Conferenz mit dem Minister. Als er wieder ging, sah er (vielleicht noch Rest einer Mimik, die drinnen hatte rühren sollen, bemerkt mein Tagebuch) bedrückt, niedergeschlagen, fast verzweifelnd aus. Es schien also noch nichts aus dem Frieden werden zu sollen. Im Uebrigen erschien er als ein ziemlich großer, ältlicher Herr mit grauem Backenbart, der sich auch um das Kinn zog, etwas jüdischem Gesichtstypus und dicker, hängender Unterlippe.

Bei Tische hatten wir eine Probe von der Gastlichkeit und dem Anstandsgefühl des Herrn Baron bekommen, dessen Haus der König mit seiner Gegenwart beehrte, und dessen Besitz in Folge dessen in jeder Weise geschont wurde. Herr von Rothschild, bis vor Kurzem Generalconsul Preußens in Paris, ließ uns durch seinen „Regisseur“ oder Haushofmeister patzig den Wein verweigern, dessen wir bedurften, wozu ich bemerke, daß derselbe wie jede andere Lieferung bezahlt werden sollte. Vor den Chef citirt, setzte der dreiste Mensch seine Renitenz fort, leugnete erst ganz und gar, Wein im Hause zu haben und gab dann zwar zu, daß er „nur ein paar hundert Flaschen Petit Bordeaux im Keller habe“[2], erklärte aber, uns davon nichts abtreten zu wollen. Der Chef machte ihm jedoch den Standpunkt in sehr kräftiger Rede klar, hob hervor, was das für eine unartige und filzige Manier sei, mit der sein Herr die Ehre erwidere, die ihm der König dadurch erwiesen, daß er bei ihm abgestiegen sei, und fragte, als der vierschrötige Patron sich wieder aufbäumen wollte, kurz und bündig, ob er wisse, was ein Strohbund sei. Er schien das zu ahnen; denn er wurde [874] blaß, sagte aber nichts. Es wurde ihm dann bemerkt, daß ein Strohbund ein Ding sei, auf welches halsstarrige und freche Regisseure so gelegt würden, daß ihre Rückseite oben sei, und das Weitere könne er sich vielleicht vorstellen. – Andern Tages hatten wir, was wir verlangt, und auch später kam meines Wissens keine Klage vor. Der Herr Baron aber erhielt für seinen Wein nicht nur den geforderten Preis, sondern auch noch Pfropfengeld, sodaß er an uns noch etwas Anständiges verdiente. Ob das so geblieben ist, als wir fort waren, war mir eine Zeit lang zweifelhafter, als die Beantwortung der Frage, ob es so hätte bleiben sollen. Deutlicher gesprochen: ich wüßte keinen vernünftigen Grund dafür anzugeben, wenn man den Millionär Rothschild mit Requisitionen, und zwar seinem Vermögen angemessenen Requisitionen, auch dann noch verschont hätte, als man nicht mehr sagen konnte, sie seien für den König und seine Umgebung. In der That wurde später in Versailles erzählt, daß schon am Tage nach unserer Abreise ein halb Dutzend Requisitionscommandos in Ferrières erschienen sei und eine Menge Dinge abgeholt habe, und daß selbst die Hirsche im Gehege am Teiche von unseren Soldaten vergnügt aufgegessen worden seien. Zu meiner tiefen Betrübniß aber mußte ich dann aus glaubwürdiger Quelle erfahren, daß dem nicht so, die Ausnahmestellung des Schlosses vielmehr bis zu Ende des Krieges gewahrt geblieben war. Um so widerwärtiger fühlte man sich durch einen Brief berührt, der aus Paris an die Gräfin M. abgesandt worden und nach dem Rothschild in der dortigen Gesellschaft, jene Rede unseres Chefs lügenhaft übertreibend, verbreitet haben sollte, die Preußen hätten seinen Regisseur in Ferrières prügeln wollen, weil die Fasanen, die er ihnen vorgesetzt, nicht getrüffelt gewesen wären.

Am andern Morgen kam der Minister in die Jagdzimmer, die wir zum Bureau umgewandelt hatten, sah sich das auf dem Mitteltische liegende Jagdbuch an und zeigte mir das Blatt vom 3. November 1856, welches besagt, daß er an diesem Tage mit Galiffet und Andern hier gejagt und zweiundvierzig Stück Wild, vierzehn Hasen, ein Kaninchen und siebenundzwanzig Fasanen geschossen. Jetzt jagt er ein vornehmeres Wild, den Wolf von Grand Pré, wovon er damals wohl noch nichts ahnte und seine Jagdgenossenschaft sicherlich noch weniger.

Um elf Uhr hätte er die dritte Besprechung mit Favre, dann fand eine Berathung beim Könige statt, bei der auch Moltke und Roon zugegen waren. Das gab uns einige Stunden Zeit zur Besichtigung des Schlosses, soweit es uns zugänglich, und seiner Umgebung, die in einem nach Süden hin gelegenen großen Park, einem im Norden sich anschließenden Blumengarten, einem etwa vierhundert Schritt östlich vom Schlosse befindlichen Complex von Ställen und Wirthschaftsgebäuden, denen gegenüber, jenseits der Fahrstraße, eine ausgedehnte Gärtnerei mit Obstpflanzungen, Gemüsebeeten und langgestreckten prächtigen Gewächshäusern liegt, sowie einem noch vom Parke eingeschlossenen Schweizerhäuschen besteht, welches zum Waschlocale dient.

Ueber das Schloß will ich kurz sein. Es ist der Form nach ein Viereck, das zweistöckig ist und an jeder der vier Ecken einen dreistöckigen Thurm mit stumpfer Bedachung hat, der Styl ein Gemisch aus verschiedenen Schulen der Renaissance, bei dem es zu keiner rechten Gesammtwirkung kommt und das Ganze namentlich nicht so groß aussieht, wie es ist. Am besten nimmt sich noch die Südfront mit ihrer stattlichen, vasengeschmückten Freitreppe aus, die zu einer Terrasse führt, auf welcher Orangen- und Granatbäume in Kübeln stehen. Der Haupteingang ist auf der Nordseite, wo man zunächst in ein Vestibül mit Büsten römischer Kaiser gelangt, die ganz hübsch sind, von denen aber nicht recht zu begreifen ist, was sie im Hause des Krösus der modernen Judenheit zu suchen haben. Von hier führt ein etwas gedrücktes Treppenhaus, dessen Wände mit Marmor bekleidet sind, in den Hauptsaal des Schlosses, um den eine von vergoldeten ionischen Säulen getragene Galerie herumläuft. Die Wand über derselben ist mit Gobelins bekleidet. Unter den Gemälden des mit allerlei Prunk ausgestatteten Saales befindet sich ein Reiterbild von Velasquez. Auch sonst ist unter den prächtigen Sachen manches Schöne. Im Ganzen aber macht der Raum den Eindruck, als ob der Besitzer weniger an Schönheit und Behagen, als daran gedacht hätte, recht Theueres zusammenzustellen.

Läßt das Schloß hiernach ziemlich kalt, so verdienen die Garten- und Parkanlagen um dasselbe alles Lob. Das gilt sowohl von den Blumenbeeten vor der nördlichen Façade mit ihren Statuen und Springbrunnen, wie, und zwar in noch höherem Grade, von den vorderen Partien des Parkes, der weiterhin zum Walde wird und nur von geradlinigen Fahr- und Reitwegen durchschnitten ist, von welchen einige nach einem großen Vorwerke führen. Jene vorderen Theile zeigen schöne fremdländische Bäume und geschmackvoll zusammengestellte Gruppen von solchen und hiesigen, anmuthigen Wechsel von Wald, Wiese und Wasser und zuweilen überraschende Durchblicke durch Buschwerk und Wipfel. Vor dem Schlosse flachen sich Wiesen, von Kieswegen durchschlängelt, nach einem Teiche mit weißen und schwarzen Schwänen, türkischen Enten und anderem Geflügel ab. Jenseits des Wasserspiegels erhebt sich rechts ein künstlicher Hügel, wo Schlangenwege durch Strauchwerk, Laub- und Nadelholz nach dem Gipfel führen. Links vom Teiche kommt man an ein Gehege mit Hirschen und Rehen, und weiter hin murmelt ein Bach zwischen hohen Waldbäumen am Saum einer Lichtung. Auf den Wiesen vor der Freitreppe weiden Schafe und gehen Hühner, denen sich zuweilen Fasanen zugesellen, welche auf den ferner gelegenen Blößen in ganzen Trupps auftreten, und deren der Park mehrere Tausende beherbergen soll. Diesen guten Dingen gegenüber verfahren unsere Soldaten, als ob das Alles ungenießbar wäre, und doch haben sie ohne Zweifel eine andere Ansicht und dazu bisweilen einen gesunden Hunger. „Tantalus in Uniform!“ sagte ein mythologisch gestimmtes Gemüth, als wir drei von den leckeren Vögeln, die auch ohne Sauerkraut à la Rothschild, das heißt in Champagner gekocht, gut zu essen sind, so nahe an einer seitab aufgestellten Schildwache vorbeiwandeln sahen, daß sie von ihr mit dem Bajonnet aufgespießt werden konnten. „Ob ein französischer Mobiler das wohl aushielte?“ fragte ein anderer Begleiter.

Auf dem Hügel am Teiche suchten und fanden wir, von Abeken’s Kunstliebe aufmerksam gemacht, eine Statue, mit welcher der Schloßherr diesen Theil seines Besitzes geschmückt hatte. Sie scheint eine von seinen Nebengottheiten neben Adonai zu sein, steht auf dem Gipfel, von Buschwerk umgeben, ist von rothem Thon und stellt eine Dame vor, die einen Spieß in der Hand und eine Mauerkrone auf dem Kopfe hat und etwa anderthalbmal so groß als gewöhnliche Damen ist. Auf dem Piedestal steht – vermuthlich, damit man dem preußischen Generalconsul nicht Unrecht thue und auf den Verdacht gerathe, er habe seinem Park eine Borussia einverleibt – mit großen Buchstaben AVSTRIA. Ein Besucher, voll von ungeregelten Hochgefühlen, hatte, diese Warnung übersehend, der Dame mit Bleistift auf’s Hemd geschrieben: „Heil Dir, Germania, Deine Kinder sind einig!“ Ein Vetter des „Kladderadatsch“ aber hatte darunter bemerkt: „Det war doch früher nich. Ein Berliner Kind“ – eine Glosse, welche ihm auch bei einem zweiten dithyrambischen Gefühlsausbruche eingefallen war, mit dem ein anderer Begeisterter den Schild der thönernen Mamsell bekiselackt hatte, und der lautete: „Deine Kinder sind auf ewig vereint, Du große Göttin Deutschland! 22. September 1870.“

Von unsern Entdeckungsreisen zurückgekehrt, erfahren wir, daß der anfangs so anmaßende Regisseur uns bei näherer Betrachtung doch nicht für so unwillkommene Gäste betrachtet. Er fürchtet sich ungemein vor den „francvoleurs“, wie die Franctireurs von den Besitzenden auf dem Lande jetzt vielfach bezeichnet werden, und diese Furcht hat ihn unserer Anwesenheit neben ihrer verdrießlichen Seite auch eine freundliche abgewinnen lassen: er hat gemeint, daß jene Herren, die mit den Mobilen und den Chasseurs d’Afrique um die Wette überall in der Nachbarschaft geplündert und Verwüstungen angerichtet, bei Clayes in den Landhäusern Alles kurz und klein geschlagen und die Bauern mit dem Säbel in der Hand gezwungen haben, ihre Wohnungen zu verlassen und in die Wälder zu flüchten, wenn wir nicht da wären, leicht auf den Einfall kommen könnten, dem Schlosse ihren Besuch abzustatten und es am Ende gar niederzubrennen. Möglicher Weise in Folge dieser Betrachtung hat er sich besonnen, daß der Keller des Herrn Baron auch Champagner enthält und daß er uns davon eine Anzahl Flaschen abtreten kann, ohne eine Todsünde zu begehen. Wir fangen auf Grund dieser Meinungsänderung an, uns heimischer zu fühlen.

Man erfährt, daß beim Generalstabe die Nachricht eingetroffen [875] ist, Bazaine, der in Metz lückenlos eingeschlossen sein muß, habe beim Prinzen Friedrich Karl brieflich angefragt, ob die ihm durch ausgewechselte Gefangene zugekommene Kunde von der Niederlage bei Sedan und der Proclamirung der Republik begründet, und der Prinz habe ihm das ebenfalls brieflich und unter Beilegung von Pariser Zeitungen bejaht. Abends werde ich zum Chef hinaufgerufen, der nicht zu Tische erschienen und, wie es heißt, nicht recht wohl ist. Eine kleine steinerne Wendeltreppe, die sich „Escalier particulier de Monsieur le Baron“ nennt, führt mich hinauf in ein sehr elegantes Zimmer, wo der Kanzler im Schlafrock auf dem Sopha sitzt. Ich soll telegraphiren, daß die Franzosen gestern – wir hatten die Kanonenschüsse gehört, aber gezweifelt, ob es solche gewesen – mit drei Divisionen in südlicher Richtung einen Ausfall aus Paris gemacht haben, aber in voller Deroute zurückgeworfen worden sind, wobei sie sieben Geschütze und über zweitausend Mann an Gefangenen verloren haben.

Dienstag, den 20. September, wo der Minister sich von seinem Unwohlsein erholt hat, giebt es reichlicher zu thun, doch gehören Inhalt und Zweck der betreffenden Arbeiten nicht hierher, wie denn überhaupt viele gute Dinge, die gethan, erlebt und gehört wurden, sich selbstverständlich der Mittheilung entziehen. Ich sage das blos, um nicht in den Verdacht zu gerathen, den Feldzug in der Hauptsache als vergnügter Phäake und nicht als rechtschaffener „Soldat von der Feder“ mitgemacht und Augen und Ohren vorzüglich für Nebensachen gehabt zu haben.

Als der Chef ausgegangen ist und seine Aufgaben besorgt sind, wieder Ausflug in den Park, wo die Fasanen auch heute noch keine Ahnung davon zu haben scheinen, daß es hienieden Jäger und Schrotflinten giebt. Bei Tische ist Graf Waldersee aus dem benachbarten Lagny zugegen, wo die zweite Staffel des großen Hauptquartiers untergebracht ist. Er erzählt, daß der Ring von Truppen, der sich um Paris seit einigen Tagen herumzieht, nunmehr sich geschlossen hat und daß der Kronprinz sich in Versailles befindet. Officiere, die in Babel an der Seine gefangen gewesen, haben berichtet, die Mobilgarde sei den regulären Soldaten sehr abgeneigt und werfe ihnen vor, sich bei dem letzten Gefecht feig benommen zu haben, ja, man habe schon auf einander geschossen. In drei Steinbrüchen hat man geflüchtete Bauern gefunden. In einem Walde soll man auf Mobilgardisten gestoßen sein, die man mit Granaten herausgetrieben hätte, und welche dann, da sie Officiere ermordet, mit Ausnahme eines einzigen, „den man (sehr wahrscheinlich Mythenbildung, die immer nach einem und demselben Muster webt und der wir schon wiederholt bei ihrer Arbeit begegnet sind) laufen ließ, damit er die Bestrafung warnend weiter erzähle,“ von den Truppen getödtet worden wären. Endlich sollen sich in Sèvres, zwischen Paris und Versailles, die Einwohner preußische Besatzung zum Schutz gegen die Plünderungen und Mißhandlungen der „Francvoleurs“ und „Moblots“ erbeten haben.

Beim Thee erfährt man noch Einiges über die letzte Verhandlung des Kanzlers mit Jules Favre. Es soll Letzterem dabei bemerkt worden sein, daß man ihm die näheren Bedingungen eines Friedens noch nicht mittheilen könne, da sie erst in einer Versammlung der deutschen Nächstbetheiligten festgestellt werden müßten, daß es aber ohne Abtretung von Land nicht abgehen werde, da wir eine bessere Grenze gegen französische Angriffe haben müßten. Es hätte sich indeß weniger um den Frieden als um die Bedingungen gehandelt, unter welchen wir einen Waffenstillstand bewilligen könnten. Favre hätte sich bei der Erwähnung von Landverlust sehr erregt geberdet und sogar patriotische Thränen vergossen. Der Chef erwartet nicht, daß er wieder kommt. Das ist wohl auch dem Kronprinzen geantwortet, der telegraphisch angefragt hat.




Ein Hort des evangelischen Kirchengesanges.


In den ersten Tagen des November hat sich in Leipzig ein Ereigniß vollzogen, das weit über die Grenzen der Stadt hinaus Interesse und lebhafte Theilnahme erweckt hat. Die Thomasschule, Leipzigs älteste Schulinstitution und eins der ältesten Gymnasien überhaupt, ist aus ihrem an historischen Erinnerungen reichen alten Hause an der Thomaskirche übergesiedelt in das neue Heim, welches ihr die Fürsorge der Stadt in dem unter dem Namen „musikalisches Viertel“ bekannten neuen Stadttheile errichtet hat.

Bei dieser Gelegenheit dürfte es angebracht sein, auf eine Eigenthümlichkeit der Thomasschule hinzuweisen, welche derselben ein Ansehen und einen Ruf verschafft hat, den sie mit keinem ähnlichen Institute theilt; ich meine ihr Alumneum, bekanntlich jene Schuleinrichtung, in welcher die Schüler zugleich Kost und Wohnung erhalten. Dasselbe, zur Pflege des kirchlichen Gesanges bestimmt, hat sich durch Jahrhunderte hindurch als ein Hort des evangelischen Kirchengesanges treulich bewährt. Ausgezeichnete Cantoren, die zugleich als Tonsetzer berühmt geworden sind, haben seinen Ruhm vermehrt. Hochgeachtet seiner künstlerischen Leistungen halber, steht das Alumneum der Thomasschule noch heute groß da, eine Zierde der Stadt, ein beneidetes Unicum des ganzen deutschen Vaterlandes. Grund genug, daß ihm auch die „Gartenlaube“ einmal ihre Aufmerksamkeit zuwende, wozu die verflossene Festfeier eine ganz besondere Veranlassung bietet.

Die Thomasschule ist schon sehr alt. Man weiß es nicht anders, als daß sie seit dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts existirt, das ist die Zeit, in welcher das Thomaskloster, von dem Schule und Kirche noch Ueberreste sind, gegründet wurde. Wenigstens ist von einer späteren Gründung der Schule nirgends die Rede. So alt wie die Schule selbst mag wohl auch ihr Alumneum sein. War es doch im Mittelalter in den Klöstern allgemein Sitte, sich eine Anzahl Knaben zu halten, die des Gesanges beim Gottesdienste pflegten.

Indeß wie die Nachrichten über die Schule überhaupt bis zur Zeit der Reformation nur spärliche und lückenhafte sind, so auch über das Alumneum. Man weiß weder, wie groß die Zahl der Alumnen zu den verschiedenen Zeiten war, noch erfährt man Näheres über die Cantoren, deren Namen nicht einmal aufbewahrt worden sind. Vermuthlich hat die Nachwelt dadurch nicht viel verloren, denn jene Herren Cantores sollen ihr Amt selten selbst verwaltet haben, und das berechtigt zu dem Schlusse, daß auch die Leistungen des Chores über das Geschäftsmäßige nicht hinaus gegangen sein werden.

Die eigentliche Bedeutung unseres Alumneums beginnt erst mit der Zeit der Reformation, die in Leipzig im Jahre 1539 eingeführt wurde. Kurze Zeit darauf kam das Thomaskloster in den Besitz der Stadt, nicht zum Nachtheile der Thomasschule, deren Alumneum Rath und Bürgerschaft mit fast rührender Sorgfalt gepflegt haben. Während um 1552 die Zahl der Alumnen nur zweiundzwanzig betrug, zählte das Alumneum zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts schon vierundsechszig Schüler, vier mehr als gegenwärtig. Selbst in der schweren Zeit des dreißigjährigen Krieges wurde das Alumneum von der Stadt behauptet, freilich nur unter großen Anstrengungen und nicht in jenem erfreulichen Stande. Heute existirt das Alumneum der Thomasschule lediglich durch milde Stiftungen, die ihm im Laufe der Zeit aus der Mitte der Bürgerschaft zugeflossen sind. Bei einem Bestande von sechszig Alumnen wird die Stadtcasse nur mit einem Minimum in Anspruch genommen.

Mehr noch als durch seine Fürsorge für das äußerliche Gedeihen des Alumneums hat sich der Rath der Stadt dadurch ein Verdienst erworben, daß er Männer an die Spitze desselben stellte, die als hervorragende Meister in ihrem Fache auch befähigt waren, die Leistungen des Chores zu heben und der Anstalt dadurch Ruhm und Ansehen verschafften. Es seien aus der stattlichen Reihe der Cantoren nur erwähnt die Sethus Calvisius, Johann Hermann Schein, Johann Sebastian Bach, Johann Gottfried Schicht, Moritz Hauptmann, Männer, deren Ruhm noch die spätesten Zeiten verkündigen werden. Viel verdankt Leipzig insbesondere dem großen Johann Sebastian Bach. Wenn das Alumneum der Thomasschule heute von einem ganz besonderer Nimbus umgeben ist, so ist derselbe auf die Beziehungen zurückzuführen, [876] welche die Schule zu Bach, diesem Meister aller Meister, gefunden hat und noch fortdauernd unterhält. Wer wüßte es nicht, daß der größte Theil seiner unsterblichen Meisterwerke in Leipzig entstanden ist? Für die Thomasschule hat er seine Passionsmusiken, die große Zahl seiner Motetten und Choralbearbeitungen geschrieben, in der Thomaskirche sind sie zuerst gesungen worden, und hier werden sie noch heute mit besonderer Sorgfalt gepflegt. Darum gelten Thomaskirche und Thomasschule aber auch als classischer Boden. Schon Mancher hat die Stätte, da der große Bach gelebt und gewirkt, mit frommer Rührung betrachtet, das Orgelchor, auf dem er gestanden, das bescheidene Eckfensterlein der Schule, hinter welchem er gearbeitet hat. Und das Gefühl, an solch geweihter Stätte zu stehen, das ist es auch, welches den Thomanerchor heute noch begeistert, wenn es gilt, „Bach“ zu singen. Es läßt sich behaupten, daß der Thomanerchor lediglich durch Bach zu dem geworden ist, was er heute ist, ein Kunstinstitut ersten Ranges.

Zwar weiß man auch aus früheren Zeiten schon, daß das Alumneum der Thomasschule als Gesanginstitut eines großen Ansehens genossen. So wird vom Anfange des 17. Jahrhunderts berichtet, daß „Jünglinge aus aller Herren Ländern, aus Preußen, Ungarn, Polen Dänemark, Schweden nach Leipzig zusammengeströmt seien, um neben dem wissenschaftlichen Unterrichte an der Thomasschule hauptsächlich auch die hier zu erwartende musikalische Unterweisung, die man für die Verherrlichung des Gottesdienstes wünschte, genießen zu können.“ Schwerlich sind aber die Leistungen des Chores damals schon so bedeutend gewesen, wie heute. Was jenen Reiz ausübte, war wohl mehr die Neuheit des protestantischen Kirchengesanges überhaupt, als die Art der Ausführung desselben.

Heute läßt sich vom Thomanerchor, der gegenwärtig unter Leitung des Professor Ernst Friedrich Richter steht, nur als von einem Kunstinstitute sprechen. Professor Richter, dieser ausgezeichnete Mann (geboren im Jahre 1808 in Großschönau bei Zittau, Cantor an der Thomasschule seit 1868), berühmt als gründlicher Theoretiker und nicht minder geachtet als Tonsetzer, hat die Leistungen des seiner Leitung unterstellten Chores auf eine Höhe gebracht, die wohl nicht noch überschritten werden kann. Durch tägliche Uebung geschult, haben es diese jugendlichen Sänger zu einer Ausdauer, Fertigkeit und Sicherheit in der Ausführung der schwierigsten Tonwerke gebracht, die den Kenner mit freudigem Erstaunen erfüllen. Besonders hervorstechend sind diese beneidenswerthen Eigenschaften im Vortrage Bach’scher Werke, die bekanntlich sehr schwierig sind und an die Ausführenden Anforderungen stellen, denen nur die geübtesten Sänger bei viel Lust und Liebe zur Sache zu entsprechen vermögen. Andererseits läßt sich aber auch behaupten, daß ein energisch betriebenes Bachstudium den besten Einfluß auf die musikalische Bildung des Sängers äußert. Das hat der Thomanerchor an sich selbst erfahren.

Man wird von einem aus Knaben und Jünglingen zusammengesetzten Gesangskörper nicht eine besonders mächtige Klangwirkung erwarten können. Den Sopranen und Alten fehlt das Glänzende der Frauenstimmen, den Tenören und Bässen die Fülle des Mannestones. Nichtsdestoweniger ist aber auch in Bezug auf das Verhältniß der Stimmen beim Thomanerchor Alles Ebenmaß. Der Grundton ist in allen vier Stimmen derselbe gedämpfte; keine deckt die andere, jede weiß ihren Platz mit Ehren zu behaupten. Die reiche Scala der im Thomanerchor vorhandenen Ausdrucksmittel steigt etwas weniger an, läßt, wie bereits gesagt, die höchsten Stärkegrade vermissen, bewegt sich aber dafür um einige Grad weiter nach unten, überrascht durch ein selten schönes pp. Und wann ist die Wirkung des Gesanges am nachhaltigsten? Ich möchte behaupten im Pianissimo, wenigstens habe ich an mir selbst erfahren, daß der leise Flüsterton viel leichter in’s Herz hinein dringt, als der mächtige Tonstrom, der die Sinne berauscht. Jenes sanfte Tongesäusel ist aber gerade in der Kirche, wo es an der ahnungsvollen Stimmung des Hörers einen mächtigen Verbündeten hat, von besonderer Wirkung. Und so mag auch der Thomanerchor schon Manches gewirkt haben. Mozart soll von seinem Gesange zu Thränen gerührt worden sein. Wie viel Thränen der trostreiche und erhebende Gesang der Thomaner aber im Laufe der Jahrhunderte getrocknet hat, wer möchte das sagen?

Außer dieser ideellen Seite hat das Alumneum der Thomasschule aber auch eine materielle, und auch diese darf nicht unberücksichtigt bleiben. Der praktische Gesichtspunkt, aus welchem sich die Einrichtung des Instituts betrachten läßt, ist folgender. Die Schule ist durch milde Stiftungen in den Stand gesetzt, eine bestimmte Anzahl Schüler in Kost und Wohnung zu nehmen und ihnen unentgeltlichen Unterricht zu gewähren. Dafür müssen sich dieselben dem Gesangschore einreihen lassen, dem die Ausführung der Gesänge sowohl beim Gottesdienste, wie auch bei den verschiedenen gottesdienstlichen Verrichtungen, als Trauungen, Begräbnissen etc., und zwar in allen Kirchen der Stadt, beziehungsweise in ihren Parochien obliegt. Aus diesem Grunde ist musikalische Befähigung die erste Bedingung zur Aufnahme in das Alumneum. Man wird das Wohlthätigkeitsprincip in dieser Einrichtung nicht verkennen. Schon mancher arme Knabe ist auf diese Weise zu einer wissenschaftlichen Bildung gelangt, die ihm die beschränkten Mittel des Vaters nicht hätten gewähren können. Andererseits ist aber auch nicht zu leugnen, daß das, was das Alumneum leisten muß, ein ganz artiges Capital von Zeit und Mühe repräsentirt.

Noch vor Kurzem war das Loos der Thomaner wahrlich kein beneidenswerthes. Neuerdings ist insofern eine Besserung eingetreten, als das überaus zeitraubende und anstrengende Begräbnißsingen abgeschafft worden ist. Mag auch durch den Ausfall der verschiedenen „ganzen und halben Leichen“ (technischer Ausdruck für große und kleine Begräbnisse, die besonders vergütet wurden) das Budget manches armen Thomaners nicht unwesentlich vermindert worden sein, das Institut des Alumneums ist dadurch von einem wirklichen Krebsschaden befreit worden. Wie manche Unterrichtsstunde ist unter der Parole „zur Leiche“ geschwänzt worden, ohne daß der Lehrer auch nur das Mindeste hätte einwenden können! Seitdem das Begräbnißsingen abgeschafft worden ist, sieht man auch keinen Thomaner mehr in seiner Chortracht. Auch das ist kein Fehler, denn der hohe Hut und schwarze Mantel wollten Manchen nicht recht kleiden und haben vielfach zum Spott Veranlassung gegeben.

Wenn das Alumneum der Thomasschule in dieser Weise reformirt und unsern gegenwärtigen Zeit- und Ortsverhältnissen angepaßt worden ist, so wird das Jedermann nur für recht und billig halten. Im Uebrigen aber ist die Einrichtung des Alumneums, die noch ganz kürzlich der Gegenstand lebhafter Anfechtungen war, nur zu vertheidigen. Man hat gegenwärtig ein übles Vorurtheil gegen die Internate (das Wohnen der Schüler in der Anstalt selbst) überhaupt. Auch ich billige es nicht, wenn, wie dies z. B. in den königlich preußischen Schullehrerseminarien noch vor etwa zehn Jahren der Fall war, (ich rede aus Erfahrung) Jünglinge von siebenzehn bis dreiundzwanzig Jahren in einer unwürdigen Weise bevormundet, dadurch zu Ausschreitungen veranlaßt und in der Entwickelung ihres Charakters übel beeinflußt werden. Aber ich kann in dem Zusammenleben überhaupt nichts Gefährliches erblicken. Alles, was man den Internaten an verderblichem Einflusse nachgesagt hat, und was wohl auch durch einzelne Fälle bestätigt sein mag, das gilt in viel größerem Maße von jedem Pensionat. Was speciell die Thomasschule anlangt, so vermöchte das Alumneum die ihm für den Einzelnen zu Gebote stehenden geringen Subsistenzmittel nicht besser anzulegen, als in der Weise, wie es wirklich geschieht, nämlich durch gemeinsame Verpflegung. Eine mit denselben Mitteln bewirkte Einzelverpflegung könnte noch weit geringere Sicherheit für das leibliche und geistige Gedeihen der Zöglinge bieten.

Und dann wolle man doch auch den musikalischen Gewinn, der durch die Vereinigung einer so stattlichen Anzahl stimmlich begabter, intelligenter junger Leute, die sich eins wissen zu einem Zwecke, erzielt wird, nicht gering anschlagen. Die Musik steht nicht so außer allem Zusammenhange mit dem Gesammtzwecke des Gymnasiums, wie Viele glauben. Würde sonst ein Mann, wie Dr. Martin Luther, der keinen Schulmeister oder Pfarrer achten wollte, wenn er nicht singen könne, sich so nachdrücklich für die Aufnahme des Gesanges unter die Disciplinen der Schule verwandt haben? Wenn aber der bildende Einfluß der Musik, insbesondere des Gesanges, auf die sittlichen Kräfte des Menschen unbestritten ist, so muß auch jedes Bestreben,

[877]

Schöne Welt in München.
Originalzeichnung von Erdmann Wagner in München.

[878] das auf die Veredelung des Gesanges gerichtet ist, als ein erziehliches Moment mit Freuden begrüßt werden.

In diesem Sinne erfüllt das Alumneum der Thomasschule in der That eine große Mission. Es bildet durch seine ausgezeichnete Kunstpflege nicht nur seine eigenen Zöglinge zu tüchtigen Musikern, die im späteren amtlichen Leben, weß Standes sie auch seien, die ihnen eigene Liebe zur Kunst auch in ihre Umgebung verpflanzen, sondern es erstreckt seinen Einfluß viel weiter auf Alle, die von ihm und seinen Leistungen Belehrung und Anregung erwarten. Und die Zahl Derer ist nicht klein.

Sowohl die sonntäglichen Kirchenmusiken wie besonders auch die Sonnabendmotetten (Nachmittag halb zwei Uhr) erfreuen sich neuerdings einer überaus lebhaften Theilnahme des Publicums. Man weiß die Gelegenheit, hier ältere und neuere Meisterwerke kirchlicher Tonkunst in vollendeter Ausführung kennen zu lernen, wohl zu schätzen. Erwägt man dabei, daß Leipzig fortdauernd von einer großen Anzahl Fremder besucht ist, die an der Universität, am Conservatorium der Musik und wie die Quellen für Kunst und Wissenschaft, an denen Leipzig so reich ist, alle heißen, ihr Wissen und Können zu bereichern suchen, so wächst die Bedeutung des Thomanerchors bis zu einer internationalen heran.

Möchte das Alumneum der Thomasschule, dieser Hort des evangelischen Kirchengesanges, sich dieser seiner hervorragenden Stellung stets bewußt bleiben und dieselbe alle Zeit auch durch die That zu rechtfertigen suchen! Denn es ist nichts trauriger, als beobachten zu müssen, wie ein Kunstinstitut an dem Ruhme vergangener Zeiten zehrt. An der zum guten Gedeihen erforderlichen Fürsorge der Stadt wird es hoffentlich nie fehlen.

Moritz Vogel.




Ein Apostel der Volksaufklärung.


Vor einigen Tagen, am 2. December, wurde zu Offenbach bei Frankfurt am Main das Denkmal eines Mannes enthüllt, den wir mit Recht als einen Apostel der Volksaufklärung bezeichnen können. Wir meinen den am 26. September 1876 verstorbenen Heribert Rau, über dessen Leben und Wirken die folgenden Daten nicht unwillkommen sein dürften. Es war ein in seinem äußeren Gange zwar einfaches, seinem inneren Gehalte nach aber um so reicher gestaltetes Leben, dessen Umrißlinien wir hier zu zeichnen beabsichtigen.

Ueber Heribert Rau’s Wiege ging der Stern der Befreiung des Vaterlandes vom Joche der Fremdherrschaft auf, und der Stern der Freiheit ward für ihn auch Symbol, ward zum Leitstern seines Lebens. Er ist geboren zu Frankfurt am Main am 11. Februar 1813. Als Sohn eines Kaufmannes wurde auch er zum Kaufmanne bestimmt. Der tiefinnerliche, unbezwingbare Trieb nach Höherem ließ sich indeß in dem jungen Manne wohl eine Zeitlang zurückdämmen, nicht aber völlig unterdrücken. Die Erstlingsspenden seiner schöngeistigen Production erschien zu Anfang der vierziger Jahre in Gestalt einiger Novellen, Romane und Operntexte.

Als dann 1844 in Folge des frechen Gaukelspiels der Ausstellung des sogenannten „heiligen Rockes“ in Trier und des gegen dasselbe geschleuderte Ronge’schen Briefes aus Laurahütte die religiöse Reformbewegung entstand, da schloß sich auch Rau mit Begeisterung derselben an, indem er zunächst aus der römischen Kirche, welcher er durch die Geburt bis dahin noch äußerlich angehört hatte, austrat und mit andern gleichgesinnten Freunden in Frankfurt am Main die noch jetzt dort bestehende deutschkatholische Gemeinde in's Leben rief. Unter außerordentlichem Zudrange hielt er populäre Vorlesungen über Kirchengeschichte, die dann unter dem Titel „Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche von ihrer Entstehung bis auf die Gegenwart“ von der Literarischen Anstalt in Frankfurt verlegt wurden, und über die „Geschichte des alten und neuen Bundes“, welche später in zwei Bänden bei Groos in Heidelberg erschien.

Jene Tage und Ereignisse wurden nun entscheidend für seinen ganzen ferneren Lebensweg und Entwickelungsgang. Nach ernstem Kampfe mit sich selbst verbrannte er mit entschlossener Hand die Schiffe, welche ihn seither getragen, warf den kaufmännischen Beruf ganz bei Seite und bezog, obschon verheirathet und bereits Vater zweier Söhnchen, noch im reiferen Mannesalter die Universität Heidelberg, um dort unter Paulus’ Führung theologischen und geschichtlichen Studien obzuliegen und sich dann ausschließlich der Sache der religiösen Aufklärung als deutschkatholischer Prediger und Lehrer zu widmen.

Nach Ablauf seiner Studienzeit folgte Heribert Rau zunächst einem Rufe an die Gemeinde nach Stuttgart, welcher er von 1847 bis 1850 als Prediger angehörte, worauf er in gleicher Stellung nach Mannheim übersiedelte und daselbst sieben Jahre lang segensreich und allgemein hochgeachtet wirkte. Seine feurige, schwungvolle Beredsamkeit wußte hier wie in Stuttgart – wo er auch mit Künstlern und Schriftstellern in mannigfachen geselligen Verkehr trat – einen zahlreichen und anhänglichen Hörerkreis um sich zu sammeln.

Aus Rau’s zehnjähriger Stuttgarter und Mannheimer Periode erwuchs eine stattliche Reihe von Büchern und Schriften zumeist religiösen und populär-wissenschaftlichen Inhalts, deren einige ein wahrhaft epochemachendes Aufsehen erregten; so die zweibändige Predigtsammlung „Feuerflocken der Wahrheit“, der „Katechismus der Kirche der Zukunft“, welcher vier Auflagen erlebte, die „Apostelgeschichte des Geistes“ – vor Allem und ganz besonders aber die „Neuen Stunden der Andacht“, von welchem vierbändigen Werke der Verleger Otto Wigand in Leipzig eben die sechste Auflage zur Versendung bringt, und das zuerst in sieben Bändchen anonym erschienene, später zu einem umfangreichen Bande verewigte „Evangelium der Natur“, welches einen außerordentlichen, ja einen geradezu phänomenalen Erfolg hatte. Dieses vielgefeierte, von den Dunkelmännern aber auch glühend gehaßte Buch, das die Grundlehren der Astronomie, Geologie, Anthropologie, Physik und Chemie zum ersten Male in populärer und dabei doch anziehender Gesprächsform vorzutragen versuchte, ging in drei sehr starken deutschen Auflagen über die halbe Erde, und in einer zu Amsterdam erschienenen holländischen Uebersetzung massenhaft nach den niederländischen Colonien, namentlich nach Java. Auch die „Apostelgeschichte des Geistes“ und der „Katechismus der Kirche der Zukunft“ sind in’s Holländische übertragen worden, und diese drei Werke allein haben in unzählige Köpfe den ersten Funken des Nachdenkens und der religiösen Aufklärung geworfen.

Doch gerade Rau’s große Erfolge auf dem Gebiete der Volksaufklärung sollten zum Anlaß werden, daß er aus der ein Jahrzehnt mit Hingabe verfolgten Bahn gewaltsam wieder in die seiner ersten, belletristischen Periode hinübergedrängt wurde. Der um jene Zeit besonders mächtigen politisch-kirchlichen Reaction in Baden war der in Wort und Schrift kühn vorstürmende Prediger der Mannheimer deutschkatholischen Gemeinde längst ein Pfahl im Fleische: sein so entschieden mit den alten Anschauungen brechender „Katechismus der Kirche der Zukunft“ mußte zum Anlaß und Vorwand für das badische Ministerium werden, Rau, ohne daß er nur darüber vernommen, und ohne daß ihm eine Vertheidigung gestattet worden wäre, seiner Predigerstelle in Mannheim zu entsetzen.

Rau, von dem Felde seiner bisherigen Wirksamkeit hinweggemaßregelt, kehrte 1857 nach seiner Vaterstadt Frankfurt zurück, die er dann auch bis zu seinem neunzehn Jahre später erfolgenden Tode nicht mehr verlassen hat. Hier war es nun, wo in den folgenden acht Jahren jene Serie von „biographisch-culturhistorischen Romanen“ entstand, welche Rau's Name auch in Kreise eindringen ließ, die von seiner seitherigen literarischen Wirksamkeit auf religiösem Gebiete gar nichts wußten, vielleicht nicht einmal etwas wissen wollten. Es sind die in rascher Aufeinanderfolge – in der Regel jedes Jahr einer – erschienenen Romane: „Mozart, ein Künstlerleben“ (6 Bände), „Beethoven“ (4 Bände), „Alexander von Humboldt“ (7 Bände), „Jean Paul“ (4 Bände), „Hölderlin“ (2 Bände), „Theodor Körner“ (2 Bände), „Garibaldi“ (3 Bände), „William Shakespeare“ (4 Bände) und „Karl Maria von Weber“ (3 Bände).

Von allen diesen Romanen war es wieder der erste, [879] „Mozart“, welcher von dem außerordentlichen Erfolge getragen war. Das Bestreben, den Lieblingscomponisten des deutschen Volkes diesem auch in erzählender Form näher zu bringen, förderte ein Buch zu Tage, welches rasch auch zu einem Lieblingsbuch der deutschen Familie wurde, vier Auflagen erlebte und in einer englischen Ausgabe in New-York erschien. Auch wurden die ersten fünf Romane dieses Genres sämmtlich in deutsch-amerikanischen Blättern nachgedruckt, selbstverständlich ohne daß der Autor nur einen Pfennig Honorar dafür erhielt, ebenso wenig wie für die New-Yorker englische Ausgabe seines „Mozart“. Auch sein „Beethoven“ brachte es noch zu einer zweiten Auflage.

Bereits 1843 hatte Rau einen Band Gedichte bei Frank in Stuttgart und vier Jahre später einen „Deutschkatholischen Volkskalender“ bei Groos in Heidelberg erscheinen lassen. Das Jahr 1859 brachte unter dem Titel „Natur, Welt und Leben“ eine neue Gedichtsammlung (Leipzig, O. Wigand) und einen Volkskalender „Nach der Arbeit“ (Frankfurt, Meidinger) von ihm, welch letzterer so großen Absatz fand, daß der ersten rasch vergriffenen Auflage eine zweite folgen mußte, was auch mit seinem Kalender für das nächste Jahr der Fall war.

Es ist klar, daß eine solche fast überreich zu nennende literarische Fruchtbarkeit – liegen von Heribert Rau im Ganzen doch, von seinen kleineren Schriften und Broschüren, Operntexten etc. abgesehen, achtundvierzig Werke in einhundertdrei Bänden gedruckt vor – nur zu ermöglichen war durch eine ganz außerordentliche Productionskraft, einen nie ermattenden Fleiß und einen rastlosen, fast verzehrenden Schaffensdrang. Ja, „verzehrend“ in des Wortes strengster Bedeutung. Denn ohne diesen fieberhaften, sich selber nie genugthuenden Drang und das unablässige Ringen und Streben, demselben Befriedigung zu verschaffen, hätten wir den liebenswürdigen und treuen Mann wohl noch Jahre lang unter uns weilen und wirken sehen. Wie er es aber trieb, bleibt nur zu verwundern, daß sich sein von Haus aus kräftiger Körper nicht noch früher aufgerieben hat. In der Periode seines angestrengtesten Schaffens, wie manche Nacht machte er zum Tage, wie kürzte er die so nöthige Zeit des Schlummers, „wo das Gehirn seine Mahlzeiten hält“, auf ein Minimum von oft nur zwei bis drei Stunden ein, bis lange nach Mitternacht im Bette lesend und so die Vorstudien zu seinen eigenen Arbeiten machend, dann, nach kurzem, unruhigem Schlummer, sich des Morgens um drei oder vier Uhr wieder vom Lager erhebend, um die Gebilde seiner Phantasie oder die Gedanken, welche seinen nie rastenden Geist erfüllten, auf’s Papier zu übertragen. Und dann: wie empfand er, was er schrieb! Seine Romanschöpfungen, welche er abschnittweise, wie sie entstanden, im Familienkreise vorlas, hat er völlig in sich durchlebt, und als er so eines Tages das Todescapitel aus seinem „Mozart“ den Seinen vorgelesen, war ihnen Allen, als sei ein ihnen theurer Mensch geschieden. Der Autor zumeist aber empfand Freud’ und Leid mit den Gestalten seines dichterischen Schaffens, und wenn er daran ging, das Ende eines seiner Helden zu schildern, so schnitt ihm das selber in’s Herz, und diese Empfindungen zitterten noch tagelang in ihm nach. Zu dem schweren Nervenleiden, das den letzten Abschnitt seines Erdendaseins verdüsterte, hat er in jenen Tagen einer schriftstellerischen Ueberproduction und Ueberanspannung seiner geistigen Zeugungskraft sicher den Grund gelegt.

Eine gleich umfassende und vielseitige Thätigkeit wie Rau hat vor ihm kaum ein zweiter deutscher Schriftsteller entfaltet. Die von ihm geschaffene, so überaus große Zahl von Werken aus fast allen Zweigen der Literatur konnte natürlich nicht überall und immer von gleichem Werthe sein, und nun gar zu verlangen, daß er auch auf allen wissenschaftlichen Gebieten, über die er geschrieben, als Selbstforscher thätig gewesen, hieße das Universalgenie eines Humboldt von ihm fordern. Er ließ sich daran genügen, das Edelmetall der Wissenschaft, welches Andere aus den Tiefen heraufgeholt, in handliche, gangbare Münze umzuprägen und unter die Leute zu bringen, und wenn er hier auch dann und wann einmal fehlgriff und für echtes Gold nahm, was die exacte Wissenschaft bereits wieder als Irrthum verworfen hatte, so verschwinden derartige gelegentliche Fehlgriffe verglichen mit den unleugbar großen Verdienste, welches sich Rau dadurch erwarb, daß er so viele Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung überhaupt in ansprechender Form zu popularisiren wußte. Den Leitsternen seines Lebens: Liebe zum Vaterlande, Freiheit des Gedankens, Aufklärung des Volkes und Erziehung desselben zu edler Menschlichkeit, ist er wissentlich niemals untreu geworden, und in diesem Sinne hat er auch auf einen außerordentlich großen Leserkreis anregend, erhebend und befruchtend gewirkt.

Die deutschkatholische Gemeinde in der Frankfurt benachbarten Fabrikstadt Offenbach am Main berief im Sommer 1868 Rau in ihre erledigte Predigerstelle. An der Spitze dieser Gemeinde stand damals noch, und bis zu seinem am letzten Tage des eben genannten Jahres erfolgten Tode, derselbe Mann, welcher sie 1845, als die erste des südwestlichen Deutschlands, in’s Leben gerufen hatte: Rau’s alter Freund und Kampfgenosse, der durch seine Poesien auch in weiteren Kreisen bekannt gewordene Kaufmann Joseph Pirazzi. Dieser lenkte die Wahl der Gemeinde auf Heribert Rau, welcher mit Freuden dem an ihn ergehenden Rufe Folge leistete, seinen Wohnsitz zwar im nahen Frankfurt beibehielt, während der nächsten sechs Jahre aber, bis zum Sommer 1874, ununterbrochen als Prediger und Religionslehrer in Offenbach thätig war.

Diese neue Wendung seiner Lebensbahn gab dem in letzter Zeit durch mannigfache widrige Schicksale, namentlich auch durch bedeutende pecuniäre Verluste, welche zum Theil auf das Fallissement des Verlegers seiner gelesensten Romane zurückzuführen sind und sich bei herannahendem Alter und naturgemäß abnehmender Productionskraft doppelt schmerzlich fühlbar machten, verdüsterten und gebeugten Manne wie mit einem Zauberschlage die alte Federkraft und Thatfreudigkeit neu zurück. Mit der Begeisterung eines Jünglings warf er sich noch einmal in die Wogen der religiösen Bewegung, und seine schwungvollen Vorträge füllten allsonntäglich die weiten Räume der Offenbacher freireligiösen Gemeindehalle mit einer aus allen Confessionen gemischten zahlreichen Zuhörerschaft. Während der Wintermonate hielt er daneben auch noch an Wochenabenden vielbesuchte Vorlesungen aus dem Gebiete der Erdbildungs-, Kirchen- und Culturgeschichte in Offenbach, die dann später ebenfalls im Buchhandel erschienen sind – ja, überdies fand er in diesem Endabschnitte seines arbeitsvollen Tagewerks auch noch zu zwei neuen Romanschöpfungen Zeit und Kraft und auch eine neu überarbeitete und erweiterte vierte Auflage seines „Katechismus der Vernunftreligion“ erschien noch im Jahre 1873.

Es war das letzte Aufleuchten der dem Erlöschen nahen Schaffens- und Lebenskraft, welches sich in diesen Vorträgen und Schriften documentirte. Spuren des Alters und des heranschleichenden körperlichen Verfalls zeigten sich bereits im letztgedachten Jahre bei unserm Freunde, und gleichen Schritt damit hielt eine sich neuerdings wieder bei ihm einstellende gemüthliche Verstimmung, welche zeitweise bereits in düstere Schwermuth überging. Die einst so elastische Spannkraft seines Geistes, die ihm früher innewohnende hohe Freudigkeit des Strebens und Wirkens begannen allgemach zu erlahmen und zu weichen: der Gedanke, vor der Zeit aus dem Kreise der Seinen und eines ihm liebgewordenen Berufes scheiden zu müssen, drückte den einst so kräftigen Mann nieder; er erschien gramvoll und sorgenbeschwert, und die ehedem so elastische Spannkraft seines Geistes mit einem Male geknickt und gebrochen.

In den Tagen des Sonnenscheins und der Stürme hatte Rau die verständnißinnigste Freundin, die treuste Beratherin und Mithelferin in der theuren Gefährtin seines Lebens, Friederike Wilhelmine geborene Müller aus Frankfurt, gefunden, mit der ihn seit dem Sommer 1839 das Band der glücklichsten Ehe vereinigte. Sie ist, wie er selbst von ihr gesagt, die lichte Seite seines Daseins gewesen. Die Charaktere beider Gatten hatten sich schön ergänzt, Eines ging in dem Andern völlig auf, und nur auf dem Boden eines so ungetrübten ehelichen Zusammenlebens konnte so viel Gutes und Schönes erwachsen. Heribert Rau wußte das richtige, gesunde Urtheil seiner Frau auch wohl zu schätzen, und selten ging, ohne daß er es zuvor befragt hatte, eine Arbeit von ihm in die Oeffentlichkeit. In manchem widrigen Geschick seines Lebens war ihm der edle und dabei feste Charakter seiner Gattin eine Stütze und ihr feinfühliger Tact, ihr scharfer Blick wußten in schwierigen Momenten, wo die Wage seines Willens anstand, den richtigen Ausschlag [880] zu geben. Und was waren ihm erst die Kraft und der Heroismus seines Weibes in den Tagen der schweren Heimsuchung, welche mit ihrem tiefen Schatten die letzten beiden Jahre seines Daseins verdunkelte!

Im Sommer 1874 nahm Rau einen mehrwöchentlichen Landaufenthalt im Taunus und an der hessischen Bergstraße, in der Hoffnung, die freie Natur, die erfrischende Berg- und Waldesluft werde auch seinem zerrütteten Gemüths- und Nervenleben Heilung geben. Doch es war bereits zu spät; das Uebel, welches ihn gepackt, nahm seinen langsamen, aber stetigen Fortschritt. Es war eigentlich kein Einzel-Leiden, sondern ein Conglomerat von Uebeln, welches gegen ihn anstürmte: chronische Nervenentzündung verbunden mit Hypertrophie des Herzens und Wassersucht, und daraus erwachsende Anfälle von qualvollster Athemnoth. Der Schlaf, welchen er einst freiwillig geopfert und von seinem Lager gescheucht hatte, floh ihn nun, da er ihn so innig herbeisehnte, wochen-, monatelang, und nur mit Hülfe narkotischer Mittel konnte er ihm dann noch künstlich zugeführt werden, aber nicht Erquickung und Stärkung, sondern nur eine sich oft tagelang hinziehende dumpfe Betäubung, ein Mittelzustand zwischen Schlaf und Wachen, war die Folge des Chlorats und Digitalins, zu dessen Anwendung der Arzt, um dem Kranken momentane Erleichterung zu verschaffen, so oft schreiten mußte. Dazwischen traten wieder Perioden anscheinender Besserung und größerer geistiger Frische, wo er an den Erscheinungen und Begebenheiten der Außenwelt erneuten Antheil nahm und Besuche von Freunden gern empfing. Doch der Gedanke an seine nahe Auflösung beschäftigte ihn gerade dann sehr häufig, wenn er ihm auch aus Rücksicht für die Seinen selten oder nie Worte lieh. Unterm 6. November 1874 schrieb er in einem an seinen Sohn Eduard gerichteten Briefe eine Art letzten Willens nieder, in welchem sich nachstehende beachtenswerthe Stelle findet:

„Die Meinen sollen sich bei meinem Tode vernünftigerweise aller großen Schmerzensäußerungen enthalten und meinen Wunsch achten und ehren, der seit langer Zeit darnach ging: nach den namenlosen Qualen ewiger Schlaflosigkeit endlich den Frieden ewiger Ruhe und stillen Schlafes zu finden.“

Heribert Rau hat im Manuscript noch zwei Bände Gedichte „Liederfrühling im Herbste des Lebens“ hinterlassen, die noch manche späte Blüthe seines sinnigen Gemüthes entfalten. Darunter befindet sich auch ein Sonett: „Der sterbende Schwan“, welches tiefe Schwermuth athmet und worin er das eigne Ende poetisch verklärt. Er schildert darin einen Schwan, der auf waldumschlossenem See dahinzieht und, von einem Pfeile tödtlich getroffen, vor seinem Verscheiden noch einmal melodisch zu singen anhebt. Dann heißt es:

„So hat auch mich des Schicksals Pfeil getroffen;
Die Freude starb; es starb mein letztes Hoffen;
Fast wird das Todesweh zur süßen Lust.
Da hebt der Geist noch einmal sein Gefieder,
Und schmerzerzeugte, tiefgefühlte Lieder
Entquellen sterbend noch der wunden Brust.“ …

Von Januar 1875 an verließ Rau seine Wohnung nicht mehr und verbrachte seine Tage fast ausschließlich nur noch in ewigem ruhelosem Wechsel zwischen Bett und Sessel. Wer hätte unter solchen Umständen aber denken sollen, daß dem an Herz und Nieren todtkranken Mann sein ältester Sohn noch im Tode vorausgehen würde? Und dennoch sollte die schwergeprüfte Familie auch dieser furchtbare Schlag noch treffen: der liebenswürdige junge Mann erlag am 6. November 1875 einem schweren Nerven- und Gemüthsleiden, an welchem er seit einiger Zeit rettungslos dahinsiechte.

Nach Monaten erst erfuhr Rau den ihm sorgfältig geheim gehaltenen Tod seines Kindes, den er wohl längst im Stillen geahnt haben mochte, über welchen sich Klarheit zu verschaffen er aber offenbar scheute, denn er fragte in dieser ganzen Zeit niemals nach dem Sohne. Als ihm endlich die traurige Gewißheit nicht mehr länger verborgen bleiben konnte, brach der arme Mann in lautes Jammern und Wehklagen aus. Aber immer noch widerstand Rau's Natur dem unablässig auf sie anstürmenden Heer von Uebeln; ja, der Arzt erklärte, mit Bestimmtheit keineswegs sagen zu können, welche Frist ihm noch zugemessen sei. Sicher sei nur Eines: daß er nie mehr gesunden werde. Unter diesen Umständen mußten Alle, die es aufrichtig wohl mit ihm meinten, wünschen, daß seinen Leiden der Tod endlich Erlösung bringe. Und die Erlösung kam. Im August 1876 traf ihn der erste Vorbote des Todes in einem Schlaganfall, der seine linke Seite lähmte. Die Klarheit des Geistes, die Frische des Gedächtnisses aber verblieb ihm noch immer und bis an’s Ende.

Rau hatte von je in der äußeren Erscheinung auf sich gehalten; sein ästhetisches Bedürfniß offenbarte sich auch hierin; sein Habitus war allzeit der eines Gentleman. Und so fand man ihn auch stets in seiner Krankenstube, mochte er nun zu Bette liegen, oder, in seinen langen Hausrock von dunkelbraunem Sammet eingeknöpft, im Sessel ruhen.

Als der Verfasser dieser Mittheilungen den Kranken kurz vor seinem Tode noch einmal besuchte, traf er ihn im Bette und gegen früher merklich gealtert, aber seine Züge in keiner Weise entstellt, vielmehr zu einem lieben, sanften Greisenantlitz verklärt. Und gerade so lag er auch da, als der Tod ihm Befreiung von allem Erdenschmerz gebracht hatte. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Er schlug sein großes, sanftes Auge zu dem Besucher auf und sagte in langen Zwischenpausen: „O lieber Freund – – Sie ahnen nicht – – wie sehr ich leide.“ Die ausgesprochene Hoffnung auf baldige Besserung erwiderte er mit einem schmerzlichen Lächeln und einem Blick nach oben.

Am 25. September, Morgens 8 Uhr, als er sich eben wieder vom Lager erheben und nach dem Sessel begeben wollte, traf ihn ein zweiter Schlaganfall, der ihm die Sprache und bald auch das Bewußtsein raubte. Nur noch einmal hörte man das Wort „Aus!“ sich ihm von den Lippen ringen. Ja, es war aus mit ihm. Um zwei Uhr des andern Nachmittags that er seinen letzten Athemzug. –

Ein langes Gefolge von leidtragender Freunden und Gesinnungsgenossen begleitete den geschiedenen Kämpfer in den Morgenstunden des 29. September auf seinem letzten Wege zu dem schönen Frankfurter Friedhof. – Am Grabe sprachen nach einander Worte der Verehrung und Liebe: der Prediger der Frankfurter deutsch-katholischen Gemeinde, Wilh. Flos, der würdige Schüler Uhlich’s, Johannes Ronge, Vertreter der Mannheimer, Offenbacher, Hanauer und Wiesbadener deutsch-katholischen Gemeinde, welche Lorbeerkränze an dem Grabe niederlegten, und zuletzt noch, indem er ihm die drei symbolischen maurerischen Rosen auf den Sarg hinunter warf, ein Mitglied der Frankfurter „Loge Sokrates“, welcher der Hingeschiedene angehört hatte. –

Heribert Rau ist gestorben, aber in vielen tausend Herzen, die seine Schriften erhoben, erhellt und erfreut, wird sein Name in dankbarer Erinnerung fortleben.

Eines seiner Mahnworte an das deutsche Volk lautete: „Werdet freie Menschen, die nicht mehr der Vortheil der Herrschsüchtigen unter den Priestern trennt!“

Ja, – werdet freie Menschen!

E. P.




Blätter und Blüthen.


Der Leibarzt des Kaisers. (Mit Portrait S. 869.) Kaiser Wilhelm ist – man darf es mit vollem Bewußtsein sagen – in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts der mächtigste Monarch der Erde. Einem solchen, möchte man meinen, hat Niemand auf der Welt etwas zu sagen, noch weniger zu befehlen; also braucht er keiner Stimme auf der weiten Welt zu gehorchen, als derjenigen der Pflicht und des Gewissens. Und doch unterwirft er sich sehr oft den Ordonnanzen eines Mannes, dessen Bild wir hier bringen – und dieser Mann ist sein Leibarzt. Wenn der Kaiser in Berlin ist, wird man jeden Morgen einen langen hageren Mann in der Uniform eines Generalarztes den kurzen Weg von seiner Wohnung in der Markgrafenstraße durch den Palaiseingang von der Behrenstraße zu den Gemächern des Kaisers nehmen und in dieselben eintreten sehen. Die Gestalt ist nach vorn etwas gebeugt; freundlich und wohlwollend ist der Ausdruck der Mienen, und unter der goldenen Brille hervor schauen ein paar helle graue Augen, die nach Lage der Dinge auch einen sarkastischen Ausdruck annehmen können. Es ist der Blick des erfahrenen Diagnostikers, vor dem die Welt und die Dinge und das, was sie zusammenhält und bestimmt, nicht weniger klar und offen daliegen, als der anatomische Bau des menschlichen Körpers. Was kein Minister, Bismarck nicht ausgenommen, wagen wird – er darf es [881] unternehmen, nämlich dem Kaiser den Puls fühlen. Aber, Gott sei Dank, das braucht nicht zu oft zu geschehen. Der alte Thiers pflegte zu sagen: Wenn Jemand keinen guten Magen auf die Welt zu bringen hat, so wäre es am besten, daß er sich gar nicht die Mühe nähme, auf die Welt zu kommen.

Die körperliche Constitution der Hohenzollern hat drei vortreffliche Eigenschaften, die sich von Generation zu Generation zu vererben scheinen: einen guten Magen, die Fähigkeit, zu jeder Zeit wachen oder schlafen zu können und einen langsamen Puls. Daher die leibliche und geistige Gesundheit des Geschlechts und speciell die unverwüstliche Lebenskraft des Kaisers. Aber diese würde öftere Störungen des Organismus zur Folge haben, wenn nicht Generalarzt Dr. von Lauer mit so treuem und offenem Auge über seinen Herrn wachte. Jeder gesunde Mensch kommt in Gefahr, auf seine Gesundheit hin zu sündigen. Auch der Kaiser. Ein Gefühl der Vollkraft läßt ihn oft seine Jahre vergessen, und daß ein Achtziger nicht mehr Dasjenige vollbringen kann, was für einen Dreißiger zu unternehmen keine Gefahr ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Das Recht solcher Mahnungen an den Kaiser steht Generalarzt Dr. von Lauer zu. Er legt sein strenges Veto ein, wenn der Kaiser eine Parade, eine Besichtigung vornehmen, einen Jagdausflug machen oder sich sonstigen Anstrengungen aussetzen will, die für sein Wohlbefinden irgend eine Gefahr nach sich ziehen könnten. Oft gehorcht ihm der Kaiser, manchmal aber läßt der Jugendmuth den greisen Herrn doch die Warnungen überhören. Nicht selten ist auch die Kaiserin mit dem Leibarzte im Complot, um den Kaiser zur Enthaltung gewisser Verordnungen zu bewegen. Glücklicher Weise ist jedoch das Befinden des Kaisers ein derartiges, daß sich meistentheils die Functionen seines Leibarztes nur auf die tägliche Erkundigung nach des hohen Herrn Befinden, auf die Inspection des Speisezettels und die Begleitung bei Reisen und Jagden beschränken. Oefters geschieht es auch, daß der Kaiser seinen Leibarzt zu Kranken abordnet, die ihm besonders werth und theuer sind und über deren Zustand er unterrichtet sein will.

Der deutschen Pfarrhäuser eines, welche unserer Nation schon so manchen hervorragenden Mann geschenkt haben, hat der Welt auch den Leibarzt des Kaisers gegeben. Gustav Adolf von Lauer wurde 1808 in Wetzlar geboren. Gebildet auf dem Gymnasium seines Geburtsortes, widmete er sich speciell dem militärärztlichen Fach als Zögling des königlich medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Instituts. Seine praktische Ausbildung empfing er im Charité-Krankenhause, war dann sechs Jahre Compagnie-Chirurg und erhielt 1836 ein Commando zum Allgemeinen Krankenhaus in Hamburg. Er wurde darauf zum Stabsarzt am medicinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut befördert, unternahm 1839 eine wissenschaftliche Reise nach Belgien und Frankreich und wurde in jenem Jahre zum Regimentsarzt des Kaiser Alexander Gardegrenadier-Regiments befördert.

Generalarzt Dr. v. Lauer hat also die Carrière der preußischen Militärärzte gemacht, wie Wiebel, der Leibarzt Friedrich Wilhelm’s des Dritten, und Dr. Böger, der Arzt Friedrich Wilhelm’s des Vierten in dessen spätern Lebensjahren. Aus einem einfachen Militärarzte, der eine reiche Kaufmannstochter aus dem alten Berliner Hause Ermler heimführte, ist der jetzige hochwichtige Generalarzt des Gardecorps und Leibarzt des Kaisers geworden. Die Stelle eines Leibarztes beim damaligen Prinzen von Preußen trat er 1844 an. Er hat vier militärische Expeditionen mitgemacht und den Kaiser zwei Mal in’s Feld begleitet; er ist geadelt worden und auf seiner Brust glänzt ein Firmament von Sternen; um seine Schultern schlingt sich ein großes Band vom badischen Schwiegersohne – aber alle diese Ehren und Auszeichnungen haben seine schlichte, gerade Natur nicht einen Augenblick in’s Schwanken bringen können. Er will lieber ein Ehrenmann als ein Hofmann heißen. Vor Hochmuth und anderen derartigen hübschen Angewöhnungen eines Emporgekommenen schützen ihn sein edles Herz, seine tiefe humanistische Bildung und die Einsicht in das Wesen, die Beschaffenheit und den Gang alles Natürlichen. Der beste Ruhm eines Arztes ist die Gesundheit seines Pflegebefohlenen – und wenn schon ein Hohenzollernkörper ein sehr dankbares Material in dieser Beziehung ist, so wird doch das Verdienst dieses Mannes dadurch nicht verkleinert, das Verdienst, durch treue und weise Sorgfalt den Kaiser und damit in gewissem Sinne das ganze deutsche Reich bei gesundem Körper zu erhalten. – –
H.

Wir entnehmen das Portrait des Generalarztes Dr. von Lauer den mit Recht viel gepriesenen „StudienköpfenAnton von Werner’s, deren erstes Heft, nach den Originalzeichnungen des Meisters photographisch aufgenommen und gedruckt, soeben aus dem Berliner photographischen Institut (Verlag von Paul Bette) hervorgegangen. Es sind zehn Köpfe berühmter Männer der Zeit, welche der Künstler der Mehrzahl nach im Winter 1870, während seines Aufenthaltes im kronprinzlichen Hauptquartier zu Versailles, nach der Natur gezeichnet. Was diesen technisch vorzüglich nachgebildeten Kreide- und Bleistiftskizzen einen besonderen Reiz verleiht, das ist die kecke Lebenswahrheit und frappante Ursprünglichkeit, mit der sie ihre gefeierten Gegenstände vor uns hinstellen. Wenn ihnen an minutiöser Ausführung und Feinheit im Einzelnen naturgemäß manches fehlt, so ersetzen sie dies reichlich durch die ihnen eigenthümliche charakteristische Auffassung und den genialen Wurf der zeichnerischen Darstellung. Anton von Werner’s Studienmappen dürften durch diese zehn Köpfe zeitgeschichtlicher Berühmtheiten schwerlich erschöpft sein, und knüpfen wir daher an das Erscheinen des ersten Heftes des interessanten Werkes die Hoffnung, es möge durch eine Reihe in gleichem Sinne ausgeführter Blätter fortgesetzt werden, was hier so glücklich begonnen wurde.




Sprachlosigkeit. „Erstarrt stand ich da; die Haare standen mir zu Berge, und das Wort blieb mir im Munde stecken,“ läßt der Dichter Vergilius den Aeneas ausrufen, als er nach seiner Flucht aus Troja statt der Gattin an seiner Seite nur ihren riesengroßen Schatten in der Ferne erblickte.

„Nun, das ist dichterischer Ausdruck, um den höchsten Grad des Erstaunens und Erschreckens zu bezeichnen,“ denkt der Skeptiker. Ja und nein. Ich habe Leute gesehen, die wie eine aus Wachs geformte Bildsäule dastanden und deren Glieder auch wie wächserne biegsam waren. Man hat bei Katzen in der That das Haar sich aufrichten sehen, und daß auch das Wort versagen kann, davon hier einige Beispiele.

Als, wie der Evangelist Lucas berichtet, der Engel Gabriel dem Priester Zacharias verkündigte, sein bis dahin kinderloses Weib Elisabeth werde trotz ihres Alters ihn noch zum Vater machen, ward er sprachlos bis an den Tag der Beschneidung seines Sohnes, Johannis des Täufers, neun Monate und acht Tage. Ferner: Eine Dame in Osnabrück, die sich nach Bielefeld verheirathete, verlor in dem Augenblicke die Sprache, als sie, von dem Hochzeitsmahle aufbrechend, mit ihrem jungen Ehemanne in den Reisewagen stieg. Zacharias und die junge Frau bekamen die Sprache wieder; der Erstere, als er den Namen seines Sohnes auf ein Täfelchen schrieb; die Letztere, als sie nach langer Sprachlosigkeit bei einem Spaziergange um die Wälle ihrer Vaterstadt den Thurm der Katharinenkirche in Flammen erblickte und plötzlich den Ruf „Feuer!“ ausstieß.

Der alte griechische Geschichtsschreiber Herodot, der nunmehr zweitausendzweihunderteinundachtzig Jahre todt ist, erzählt folgende bis vor kurzem für unglaublich gehaltene Geschichte: Als Crösus bei der Belagerung von Sardes in Gefahr gerieth, von einem Perser erschossen zu werden, rief der Sohn des Crösus, der bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte, dem Perser, der auf seinen Vater zielte, zu: „Mensch, hüte dich, den Crösus zu tödten!“ und blieb im Besitz seiner Sprache bis an’s Ende seines Lebens. Wunderbar bleiben diese Thatsachen immerhin, aber ihre Unglaublichkeit haben sie seit den neueren Forschungen der Wissenschaft verloren.

Bekanntlich besteht das Gehirn des Menschen und der Thiere aus zwei symmetrischen Hälften. Die linke Hälfte des Gehirns regelt und bewirkt die Bewegungen der rechten Körperhälfte, und die rechte Gehirnhälfte die Bewegungen der linken Körperhälfte. Wird die linke Gehirnhälfte zerstört, so tritt eine Lähmung der rechter Körperhälfte ein: die rechtsseitigen Glieder gehorchen dem Willen nicht mehr.

Geschieht die Zerstörung der linken Gehirnhälfte etwa durch einen Schlagfluß, wobei Blut aus den Adern tritt und die Gehirnsubstanz zertrümmert, so tritt unter Umständen auch eine Lähmung des Articulationsmechanismus der Sprachorgane ein: die Fähigkeit, zu sprechen, geht verloren. Dieser Umstand ereignet sich, wenn der Bluterguß in einen bestimmten kleinen Theil der linken Gehirnhälfte, die sogenannte Insel oder deren nächste Umgebung, erfolgt. Man könnte also diesen Theil des linken Gehirns als den Sitz des Sprachvermögens bezeichnen, und es ist in hohem Grade bemerkenswerth, daß den Affen, deren Gehirn im Uebrigen eine so eminente Aehnlichkeit mit dem des Menschen zeigt, dieser Theil des Gehirns, die Insel, fehlt. Mit einem Gehirnschlagflusse ist gewöhnlich der Verlust des Bewußtseins verbunden, aber die Besinnung kann wiederkehren; der Betroffene kann durch Zeichen zu erkennen geben, daß er Alles um sich her erkenne und verstehe; er kann auch seine Wünsche durch Zeichen oder Schrift kund thun, aber sprechen kann er nicht. Zuweilen kann er auch nicht mehr richtig schreiben, selbst wenn die Bewegungsfähigkeit der Hand vollkommen wiederhergestellt ist, oder er schreibt verkehrte, oft sinnlose Worte. So vermochte Jemand seinen Namen: Müller nicht zu schreiben; er schrieb: „Rema“ unter ein Document, und doch konnte der Gerichtsarzt mit gutem Gewissen beglaubigen, daß der Kranke im Besitze seiner geistigen Fähigkeiten sei, den Inhalt der Urkunde wohl verstehe und mit dem „Rema“ seinen Namen ausdrücken wolle, aber ihn nicht zu schreiben verstehe. Ein Kaufmann, der bei seiner Sprachlosigkeit noch Intelligenz genug behalten hatte, um sehr gut Schach zu spielen, zuckte, als er aufgefordert wurde „Baum“ zu schreiben, die Achseln, ergriff aber einen Bleiftift und zeichnete sofort das Bild eines Baumes gut auf Papier, obwohl er das Wort weder zu schreiben noch zu sprechen vermochte.

Sehr merkwürdig ist ferner folgendes Vorkommniß: Wenn man einem an Sprachlosigkeit Erkrankten drei Gegenstände vorhält, etwa einen Schlüssel, eine Bleifeder, eine Uhr, so vermag er keinen davon mit dem richtigen Namen zu benennen, aber er giebt den Zweck derselben an. Er sagt: „Damit kann man schließen; damit schreibt man; das zeigt, wie weit es ist“; es fehlen ihm die Substantive. Legt man nun die drei Gegenstände nebeneinander und fordert ihn auf, die Bleifeder zu fassen, so ergreift er das richtige Ding.

Es war gesagt: Wenn Jemand einen Schlagfluß in seiner linken Hirnhälfte erleidet, bei der die Insel oder ihre Umgebung getroffen ist, so wird er sprachlos. Ueberraschend muß es erscheinen, daß die Zerstörung dieser Theile in der rechten Hirnhälfte keine Sprachlosigkeit zur Folge hat. Nur wenn der Mensch linkshändig ist und Bewegungen, welche die meisten Menschen mit der rechten ausführen, wie Kegelschieben, Werfen, Fechten, mit der linken Hand vornimmt – wenn ein linkshändiger Mensch von einer Lähmung der rechten Gehirnhälfte betroffen wird, bei welcher die Insel nebst Umgebung zerstört wird, tritt auch Sprachlosigkeit ein. Beide aber, sowohl der Rechts- wie der Linkshändige können ihre Sprache vollständig wiedererhalten. Wie geht das zu? Man nimmt an: In beiden Gehirnhälften sind alle Theile gleich entwickelt. Allein wie zu feineren Bewegungen entweder die rechte oder die linke Hand ausgebildet wird, so werden auch die Organe des Sprachorganismus im Gehirne entweder auf der linken oder auf der rechten Seite vorzugsweise in Anspruch genommen. Für gewöhnlich ist nur das linksseitige centrale Sprachorgan thätig. Wie aber Jemand, der seine rechte Hand eingebüßt hat, mit der linken schreiben lernt, so lernt auch der von dem Verluste der linken Insel Betroffene, die bis dahin brachliegende rechte Insel zum Gebrauche heranzuziehen.

Wie wir gesehen haben, entsteht und vergeht die Sprachlosigkeit außer durch Zerstörung von Hirntheilen auch durch große psychische Eindrücke, [882]

Schreck und andere Affecte. Welche krankhafte Veränderungen der Gehirnsubstanz sich dabei ereignen und wie es in dieser Hinsicht mit dem Zacharias, dem Sohne des Crösus und der jungen Frau bestellt gewesen sein mag, das weiß man noch nicht, und so mag auch die Vermuthung darüber schweigen.
Dr. W.




Münchener Schönheiten. (Mit Abbildungen S. 877.) Wo sich eine Künstlercolonie seßhaft macht, da wird’s auch immer schöne Frauen geben. Die Künstler sind nicht nur die Schönheitsmacher, sondern auch die Schönheitsfinder. Maler und schöne Frauen gehören zusammen wie Kette und Einschlag. König Ludwig der Erste konnte die Künstler wohl nach München berufen, aber gefesselt konnten sie nur durch der Schönheit magischen Reiz werden. Er baute ihnen Ateliers; er gab ihnen Aufträge und Gehälter, aber die Modelle für ihre idealen Schöpfungen mußten sie sich selbst suchen. Und sie fanden sie; sie brauchten gar nicht so weit zu gehen, nicht erst in die Berge, um sie unter dem malerischen Alpenhut zu entdecken; sie begegneten ihnen auf der Straße, auf Spazier- und an Vergnügungsorten, auf den Brettern, in den Salons – wenn München welche hätte. Sie fanden die Schönheit in allen gesellschaftlichen Schichten, von der vornehmsten Dame an, die im Bewußtsein ihrer achtundvierzig Ahnen die Marmortreppen zu dem königlichen Salon emporsteigt, bis hinab zu jener weiblichen Existenz, die im Sommer in den Kellern ihre höchsten Gaumengenüsse bei einem frischen „Radi“ und einem „Krügl“ Bier findet.

Wie der Himmel, der sich an schönen Sommertagen über München spannt, durch sein tiefes Azur an das nahe Italien erinnert, so auch der Typus der weiblichen Schönheit dort. Fülle der Formen, Farbe und Blut, dunkle Augen, volle Lippen, aus den Hüften sich hebender Gang sind die charakteristischen Merkmale der Münchener schönen Welt, deren uns hier der bekannte Maler Erdmann Wagner eine ganze Galerie vorgeführt. Wer mit dem Blatte in der Hand in München auf die Schönheitssuche gehen wollte, würde die Originale bald herausgefunden haben. König Ludwig der Erste hatte sich vor Jahren in seiner Residenz eine Schönheitsgalerie malen lassen, die noch heute bewundert wird. Auch die Kunst demokratisirt sich, und was früher nur ein König haben konnte, das kann heutzutage jeder Abonnent der „Gartenlaube“ haben; er kann sich seine Schönheitsgalerie in sein Kämmerlein hängen und deren sich königlich freuen.




Die elektrische Beleuchtung, dieser Jahrzehnte lang ersehnte, billigere und bessere Ersatz der Gasbeleuchtung, hat seit dem Stadium, über welches wir auf Seite 713 des vorigen Jahrganges berichteten, wieder manche hoffnungsreiche Fortschritte aufzuweisen. Zu den merkwürdigsten derselben gehört die Erfindung der sogenannten elektrischen Kerze von Jabloschkoff. Von einer gewöhnlichen Kerze unterscheidet sich diese ihres Herabbrennens wegen sogenannte elektrische Kerze sehr wesentlich dadurch, daß der schmelzende Theil nicht aus einem Fettstoffe besteht, sondern aus gestoßenem Glase oder aus Porcellanerde (Kaolin), welche Mineralmasse den Zwischenraum der beiden aus Kohle bestehenden „Dochte“ ausfüllt. Bei der bisherigen elektrischen Beleuchtung ergab sich ein schlimmer Uebelstand darin, daß die beiden einander gegenüberstehenden Kohlenspitzen, zwischen denen der elektrische Lichtbogen erscheint, sich durch Abbrennen verkleinern und von einander entfernen, weshalb ein besonderer Regulator nöthig wurde, der sie immer wieder einander entsprechend näherte und dennoch unprogrammäßige Finsternisse der strahlenden Theatersonne nicht gänzlich zu verhindern im Stande war. Jabloschkoff’s elektrische Kerze vermeidet diesen Uebelstand vollständig, indem sie die Kohlenstifte nicht in einer Linie einander gegenüber, sondern parallel neben einander bringt und den Zwischenraum mit Porcellanerde ausfüllt. Der Lichtbogen schlägt nun am oberen Ende der Kerze von der einen etwas länger gelassenen Kohlenspitze zur andern herüber und bringt dabei die Porcellanmasse zu einer intensiven Weißgluth, die ihrerseits nicht wenig zur Erhöhung der Lichtwirkung beiträgt. Indem die Kohlenstifte nach und nach verzehrt werden und die Porcellanmasse entsprechend herabschmilzt, brennt die Kerze, wie eine andere, allmählich herunter, ohne jemals zu verlöschen oder irgend eine Bedienung zu beanspruchen.

Ein Hauptvortheil dieser Kerzen besteht ferner darin, daß sich der in einer Batterie erzeugte elektrische Strom leicht auf eine größere Anzahl derselben vertheilen läßt, wie man das Gas von einem Brenner zum andern leitet, indem man nämlich mit demselben ebenso viele Inductionsspiralen speist, wie Flammen vorhanden sind. Im Anfange des Octobers stellte man zu Paris auf dem Platze vor dem neuen Opernhause Versuche mit dieser neuen Beleuchtungsmethode an. Mehrere Abende hindurch wurden sechs Flammen, je drei auf zwei Kandelabern, in Betrieb gesetzt, denn Anzünden kann man hier nicht wohl sagen. Jeder Lichtbogen – denn auch die Bezeichnung „Flamme“ wäre bei diesen Kerzen unzutreffend – war, um die allzu grelle Helligkeit für das Auge angenehm zu mildern, von einer milchweißen, über einen Fuß im Durchmesser haltenden Glaskugel umgeben. Letztere erschien als eine durchaus gleichmäßig erhellte Scheibe, dem Vollmonde aus der Ferne nicht unähnlich. Auch der etwas bläuliche Schimmer des Lichtes erinnerte an Mondlicht; die Gegenstände schienen ihre scharfen Umrisse zu verlieren, und die Schatten zu mildern. Diese Kerzen würden sich aber auch zur Beleuchtung von Magazinen, Festsälen, Werkstätten, selbst für Wohnhäuser und Corridore eignen, und sich durch den bedeutenden Vorzug empfehlen, niemals das Leben der Bewohner zu gefährden oder Feuersbrünste zu erzeugen.

Man weiß, wie oft springende Petroleum-Lampen in mit brennbaren Stoffen angefüllten Werkstätten und Fabriken Feuersbrünste erzeugen, wie häufig Gasvergiftungen und Gasexplosionen vorkommen. Außerdem würde die Beleuchtung, abgesehen von der erstmaligen Anschaffung, sich bedeutend billiger stellen, worüber freilich noch weitere Erfahrungen abzuwarten sind. Im Freien bieten diese Kerzen den Vortheil, im Winde nicht zu flackern, und werden besonders bei den nächtlichen Bauten Anwendung finden, die in diesem Winter in Paris besonders häufig sein dürften. In belebten Stadttheilen, da, wo die Miethen sehr theuer sind, benützt man nämlich seit einiger Zeit, je nach Ablauf der Mieths-Contracte, auch den Winter als Bauzeit und bedeckt alsdann den Bauplatz mit einem großen, leicht auseinandernehmbaren Pavillon aus Glas und Eisen, unter welchem man lustig – des Abends und Nachts bei elektrischer Beleuchtung – darauflos mauert, zimmert, malt, vergoldet und lackirt. Den Palastbau durch die Hände der dem Aladdin und seiner Wunderlampe unterthänigen Geisterschaaren kann man sich kaum phantastischer vorstellen, als diese bei elektrischem Lichte des Nachts weiter in die Höhe wachsenden Prunkbauten im modernen Babel.




Kleiner Briefkasten.


C. D. in L. Ob das Factum verbürgt ist, wissen wir nicht. Erzählt wird übrigens ferner, daß Admiral Brommy seine Flagge mit in’s Grab genommen. Auf Anordnung seiner Gattin wurde er damit umhüllt. Selbst im Tode wollte er von diesem Zeichen seiner seemännischen Ehre nicht lassen, wie ein tapferer Soldat auf seinem Schilde stirbt.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vorlage: „nnd“
  2. In Wahrheit waren es 17,000.