Die Gartenlaube (1877)/Heft 25
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No. 25. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Engerl reichte dabei dem Alten die Hand, der sie festhielt und das Mädchen wie verwundert betrachtete. „Du hast Schneid’,“ sagte er, „das gefällt mir, bist auch aufgeputzt als wenn’s zur Hochzeit ging’. Was hast denn da für Gehäng’ an Deinem Geschnür? setzte er hinzu und faßte den Thaler, um ihn genauer zu betrachten, „das ist wohl gar ein Heckthaler?“
„Ich weiß nit, was für eine Münz’ es ist,“ entgegnete sie, „ich hab’ sie als Kind geschenkt bekommen, und meine Mutter hat gesagt, ich soll sie gut aufheben; sie könnt’ mir vielleicht einmal noch Glück bringen.“
„Leicht möglich!“ sagte der Alte auflachend, „aber wie ist’s – wenn Du Dich nit fürchtest vor mir, möchtest nit zu mir kommen in’s Himmelmoos?“
„Dank’ schön’!“ erwiderte sie, „aber mein Dienstbauer ist mit mir zufrieden und ich mit ihm – und ich mein’, es wär’ nit recht, wenn ich ihn so mir nichts Dir nichts verkehren thät.“
„Es müßt’ ja gerade nicht als Magd sein, daß Du in’s Himmelmoos kämst,“ sagte der Alte etwas leiser, als ob er sich vor dem Tone der eigenen Stimme scheute. „Wie wär’s denn nachher?“
Verwundert sah das Mädchen ihn an und erglühte wieder wie eine eben aufbrechende Rose. Die Antwort ward ihr erspart, denn der Bursche, dem sie den nächsten Tanz zugesagt, kam, sie suchend, herbei und bot ihr den Arm.
Der Bauer kehrte an seinen Platz zurück und sah stumm vor sich hin; nach einer Weile öffnete er den Krug, aber er vergaß zu trinken und hielt ihn mit zurückgeschlagenem Deckel wie geistesabwesend in der Hand. Die Tanzmusik hob an, und erst als sie wieder verstummte, fuhr er wie aus einer Betäubung auf und erhob sich, unbekümmert um die Tischgenossen, die ihm neckend zuriefen, wohin er auf einmal wolle und ob er endlich ausgeschlafen. Auf seine Erwiderung, er wolle dem Tanze zusehn, riefen sie ihm lachend zu, daß der Tanz ja soeben zu Ende gegangen, er aber ging seines Weges und murrte trutzig vor sich hin, dann werde bald ein neuer Tanz beginnen, und er wolle versuchen, ob die alten Beine nicht noch gelenk genug seien, einen frischen Schuhplattler auszuhalten.
Anscheinend ohne Zweck ging er auf dem Rasenplatz umher, wo die jungen Paare sich wieder zu einander reihten oder hier und da das während des Tanzes angesponnene Gespräch fortsetzten.
Plötzlich blieb er stehn, als sei er vom Wege abgekommen und sehe vor seinen Füßen in einen schroff abstürzenden Abgrund.
Wenige Schritte von ihm stand Engerl in eifriger Unterhaltung mit seinem Sohne.
Es war natürlich, daß das Mädchen sogleich den Geliebten aufgesucht hatte, um ihm zu erzählen, welche Begegnung sie eben mit dem Vater gehabt und welch’ räthselhafte Reden er geführt. Wenn er sie auf dem Hofe haben wollte, mußte er ihr gewogen sein, und wenn es nicht in der Eigenschaft einer Magd sein sollte, was konnte er anders gemeint haben, als daß sie ihm eine willkommene Schwiegertochter sein würde? Wilderich zweifelte; Engerl strahlte von Hoffnung – sie sollten die Aufklärung, nach der sie forschten, nur zu bald erhalten.
Plötzlich, wie aus der Erde aufgestiegen, stand der Alte vor dem überraschten Paare.
„Was machst Du da, unnützer Bursch’?“ schrie er Wilderich an. „Auf der Stelle weg von dem Mädel oder ich weise Dir den Weg!“
„Aber Vater,“ stieß Wilderich hervor, der sich in das völlig Unerwartete nicht gleich zu finden vermochte. „Was wollt Ihr denn – das ist ja das Mädel, von dem ich Euch gesagt.“
„Was? Die?“ stammelte der Alte, und die Augen funkelten wie Zünder unter den finstern Brauen. „Niemals, daraus wird nichts. In Ewigkeit nit! Weg, sag’ ich, von dem Mädel, oder ich reiß’ Dich weg.“
Er war vor Wuth so außer sich, daß seine Stimme den Beginn der Musik übertönte und die Anwesenden herbei lockte – verwundert standen sie im Kreise, fragten sich nach der Ursache des Zwistes zwischen Vater und Sohn und flüsterten sich ihre Bemerkungen zu, wie wüthend der Vater sei und wie man wohl sehen könne, von wem der Sohn die oft getadelte Wildheit geerbt habe.
Der Alte schien wirklich seine Drohung ausführen zu wollen: er sprang mit erhobenem Arm auf den Sohn zu, und dieser entging dem Schlage nur dadurch, daß er einige Schritte zurück wich – bleich und bebend klammerte sich das Mädchen an ihn.
„Aber warum denn, Vater – sag’ mir nur warum?“ stieß Wilderich hervor, dem das Blut im Gehirne kreiste und die Besinnung zu rauben begann.
„Das wirst Du schon erfahren,“ tobte der Alte entgegen „Wie wir zwei zusammen stehn, das weißt Du und dabei bleibt’s in alle Ewigkeit. Heirathe wen Du magst – meinetwegen die nächste beste Bettlerin hinter’m Zaun, aber die nit – die kommt niemals als Schwieger in mein Haus.“
[414] „Und warum nit?“ brüllte Wilderich außer sich. „Was könnt Ihr ihr Unrechtes nachsagen, daß Ihr ihr Schand’ und Spott anthut vor allen Leuten?“
Er riß sich von dem in halber Ohnmacht zusammenbrechenden Mädchen los und stürzte auf den Vater zu, aber ehe er denselben erreichte, hatte Engerl sich aufgerafft und stand mit ausgebreiteten Armen abwehrend zwischen Vater und Sohn.
„Zurück, Wildfang!“ rief sie dem Burschen zu. „Willst Dich an Deinem leiblichen Vater vergreifen? Zurück, sag’ ich; ich brauch’ Dich und Deine Vertheidigung nit. Ich will mich wohl selber vertheidigen, und wenn der Himmelmooser auch ein reicher Bauer ist und ich ein armes Dirn bin – er hat mich vor aller Welt an meiner Ehr’ angegriffen, und die soll er mir wieder geben. Dafür will ich sorgen, so wahr als unser Herr Jesus am Kreuze gestorben ist.“
Sie wollte sinken – einige der Umstehenden fingen sie auf, während andere den Bauer umringten, wieder andere den fast sinnlosen Burschen zu bewältigen suchten. Der Zwiespalt zwischen Sohn und Vater war unheilbar öffentlich geworden und manch’ Einer schüttelte bedenklich und traurig den Kopf und murmelte, das könne unmöglich ein gutes Ende nehmen – das gebe gewiß noch ein Unglück ab.
Unter der Hausthür des Himmelmooserhofes stand Judika und schlug die Hände zusammen. „Jetzt kann es schön werden,“ brummte sie vor sich hin, „jetzt hat das Wetter das rechte Loch gefunden. – Wenn es drei Tage so fort macht, schneit es auf den Bergen an, und der Winter ist da, eh’ man eine Hand umdreht, und es hat keinen Anschein, daß es so bald aufhört.“ Behutsam trat sie einige Schritte, der Gräd entlang, in’s Freie, um nach Westen, dem sogenannten Wetterwinkel, zu blicken, aus welchem der Bauer die meisten seiner Anzeichen und Prophezeiungen holt. Der Anblick bot nichts Tröstliches. Wie ein ausgespanntes graues Tuch lag es nebelhaft auf der ganzen Gegend, und ein geräuschloser feiner Regen fiel so dicht, daß über die Hänge hinab und in den Wegrinnen schon kleine Bächlein nieder rieselten, daß das Drachenmaul an der Dachrinne zu speien anhub und Tropfen von den Bäumen fielen, mit manchem welken Blatte vermengt, das der Last nicht mehr gewachsen war.
Der ganze Hof und seine Umgebung war leer und still; es war Sonntag. Die Knechte und Mägde hatten die unvermeidliche Morgenarbeit bereits gethan und sich auf den Kirchgang gemacht, um den Hauptgottesdienst mit Amt und Predigt nicht zu versäumen. Auch Judika hatte die gleiche fromme Absicht, aber sie mußte mit der Erfüllung warten und durfte sich nicht eher entfernen, als bis der Bauer heim kam, der in die Frühmesse gegangen war, um dann, wie es in abgelegenen oder einzelnen Gehöften üblich, während des Hauptgottesdienstes die Kirchenwache zu halten. Schon war durch den Nebel das erste Zusammenläuten wie gedämpft von der Dorfkirche heraufgeklungen, und die Wartende, von der Ungeduld vor das Haus gedrängt, befand sich bereits in vollem Sonntagsanzuge; sie hatte das Gebetbuch unterm Arme und den silbergefaßten Rosenkranz um die Hand geschlungen, aber noch immer wollte der Erwartete sich nicht zeigen, und Judika blieb nichts übrig, als zur Abkürzung der Zeit in ihren Wetterbeobachtungen fortzufahren und daraus Nutzanwendungen auf die Gegenstände zu ziehen, die ihr mitleidiges Herz eben am nächsten berührten und zumeist bewegten.
Die Vorfälle des vergangenen Abends waren ihr kein Geheimniß geblieben – noch vor der Ankunft des Bauers hatten heimkehrende Festgäste von der Rundcapelle das dort Geschehene berichtet. Ihre Besorgniß war auf’s Höchste gestiegen, und wenn sie auch Wildel zu gut zu kennen glaubte, als daß er nach dem Vorgefallenen das väterliche Haus aufsuchen werde, konnte sie doch die ganze Nacht kein Auge zuthun; sie sah durch das dunkle Fenster ihrer Kammer, wie der Nachthimmel sich mehr und mehr verfinsterte; sie hörte, wie einige heulende Windstöße den Nebel und das Regengewölk heran jagten, und sie gedachte der Freuden und Hoffnungen, denen sie sich bezüglich der Heimkehr ihres Lieblings hingegeben hatte und die nun in Leid und Trostlosigkeit umgeschlagen waren, plötzlich, wie der milde warme Spätsommerabend umschlug in einen kalten stürmischen Herbstmorgen. Es ging auf Mitternacht, als sie den Herrn des Hauses heimkommen hörte, nicht wild und unbändig, wie sie gefürchtet, sondern ohne einen andern Laut, als die wenigen Worte, die mit dem herbeigepfiffenen Knechte wegen Versorgung von Wagen und Pferden gewechselt werden mußten. Lange hatte sie gelauscht, ob er sie nicht noch rufen, ihr erzählen und einen jener Zornausbrüche beginnen werde, deren sie so oft Zeuge gewesen. Als Alles ruhig blieb, dachte sie an den Sohn des Hauses, den Verstoßenen, der in dieser Sturmnacht vielleicht nicht wisse, wohin er sein Haupt legen könne; das Herz wollte ihr brechen vor Jammer, und ihr Schluchzen zu verbergen, begrub sie das Angesicht in den thränenfeuchten Kissen. Aber etwas Gutes hatte die Sturmnacht – sie brachte einen Entschluß.
Es war Judika klar geworden, daß die Dinge so weit gekommen waren, daß sie nicht mehr ihrem eigenen Laufe überlassen bleiben konnten: von fremder Hand mußte eingegriffen und ihnen eine Richtung gegeben werden, und diese Hand mußte eine ebenso wohlwollende wie entschiedene sein, und Beides, meinte sie, sei in ihrer Hand vereinigt. Unmittelbar nach dem Hochamte wollte sie den Alten in’s Gebet nehmen, sich Klarheit über sein räthselhaftes Vorhaben verschaffen und nach einem Faden suchen, welcher eine Vermittelung mit dem Sohne hoffen ließ. Hatte sie nur erst einen solchen gefunden, dann glaubte sie schon halb gewonnenes Spiel zu haben, wußte sie doch, welche Macht ihr Zureden über den Sohn schon oft geübt; ihn wollte sie dann aufsuchen und nicht müde werden im Hin- und Widergehen, bis aus der Zwischenträgerin eine Friedensstifterin geworden.
Eben wollte sie wieder in’s Haus zurück gehen, als sie den Hall von herannahenden Schritten zu erkennen glaubte – die Hand schirmartig über die Augen haltend, spähte sie dahin. „Er ist es doch nicht,“ murmelte sie, „wenn mich der Nebel nicht irrt, ist es gar ein Weiberleut, das da kommt. Sie geht wirklich auf den Hof zu – was mag die wollen? Mir scheint, sie hat’s eilig.“
Sie hatte sich nicht getäuscht; in wenigen Augenblicken stand die Erwartete vor ihr: es war Engerl.
Das Mädchen war Judika gar nicht oder höchstens von flüchtigem Sehen bekannt, wäre dies aber auch nicht der Fall gewesen, so hätte sie doch Mühe gehabt, dieselbe wieder zu erkennen. Eine mächtige Veränderung war seit den Ereignissen des vergangenen Abends in ihrem Innern vorgegangen und hatte nicht verfehlt, auch der äußern Erscheinung ihr Gepräge aufzudrücken. Wachend und unter strömenden Thränen hatte sie die Nacht verbracht und vergebens nach einem Auswege gerungen, der sie, wie aus einem Walddickicht, heraus zu führen vermöchte aus der Verwirrung, in die sie so plötzlich gerathen war. War doch auf einmal in ihrem bisher so stillen und verborgenen Leben eine Wendung eingetreten, die sie aus dunkler Verborgenheit in das grelle Licht der Oeffentlichkeit hinausschleuderte und all ihren Wünschen, Hoffnungen und Bestrebungen für immer ein Ende machte. Und doch war es noch weniger das Geschehene selbst, was sie außer sich brachte, als die Art und Weise, wie es geschehen war. Wohl stand die Möglichkeit eines friedlichen Liebes- und Lebensglückes, von der sie in geheimen, kaum sich selbst gestandenen Augenblicken geträumt hatte, neben ihr gleich einem vom Sturmwind in vollem Blüthenschmuck gebrochenen Baume –, dennoch war es ihr ein noch herberer Verlust, daß sie vor so vielen Zeugen, vor der ganzen Heimathsbevölkerung beschimpft und einer Betteldirne hinterm Zaune nachgestellt worden war. Was half ihr nun ihr so rein bewahrter fleckenloser Lebenslauf? Das Geheimniß ihrer Liebe war in schmählicher Weise an den Tag gekommen; der eigene Vater des Geliebten war’s, der sie schmähte. Mußten die Leute nicht glauben, daß ihr bisheriges Betragen nur Heuchelei und Betrug gewesen? Mußte sie nicht befürchten, daß mindestens ein Makel an ihrem Rufe hängen bliebe? Welche Mittel zu ihrer Vertheidigung standen ihr zu Gebot, einem reichen, angesehenen Ankläger gegenüber, ihr, einem armen Mädchen, einer geringen Dienstmagd, einer Waise, welche der einzige Freund, den sie besaß, gegen diesen Ankläger nicht vertheidigen durfte und konnte, weil ihn die Beschuldigung ebenso traf wie sie?
Das Taggeläute, das durch die tiefe Morgendämmerung erscholl, weckte sie aus ihrem Brüten und erinnerte sie, daß sie keinen Augenblick zu versäumen habe. Wenn etwas geschehen sollte, mußte es in der ersten Morgenfrühe gethan werden, ehe die Dorfbewohner sich in der Kirche wieder begegneten; wenn sie [415] das gestern Vorgefallene besprachen, mußten sie auch bereits erfahren, wie dasselbe berichtigt und gut gemacht worden sei. Sie legte dunkle Kleider an, wie man sie bei Leichenbegängnissen und Trauergottesdiensten zu tragen pflegt; auch das Mieder mit dem Silbergeschnür und dem viereckigen Thaler wollte sie weglegen, war es ja doch ein wirklicher Trauergang, zu welchem sie sich rüstete und bei welchem sie jeden Schmuckes entbehren wollte; dennoch besann sie sich eines andern, an den viereckigen Thaler sollte ja das Glück gebunden sein und auf dem Gange, zu welchem sie sich zuletzt als der besten und einzigen Auskunft entschloß, bedurfte sie vor Allem das Glück.
Sie schlug den Weg zum Himmelmooserhofe ein, um aber den Kirchgängern zur Frühmesse nicht zu begegnen, trat sie in eine außerhalb des Dorfes an der Straße gelegene Feldcapelle. Hinter der zurückgelehnten Thür wartete sie hochklopfenden Herzens, aber nun gefaßt, den Augenblick der Entscheidung ab.
Sie war bleich, als sie das Ziel ihrer Wanderung erreicht hatte, die rothen Ränder der Augenlider verriethen, wie viel Thränen unter ihnen hervorgequollen waren; dennoch war von ihrer Erscheinung die gewohnte Anmuth nicht abgestreift, das erhöhte Feuer ihrer Augen, die Entschlossenheit der fest auf einander gepreßten Lippen verliehen der sonst sanften Miene einen Ausdruck von Festigkeit, der sie vortrefflich kleidete.
Man sah es ihr an, daß sie ihren ganzen Muth zusammengerafft hatte und entschlossen war, nicht unverrichteter Dinge den Ort zu verlassen.
„Gelobt sei Jesus Christus!“ sagte sie, auf die vom Dachvorsprunge bedeckte Gräd tretend, und schloß den rothleinenen Regenschirm, die Tropfen von ihm schüttelnd.
Judika erwiderte den Gruß in üblicher Weise und nahm ihr unaufgefordert den Schirm aus der Hand, um ihn seitwärts zum Trocknen auszuspannen. „Du bist früh unterwegs, Dirnel,“ sagte sie dann. „Eilt’s Dir so, daß Du den ärgsten Regen nit hast abwarten können? Mir kommt’s vor, als wenn’s lichter werden wollte, dort über den Bühel hin. Willst blos einkehren im Himmelmoos oder hast ein Geschäft bei uns?“
„Wohl hab’ ich ein Geschäft,“ entgegnete das Mädchen, „und ein wichtiges obendrein. Ich muß mit dem Bauern reden. Laß mir ihn herauskommen!“
„Du hättest wohl gerad’ so weit zu ihm hinein, als er heraus,“ sagte Judika, das Mädchen voll Verwunderung über seine kurz angebundene Weise näher betrachtend, „aber ich kann leider Gottes nit aufwarten. Der Bauer ist nicht zu Haus; er ist in die Frühmeß gegangen. Kannst ihn aber wohl abwarten; er soll die Kirchenwacht halten während des Hochamts und muß jeden Augenblick kommen. Was hast Du denn so Wichtiges abzumachen mit dem Bauern? Jetzt seh’ ich’s erst, daß Du ganz schwarz angezogen bist, als wenn Du mit der Klag’ gingst. Es wird doch nichts Trauriges sein?“
„O nein,“ rief Engel mit schmerzlichem Lachen. „Traurig ist es höchstens für mich, und das schwarze Gewand bedeutet nur, daß ich mir am liebsten selber mit der Leich’ geh’n möcht’.“
„Was sind denn das für Reden!“ erwiderte Judika in gänzlich verändertem Tone, denn jetzt erst gewahrte sie die rothgeweinten Augen des Mädchens und sah die Thränen blinken, die sich eben wieder davon lösen wollten. „Du mußt ja etwas recht Schweres auf dem Herzen haben. Darf ich’s nicht wissen?“
„O mein, Mutter Judika,“ sagte Engel und ließ ihren Thränen freien Lauf. „Warum solltet Ihr’s nit wissen dürfen.“
„So kennst Du mich, Madel?“ fragte die Alte entgegen, während das Mädchen nach ihren beiden Händen haschte und sich darüber niederbeugte. „Wie geschieht Dir denn? Ich kann mich doch nicht auf Dich besinnen.“
„Aber ich kenn’ Euch wohl, Mutter Judika,“ lächelte Engel, „freilich nur vom Sehen und vom Hören – es hat mir Jemand gar viel von Euch erzählt …“
Die Verwunderung der Alten stieg mit jedem Worte. „Von mir erzählt?“ rief sie lachend. „Wer müßte das sein, und was könnte man erzählen von einem alten Bauernweibe, wie ich bin? So hilf mir doch aus dem Traume – sag’ mir, wie Du heißest und wer Du bist!“
„Wer ich bin?“ sagte Engel und brach wieder in Thränen aus. „Das weiß ich selber nit recht – bis gestern Abend bin ich ein armes Dirnl, ein rechtschaffener Dienstbot’ gewesen, dem Niemand was Unrechtes nachsagen kann, nit soviel als man in einem Aug’ erleiden kann – heut’ bin ich nichts; heut’ bin ich schlechter als ein Bettelmensch, das hinterm Zaun liegt.“
„Wie wär’ das?“ rief Judika. „So bist Du am Ende gar Dieselbige, die gestern …“
„Ja, ich bin’s schon,“ war die Antwort, „ich bin dieselbige arme Tröpfin, der gestern ein übermüthiger reicher Mann ihre Ehr’ genommen hat und ihren guten Namen – und deswegen bin ich heut’ da und will den reichen Mann fragen, was er Unrechtes von mir weiß, und will meine Ehr’ wieder haben.“
„Ist’s möglich? Du bist es, Dirnl?“ unterbrach sie Judika, deren Augen mit warmer, bei jedem Worte steigender Theilnahme an ihr gehangen hatten. „Du bist es, die dem Buben das silberne Reifel gegeben hat? die er so liebhat, daß er ihretwegen Vater und Heimath mit’m Rücken anschauen will? Du bist meinem lieben Buben, Du bist dem Wildel sein Schatz? Komm her, Dirnel, und laß Dich halsen!“ setzte sie hinzu, außer Stande, ihre Rührung länger zu bewältigen, und zog die Ueberraschte, die nicht zu Worte kam, an ihre Brust. „Hast Du ihn denn auch wirklich gern?“ plauderte sie fort. „So was man gern haben nennt, so recht aus dem Herzensgrunde? Laß mich Dich nur recht anschau’n, laß mich Dein Gesicht betrachten und in Deine lieben verweinten Augen schan’n: da schaut ein gutes Herz heraus und ein freundliches Gemüth, und eine revierische Person bist Du auch, sonst hättest Du nit die Sennerin von der Alm heruntergetragen, sonst wärst Du nit jetzt da und wolltest Deine Ehr’ wieder holen vom Himmelmoos. Aber weinen mußt Du nicht wieder. Richt’ Dein Köpfel frech in die Höh’ – es wird noth thun, wenn Du mit dem Bauern sprichst; nicht weinen! Es kann Alles noch gut werden …“
„O mein, Mutter Judika,“ entgegnete das Mädchen und trocknete sich die Augen. „Damit ist es doch vorbei für alle Zeit.“
„Wer kann das sagen!“ rief Judika. „Es ist schon gar oft etwas wunderbar hinausgegangen, wo man schon geglaubt hat, die ganze Welt sei mit Brettern verschlagen. Das hat Dir ein guter Geist eingegeben, daß Du selber zu ihm kommst und mannhaft mit ihm reden willst. Er ist es nicht gewohnt, daß ihm das geschieht; vielleicht greift es ihn an; er ist ja doch nit seiner Lebtag ein solcher Trutzkopf gewesen. Die Bäuerin, die Mutter vom Wildl – tröst’ sie Gott! – hat ganz gut gelebt mit ihm. Die hat’s verstanden und hat ihn können um den Finger wickeln; erst seit sie gestorben ist, hat er sich nach und nach so versteint und verbeint und verstockt, wie ein Baum, der alle Jahr’ einen neuen Ring ansetzt. Vielleicht ist doch noch ein Fleckl übrig geblieben, wo was hineindringen kann. – Die Leut’ haben mir ja erzählt, daß er vor dem Spectakel ganz freundlich mit Dir geredt hat.“
„Das ist wohl wahr,“ erwiderte Engel, „er hat mich sogar gefragt, ob es mir nicht gefallen thät im Himmelmoos …“
„Das hat er gefragt?“ rief Judika und schlug die Hände zusammen, „und was hast Du darauf geantwortet, und wie ist die Red’ weiter gegangen?“
„Daß ich keine Ursach’ hätt’, bei meinem Bauer aus dem Dienst zu gehen,“ sagte Engerl, sich besinnend, „und nachher – ich weiß es schier nicht mehr, über dem Schrecken darnach hab’ ich fast Alles vergessen – nachher hat er mich gefragt, woher ich den viereckigen Thaler an meinem Geschnür hab’ …“
„Was für einen Thaler?“ rief Judika auf und faßte nach der Münze, die sie bisher nicht beobachtet hatte. „Dirnel, wo hast Du den Thaler her?“
„Meine Mutter hat ihn mir gegeben und hat gesagt, wenn ich einmal größer bin, wird sie mir Alles erzählen, sie ist aber nicht dazu gekommen, denn sie hat unvermuthet fort gemußt in die Ewigkeit, und so weiß ich nichts, als daß es ein Glücksthaler ist.“
„Ich aber weiß jetzt genug,“ entgegnete Judika bedächtig, „mir ist ein Licht aufgegangen, daß mich die Augen beißen. – Also Du bist –“ wollte sie fortfahren, unterbrach sich aber und begann auf’s Neue, „also darum ist er mir heut und gestern so verändert vorgekommen. Deswegen hat er mich so sonderbar angeschaut und so spöttisch mit den Augen gemessen. Einen Glücksthaler nennst Du die Münz? Es kann sein, daß sie den Namen verdient, kann sein, auch nicht – es giebt halt allerhand, was wie Glück ausschaut.“
„Ja, was ist Euch denn, Mutter Judika?“ begann das Mädchen, das ängstlich geworden war, zu drängen. „Was ist es [416] denn mit dem Thaler? Sagt mir doch, was es damit für eine Bewandtniß hat?“
Judika faßte ihre Hand und sah ihr ernst und freundlich in’s Auge. „Das soll ich Dir sagen?“ rief sie. „Ich denke, es ist das Beste – wenn ich’s nicht thue. Du bist aus freien Stücken hierher gekommen, so führ’ es auch durch, wie Du’s vor Dir hast! Ich will Dich nicht irr’ machen.“
„Aber, Mutter Judika,“ sagte Engerl und suchte die sich Abwendende zu halten, „laßt mich doch nicht in der Ungewißheit; sagt mir doch –“
„Wenn ich auch wollte, so könnt’ ich nicht mehr,“ war Judika’s Antwort. „Dort kommt der Bauer schon den Bühel herauf; jetzt hab’ ich auch keine Zeit mehr; jetzt nimm Dich zusammen, Mädel! Ich überlaß’ Dich Deinem Schutzengel.“
Ehe das Mädchen weiter erwidern konnte, war sie über die Gräd hinabgestiegen und hatte einen Seitenpfad unter den Obstbäumen eingeschlagen, offenbar in der Absicht, dem Bauer nicht zu begegnen, mit dem sie jetzt nicht in’s Gespräch kommen wollte. Es hätte aber dieser Vorsicht nicht bedurft. Der Bauer kam ganz gegen seine Gewohnheit, mit gemessenen Schritten heran und sah mit jenem Ausdruck vor sich hin, welcher zeigt, daß die Gedanken nicht den Augen folgen, sondern ihre eigenen Wege gehn.
Er mochte die vor dem Hause ihn erwartende Gestalt für Judika halten – mit unverkennbarer Ueberraschung blieb er stehn, als er sie erkannte, und ein halb spöttisches, halb freundliches Lächeln glättete einen Augenblick die Falten des Nachdenkens auf seinem Gesicht.
„Du bist da, Mädel?“ sagte er, „das ist ein seltsamer Besuch. Aber Du hast ganz Recht, daß Du zu mir kommst – hast Dir halt meine Red’ von gestern besser überlegt. Ja, ja, guter Rath kommt über Nacht, und ein gutes Plätzl auf dem Himmelmooserhof, das schlagt man so leicht nicht aus. – Na, komm nur herein in die Stuben! Das können wir drinnen am besten ausmachen …“
„Es ist nicht deswegen, daß ich komm’,“ entgegnete das Mädchen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. „Ich hab’ nur Ein Wort von dem behalten, was Ihr gestern gesagt habt. Ihr habt mich vor allen Leuten geschimpft, habt mir meine Ehr’ abgeschnitten und habt gesagt, ich wär’ Euch geringer, als eine Bettlerin hinterm Zaun – deswegen bin ich da. Ich hab’ Niemand auf der Welt, der sich um mich annimmt; also muß ich mich selber um meine Haut wehren und muß Euch fragen, was Ihr Unrechtes von mir wißt, daß Ihr mich so heruntersetzt vor allen Leuten. Ihr könnt sagen, daß ich Euch zu arm bin zur Schwiegertochter; Ihr könnt Eurem Sohn verbieten, daß er mit mir geht, aber Ihr dürft mich nicht schlecht machen – das verbiet’ ich Euch, und wenn Ihr ein richtiger Bauer und ein Mann sein wollt, der selber Ehr’ im Leib hat, so gebt Ihr mir meine Ehr’ wieder und gesteht es ein, daß Ihr mir Unrecht gethan habt!“
Der Bauer, in seinem hochmüthigen Trotze an Widerspruch nicht gewöhnt, war über das entschiedene Auftreten des Mädchens wie verblüfft und schwieg einige Augenblicke, ehe er auf ihre Aufforderung zu erwidern vermochte. In der ersten Regung wollte er sie in seiner gewohnten Heftigkeit unterbrechen; er begann die Hände unmuthig zu reiben, und doch war etwas in dem entschlossenen Betragen des Mädchens, was ihm wohl gefiel und was die Erwiderung viel milder ausfallen ließ, als er sie beabsichtigt hatte.
„Du thust mir Unrecht, Mädel,“ sagte er, „und hast mich ganz falsch verstanden: es ist mir nicht im Schlaf eingefallen, Dich zu schimpfen und an Deiner Ehr’ zu kränken. Das will ich Dir gleich auseinandersetzen, aber komm’ nur in’s Haus herein! Das können wir doch nicht Alles so auf dem Thürgeschwell abmachen. Setz’ Dich nieder,“ fuhr er fort, als sie seiner Einladung gefolgt war, und deutete nach dem Ehrenplatze am großen Eßtisch, sie aber that, als ob sie das nicht bemerkte, und setzte sich auf die umlaufende Holzbank neben der Thür.
Wieder fing der Bauer an, die Hände zu reiben, und ließ sich unmuthig am Tische nieder; je seltener er Jemand eine besondere Artigkeit erwies, desto mehr war er gewohnt, dieselbe als etwas Bedeutendes betrachtet zu sehen, und desto empfindlicher ward er, wenn es ihm nicht geschah. „Aha,“ rief er mit bitterem Lachen. „Du traust dem Landfrieden nicht und setzest Dich an die Thür, damit Du gleich draußen bist, wenn mir etwa die Hitz’ übergeht. Hast keine Ursach’ dazu; ich kann das Rössel, wenn es durchgehen will, wohl auch anhalten, und das beweis’ ich Dir am besten, wenn ich sag’, daß es mir gestern durchgegangen ist und daß ich, wenn ich Dich gestern wider meinen Willen an der Ehr’ angegriffen hab’, sie Dir gern wieder geben will. Sag’ mir nur, wie ich’s anstellen soll!“
„Das ist ganz leicht,“ entgegnete das Mädchen. „Ihr dürft nur gleich mitgehen zum Pfarrer – wir werden gerade zur Kirche hinkommen, wenn Amt und Predigt aus ist – der Vorsteher wird auch da sein: dann braucht Ihr nur denen Zweien, sodaß es alle Leute sehen, das zu wiederholen, was Ihr mir jetzt gesagt habt, und daß Ihr mir nichts Unrechtes nachsagen könnt.“
„So? Sonst verlangst Du nichts?“ sagte der Bauer und trommelte mit den Fingern auf dem Tische. „Sonst nichts, als daß ich mich wie ein Dieb, der am Pranger stehen muß, vor der Gemeind’ unter die Kirchenthür stell’ und um schön’s Wetter bitt’, wie ein kleiner Bub’? Das thut der Himmelmooser nicht, aber ich will Dir was vorschlagen, was viel kräftiger ist.“
„Und was könnt’ das sein?“ fragte staunend das Mädchen.
„Schau, begann der Alte und setzte sich bequemer in seinem Stuhle zurecht, „schau – bei mir auf meinem Hof gefallt mir die Wirthschaft nicht mehr recht; es fehlt hint’ und vorn wo ich nicht selber sein kann. Die Judika ist auch eine alte Person, die jeden Tag zuwiderer wird; mit meinem Buben ist kein Vertragen … Laß mich ausreden!“ fuhr er fort, als Engerl mit rascher Geberde Miene machte, ihn zu unterbrechen. „Schänd’ mir meinen Kram nit, bis ich ihn ganz ausgelegt hab’! – Ich bin wohl kein heuriger Has’ mehr, aber auch kein alter Krachezer. Mancher Andere in noch älteren Jahren hat es schon so gemacht, und es ist gut ausgefallen, und wenn ich mir Alles so recht überleg’, so wird’s das Gescheit’ste sein, ich zahl’ dem Buben hinaus, was ihm gehört, und führ’ selber noch eine Bäu’rin auf den Himmelmooser Hof, und die Bäu’rin, Madel, sollst Du sein.“
Die Zuhörerin war vor Ueberraschung aufgesprungen – glühende Röthe quoll ihr über Hals und Gesicht. „Himmelmooser,“ stammelte sie, „ich hätt’ nicht geglaubt, daß Ihr im Stand wäret, in einem so ernsthaften Augenblick Spaß mit mir zu treiben.“
„Ich denk’ nicht d’ran,“ erwiderte er, „mir ist’s voller Ernst. Und warum nicht? Wenn Du mein Weib wirst, hat alles Gered’ mit einem Schlag ein End’. Alles weiß nachher, daß ich keine schlechte Meinung von Dir hab’. Also besinn’ Dich nit lang’, sag’ Ja, und wie Du’s verlangt hast, geh’ ich auf der Stell’ mit Dir zum Pfarrer und bestell’ die Stuhlfest.“
„Wirklich?“ stammelte das Mädchen. „Ihr wär’t im Stand’ mir einen solchen Antrag zu machen, und Ihr merkt gar nicht, daß Ihr mir damit eine noch viel größere Schand’ anthut, als Ihr mir schon angethan habt?“
Der Gorilla, welcher seines überaus scheuen Naturells, seines verborgenen mysteriösen Lebens wegen, das er in unzugänglichen Dschungeln inmitten sumpfiger Urwaldungen führt, nur wenig bekannt ist, hat neuerdings in wissenschaftlichen und gebildeten Kreisen durch Streitfragen, sowie wegen der Ueberführung eines lebenden Jungen durch die deutsche Loango-Expedition, wiederholt reges Interesse hervorgerufen. So unglaublich es auch klingen mag, so kann ich doch versichern, daß selbst unter den
[417] [418] jagdliebenden Buschbewohnern kaum ein Drittel der Bevölkerung jemals einen Gorilla in der Wildniß zu Gesicht bekommen hat. Der in jüngster Zeit leider im Duell gefallene Marquis Compiègne, ein sehr geübter und couragirter Jäger, versicherte mir, als wir uns nahe dem Einfluß des Rembo Ngunie in den Ogowe trafen, daß er nur einmal in der Entfernung einen Gorilla zu Gesicht bekommen habe, obgleich er längere Zeit in den von ihm besuchten Revieren darnach gepirscht. Der verstorbene Professor Buchholz hat die Bevölkerung ganzer Gebiete in Bewegung gesetzt und für ein getödtetes Exemplar erst fünfzig, dann hundert Dollars vergeblich geboten.
Um den Gorilla zu jagen, muß man eben gewisse Eigenschaften besitzen: Naturanlagen zum Jäger, eine bis zum tollsten Sport herangebildete Passion, eine eiserne Gesundheit zum Ertragen von Strapazen und Entbehrungen, die Sinne und die Orientirungsgabe eines Wilden, sowie etwas Courage. Die geographische Verbreitung des Gorilla beschränkt sich auf das Gebiet von der Muni-Mündung bis zu der des Congo, also von ein Grad nördlicher bis sechs Grad südlicher Breite. Wie weit er nach dem Innern zu vorkommt, ist, wie dieses selbst, unbekannt. Er lebt, bis auf die alten hypochondrischen Gorillamänner, im engern Familienkreise und treibt sich des großen Verbrauchs an Nahrung wegen nomadisirend herum, indem er da nächtigt, wo er sich kurz vor der Dunkelheit gerade befindet; er baut also jeden Abend ein neues Nest und errichtet dies auf gesunden, schlankgewachsenen, nicht viel über 0,30 Meter starken Bäumen in einer Höhe von fünf bis sechs Meter. Dasselbe ist storchartig in der ersten Abzweigung stärkerer Aeste aus grünen Reisern angelegt.
Die Jungen und, wenn dieselben noch der Wärme bedürfen, auch die Mutter, pflegen darauf der nächtlichen Ruhe, wogegen der Vater zusammengekauert am Fuße des Stammes, mit dem Rücken daran gelehnt, die Nacht verbringt und so die Seinigen vor dem Ueberfall des Leoparden schützt. In der trockenen Jahreszeit, wenn ihm Wasser und Nahrung im tiefen Innern der Wälder knapp zu werden beginnen, bricht er in die primitiven Anpflanzungen der Eingeborenen ein, dort nach Affenart große Verwüstungen anrichtend. Die Eigenthümer stellen dann Wachen aus, und es gelingt in den meisten Fällen, ihn durch wiederholtes Abfeuern der bis zum Bersten überladenen Flinten zu verscheuchen. Zuweilen kommt es jedoch vor, daß alte Gorillamänner im Bewußtsein ihrer herculischen Kraft, im Vertrauen auf ihre äußerst scharfen Sinne, vom Hunger getrieben, sich dadurch nicht stören lassen, sondern nächtlicher Weile ihre Verwüstungen fortsetzen. Die Geschädigten sehen sich dann wohl oder übel genöthigt, dem Nimmersatt aufzulauern oder nachzustellen, um ihn ein für alle Mal unschädlich zu machen. In den seltensten Fällen gelingt ihnen dies, da der schlaue Bursche die ernste Absicht seiner Verfolger bald herauswittert und sich, ohne Dank noch Adieu gesagt zu haben, auf einige Zeit empfiehlt.
Sofern er unbehelligt bleibt, greift der Gorilla den Menschen nicht an, meidet vielmehr dessen Begegnung. Wird er jedoch überrascht, so richtet er sich auf, stößt aus tiefer Brust ein nicht wiederzugebendes, kurz abgebrochenes, bald rollendes, bald grunzendes Gebrüll aus und bearbeitet mit seinen Riesenfäusten die gigantische Brust, wobei unter Zähnefletschen und einem unsäglich boshaften Ausdrucke des Gesichtes, sowie der kleinen Augen, welche tief in ihren Höhlen liegen und einen grünlich-rothen Glanz haben, sich seine Haare auf Kopf und Nacken vibrirend sträuben. Ein wüthender alter Gorilla bietet einen Furcht erweckenden Anblick. Reizt man ihn nicht und zieht sich bei guter Zeit allmählich zurück, noch bevor seine Wuth ihren Höhepunkt erreicht, so glaube ich, daß er nicht zum Angriffe schreiten würde. Sollte man aber das Unglück haben, ihn nur leicht zu verwunden, dann freilich bin ich, ohne es selbst erlebt zu haben, fest überzeugt, daß er den Schützen annimmt, und wehe demselben, wenn ihm nicht sofort eine zweite Kugel zu Gebote steht! Ein Fliehen ihm gegenüber ist unmöglich, eine Vertheidigung mit andern als Schußwaffen ein Unding. Vermöge seiner langen überaus muskulösen Arme würde er die Geschicklichkeit auch des besten Fechters zu Schanden machen.
So viel ich zu beobachten Gelegenheit fand, lebt derselbe von Vegetabilien. Die Jungen in der Gefangenschaft zeigen aber eine ganz besondere Vorliebe für animalische Kost, und es läßt sich daraus schließen, daß sie auch in der Wildniß Fleisch, sowie Eier nicht verschmähen. Der Gorilla ist mit dem Chimpanse, sofern man ihn nur einmal gesehen, nicht gut zu verwechseln. Abgesehen von der weit überragenden Größe, der robusteren Gestalt, hat er eine im Alter zunehmende graue Haarfärbung. Seine Gesichtsfarbe jedoch ist von der Jugend bis zum Alter bleibend schwarz, beim Chimpanse variirt diese mit den Spielarten und dem Alter. Er besitzt eine kurze, breite, starkknochige und fleischige Hand, die geballt wie zu Faustkämpfen geschaffen scheint, eine vom Chimpanse abweichende Schädel- und Gesichtsbildung mit höher vorstehendem Knochenbogen über den Augen und eine kleine zierliche Ohrmuschel. Im Leben charakterisirt ihn noch die mehr hervorstehende nüsterartig aufgeblähte Nase, was ihm nebst dem breiten Maule, den scharf geschnittenen Lippen, tiefliegenden, blitzenden Augen und struppigen Haaren einen boshaften und grimmigen Ausdruck verleiht. Die Chimpansen hingegen unterscheiden sich von ihm durch geringere Größe, zierlicheren Wuchs und lange schmale Kletterhände. Auch besitzen sie einen gutmüthigeren Blick, glätter liegende Haare, unschön abstehende Ohren und lange Lippen. Zum Zeichen des Wohlbehagens oder auch bei geringem Verdrusse pflegen sie das Maul drollig zuzuspitzen.
Die gesammte Muskulatur des überaus massigen Körpers des Gorilla ist, bis auf die bei allen Affen fehlenden Waden, zur Unförmlichkeit ausgebildet, und sofern ich mir eine solche Kraftvergleichung erlauben darf, würde ich, seine zwar unbeholfen erscheinende, in der That aber große Gewandtheit mit in Anschlag bringend, auf ihn gegen einen starken Bären wetten. Die Eingeborenen benennen ihn, je nach ihrer Sprache, verschieden: Die Mpongwe (Gabunesen), die Orunku, Kama, Galloa: Ndschina; die Mpangwe (Fan oder Pan, wie sie selbst sich nennen) geben ihm den Namen Nguyala. In Loango heißt er: Teufel (Mpungu).
Vom Gorilla sind bis jetzt keine Spielarten bekannt, wohl aber vom Chimpansen. Du Chaillu hat sich dadurch verzeihlicher Weise verleiten lassen, solche von Letzterem mit Kulu Hamba und Nschiego Mbuve als neue Arten zu bezeichnen. So ist der Kulu Hamba weiter nichts als ein großer Chimpanse, den die Aschira-Leute nach ihrer Sprache verschieden bezeichnen. Die Malimbas benennen ihn Kulu, die Mpongwe, Galloa, Kama, Orunku mit Nschiego. Einige dieser Stämme, ich glaube die Kama, setzen zur näheren Bezeichnung noch Mbuve hinzu, welches so viel heißt wie „nestbauender Affe“.
Gleich dem Gorilla baut der Chimpanse für seine Jungen ein storchartiges Nest, nur mit dem Unterschied, daß er dasselbe in der Regel auf stärkeren Bäumen, in größerer Höhe und etwas kleiner anlegt. Der männliche Gorilla, als mehr auf der Erde lebend, verbringt, wie schon bemerkt, die Nächte am Fuße des das Nest tragenden Stammes, der Chimpanse hingegen auf dem Baume selbst, in einer Vergabelung von Zweigen, hart unter dem Neste seiner Familie. Du Chaillu konnte also leicht zu dem Glauben gelangen, daß dieses nur für seine Jungen hergerichtete Nest ein Schutzdach sei. Warum aber sollte er sich ein Schutzdach bauen? Bietet ihm der für Sonnenstrahlen undurchdringliche und selbst gegen Regen nahezu dichte Blätterschmuck tropischer Urwaldungen nicht etwa Schutz genug?
Als ich jenseits der Aschangolo Berge in der Nähe des Aschira-Landes ein überaus starkes männliches Thier aus einem großen Trupp von Chimpansen schoß, die wohl zufällig gemeinschaftlich mit einer Gorilla-Familie Colanüsse schmausten, da ließ ich mich gleichfalls verleiten, privatim die Vermuthung auszusprechen, den von Du Chaillu entdeckten Kulu Hamba geschossen zu haben, und erwähnte weiter auch die Möglichkeit, da die beiden Troglodyten-Arten friedlich zusammen angetroffen wurden, so könne hier eine Bastardirung zu Grunde liegen. –
Was die Jagd auf Gorillas anbetrifft, so mögen einige meiner Erlebnisse dieselbe veranschaulichen. Nachdem ich ein ganzes Jahr, ich möchte sagen ausschließlich, aber vergeblich, dieser Jagd obgelegen, war der 24. December 1874 angebrochen. Es war das erste Weihnachtsfest, welches ich, fern von der Heimath, im Urwalde verlebte. Die von jeglichem Comfort entblößte Lage, die tiefe Einsamkeit, nur umgeben von Wesen, denen ich mich nicht mittheilen konnte, wirkte niederdrückend auf meine Gemüthsstimmung, sodaß ich zum ersten Mal ein tiefes Heimweh empfand.
Um demselben zu entgehen, beschloß ich schon spät im [419] Mittag auf’s Gerathewohl eine Jagdexcursion zu unternehmen und fuhr demzufolge in einem Canoe, in Begleitung von sechs meiner Leute, über den Eliva-See, nach einer entfernten, tief in den Urwald eingeschnittenen Bucht. Da auf einer Entfernung von mehreren hundert Schritten Schilf und Wurzelbäume vom festen Lande in den See hinausgewuchert waren, so mußten wir uns durch diese undurchdringlich scheinende Dickung einen Weg bahnen.
In Begleitung eines jungen Galloa-Neger, der mir ein zweites Gewehr nebst Munition nachtrug, verließ ich das Boot mit der Weisung, am Schilfrande meiner zu warten. Unweit der Stelle, an der ich das Land bestieg, am Rande einer ausgedehnten Dickung, stand ein Ibabaum (wilde Mangopflaume), auf welchen ich durch meinen schwarzen Begleiter aufmerksam gemacht wurde, indem er sich von ihm, trotz wiederholter leiser Rufe meinerseits, der heruntergefallenen Früchte wegen nicht trennen konnte. In der Absicht, ihm seines Ungehorsams halber eine gelinde Züchtigung zukommen zu lassen, ging ich zu dem Baume hin und fand dort an den heruntergefallenen Früchten frische und ältere Zahneindrücke, welche nur von Gorillas herrühren konnten. Da ich nun wußte, daß sich in der That eine Gorilla-Familie in der Gegend herumtrieb und der Wind in günstiger Weise vom Busche aus nach dem See zuwehte, so beschloß ich, mich in einer Entfernung von circa achtzig Schritt hinter die Nischen bildenden Wurzelausläufer eines starken Bombaxstammes (Baumwollenbaumes) anzustellen.
Eine Stunde wohl mochte ich vergeblich gewartet haben; die Schatten der hereinbrechenden Nacht wurden bemerkbar; die Moskiten fingen an mich empfindlich zu peinigen, und ich stand bereits im Begriffe, den Platz zu verlassen, als ein leichtes Brechen in der Gegend des Ibabaumes vernehmbar wurde. Hinter dem Stamm hervorlugend, gewahrte ich dort eine Gorillafamilie, welche sorglos mit den Früchten beschäftigt war. Dieselbe bestand aus den beiden Eltern und zwei im Alter verschiedenen Jungen; das menschliche Alter zum Maßstab genommen, konnte das ältere sechs Jahre, das jüngere ein Jahr alt sein. Obgleich die Thiere im Bereiche meiner Doppelbüchse waren, so beschloß ich doch, da ich ihnen gegenüber vollständig gedeckt war und sie unbemerkt beobachten konnte, ihr Gebahren eine Zeit lang zu belauschen. Es war rührend anzusehen, mit welcher Mutterliebe das Gorillaweibchen um das Jüngste besorgt war. Der Vater hingegen kümmerte sich um nichts, als um die Stillung seines eigenen Hungers. Die besseren Früchte mochten wohl aufgezehrt sein, als das Gorillaweibchen mit außerordentlicher Behendigkeit den Stamm erklomm und die reifen Früchte herunterschüttelte.
Der männliche Gorilla begab sich nun kauend zum nahen Wasser, um zu trinken. Ihn hatte ich keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Die Erzählung du Chaillu’s, die märchenhaft übertriebenen Mittheilungen der Eingeborenen hatten in mir beim Erscheinen der Thiere eine große Erregung hervorgerufen. Dieselbe verschwand indeß, als der Gorilla nahe am Rande des Wassers mit einem Male eine Unruhe zu erkennen gab und in niedergeduckter Stellung nach dem Baume blickte, der mich verbarg. Zu spät jedoch witterte er in mir den nahen Feind, denn bereits seit einiger Zeit verfolgte ich jede seiner Bewegungen mit der Büchse im Anschlage. Wenige Augenblicke genügten mir, das mich unbeweglich anäugende Wild sicher auf das Korn zu nehmen. Wohl war ich mir bewußt, welcher Gefahr ich ausgesetzt war, sofern die Kugel nur verwundete und nicht tödtete, auch hatte ich bereits ein Jahr voll Strapazen und Entbehrungen durchkämpft, bevor ich dieses seltene mysteriöse Thier zu Schuß bekam. Jeder Nerv, jede Muskel war bis zum Aeußersten gespannt, meine Beklemmung sowie das sehr verzeihliche Jagdfieber zu bemeistern. Der Schuß krachte. Noch bevor der Pulverrauch meine Blicke frei ließ, hatte ich eine neue Patrone in den abgeschossenen Lauf geführt, so den vermutheten Angriff der übrigen Thiere erwartend. Mein schwarzer Begleiter stand zitternd hinter mir, ein zweites Gewehr in der Hand. Es erfolgte jedoch kein Angriff. Der männliche Gorilla war tödtlich getroffen sofort auf das Gesicht gestürzt; die Jungen flüchteten, einmal kurz aufschreiend, in das schützende Dickicht. Das Gorillaweibchen sprang aus einer beträchtlichen Höhe vom Baume zur Erde nieder, ihren Jungen nacheilend. Wohl hätte ich dem letzteren noch den Garaus machen können, vergaß dies aber in der Aufregung.
Nachdem alle Gefahr beseitigt, bekam auch mein kleiner Galloa wieder Leben; er sprang vor Freude herum, lief nach unserm Landungsplatze und schrie aus voller Brust mit gedehnter Stimme: „Galloa, Galloa hoi hoi! Tanganie jonie nbolu Ndschina, nbolu Ndschina.“ („Der Weiße schoß einen großen Gorilla.“) Ich selber ließ ein kräftiges deutsches Hurrah durch den darob wohl verwunderten Urwald erschallen.
Somit hatte mir das Jagdglück zur Zeit, in welcher man bei uns die Weihnachtsbäume anzündete, ein prächtiges Christgeschenk zu Theil werden lassen.
Diesem ersten Erfolge reihten sich mehrere an und setzten mich bei den Eingeborenen in ein gewisses Ansehen. Folgende Affaire möge beweisen, daß man mich als Gorillajäger bereits anerkannt hatte.
Es war Ende der trockenen Jahreszeit, als mir von der Beherrscherin der Bakailai-Ortschaft Busu, welche Niederlassung, reizend am Eliva-Sanka gelegen, nach Südosten von den Aschangolo-Bergen und ausgedehnten Urwaldungen begrenzt ist, Boten mit der Aufforderung zugesandt wurden: ich möge ja bald kommen; die Gorillas richteten in den Plantagen arge Verwüstungen an. Zugleich ließ man mir sagen, doch recht viel Rum, Tabak, Perlen, Messer etc. und vor Allem der Königin ein schönes Geschenk an baumwollenen Zeugen mitzubringen. Durch diese Nachricht sehr erfreut, im Vorgefühle einer guten Jagd, beschenkte ich die Boten reichlich und entließ sie mit dem Versprechen, mich sofort zur Reise rüsten sowie ihren Wünschen nachkommen zu wollen.
Schon nach einigen Tagen langte ich in Busu an, stattete der schwarzen „Dorfkönigin“ meinen Besuch ab und begab mich dann sofort nach der nahe gelegenen Plantage, um durch Spüren für den andern Tag die Richtung meiner Streifereien festzustellen.
Mehrere Tage hatte ich nun schon vergeblich weite Strecken abgesucht, als eines Morgens das dumpfe Grollen eines Gorilla an mein Ohr schlug, gleich darauf der laute gellende Schrei eines jungen Thieres. Als Begleiter hatte ich nur einen Ischogo-Sclaven bei mir. Sofort entledigte ich mich aller überflüssigen Gegenstände, bedeutete dem zitternden Jungen, zurück zu bleiben und schlich mich leise und vorsichtig heran. Nach einiger Zeit höre ich Zweige rascheln; das Geräusch nimmt zu, und ich sehe einen großen Trupp Chimpansen auf hohen Colanußbäumen die Früchte pflücken. Näher heran kommend, bemerke ich etwas entfernter ein Gorillaweibchen; zugleich ertönt das dumpfe Grollen aus einem dichten Unterholze abermals. Nunmehr war ich schon so nahe, daß ich leicht bemerkt werden konnte, und das geringste Geräusch mußte mich verrathen. Ich legte mich daher flach auf die Erde und kroch wie eine Schlange, jeden trockenen Zweig bei Seite legend, immer Deckung suchend, vorwärts.
Endlich hatte ich ganz erschöpft ein verbergendes Farngestrüpp erreicht. Dort kauerte ich mich nieder, um auszuruhen; waren doch die nächsten Chimpansen im Bereich meiner Büchse. Auf sie indeß hatte ich es nicht abgesehen, sondern auf den alten mir noch unsichtbaren männlichen Gorilla. Wie dies aber bewerkstelligen? Schräg über mir hatte ich die scharfäugenden Chimpansen, und nur auf einem Umwege konnte ich zu dem Versteck des verborgenen Thieres kommen.
Es ist sehr bedauerlich, daß man im Eifer der Jagd oft vergißt, die Thiere in ihrem Gebahren zu beobachten, und nicht bedenkt, daß die Kenntniß davon oft wichtiger ist, als der Besitz des Thieres selbst. In diesem Falle war eine solche für mich schwierig, da ich flach auf der Erde lag, im dichtesten Gebüsch vorwärts kroch und dabei die volle Aufmerksamkeit auf Vermeidung des geringsten Geräusches zu verwenden hatte. Während der kurzen Frist, welche ich mir in den Farnen zur Beobachtung gönnte, fiel mir die gemessene Vorsicht auf, mit welcher diese Affen auf die äußersten Enden der langen Zweige auf allen Vieren hinausliefen, um Nüsse zu pflücken. Wurden die Aeste dünner, so hingen sie sich, den Rücken der Erde zugekehrt, daran, hatten mit jeder Hand einen andern Zweig erfaßt und behielten beim Fortbewegen jedesmal drei sichere Haltepunkte, bevor sie mit der freien Hand nach den Früchten griffen, die sie dann auf weniger halsbrechenden Plätzen verzehrten, um ihr Schwindel erregendes Klettern immer wieder von Neuem zu beginnen.
Kaum war ich jedoch etwas weiter gekrochen, als ich mich mit einmal über und über von den fürchterlichsten der Ameisen, [420] den sogenannten „Treibern“, bedeckt fühlte. Da war kein Besinnen möglich. Blitzschnell hatte ich die Doppelbüchse auf den größten mir erreichbaren Affen in Anschlag gebracht und mit Erfolg gefeuert. Der vermeinte Kulu Hamba stürzte, durch das Unterholz vor dem Zerschmettern geschützt, zur Erde nieder.
Aber auch ich sprang nach abgegebenem Schusse, toller als von Taranteln gestochen, von Schmerzen gepeinigt, aus der gefährlichen Nähe dieser überaus schrecklichen Ameisen, blos mit dem Abwehren derselben beschäftigt. Das jämmerliche Geschrei eines jungen Chimpanse, dem der Vater geraubt, erinnerte mich an den alten Gorilla, der, wie ich mir dachte, nun sicherlich, durch das Klagen herbeigelockt, zum Angriff auf mich schreiten würde.
Meine Situation erschien bedenklich genug, denn obschon ich bereits einen Gorilla geschossen hatte, so war ich doch noch in dem Wahne befangen, den du Chaillu’s Erzählungen in mir erzeugt hatten. Statt des Gorilla erschien indeß mein Begleiter, der, einen Zweig abbrechend, mir wenigstens äußerlich die kleinen Bestien vom Körper peitschte. Nunmehr schoß ich den kleinen Schreihals herunter, welcher allein von der ganzen Gesellschaft zurückgeblieben war und sich in seiner Angst nicht zu helfen wußte. Dies war, so grausam es scheinen mag, ein Act der Nothwendigkeit, da es nicht unmöglich war, daß der alte Gorilla, durch diese Hülferufe in Wuth gesetzt, mich dennoch annehmen konnte. Nach einer Weile war nichts mehr zu befürchten und ich konnte mich von den Hunderten der Ameisen, die sich in mein Fleisch verbissen hatten, reinigen; worauf ich den Jungen, mit der strengen Weisung sich möglichst zu beeilen, nach meinen Leuten sandte. Dieselben harrten meiner mit dem Canoe an einem Bache, der sich lagunenartig tief in den Urwald hinein erstreckte.
Endlich, nach langen martervollen Stunden erschienen, durch mehrfache Rufe herbeigelockt, sechs meiner Galloa-Neger, beluden sich mit den erlegten Thieren und traten nun mit mir den weiten, sehr beschwerlichen Heimweg an. Im Dorfe bei voller Dunkelheit angelangt, wusch ich mir sofort meinen übelzugerichteten Körper mit Wasser, dem ich Salmiakgeist zugesetzt hatte.
Noch war ich damit beschäftigt, als sich vor meiner Hütte ein ganz ausgelassenes Gelächter erhob. Neugierig sehe ich durch die Ritzen und gewahre den Bengel, meinen Begleiter, wie er im Scheine eines großen Feuers vor versammelten Ortsbewohnern mein tolles Gebahren in höchst origineller Weise carikirte, wie ich, den Angriff des Gorilla erwartend, mir die Ameisen abschüttelte und vor Schmerzen herumtanzte. Die Vorstellung war so komisch, daß ich beim Anblicke dieser Scene selbst in Gelächter ausbrach. Natürlich vermehrte dies die Heiterkeit dieser urwüchsigen Naturkinder bis zur Ausgelassenheit, und oft genug noch mußte ich mir selbst von den Kindern durch Pantomimen diese Affaire vergegenwärtigen lassen.
Während eines mehrwöchentlichen Streifzuges in die Aschangolo-Berge, bog ich von einem alten Elephantenpfade, welcher mich zu weit von der Richtung führte, nach Südost in einen schmalen Wildwechsel ein.
Ich mochte denselben wohl eine halbe Stunde verfolgt haben, als ich aus verschiedenen Anzeichen merkte, daß ein Gorilla in der Nähe sein mußte. Meinen nur aus drei Galloa bestehenden Begleitern dies mittheilend, ging ich geräuschlos weiter. Von Zeit zu Zeit blieben wir stehen, um auf das leiseste Geräusch zu hören – da, mit einem Male ertönte hinter mir ein Schrei des mir zunächst gehenden Galloa, und unter dem Zuruf: „Master, look out nbolu Ndsohina!“ (Gieb Acht, Herr, ein großer Gorilla!) warfen die feigen Burschen ihre Lasten fort und ergriffen das Hasenpanier.
Indeß war auch ich durch den Ruf bestürzt und gewahrte erst, nachdem seitwärts ein dumpfes Grollen hörbar wurde, eine dunkle Masse in kaum fünfzehn Schritt Entfernung von mir, sich riesenhaft aufrichten.
Es war der größte Gorilla, den ich je gesehen, der erste, welcher, ohne anzugreifen, Stand hielt. Hätte diese fürchterliche Bestie meine Bestürzung benutzt, ich wäre verloren gewesen. Auf eine Probe, wie lange dieses gegenseitige Anschauen wohl dauern würde, wagte ich es nicht ankommen zu lassen. Als ich die Doppelbüchse zur Schulter erhob, wurde das rollende Gebrüll bellender; das Trommeln auf die Brust erfolgte in schnellerem Tempo; die struppigen Haare auf dem Kopfe sträubten sich vibrirend, und es schien, als wollte mein schreckliches Gegenüber zum Angriffe übergehen. Hätte ich mich bei guter Zeit vorsichtig zurückgezogen, so bin ich überzeugt, daß der Gorilla mich nicht angenommen haben würde. Es lag dies indeß keineswegs in meiner Absicht, und so zielte ich, meiner Aufregung vollständig Herr geworden, ruhig und sicher nach dem Herzen. Nach abgegebenem Schusse schnellte das Thier, die Arme ausbreitend, als suche es nach einem Stützpunkte, in die Höhe und fiel, sich drehend, auf das Gesicht. Hierbei hatte es eine fünf Centimeter starke Liane erfaßt, und so mächtig war seine Kraft, daß es mit ihr dürre, auch grüne Aeste zur Erde riß.
Sein Gewicht taxirte ich auf über vierhundert Pfund; die Länge betrug 1,90 Meter, die Breite einen Meter. Leider verdarb mir die Haut des Thieres wegen Mangels an conservirenden Mitteln. Holzasche genügt in diesem rasch zersetzenden Klima nicht. Vom Skelete konnte ich nur den Schädel mitführen, da meine drei Leute schon über die Maßen bepackt waren. Ferner waren wir volle fünf Tagemärsche von unserm Bivouak entfernt, und noch hatte ich den eigentlichen Zweck meiner Reise, den südöstlichen und südlichen Lauf des Rembo Ngunie unterhalb der Eugenie-Fälle (der bedeutendste Nebenfluß des Ogowe), nicht erreicht. Wie sollten wir, da blos Sonne und Compas als Wegweiser dienten, den Ort wiederfinden, auf dem der Gorilla gefallen war?
Beigegebenes, von dem Thiermaler Herrn Leutemann nach meiner Angabe gefertigtes, sehr gelungenes Bild stellt diesen gewaltigen Gorilla in Wuth dar, wie er, von mir überrascht, sich zur Wehre setzt und unter fürchterlichem Gebrüll mit den Fäusten auf die mächtige Brust schlägt.
Während meiner zweiten Reise hoffe ich über das Leben und Treiben dieses menschenartigen Affen weitere Erfahrungen zu sammeln.
Trotz des Glückes, dessen Campe in Hamburg sich erfreute, finden wir ihn 1786 zu fester Ansiedelung in Braunschweig, der Hauptstadt seines Geburtslandes. Schon einige Jahre vorher hatte er aus Rücksichten auf sein durch große Anstrengungen erschüttertes Nervensystem das Hamburger Institut auflösen müssen. Mit nur vier Schülern zog er drei Meilen weiter nach einem Dorfe an der Bille, wo er seine Arbeit zwischen der Landwirthschaft und der Erziehung seiner Zöglinge theilte. Von hier aus war Campe dem Rufe nach Braunschweig gefolgt und hatte nun in der That den Boden gewonnen, auf dem seine im Sturm und Drang der bisherigen Lehr- und Wanderjahre gereifte Meisterschaft voll und ganz sich entfalten konnte. Als Schulrath sollte er eine Verbesserung des Schulwesens anbahnen, was freilich an dem Widerstande der „alten Unverbesserlichen“ scheiterte, unter denen eine zelotisch-orthodoxe Geistlichkeit das schürende Element war· Schon in Hamburg hatte derselbe Pastor Götze, welcher Lessing zu denkwürdigem Widerspruche gezwungen, auch Campe zu stören gesucht, aber es blieb dem Hetzer gegen den Privatmann nur das plumpe Stichelwort auf der Kanzel, und dieses verhallte spurlos an den Ohren der aufgeklärten Freunde. In Braunschweig jedoch war das anders; hier sollte der „ketzerische Neuerer“ seine Ideen mit staatlicher Autorität durchführen; hier war eine mächtige Pastorenhierarchie, die in den adeligen Mitgliedern der Landstände Befürchtungen vor der Erleuchtung des Volkes erregte und dem Unternehmen so erhebliche Schwierigkeiten bereitete, daß selbst der Herzog bald den größten Theil seines Lieblingsplanes aufgeben mußte. Nach wie vor aber blieb dieser der unerschütterliche Freund und Beschützer des Mannes, den er gerade wegen seines Freimuthes und seiner Freisinnigkeit zu sich berufen hatte. Ueberblicken wir die unwidersprechlichen Thatsachen dieses überaus liberalen und zartfühlenden Verhaltens, so kann uns dasselbe nur mit dankbarer Bewunderung erfüllen, und überrascht müssen wir [421] uns[WS 1] fragen, ob das auch wirklich derselbe Fürst war, der einst den gleichfalls hierherberufenen Lessing in elender Stellung hatte verkommen und sich verbittern lassen. Der grelle Widerspruch löst sich aber, wenn wir bedenken, daß der Herzog vorwiegend praktische Ziele im Auge, daß er nicht den Blick des weimarischen Karl August für die ernste Bedeutung des blos schriftstellerischen und dichterischen Schaffens hatte. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß Campe von jener üblen Behandlung Lessing’s gewußt, aber wir haben kein Zeugniß, wie er darüber geurtheilt hat. Gewiß nur ist, daß er zu den Auserwählten gehörte, welche für die im Ganzen erst von der Nachwelt erkannte Bedeutung des großen Gedankenkämpfers schon bei dessen Lebzeiten ein volles Verständniß hatten, daß er in Liebe und Bewunderung zu ihm aufblickte, wie ein Jünger zu seinem Meister. Als Lessing nach Wolfenbüttel ging, rief Campe in einem schwungvollen Gedichte seinem braunschweigischen Vaterlande zu: „Sei stolz! Ein neuer Glanz verbreitet sich über Deinen Ruhm … In Famens Tempel wird Dein Name brennen, seit Lessing Deine Grenzen ziert.“ Auch war es Campe, der auf dem braunschweigischen Friedhof das bereits eingesunkene Grab Lessing’s wieder ausfindig gemacht und es durch einen einfachen Denkstein vor dem Vergessenwerden bewahrt hat.
Wenn es der Reactionsclique gelungen war, die beabsichtigte reformatorische Schulwirksamkeit Campe’s lahm zu legen, so waren diese Feinde doch ohnmächtig, der Kraft und dem Einflusse seines Wortes Schranken zu setzen. Die Gedanken, welche er thatsächlich nicht ausführen durfte, wurden dennoch weiter in alle Welt getragen durch die feurigen Zungen der Presse. Unter dem Schutze des Herzogs, der ihm Befreiung von der Censur gewährte, schwang sich seine literarische Thätigkeit in Braunschweig zu einem Glanze und einer Höhe publicistischen Wirkens und Einflusses auf, dessen Folgen unbedingt fortgelebt haben in allen späteren Entwickelungen deutschen Freiheitsstrebens. Wie gegenwärtig die pietistische Partei der inneren und äußeren Mission bestimmte Herstellungs- und Betriebsstätten für ihre Agitationsschriften hat, so gewann die Aufklärungsbestrebung damals einen glücklichen Mittelpunkt in dem von Campe unter der Firma „Braunschweigische Schulbuchhandlung“ gegründeten Verlagsgeschäft nebst Druckerei, ein Unternehmen, das der Herzog durch Schenkung und Ueberlassung von fürstlichen Gebäuden auf das Kräftigste unterstützte. Von hier aus gewannen Campe’s frühere Erziehungs- und Jugendschriften einen unglaublichen Absatz; hier führte er seine große „Schul-Encyclopädie“ in’s Leben, eine vollständige Sammlung neuer, den Fortschritten der Bildung entsprechender Schulbücher; hier begründete und leitete er mit erlesenen Genossen jenes „Braunschweigische Journal“, das als Pionier der deutschen Publicistik bezeichnet werden muß und durch seine scharfen, lebendig und elegant geschriebenen Erörterungen tiefer in die Zeit griff, als irgend ein früheres periodisches Unternehmen. Dabei benutzte der gewandte Kämpfer jede sich darbietende Gelegenheit, für die Sache des Fortschritts seine Stimme zu erheben.
Als nach dem Ableben Friedrich’s des Großen der Nachfolger desselben den Thron bestieg, der ja Campe früher durch besonderes Vertrauen ausgezeichnet hatte, da richtete dieser an den neuen König jene damals so berühmt gewordenen und mit Unrecht vergessenen „Fragmente über einige verkannte, wenigstens ungenutzte Mittel zur Beförderung der Industrie, der Bevölkerung und des Wohlstandes“ – ein kühl erscheinender Titel, hinter dem aber ein ungemein warmer Inhalt liegt. Oeffentlich, unter den Augen des großen Publicums stellt hier der einzelne Schriftsteller seine aus dem Denken erzeugten Forderungen direct an den Träger der höchsten Gewalt. „Vernunft und Aberglaube,“ so schreibt er demselben, „Aufklärung und neue Verfinsterung des menschlichen Geistes, Gewissensfreiheit und Gewissenszwang liegen – jene mit ihrem ganzen Segen, diese mit ihrem ganzen Gräuel – auf der Wage; des großen Friedrich Nachfolger steht daneben. Ein Wink von ihm – und das Glück der Menschheit ist entschieden, es hebt ein Zeitalter an, goldener und seliger als jenes in der Fabel.“ Das Merkwürdige an der Schrift ist, daß es schon die socialen Uebel und wirthschaftlichen Schäden der Zeit sind, auf welche Campe hier vornehmlich seine Aufmerksamkeit richtet; er sinnt, wie die Menschen wieder emsiger, industriereicher, erwerbsamer gemacht werden können. Es ist natürlich Fragliches in diesen Ausführungen, und es findet sich überhaupt Manches darin, das eine weitere Erkenntniß, eine tiefere Ergründung als unzulänglich und unhaltbar herausgestellt. Aber abgesehen von solchen Einzelnheiten, ist die Grundanschauung des Ganzen eine bewunderungswürdig gesunde, und zu wirklich prophetischem Schwunge erhebt sich der Gedankengang in dem Abschnitt, der vom König, dem wüsten Hader und Despotismus des engherzigen Theologentreibens und Confessionswesens gegenüber, eine consequent durchgeführte Duldung aller religiösen Standpunkte und Ueberzeugungen verlangt und die beglückenden Folgen dieser allgemeinen und vollkommenen Gewissensfreiheit für Staat und Volk in den begeisterungsvollsten Ausdrücken schildert – ein von edler Gluth, von heiligem Glauben an die Freiheit durchhauchtes Kampfeswort, das wie ein Blitzstrahl in die gedrückten Stimmungen und verrotteten Zustände jener Tage fiel.
Aber Campe’s aufrüttelnde Thätigkeit wider den Geist der Verfinsterung, wider verknechtende Unwissenheit und priesterliche Herrschsucht, ist mit der Hinweisung auf jene „Fragmente“ noch nicht bezeichnet. Mit feuriger Energie und einer Unermüdlichkeit ohne Gleichen führte er den Kampf auf die verschiedensten Gebiete, und wir heben hier aus der großen Zahl seiner Schriften nur das 1789 erschienene, in einer langen Reihe von Auflagen verbreitete Buch „Väterlicher Rath an meine Tochter“ hervor, das noch heute in möglichst weiten Kreisen gelesen und beherzigt werden sollte. Die Frage eines nach Inhalt und Form der Zeitbildung entsprechenden Religionsunterrichts steht bei uns noch immer unentschieden auf der Tagesordnung, und der Streit über den Gegenstand ist selbst im großen Lager der Liberalen ein ebenso heftiger wie endloser. Sollte man hier nicht bei den scharfsichtigen Aufklärungsmännern des vorigen Jahrhunderts ein wenig in die Schule gehen und, trotz alles in mancher Hinsicht sehr unberechtigten Fortschrittsdünkels, Einiges von ihnen lernen können? Höre man zum Beispiel, wie Campe vor nun beinahe neunzig Jahren seine Tochter und somit ihre Altersgenossinnen öffentlich über die Punkte belehrte, die sie, den Anforderungen eines damals noch ganz unerschütterten Glaubens- und Kirchenzwanges gegenüber, von ihrem religiösen Anschauen und Empfinden fern halten sollen. Er schreibt: „1. Alles, was Dir nach redlicher Anstrengung aller Deiner Seelenkräfte dennoch unverständlich bleibt, oder in einem wirklichen Widerspruche mit anderen völlig ausgemachten Wahrheiten der Vernunft und der Religion steht, das gehört nicht zur Religion, wenigstens nicht zu Deiner Religion, und Du bist berechtigt, es davon auszuschließen. Denn kein Mensch ist verpflichtet, etwas zu erkennen, was er nicht erkennen kann, oder etwas anzunehmen, was anderen als gewiß erkannten Wahrheiten widerspricht. Dieser Satz leidet keine Ausnahme. 2. Alles, worüber Diejenigen, welche der Gottesgelehrsamkeit ihr Leben gewidmet haben, unter sich selbst uneins sind, worüber sie sich zanken, anfeinden und verfolgen, das gehört nicht zur Religion, wenigstens nicht zu der Religion, welche Christus uns gelehrt hat. Wie könnte dem bloßen Laien zugemuthet werden, daß er heller sehe, als seine Führer? Wie könnte etwas ein Theil des Evangeliums sein, d. h. einer frohen, beseligenden Verkündigung, was die Menschen zänkisch, hart, lieblos und verfolgungssüchtig macht? 3. Alles, was keinen Einfluß auf unser Leben und auf unsere Handlungen hat, was weder zur Verbesserung und Veredlung, noch zur Beglückung der Menschen taugt, das gehört nicht zur Religion, die in allen ihren Theilen eine Lehre zur Tugend und Glückseligkeit sein soll.“
Gewiß, es war ein bewegungsschwangeres, auf große Umwälzungen hinarbeitendes Jahrzehnt, durch dessen verfinsterte Atmosphäre von allen Seiten her solche lichte, so bewußt, so entschieden und kampfesmuthig gegen eine traurige Wirklichkeit sich auflehnende Gedanken zuckten. Aus solcher Gewitterschwüle mußte nothwendig die Explosion sich erzeugen; es mußte einem unerhörten Drucke endlich die Erhebung der niedergetretenen Völker folgen. In Frankreich kam der Gedankensturm 1789 zu thätlichem Ausbruch. Campe gehörte zu jenen hervorragenden Denkern Deutschlands, welche dieses erste Heraufleuchten des Menschen- und Volksrechtes in der europäischen Geschichte mit Bewunderung und großen Hoffnungen erfüllte. Mit seinem einstmaligen Schüler Wilhelm von Humboldt eilte er nach Paris. Seine damals [422] zuerst im „Braunschweiger Journal“ abgedruckten „Briefe aus Paris“ bilden ein historisch werthvolles Zeugniß der Herzenswärme und des politischen Verständnisses, mit welchem der längst allem Schulstaube und allem kümmerlichen Magisterthum entwachsene deutsche Pädagog und Schriftsteller den Geist der Revolutionsereignisse zu würdigen und zu schildern vermochte. Auch nach seiner Rückkehr in die Heimath blieb er der begeisterte Vertheidiger der Revolutionsgedanken, und ihre spätere Ausartung, die er tief verabscheute, konnte ihn in dem Glauben an ihre ursprüngliche Reinheit und Berechtigung nicht irre machen. Dieser Ueberzeugungsmuth aber wurde für ihn ein Quell des Aergernisses und der vielfachsten Kämpfe. Schon früher hatten die zelotische Geistlichkeit und das conservative Junker- und Beamtenthum eine Fluth von boshaften Schmähschriften wider den Gefürchteten losgelassen. Nach der althergebrachten und heut noch üblichen Kampfesart dieser für ihre Macht zitternden Kasten wollten sie vor Allem den guten Namen ihres Gegners und damit am sichersten seinen Einfluß untergraben. Campe war nicht der Mann, solche Angriffe lange ohne Gegenwehr zu lassen. In seiner herrlichen Schrift „An meine Freunde“ (1787) hatte er die „ungesitteten Knaben“ gezüchtigt, die ihn mit literarischem Koth bewarfen, und zugleich versprochen, daß er sich auch ferner niemals abhalten lassen werde, „den Aberglauben aufzudecken, Vorurtheile zu bekämpfen und – Schurken zu entlarven in dem Lande, wo Lessing’s Asche ruht“. Dieses geharnischte Wort machte die Verleumder ein paar Jahre hindurch schweigen. Als er aber nach Paris gegangen war und nun die Revolution als die größte Wohlthat zu preisen begann, welche die Vorsehung seit Luther’s Reformation der Menschheit zugewandt, als später sogar der National-Convent ihm (zugleich mit Klopstock, Schiller und Matthison) das französische Bürgerrecht ertheilte, da wurde der muthige Vertheidiger des Volksrechts inmitten des politisch verkommenen Deutschlands von den verschiedensten Seiten her als „deutscher Jacobiner“ angefeindet.
Das erneuerte Anstürmen würde indeß ohne jede ernstere Folge geblieben sein, wenn es nicht dieses Mal einen Rückhalt gefunden hätte an einer traurigen Wendung der preußischen Politik. Der gutmüthige, aber zur Mystik geneigte Friedrich Wilhelm der Zweite hatte die Hoffnungen der Campe’schen „Fragmente“ nicht erfüllt; er unterlag dem Einflusse seiner pietistischen Umgebung; der zelotische Wöllner wurde sein Minister, und es kam das berüchtigte Religionsedict, das die Regierungsgrundsätze Friedrich’s beseitigen und den finstersten Gewissenszwang des Mittelalters wiederherstellen wollte. Eine tiefe Entrüstung ging durch die Reihen der Gebildeten, Campe aber gab derselben öffentlich unerschrockenen Ausdruck, indem seine Schrift „Freimüthige Gedanken“ den Minister Wöllner und seine schwarzen Genossen als „Verbrecher gegen den Staat und die Menschheit“ bezeichnete. Natürlich wurden solche Angriffe zu directen Hetzereien am Berliner Hofe benutzt; es erfolgten geschärfte Censurvorschriften in Preußen und Mahnungen an den Herzog von Braunschweig, die denselben ängstlich machten, so daß er eine Commission niedersetzte, von welcher Campe und seine Mitarbeiter die Weisung erhielten, „hinfüro in ihrem Journal alle theologischen und politischen Gegenstände ganz unberührt zu lassen und sich jeder Kritik benachbarter Regierungen zu enthalten“. Für einen Charakter von der Art Campe’s war dies ein Todesurtheil, dem er freiwillig sich nicht fügen konnte. In demselben Jahre (1792), wo er in einer Darlegung die gegen ihn ausgestreuete Verdächtigung undeutscher Gesinnung siegreich abwehrte, verfaßte er als Antwort auf den Censurbefehl der herzoglichen Commission jene unvergeßliche Denkschrift, in welcher er das Recht der Preßfreiheit als ein unveräußerliches Recht der Menschheit vertheidigte.
Der Kampf Campe’s für die ihm vor seiner Uebersiedelung nach Braunschweig ausdrücklich bewilligte Preßfreiheit war ein langer; für den Fall seiner Niederlage war er fest entschlossen, seine blühende Buchhandlung und Druckerei aufzulösen und sich mit den kläglichen Trümmern seines Vermögens in ländliche Einsamkeit zurückzuziehen. In einer der betreffenden, von ihm verfaßten Eingaben heißt es u. A.: „Kein Mensch, kein Staatsbeamter, selbst Kaiser und Könige nicht, haben ein Recht, öffentliche Unbilde zu verüben und das öffentliche Urtheil darüber zu verbieten. Diese Wahrheiten gehören zu den erwiesensten, die ich kenne.“ Andere Stellen lauten: „Was sollte aus dem deutschen Staatskörper werden, wenn die Oeffentlichkeit, dieser letzte Hebel gegen willkürliche Herrschsucht und Verfinsterungswuth, uns aus den Händen gewunden werden sollte? Ich erschrecke bei dem Gedanken an die bloße Möglichkeit dieses Unglücks, des größten und schauderhaftesten von allen, welche unser armes Deutschland treffen könnten, und ehe ich den schweren Fluch auf mich laden wollte, möchte ich die Hand, die diese Unterschrift geben könnte, tausend Mal lieber abhauen lassen. Die Schriftsteller sind ja die einzigen Fürsprecher des Volks, da, wo es keine anderen hat. Und was sollte aus dem armen Volke werden, wenn auch diese Sachwalter nunmehr gänzlich verstummen sollten?“ … „Mein Vermögen, mein Leben, meine Freiheit stehen in der Hand der Menschen, aber meine Ehre und mein Gewissen sind von jeder äußeren Einwirkung unabhängig, sind mein im eigentlichsten und vollsten Sinne des Wortes. Man kann mir jene nehmen, aber Ehre und Gewissen kann und werde ich gegen die ganze Welt, gegen die Hölle selbst, wenn es eine giebt, in ihrer ganzen unverletzlichen Reinheit behaupten.“
Campe’s entschiedenes Eintreten für die Freiheit der Presse und seine in dieser Sache geschriebenen Manifeste ragen nicht blos als glänzende Thaten aus der Geschichte der deutschen Publicistik hervor, sondern auch als die ersten Blüthenkeime einer deutschen Freiheitsbewegung, welche hier alle ängstlichen Umhüllungen durchbrochen und zu kräftigstem Aufsprossen sich entfaltet hatten. Nach langen Verhandlungen entschied zuletzt der Herzog, daß er Campe vertrauensvoll die bisherige Freiheit auch ferner gewähre, und dieser hat nun ungehindert noch eine ganze Reihe von Jahren sein schriftstellerisches Wirken zur Förderung des Lichtes und zum Aergerniß aller bereits in Sorge gerathenen Duckmäuser und Dunkelmänner fortgesetzt. Den letzten Abschnitt seines Lebens wendete er bekanntlich mit seltener Ausdauer dem Studium der deutschen Sprache zu. Bekannt sind sein energisch geführter Kampf wider die Fremdwörter und sein „Wörterbuch der deutschen Sprache“.
Im Jahre 1791 hatte der thätige Mann vor einem der Thore Braunschweigs einen geräumigen Garten gekauft, der noch jetzt seinen dortigen Nachkommen gehört. In stiller ländlicher Lieblingsbeschäftigung fand er hier wieder einen unversiechlichen Quell der Erfrischung und Erholung. Und als der Buchhändler Vieweg, der Gatte seiner geliebten Tochter Lotte, mit dieser von Berlin nach Braunschweig übergesiedelt war, da hatte ein Kreis liebenswürdiger und liebevoller Menschen sich geschlossen, in dem Campe lebte und waltete wie ein Patriarch des alten Bundes. An Besuchen hervorragender Menschen fehlte es fast niemals auf dieser Musterstätte gebildeten deutschen Familienlebens, und nur die Beschränkung unseres Raumes verbietet uns, die noch vorhandenen Berichte der verschiedensten und namhaftesten Zeitgenossen anzuführen, die sich in Lob und Preis ergehen über die Eindrücke, die ihnen von dem edlen Geiste dieses Hauses und von seinen einzelnen Mitgliedern geworden sind. Um den Seinigen ein alljährlich sich neu verjüngendes Erbe zu hinterlassen, arbeitete Campe unermüdlich schaffend in seinem Garten. Im Frühling 1800 begann er damit, einen sehr großen Theil dieses weiten Grundstücks in Waldung zu verwandeln, und es belief sich die Gesammtzahl aller hier durchweg von ihm selbst gezogenen und gepflanzten Bäume auf nicht weniger als dreiunddreißigtausend. Und im Laufe dieser Arbeit kam ihm auch der Gedanke, im Schatten seiner jährlich neu ergrünenden Zöglinge für sich und seine Kinder die letzte Ruhestätte zu errichten. Der Plan dazu wurde schnell entworfen und ausgeführt – ein sinniges Grabmal würdig des Weisen, der am Abende des Daseins mit heiterer Ruhe auf den durchlaufenen Tag und seine heißen Stürme zurückschauen konnte.
Und wenn der greise Campe in seiner tiefen Bescheidenheit von sich selber sagen durfte, daß er redlich und im Schweiße des Angesichts seine Lebenspflicht erfüllt, so ließ auch draußen die Welt nicht ab, ihm durch Beweise der Liebe diese Beruhigung zu geben. Schon früher hatte sich das auf allen seinen Reisen gezeigt. So zog er z. B. einst in Gießen auf dem Wege nach Hanau „wie der Rattenfänger von Hameln“ durch die Stadt, von dem lautesten und heitersten Schwarm begleitet. Eine große Heerde von muntern Kindern aus den ersten Häusern hing sich an ihn. Fünf Hofmeister gingen als Adjutanten nebenher. So schleppten sie den verehrten Erzähler und Jugendschriftsteller vor sich her bis [423] vor das Thor, wo er die Post erwartete. Wohin er kommen mochte, auch im Auslande, erlebte er diese Wirkung seiner Bücher.
Campe sah noch die glorreiche Befreiung des Vaterlandes aus der Schmach der Franzosenherrschaft, als aber diese Ketten gebrochen waren, neigte sein Stern sich zum Untergange. Ein traumhaftes Dämmerleben umwob einige Jahre hindurch seine lichte Seele, und am 22. October 1818 ist er zu der Freiheit erlöst worden, die er hienieden nicht sollte erstehen sehen. Unter dem Hügel, den er selber so lieblich sich in seinem Garten errichtet, hat er den letzten Ruheplatz gefunden. Ohne Glockengeläute, ohne großes Trauergefolge, ohne Begleitung eines Geistlichen wurde er in der Frühe des Morgens dort in das Grab gesenkt.
Aus allen Ständen und Classen Deutschlands bis tief in die untern Schichten hinein erklang ein Ruf schmerzlicher Klage über den Hingang des theuren Mannes, der Jahrzehnte hindurch wahrhaft ein Vater der gesammten Jugend, ein leuchtender Führer der aufstrebenden Lehrerwelt und zweifellos einer der ersten Helden und Propheten im anbrechenden Kampfe für das Recht des Volkes und die Freiheit des Geistes gewesen ist. Nicht Alles, was er gedacht, gewollt und erstrebt hat, war frei von Irrthum und Einseitigkeit, auch nicht von den Schroffheiten zorniger Aufwallungen. Aber vom festen Mittelpunkte innerster Erkenntniß aus beherrschte ein erhabener Gedanke und ein gewaltiger Glaube jede Faser und jeden Nerv seiner reinen Seele: der Gedanke des Fortschrittes zur Humanität und Freiheit, und der Glaube, daß es ohne humane Freiheit kein Heil giebt für den Einzelnen wie für die Gesammtheit. Und wie ihn selber jeder Moment seines langen Kampfes unerschüttert gefunden, ohne Menschenfurcht, ohne gleißendes Scheinwesen und selbstisches Zagen, so widmete er rückhaltslos seine Theilnahme allen Denen, die auf demselben Wege Schmach und Verfolgung zu erdulden hatten.
Als die Kerkeröde des Hohenasperg den Dichter Schubart umfing, da hat Campe in einer warm geschriebenen Bittschrift die Losgebung des Mißhandelten gefordert. Und als im Sommer 1794 das Gerücht ging, daß Immanuel Kant durch das Wöllner’sche Pietistenregiment seiner Stelle enthoben sei, da bot Campe dem großen Philosophen ein Asyl in seinem Hause an. An keinem Märtyrer der Freiheit ist er vorübergegangen, ohne sein Haupt zu bekränzen. Wie er selber über sich und sein Wirken gedacht, das hat er in seiner von ihm selbst verfaßten Grabschrift ausgedrückt. Sie lautet: „Hier ruhet nach einem Leben voll Arbeit und Mühe zum ersten Male der Pflanzer Joachim Heinrich Campe. Er pflanzte – wenngleich nicht immer mit gleicher Einsicht und mit gleichem Glücke, doch immer mit gleichem Eifer und mit gleicher Treue – Bäume in Gärten und Wälder, Wörter in die Sprache und Tugenden in die Herzen der Jugend. Wanderer, hast Du ausgeruht unter seinen Bäumen, so gehe hin und thue desgleichen!“
Das Frühstück ist die erste grundlegende Mahlzeit des Tages, und da der Mensch zu keiner Zeit so auf die gewohnheitsmäßige Ordnung hält wie gerade am Morgen, so mag es sich hieraus erklären, daß das Frühstück einen conservativen Charakter besitzt und vom ethnographischen Standpunkte aus zu den scharf ausgeprägten Eigenthümlichkeiten eines Landes gehört. Unsere heutige Schilderung gilt dem Hamburger Frühstück, jedoch nicht seiner Zusammensetzung, sondern der Art und Weise seiner Zufuhr und Beschaffenheit. Die Zusammensetzung ist die nämliche wie in den andern deutschen Städten. Die Zufuhr dagegen ist für Hamburg überaus charakteristisch und bis in das kleinste Detail originell. Am wenigsten läßt sich im Ganzen vom Kaffee sagen, wenn man nicht besonders den Umstand hervorheben will, daß Hamburg als Hafenplatz zu jenen Städten gehört, welche gewissermaßen an der Quelle sitzen. Wir brauchen nur zu den Quais hinauszugehen, um den Kaffeeballen, wie er aus den Händen des Brasilianers oder Javanen hervorgegangen, durch den eisernen Arm eines riesigen Dampfkrahnes auf europäischen Boden schwingen zu sehen. Von hier durch Schuten in die Speicher der Großhändler transportirt, kommt er sodann durch den „Krämer“ im Kleinhandel zur Vertheilung, und zwar zu so niedrigen Preisen, daß sie gewiß den Neid der Hausfrauen im Binnenland erregen müssen.
Viel interessanter aber gestaltet sich nun die Zufuhr und die Vertheilung der Milch, welche uns eine bunte Reihe lebendiger Bilder und zwar in einer Mannigfaltigkeit darbietet, die schon an sich auf eine sehr verschiedenartige Herbeischaffung und ganz besonders auf eine solche zu Wasser hindeutet. In der That ist auch diese die weit überwiegende, aus dem einfachen Grunde, weil die Hauptmilchproduction für die Stadt auf den Hamburg gegenüberliegenden, schlechthin unter dem Namen der „Inseln“ bekannten Gebieten stattfindet. Diese Inseln, ursprünglich Flußuntiefen, dann, und zwar noch im Mittelalter, als Sümpfe über dem Elbniveau während der trockenen Jahreszeit emporragend, später mit immer stärkerer Anschwemmung von Elbschlamm zu Marschboden umgestaltet und schließlich durch Deiche dem Strome definitiv abgewonnen, bieten einer großen Zahl stattlicher Rinderheerden den vortrefflichsten Weidegrund.
Im Sommer entwickelt sich hier während der fünften Morgenstunde ein reges Leben. Mit rothen Eimern ziehen die Bewohner aus ihren meist am Deiche belegenen Häusern nach den Wiesen, um das Melken der Kühe vorzunehmen. Im Winter geschieht dies im Stalle und zu einer spätern Stunde, aber schon zeitig im Frühjahre beginnen die Heerden im Freien zu übernachten. Ist die Morgenmilch gewonnen, so wird sie im Verein mit der am Abend zuvor gemolkenen über den Deich nach dem unterhalb desselben liegenden Schiffe, dem „Melk-Ewer“, geschafft. Hier haben sich inzwischen auch die Vertreter des zarten Geschlechts mit Körben voll Grünzeug eingefunden, unter ihnen besonders die für den Hamburger Marktverkehr typische Figur der „Oltschen“ mit ihrem einem japanesischen nicht unähnlichen flachen Strohhute und dem faltenschweren Umhange. Die den Männern gemeinsame Tracht besteht aus einer dunkeln Jacke und Hosen und grauwollenen langen Strümpfen und Schuhen; die Hosen werden, namentlich bei schmutzigem Wetter, in die Strümpfe gesteckt wie anderwärts in die Stiefeln. Als besonders charakteristisch tritt noch eine weite Leinenhose hinzu, welche bis über die Kniee reicht und meist nur während der Fahrt über-, bei der Ankunft in der Stadt aber ausgezogen wird.
Es beginnt nun die Anordnung der Waare im Ewer, wobei dem Grünzeug das Vordertheil eingeräumt wird, während die Milcheimer im „Achterdeel“, einer dicht neben dem andern, in einer festgefugten Pyramide aufgebaut werden. Ist dies geschehen, so wird die Gaffel, an welcher das große Segel befestigt ist, herabgelassen, das dreieckige Focksegel gehißt, und hinaus geht es, dem Strom und der Stadt entgegen, welche jetzt wie ein riesiges Ungethüm den Nahrungsstoff der Umgegend aufzusaugen beginnt.
Ein solcher Ewer befindet sich entweder im Besitze eines Einzelnen, der zugleich Steuermann ist und dem die Andern „Schipgeld“ zahlen, oder er ist Eigenthum einer Compagnie, die, je nach der Größe des Schiffes, die Zahl von einem halben bis anderthalb Dutzend Theilhaber umfaßt. Die Bedeutung des Steuermanns wird der Leser leicht zu unterschätzen geneigt sein. Der Binnenländer, welcher die Elbe in ihrem sittsamen Lebenswandel zwischen den Felsen der sächsischen Schweiz oder den flachen Ufern Magdeburgs kennt, meint jedenfalls, daß die Fahrt eines harmlosen Milchschiffes keiner besondern Steuermannskunst bedürfe. Aber er sollte diese nämliche Elbe in der Umarmung eines wilden Nordwests erblicken, wenn sie eine schäumende Brandung an’s Ufer wirft, Wellen thürmt, welche sogar die zwischen Hamburg und den Inseln verkehrenden Dampfschiffe mit förmlichen Sturzseen überschütten, Schiffe im Hafen von ihren Ankerketten reißt und sie, eines gegen das andere schleudernd, der Vernichtung weiht – dann würde er von einer solchen Ewerfahrt einen andern Begriff bekommen. Der Backbord des Ewers ist unter dem Drucke der Segel tief auf das Wasser geneigt,
[424] während über Starbord eine schäumende Welle nach der andern in das Schiff schlägt und es mit Wasser füllt; um dies nicht zu einer gefahrdrohenden Last anwachsen zu lassen, steht hinter dem Segelbaum ein Mann, der fortwährend die sich ansammelnde Fluth aus dem Schiffe schaufelt und der, da diese Arbeit ungemein anstrengt, von Zeit zu Zeit durch einen andern abgelöst wird. Daß natürlich sämmtliche Insassen gleichfalls naß werden, läßt sich denken, was aber um so gründlicher möglich ist, als sie sich nicht mit dicken Mänteln allzuschwer behängen dürfen, um für den gefürchteten Moment, wo das Schiff kentern sollte, nicht allzuschwer mit Sachen behängt und im Gebrauch der Glieder behindert zu sein; denn ihre einzige Rettung besteht dann darin, daß sie sich an dem umgeschlagenen Schiffe festklammern. Ist es ein kleinerer Ewer, so gelingt das im Fall eines Unglücks auch meist allen Insassen, ist es aber einer der größern Sorte, mit vielen Personen angefüllt, so kehrt wohl in solchen Fällen mancher von ihnen nicht wieder heim. Die Ursache solcher bald seltener, bald auch wiederholt auftretender Unglücksfälle ist weniger der eigentliche Sturm, als hauptsächlich das Gewitter, indem hier die unberechenbaren, von entgegengesetzten Seiten hereinbrechenden Windstöße das Schiff zum Umschlagen bringen.
Dies der Transport im Sommer; im Winter nun, wenn die Elbe fest zugefroren, tritt an Stelle des Schiffes der Schlitten, und zwar sowohl der von Pferden gezogene, wie auch der von Menschen geschobene. Dieser letztere ist eigenthümlich und praktisch gestaltet; eine breite Platte, um welche eine starke Leiste läuft, ruht auf niedrigen, vorn aufwärts gebogenen Kufen, auf der Rückseite aber erhebt sich in stumpfem Winkel ein lehnenartiges Joch, welches eine bequeme Fortbewegung gestattet, während die massive Construction den Transport einer bedeutenden Quantität Milch ermöglicht, im Unterschied aber vom Schiffstransporte treten hier an Stelle der Milcheimer Milchtonnen, welche eine größere Sicherheit gewähren, denn das Eis der Elbe friert nicht in flachem Spiegel, sondern setzt sich aus Eisschollen zusammen und ist deshalb sehr holperig.
Bestände nur die Wahl zwischen fahrbarem Wasser und fahrbarem Eise, so würde die Sache mit Schiff und Schlitten abgemacht sein. Wie aber bei Eisgang und auf nicht tragfähigem Eise den Transport bewerkstelligen? Man hat sich da auf die einfachste Weise von der Welt geholfen. Da weder Schiff noch Schlitten verwendbar, so hat man eben ein Fahrzeug hergestellt, das zugleich Schiff und Schlitten ist, den sogenannten „Eiskahn“, einen spitzen, schmalen Kahn, wie ihn unsere Illustration zeigt; der scharfabgegrenzte dunkele Streifen unter dem Schiffe ist nicht etwa der Kiel, wie der Leser beim ersten Anblick wohl denken mag, sondern eine starke, feste Schlittenkufe, links und rechts unter dem flachen Boden des Kahnes.
Begleiten wir nun dieses sonderbare Zwitterfahrzeug auf einer seiner winterlichen Morgenfahrten, bei denen es wirklich kopfüber und kopfunter geht!
Die Milch ist gleichfalls in Tonnen weggestaut; vier, resp. sechs Mann nehmen darauf Platz, während je zwei am Vorder- und Hintertheile außerhalb des Schiffes auf ihren Posten treten. Doch sind auch meist die Darinsitzenden, so lange der Kahn nicht im Wasser ist, namentlich an schwierigen Stellen auf dem Eise über Bord. Die Männer sind sämmtlich mit hohen, bis über die Schenkel heraufreichenden Wasserstiefeln, einer dicken Jacke und dem Südwester bekleidet. Draußen liegt noch dunkle Nacht über der Landschaft; von eisigem Winde gepeitscht, wirbelt ein tolles Schneetreiben über den Strom, auf dessen finsteren Gewässern dichte Eismassen hin- und herdrängen. Die Vordermänner haben sich an Bord geschwungen; die Hintermänner stoßen ab, indem sie Jenen nachspringen, und hinein in den unwirthlichen Fluß taucht der Eiskahn. Doch war er schon mit Bedacht so gelenkt, daß er eine mächtige, lang ausgedehnte Eisscholle anläuft, deren Herannahen die Männer mit geübtem Blicke berechneten. In dem Momente, wo das Vordertheil des Kahns an der Scholle hinaufschießt, das Hintertheil tief in den Strom versenkend, sind auch schon die Vordermänner heraus auf das Eis, den Kahn nach sich ziehend, wenngleich die Scholle sich tief in das Wasser neigt, das, weit überspülend, heraufquillt. In der nächsten Secunde haben auch die Hintermänner auf dem Eise Fuß gefaßt, und nun gleitet der Kahn, halb gezogen halb geschoben, über die Eisfläche hin, deren Ränder rücken aber schon näher, weshalb auch die vorn Auslug halten und eine packbare heranrückende Eisfläche in’s Auge fassen, das Fahrzeug nach jener Seite hin dirigirend. Wieder taucht es momentan in den Strom, indeß die Vordermänner sich an Bord schwingen; tief sinkt das Vordertheil, während das Hintertheil hoch aufbäumt; dann schießt der Kahn auf die neugewonnene Eisscholle hinauf; wieder sinkt das Hintertheil mit den aufgesprungenen Hintermännern, bis auch diese auf dem Eise Fuß gefaßt und das Ziehen und Schieben von Neuem beginnt. Und so geht es mit dem sich bäumenden Fahrzeuge in wilden gefährlichen Sprüngen fort und fort, von Scholle zu Scholle durch das aufschäumende Wasser, umsaust vom Sturme und Schneegestöber.
Da – ein Aufschrei: der eine Vordermann ist verschwunden. Doch nein – nicht ganz; festgeklammert hält er sich am Rande des Kahnes, aber bis an die Brust ist er eingesunken in das eisige Element: seinen prüfenden Blick und Fuß täuschte eine tückische Scholle, die, unter seinem Sprunge zersplitternd, ihn in die Tiefe zog; wenn er losließ, war er verloren, verschwand er sofort unter den Eismassen, so aber schwingt er sich mit Hülfe der Insassen, triefend und vor Frost zitternd, über Bord, wo er sich durch einen Schluck aus der „Buttel“ erwärmt.
Inzwischen hat die Nacht einer matten Dämmerung Platz gemacht, und endlich taucht aus dem Schneegestöber der Mastenwald des Hafens und damit das ersehnte Ziel auf. Die Landungsstellen der Ewer sind hauptsächlich die Butencajen des Binnenhafens, die Vorsetzen und der Herrengraben. Am Jonas aber und an der Gasanstalt legen je ein Dampfer an, am Jonas der aus Moorburg, an der Gasanstalt der von Hopte und Ochsenwärder. Die Milchleute dieser Oerter haben sich die beiden mächtigen Gewalten unserer Zeit, den Dampf und die Association, dienstbar gemacht, denn der Dampfer ist gemeinsames Gut.
In dem Augenblick, wo die Milchleute den Fuß an das Ufer setzen, treten sie zugleich unter die Aufsicht der städtischen Polizei, welche vermittelst eines Milchmessers eine strenge Controle über die unverfälschte Reinheit der Milch führt.
In unmittelbarer Nähe des Landungsplatzes der Milchleute steht nun, je nachdem der Landungsplatz stark frequentirt wird oder nicht, eine größere oder kleinere Wagenburg von Milchwagen; unsere Illustration zeigt diejenige des dicht hinter dem Landungsplatze an den Butencajen belegenen Rödingsmarktes. Hier beginnt nun der zweite Theil in der täglichen Lebensaufgabe des Milchmannes – die Austragung in der Stadt. Vor Allem müssen wir aber den überaus praktisch eingerichteten und das größte Lob verdienenden Milchwagen beschreiben. Gebaut ist er nach dem Princip der in Hamburg üblichen sogenannten „schottischen Karre“, der Hauptvorzug aber besteht in dem sinnreichen Transport der Milchgefäße. Der Uebelstand in anderen Städten, daß die Hausfrauen die Milch durch das Schütteln auf dem Wagen schon halb gebuttert, wenigstens aber in einem Zustande erhalten, der sie, namentlich beim Abkochen, leicht gerinnen läßt, dieser Uebelstand wird hier durch dreierlei Mittel zu vermeiden gesucht. Erstens hängen die Eimer, was sie von den Bewegungen des Wagens möglichst unabhängig macht. Zweitens ruhen die „Balkens“, an denen sie hängen, auf starken Federn, wodurch die Stöße des Wagens noch mehr gemildert werden. Drittens schwimmen auf der Oberfläche der Milch im Eimer entweder kleine, zolldicke, hölzerne Schalen oder die sogenannten Briken, runde, dünne Bretter mit einem Loch in der Mitte (um die Ausdünstung der noch warmen Milch heraus zu lassen), welche die starke Bewegung der Milch innerhalb des Eimers verhüten, und damit ist also Alles geschehen, was dem Transporte die größte Ruhe sichern kann.
Die Eimer, aus Holz und roth angestrichen – wie überhaupt bei allen Hamburger Milchgeräthen die rothe Farbe vorherrscht – zerfallen in drei Classen: die sogenannten „breeten Eimers“ (zweiunddreißig bis vierzig Liter), die „spitzen Eimers“ (acht bis zwölf Liter) und die „Rahmeimers“ (zwei bis fünf Liter). Dazu kommen noch die „Buttels“ oder Flaschen nur für die Sahne, welche an einem Haken, der zugleich den Henkel repräsentirt, in den Rand der Eimer eingehängt werden. Am Wagen befinden sich zwei eiserne Stäbe, die „Arms“, in welchen die „Tracht“ ruht, ein gebogenes in der Mitte nach den Schultern und Nacken modellirtes Holz, von dessen messingbeschlagenen Enden Ketten mit Haken herabhängen, ähnlich wie solche Trachten in verschiedenen
[425][426] Gebieten Deutschlands vom Gesinde namentlich zum Transporte des Wassers benutzt werden. Der Milchmann faßt nun mit seinem Wagen an einer bestimmten Ecke seiner Straße Posto, und trägt dann die Milch in den Häusern umher. Diese Vertheilung treppauf und treppab nimmt die Zeit bis gegen Nachmittag – ungefähr um drei Uhr – in Anspruch, wo die Milchleute wieder an ihrem Landungsplatze eintreffen, ihre Wagenburg zusammenfahren und nun das Reinigen der Milcheimer beginnen; dies geschieht vermittelst einer spitzen, aber runden (der Eimerform angepaßten) Bürste, welche sie in dem auf dem Milchwagen angebrachten Kasten verwahren, und durch heißes Wasser, welches sie aus der Nähe – z. B. auf dem dargestellten „Rödingsmarkte“ aus einer naheliegenden Brauerei – beziehen. Ist auch dies vorüber, so geht es mit leeren Eimern und vollem Geldbeutel auf den Heimweg.
Neben die im Vorstehenden geschilderte Herbeischaffung der Milch tritt nun noch die durch größere Wagen, welche mit einem Pferde bespannt sind, wie sich ein solcher im Hintergrunde unsrer Illustration zeigt. Sie sind, nur in größeren Dimensionen, ähnlich wie die Handmilchwagen construirt, und bringen diejenige Milch, welche das unmittelbar angrenzende Landgebiet producirt, zur Stadt. Die hauptsächliche Ausnahme hiervon macht die Insel Wilhelmsburg, welche ihre Milch nicht durch Ewer, sondern durch Hand- und Pferdewagen herübersendet, weil sie an der Stelle, wo einst Napoleon die bekannte lange Holzbrücke über Elbe und Insel bauen ließ, durch eine Dampffähre mit dem Hamburger Ufer verbunden ist. Daß die Zufuhr auch noch auf dem Schienenwege stattfindet, versteht sich von selbst.
Zu derselben frühen Morgenstunde, wo draußen in der Landschaft ringsum die Kühe ihre tägliche städtische Abgabe entrichten, sind die Backstuben der Stadt in emsiger Thätigkeit, um den dritten Hauptfactor des Frühstücks, das Weißgebäck, und darunter namentlich das populäre „Rundstück“, fertig zu stellen.
Hat die Waare den Backofen verlassen, so geht sie aus den Händen des Bäckers in die eines Commissionärs, des Brodmannes, über, welcher, als Zwischenhändler, mit einem Profit von zwölf bis achtzehn Procent das Austragen derselben besorgt.
Gewinnen wir es einmal über uns, an einem Wintermorgen recht früh, etwa von halb fünf Uhr ab uns den Federn zu entreißen, um auf die dunkle Straße hinabzusteigen, so werden wir nach kurzer Zeit in der Ferne ein leuchtendes Johanniswürmchen erblicken. „Ein Johanniswürmchen am Wintermorgen?!“ wird der Leser fragen. Nun ja, gewiß würde er gleich uns auf dasselbe Bild verfallen, wenn er jetzt in einiger Entfernung einen kleinen Lichtpunkt durch Nacht und Nebel näherschweben und verschwinden, gleich darauf mehrere ähnliche an verschiedenen Stellen auftauchen, verglimmen und wieder erscheinen sähe. Wir gehen einem solchen Lichtpunkte nach und erkennen schon aus der Ferne am Schritt, daß dem Johanniswürmchen jedenfalls massive Beine eigen sind, zu denen sich beim Näherkommen die übrige Zuthat zu einem Manne gesellt, der eine kleine runde Blendlaterne am Gürtel und einen mit einem Tuche bedeckten Korb auf der Schulter trägt, welcher mit Weißgebäck angefüllt ist. Es ist der Brodmann, den wir jetzt auf seinem Gange begleiten wollen.
Ehe wir dies aber thun, müssen wir zur Erklärung seiner weiteren Thätigkeit eine Bemerkung vorausschicken. Wenn ein Fremder des Abends, und zwar zu einer Zeit, wo der Gerechte sich schon eines gesunden Schlafes erfreut, zum ersten Male in Hamburg seine Treppe hinaufsteigt, wird er mit Erstaunen bemerken, daß eine wunderbare Sammlung von Körben und Körbchen, Säcken und Säckchen, alten und neuen Handtaschen u. dergl. m. in je einem Exemplare an der äußeren Klinke der Vorsaalthüren auf den Treppengang hinausgehängt ist. Für den ersten Moment sieht es fast aus, als wäre das ganze Haus von einem Drange nach Almosen befallen worden und wollte denselben nun in verschämter Weise unter dem Schatten der Nacht befriedigen, indem es dem müden Wanderer Gelegenheit für ein Scherflein biete. Die Bedeutung dieser Einrichtung wird uns aber klar, wenn wir nun mit dem Brodmann die Stufen zum erhöhten Parterre hinaufsteigen. Hier wiegt sich ein zierlich geflochtenes Körbchen coquett an der Thürklinke; der Brodmann öffnet den Deckel und zählt aus seinem Korbe die ihm wohlbekannte Anzahl von Rundstücken hinein. Damit ist seine Aufgabe aber noch keineswegs ganz erfüllt, denn neben seinem eigentlichen Berufe vertritt er noch allenthalben die Stelle einer Weckuhr, sowohl für das dienende Hauspersonal wie für alle diejenigen, welche frühzeitig an Arbeit und Geschäft müssen – eine Dienstleistung, für welche man sich dann auch zu Weihnachten erkenntlich zu erweisen pflegt.
Nachdem der Brodmann also scharf an der Klingel gezogen, steigen wir zur ersten Etage hinauf, wo ein umfangreicher leinener Sack die Waare aufnimmt. Da aber hier das Fenster der dienenden Geister nach dem Gange heraus liegt, so ändert sich die Technik des Weckens: mit den Knöcheln wird ein kräftiger Wirbel executirt – noch einer – ein dritter – dann wird der Korb geschultert, und es geht weiter in die zweite Etage hinauf. Hier klammert sich eine alte Handtasche nur mit einem Henkel an die Thürklinke, während der andere, halb abgerissen, über die Fettflecke herunterhängt, welche das Antlitz eines in Wolle gestickten, aber vom Zahn der Zeit benagten Schooßhundes verunzieren. Auch diese invalide Tasche erhält ihr tägliches Brod; dagegen – das weiß unser Brodmann ganz genau – hat er es hier mit einem hartnäckigen Kunden zu thun; um den zu erwecken, genügen ein paar Trommelwirbel nicht, und er sieht sich daher genöthigt, zum Radetzkymarsch überzugehen, bis ein unarticulirtes Stöhnen von drinnen das Erwachen der Lebensgeister documentirt. In der dritten Etage verändert sich die Situation insofern, als an Stelle des hängenden Behälters ein altes verbogenes Kaffeebrett tritt, welches auf der Treppenflur steht. Ist einmal das Hinaushängen oder Hinausstellen eines jener Geräthe am Abend zuvor vergessen worden, so macht der Brodmann kurzen Proceß und placirt die Waare wohlabgezählt einfach auf die Treppe, mit welcher Möglichkeit wir jedoch Niemandem, der in Hamburg Frühstück einnimmt, den Appetit zu verderben beabsichtigen.
Freilich kommt es auch ab und zu vor, daß bei dieser patriarchalischen Vertheilung des Weißgebäcks ein Semmelmarder sich in’s Haus schleicht, doch ist dies bei weitem nicht so häufig der Fall, wie man der Leichtigkeit der Ausführung gegenüber annehmen sollte; es sind doch meist nur arme Teufel, welche auf der tiefsten Stufe volkswirthschaftlicher Bildung stehen und von der Occupation leben, denn an eine Verwerthung des Gestohlenen ist ja nicht zu denken, da Semmeln weder an der Börse noch beim Hehler Cours haben.
Mit der Vertheilung des Weißgebäcks ist dem Hamburger nun auch der dritte Factor seines Frühstücks übermittelt – wenn er aber frühstückt, wenn er die Sahne in den duftenden Kaffee gießt und die Zeitung zur Hand nimmt, denkt er wohl schwerlich daran, welche Summe von Arbeitskräften und Apparaten thätig war, ihm diesen Frühstückstisch zu serviren, während er selbst noch in süßem Schlummer lag.
Strauß als Selbstbiograph und Dichter. Als David Friedrich Strauß vor nunmehr drei Jahren gestorben war, haben wir in ausführlicheren Schilderungen auf die eingreifende geschichtliche Bedeutung des großen Kritikers und Schriftstellers mit dem Bemerken zurückgewiesen, daß der Inhalt dieses Lebens noch nicht voll und allseitig zu überblicken, das ganze Verständniß seiner inneren Zusammenhänge und äußeren Geschicke durch die vorhandenen biographischen Ermittelungen noch keineswegs erschlossen sei. Unser in drangvoller Hast vorwärts treibendes Jahrhundert stürmt sonst mit erschreckender Schnelligkeit über die Gräber seiner verdienten Todten hinweg. Dennoch hat es in seinem Verlaufe Persönlichkeiten sterben sehen, deren Wirken ein so mächtig breiter Strom von Licht und Wärme entflossen ist, daß selbst diese eilige und leicht vergessende Zeit den Blick nicht wieder von ihnen abzuwenden vermag. Wie die längst entschwundenen Gestalten eines Lessing, eines Goethe und Schiller bis heut ein Gegenstand unablässigen Forschens und Sinnens geblieben sind und es in aller Zukunft auch bleiben werden, so ist auch die Nachwelt mit dem Bilde eines Strauß nicht in jenem bewegten Momente fertig geworden, als trauernde Liebe und Bewunderung seinem frischen Grabe den reichsten Lorbeerschmuck gespendet hatte. In der That sind denn auch seit seinem Tode manche tiefere Urtheile über ihn, manche interessante Aufschlüsse und Ergänzungen zu seiner Lebensgeschichte veröffentlicht worden, aber das Beste und Bemerkenswertheste in dieser Hinsicht ist doch von ihm selbst gekommen. Es hat der Todte über seine Person und sein Wirken zu den Ueberlebenden gesprochen.
[427] Schlägt man den ersten Band der jetzt endlich (bei Emil Strauß in Bonn) erscheinenden Ausgabe der Strauß'schen „Gesammelten Schriften“ auf, so findet man als erste Gabe dieser vortrefflich geleiteten Sammlung unter dem Titel „Literarische Denkwürdigkeiten“ eine fortlaufende Reihe bisher ganz unbekannt gebliebener Aufzeichnungen, die sich im Nachlasse des Autors vorgefunden haben. Es sind dies tagebuchartig niedergeschriebene Rückblicke und Selbstbekenntnisse, die Strauß leider etwas spät begonnen und zu frühe wieder abgebrochen hat. Ein Bruchstück also, aber voll anziehendsten Reizes, ungemein werthvoll durch bedeutsamen Inhalt und liebenswürdige Form, überraschend vor Allem durch die gänzlich unbefangene Gegenständlichkeit, mit welcher der große Charakterzeichner hier die Kräfte und Schwächen des eigenen Selbst beleuchtet, als ob er von einem Andern spräche. So klar und scharf, mit so viel psychologischem Tiefblick und unbeugsamem Wahrheitssinn, zugleich aber auch mit einer so anmuthig-ruhigen Heiterkeit hat kaum jemals ein hervorragender Schriftsteller sich Rechenschaft gegeben über die Art, den Werth und die Grenzen seines Schaffens und seiner Leistungen. War das der kalte Verstandesmensch, in welchem, nach der Behauptung der Gegner und nach der Ansicht oberflächlicher Freunde, das Herz keine Stimme, das Reich des Gemüthslebens keine Geltung hatte? Es ist ja richtig, daß Strauß in seinem Kampfe gegen die Theologie eine unerbittliche Schonungslosigkeit wider Ideale der überlieferten Gefühlswelt offenbarte, die Vielen theuer sind, die er jedoch als unechte und schädliche, als Hindernisse der menschlichen Entwickelung erkannte. Trotzdem hatten Tieferblickende längst geahnt, Näherstehende längst gewußt, daß auf dem Grunde dieser gewaltigen Verneinungskraft ein durchaus dichterisches Anschauen und Empfinden lebte, der Adel und Schwung eines künstlerisch beseelten Gemüthes, das nicht blos gelegentlich hervorbrach, sondern das Ganze der unter seinem Einflusse entstandenen Schöpfungen mit seinem warmen und reinen Athem durchhauchte. Und das ist es, was Strauß aus nun endlich selber in seiner bescheidenen Weise gesagt hat; ein wesentlicher Theil von dem Geheimniß seiner machtvollen Wirkungen ist dadurch nachträglich erklärt und enthüllt worden, enthüllt namentlich für alle diejenigen, bei denen kein Zweifel besteht, daß jenes „Stück von einem Poeten“ in ihm seiner wissenschaftlichen Forschung nur das schmelzende Feuer, den Glanz der Farbe und schönen Gestaltung verliehen, aber die mannhafte Entschiedenheit ihrer Beweiskraft in keiner Weise verdunkelt hat.
Wie Strauß in der ganzen Reihe seiner Werke niemals mit seiner gehobenen Stimmung, mit der zartbesaiteten Feinfühligkeit seiner unerschrockenen Kampfnatur ein gefallsüchtiges, auf weichliches Empfinden berechnetes Spiel getrieben, so auch nicht in der bezeichneten Selbstbeichte. Viel directer aber als aus den meisten seiner übrigen Schriften weht uns aus den Mittheilungen und dem schlichten Tone dieses kurzen Tagebuches die liebreiche Wärme des innersten Seelenlebens entgegen, welchem so schneidige Geistesthaten entsprossen sind. Dennoch würden uns die „Denkwürdigkeiten“ allein das Bild des Menschen noch nicht mit voller Lebendigkeit erschließen, wenn sie nicht eine Ergänzung und Bestätigung in einer gleichzeitig erschienenen Anzahl von Dichtungen gefunden hätten, die der Sohn aus dem Nachlasse des verewigten Vaters nur für die Freunde desselben hat drucken lassen. Man wußte ja schon, daß Strauß bei äußeren und inneren Anlässen gehaltreiche und schön geformte Verse mit Leichtigkeit auf das Papier zu werfen vermochte. Unbekannt dagegen war es bisher, daß nicht blos diese Gabe, sondern auch das Bedürfnis lyrischen Gefühlsausdruckes ihn durch sein ganzes Dasein begleitet, daß er fort und fort sein geheimstes Empfinden, alle verdüsterten, wie alle muthvollen und heiteren Stimmungen einsamer Stunden im Wohlklange dichterischer Ergüsse auszuhauchen suchte. Erst das „Poetische Gedenkbuch“ giebt uns in Betreff dieser Seite wahrhaft überraschenden Aufschluß; es ist wirklich ein duftiger Kranz kostbarer Blüthen und Blumen aus der verborgenen Seelengeschichte eines bedeutsamen Geisteshelden. Durch keines seiner Producte ist Strauß dem Gemüthsleben der Nachwelt so nahe gerückt worden, wie durch diese Auswahl seiner Gedichte, und aufrichtig muß es bedauert werden, daß das Buch noch nicht in weitere Kreise des gebildeten Publicums zu dringen vermag. Wer es gelesen hat, der wird auch überzeugt sein, wie hoch der „große Ketzer“ an erhabener Tugend und Liebe über den schwarzen Troß jener sogenannten „Frommen“ emporragte, der seinen Namen bis zum heutigen Tage gern in den Staub ziehen und der Lästerung der Unwissenden preisgeben möchte.
Für Mütter. Wichtige Kleinigkeiten. 1. Junge Mütter befinden sich manchmal in recht beklagenswerther Lage. Erfreut steht so eine junge Mutter am Bettchen des erst wenige Wochen alten Erstgeborenen und erquickt sich an dem kräftigen Brusttone, dessen Stärke die künftige Tenorgröße vorausahnen läßt; da ruft plötzlich entrüstet eine bejahrte Nachbarin: „Aber wie können Sie nur das Kind so brüllen lassen? Es schreit sich ja binnen Kurzem einen Bruch.“ Sie sucht nun das Kind zu beschwichtigen, bis zufällig eine andere Helferin dazu kommt, welche auch viel erlebt hat. Diese meint nun, das Kind müsse sich ausschreien, damit die Brust sich weite; denn dies schütze vor Brustkrankheiten. – Wie soll die unerfahrene junge Mutter sich diesen beiden Rathgeberinnen gegenüber verhalten? Selbstverständlich ist ein Mittelweg einzuschlagen, im Princip aber gesellen wir uns der letzten Ansicht bei. Die Lungen liegen vor der Geburt zusammengefallen, luftleer im Brustkasten, und erst durch die kräftigen Hebungen des Brustkorbes von Seiten des Neugeborenen erfüllen sich die Lungenbläschen mit Luft. Je schwächer und stiller das Kind, desto flachere Athemzüge sind die Folgen; hierdurch wird nicht nur die Luft in den untersten Lungengebieten, die sogenannte Reserveluft, weniger erneuert und so dem Körper eine geringere Menge Sauerstoff zugeführt, sondern auch die Muskeln des Brustkorbes, dieser selbst und im Anschluß daran die Lungen an eine kleinere Ausdehnung gewöhnt. Dieser Mangel an Tiefathmen kann allerdings in schweren Fällen, vorzüglich später bei dem Durchbrechen der Zähne, Lungenerkrankungen begünstigen.
Das Schreien ist in der ersten Kindheit die beste und einfachste Athmungsgymnastik. Es wird dabei sowohl straff und tief eingeathmet, andererseits aber auch kräftig ausgeathmet, wodurch gerade der ausgiebigste Luftwechsel in den Lungen stattfindet. Die Furcht vor Brüchen ist vielfach übertrieben worden. Wohl entstehen nicht selten durch starken anhaltenden Husten Brüche, durch das Schreien aber nur dann, wenn eine sehr erhebliche Anlage, besonders am Nabel, vorhanden ist. Bemerkt man nun, daß der Nabel Neigung zum Vorwölben besitzt, so greife man nicht zu dem bekannten Hebammenmittel, eine halbe Muskatnuß in den Bruch hinein zu drücken weil hierdurch die Bruchpforte erweitert und am Verkleinern verhindert wird, sondern befestige mittelst breiter Heftpflasterstreifen ein in Heftpflaster gewickeltes Stück Pappe (von der Größe eines Zweimarkstückes) über dem Nabel, was am schnellsten die Heilung herbeiführt. –
2. Welche Folgen durch kleine vorher nicht beachtete Umstände verursacht werden können, zeigt der nachstehende traurige Fall. Ein kleines Kind soll gebadet werden und das Dienstmädchen gießt zu diesem Zwecke kochendes Wasser in die Badewanne. Während es nun hinausgeht, um kaltes Wasser zum Vermischen zu holen, hat der etwas größere Bruder den Rand der Wanne erklettert und fällt rückwärts in das siedende Wasser hinein; nach wenigen Tagen war der Arme seinen Brandwunden erlegen. Dieser schreckliche Ausgang ist ein klarer Beweis, eine wie peinliche Sorgfalt in der Kinderstube beobachtet werden muß, der Bedienung aber ist vor Allem streng einzuschärfen, das kalte Wasser stets vor dem warmen in die Wanne zu gießen.
Die Madonna in der Schnapsflasche. Ohne sich wegen der bedenklichen Gegenüberstellung mit den in Flaschen eingesperrten Teufelchen zu geniren, begann man vor einigen Wochen in der Gaismühle bei Gappenach, die Madonna in einer Flasche zu schauen, die mit Marpinger Wunderwasser gefüllt war, nachdem sie vorher vielleicht Schnaps, Bier oder andere profane Getränke beherbergt hatte. Der Polizei gelang es, die Flasche, natürlich ohne ihren Esprit, dingfest zu machen, aber die Madonna erschien nunmehr in einer Flasche zu Mühlheim an der Mosel und an drei oder vier benachbarten Orten der von Marpingen aus inficirten Gegend, ein Beweis dafür, in wie hohem Grade ansteckend derartige geistige Seuchen sind. Die Procedur war überall dieselbe. Man stellte die mit Marpinger Wasser gefüllte Wunderbouteille, von Lichtern und Blumen umgeben auf einen erhöhten Platz, einen Kaminsims oder Schrank, bildete einen Halbkreis davor und sang so lange Madonnenlieder, bis irgend eine Muhme, vielleicht in ihrem eigenen werthen Conterfei, welches der Zerrspiegel zu einer Bohnenscheuche verlängert hatte, die Himmelskönigin zu erkennen glaubte und ihre Mitschwestern unschwer von der Erscheinung überzeugte. Natürlich entstand überall ein starker Andrang der allezeit wundersüchtigen Menge, als wolle sie die „Wallfahrt zur göttlichen Flasche“, welche der stets lustige Pfarrer von Meudon vor viertehalb Jahrhunderten so drollig beschrieben hat, von Neuem in Scene setzen. In solchen Dingen besitzt die Menschheit einen wunderbar sich gleichbleibenden Instinct. Wie unsere Vorfahren aus dem Wasserspiegel der Quellen die zukünftigen Dinge prophezeiten, wie Dschemschid in seinem Becher Alles sah und Numa im Wasserbecken die Geister erscheinen ließ, so auch noch heute. Freilich schauen jetzt die alten Muhmen, was sonst nur einer reinen Jungfrau oder einem Junggesellen zu schauen möglich sein sollte.
Man wird lebhaft an die Marpinger Zauberflasche erinnert, wenn man das von Rimuald mitgetheilte Verfahren seiner Zeit, Spitzbuben im Weihwasser zu entdecken, liest. Die mit den angedeuteten moralischen Vorzügen ausgestattete junge Person füllte eine Flasche mit Weihwasser, stellte eine geweihete Kerze daneben und sprach: „Weißer Engel, heiliger Engel, ich beschwöre Dich bei meiner Reinheit und Deiner Heiligkeit, zeige mir den Dieb!“ Alsdann sollte das Conterfei des Diebes in der Flasche erscheinen, und die Seherin mußte ihn sehen, wenn ihr eigener guter Ruf nicht darüber in die Brüche gehen sollte. Es ist ganz dasselbe, wenn man der blinden Polizei heute erwiderte: Ihr seht die Madonna in der Flasche nicht, weil Ihr nicht den reinen, keuschen Glauben habt, und Ihr werdet sie nicht sehen, wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder. Man suchte sonst Kinder zu diesem Experimente aus, weil es ihrer beweglichen Phantasie leicht wird, in dem unbestimmten Zerrspiegel einer zitternden Flüssigkeit Alles zu sehen, was sie sehen sollen oder wollen. Der Herzog von Saint-Simon erzählt in seinen Memoiren, wie ein Magier einem jungen Mädchen das Schicksal des Herzogs von Orleans in einem Glase mit Wasser zeigte, und Cagliostro bediente sich eines ähnlichen Verfahrens häufig. Der Graf Laborde beobachtete dieselbe Procedur in Aegypten, nur daß man hier einem Knaben etwas Tinte in die Hand goß, um als Zukunftsspiegel zu dienen. So treibt der älteste Zauberspuk unter dem Schutze wohlgenährter Frömmigkeit unabänderlich aus der alten Wurzel immer neue Triebe. Beinahe hätten auch die Freunde des Fortschrittes Ursache, zur göttlichen Flasche zu wallfahrten, bei der Rabelais den besten Trost fand und aus deren Bauche das Wunderwort: „Trincq!“ erklang, über dessen Bedeutung man das fünfundvierzigste Capitel im Pantagruel nachlesen mag.
Spital-Kästen („Hospital-Boxes“) sind eine amerikanische Einrichtung, und eine solche, welche dem amerikanischen Herzen alle Ehre macht. Sie hat vorerst nur in New-York Eingang gefunden. Die meisten Geschäftsleute daselbst wohnen außerhalb der Stadt, viele in den umliegenden Städten, noch mehrere auf dem Lande und nicht wenige eine ganze Zahl von Meilen entfernt. Um nach New-York zu gelangen, müssen sie die Fährboote, die Straßeneisenbahnen, oder die Eisenbahn per Locomotive gebrauchen, und um die auf diesen Verkehrsmitteln zuzubringende Zeit
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nützlich zu verwenden und zu verkürzen, wird sie der Lectüre der New-Yorker Morgenblätter gewidmet, welche in frühester Frühe schon weit im Lande an die Zeitungsagenten vertheilt sind und von Zeitungsjungen an den Eisenbahnstationen, in den Pferdeeisenbahnwagen und auf den Dampffähren feilgeboten werden. Kommen die Passagiere in New-York an, dann ist gewöhnlich das Blatt gelesen, und Jeder geht seinem Geschäft nach. Die Zeitung ist vergessen und wird weggeworfen oder liegen gelassen.
Medicin-Schwindel. Von gut unterrichteter Seite geht uns folgende Mittheilung zur Veröffentlichung zu.
„Inwieweit die Wunder von Lourdes in Frankreich und die von Marpingen am Rheine die Welt in Aufregung versetzt haben, ist bekannt. Daß aber auch bei uns der Aberglaube noch herrscht, davon ein Beispiel im Folgenden.
Seit Jahresfrist leide ich an Nervenentzündung. Ich habe schon mehrere Aerzte, Badecuren und dergleichen gebraucht, bin aber noch nicht vollständig curirt. Da wird mir der Wunderdoctor Springer (Schuhmacher von Profession) in Gohlis empfohlen. Ein Feind von Wunderärzten, gehe ich doch darauf ein, mich untersuchen zu lassen, aber nur, um meine Rathgeber zu überführen, inwieweit es solche ‚Leute‘ verstehen, den ‚Dummen‘ das Geld aus der Tasche zu locken. Ich fahre also nach Gohlis, komme früh zehn Uhr in des Schuster-Arztes Wohnung und bin erstaunt, schon fünfundzwanzig bis dreißig Menschen dort zu treffen. Auf mein Befragen wird mir vom Portier (einem Hülfsbahnwärter der thüringischen Eisenbahn) mitgetheilt, daß ich heute nicht vorgelassen werden könne, auch mein Morgenwasser (Urin) mitzubringen habe. Ich fahre also zurück nach Leipzig, theile das Wasser, welches ich schon bei mir hatte, in zwei Hälften und schicke einen Boten mit der einen Hälfte nach Gohlis, mit der Anweisung, es untersuchen zu lassen, ohne meinen Namen zu nennen. Der Bote wird richtig noch vorgelassen und bringt mir den Bescheid, der betreffende Herr wäre sehr krank; er leide an Brust- und Magenschmerzen und möchte das beifolgende Recept ja machen lassen, sonst müßte er bald sterben. Daß ich laut auflachte, können Sie sich wohl denken.
Den andern Tag fahre ich wieder nach Gohlis und bin um acht Uhr morgens in der Wohnung unseres Aesculaps. Schon sind wieder achtzehn bis zwanzig Menschen da, und auf mein Befragen, ob es alle Tage so voll ist, wird mir mit ‚Ja‘ geantwortet. Nicht gewillt, diesmal wieder ohne Resultat zu gehen, bin ich so glücklich, nach Verabfolgung eines Trinkgeldes an den Portier bald vorgelassen zu werden.
Ich trete ein, reiche dem Wunderdoctor mein Fläschchen und bitte ihn es zu untersuchen. Auf seine Frage, was mir fehlt, antworte ich ihm, mir fehlt es überall. Darauf sieht er durch das Fläschchen, schüttelt den Kopf, geht mit der Hand am Kinn einige Male durch das Zimmer, setzt sich hin, schlägt ein Buch auf, schreibt ein Recept und giebt mir Bescheid mit den Worten:
‚Ei, ei, Sie sind schwer krank, schon zwei Jahre; Sie haben bald keine Leber mehr; es ist die höchste Zeit, daß Sie mich besucht haben; jetzt kann ich Ihnen noch helfen.‘
Ich hätte ihm können in’s Gesicht lachen.
Daß ich die zwei Recepte nicht auf die Apotheke getragen, ist wohl selbstverständlich. Die ganze Geschichte kostet mich trotzdem fünf Mark. Wohlweislich verlangt der kluge Mann der Wissenschaft nichts, sondern ‚nach Belieben‘. – Ich, der ich nervenkrank bin, werde zuerst für brust- und magenkrank und dann für leberkrank erklärt. Sie sehen daraus, wie weit man in Gohlis den Schwindel treibt.
Vielleicht werden diese Zeilen dazu beitragen, manchen Kranken von diesem ‚Wunderdoctor‘ fern zu halten.“
Es war ein Fest im Elysee.
Eins jener goldenen Feste;
Ein Blumengarten ist der Palast,
Und zahllos sind seine Gäste.
An einer Marmorsäule lehnt
Ein Mann und blickt in den Reigen;
Er ist von Huldigungen müd’;
Er möchte ruhn und schweigen.
Er schaut in eine andre Welt
Als die von Sammt und Seide –
Es steht ein Nußbaum mitten im Feld,
Bei Wörth auf der grünen Haide.[2]
Dort lehnte er einst im Pulverdampf
Und hat alle Himmel beschworen;
Dort hat er geleitet die riesige Schlacht
Und die riesige Schlacht – verloren.
Die Sage von Frankreichs Waffenruhm
Ward dort zu Grabe getragen;
Dort unter dem Nußbaum ward Mac Mahon
Zum ersten Male geschlagen.
Er lehnt an der Säule – o, wie sie all’
Dem wogenden Reigen lauschen!
Er aber hört nur den Donnerschall
Und den duftigen Nußbaum rauschen.
Rings über die Länder sinkt die Nacht,
Und still ist’s über den Welten.
Da steigt die Stimme der Völker empor
Zu den ewigen Sternenzelten:
„Jehova, Allah, dreieiniger Gott –“
So flehen die Millionen,
„Gieb uns das Leben gieb uns den Sieg,
O, laß uns herrschen und thronen!“
So ruft der Beduine empor
In der grünen heißen Oase;
Es schlummert sein Weib; es weidet sein Roß
Im glühenden Wüstengrase.
So tönt es am eisigen Jenisei
Ueber die Steppen, die fernen;
Es hallt wie ein uralter Schmerzensschrei
Empor zu den uralten Sternen.
Und der Schrei verhallt in der nächtigen Luft –
Es beten die Enkel und Ahnen;
Doch schweigend zieht der Weltgeist dahin
Die großen ewigen Bahnen.
Was ist die Erde – ob sie erblüht,
Ob sie in Nichts versunken?
Ein Tropfen im wogenden Weltenmeer,
Ein Staub, ein Atom, ein Funken!
„Jehova, Allah, dreieiniger Gott,
Hör’ unser Beten und Mahnen –“
Doch schweigend wandelt der Weltgeist dahin,
Die großen ewigen Bahnen.
- ↑ Der Verfasser ist der in den Gabun- und Ogowe-Ländern Westafrikas wohlbekannte Reisende, der einzige weiße Mann, welcher nachweislich das Glück hatte, eigenhändig Gorillas zu erlegen. Der kühne Waidmann ist schon vor einigen Monaten wieder nach Westafrika auf seine Jagdgründe zurückgegangen D. Red.
- ↑ Auf dem hochgelegenen Felde bei Wörth steht ein Nußbaum, unter welchem Mac Mahon mit seinem Stabe das Treffen bei Wörth verfolgte und leitete. Der Baum, der jetzt umfriedet und von den Besuchern vielfach verstümmelt ist, heißt noch heute „l’arbre de Mac Mahon“.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: und