Die Gartenlaube (1877)/Heft 24
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No. 24. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der Befreite sprang auf und brach in wüstes schallendes Gelächter aus. „Du bist es,“ sprach er, „der Wildling vom Himmelmoos? Hab’ schon gehört, daß Du wieder daheim bist, aber daß Du gleich in der ersten Nacht auf’s Wildpretschießen ausgehn thätst und in der Finsterniß einem alten Cameraden schier die Gurgel eindrückst, das hätt’ ich mir nicht im Traum einfallen lassen.“
„Ich geh’ nicht auf's Wildpretschießen, Fazi,“ unterbrach ihn Wildel unwillig, „und die Cameradschaft von uns Zweien ist so gering, daß sie ein Spatz auf dem Schweif wegtragen kann.“
„Geht’s aus dem Ton?“ erwiderte der Maurer, indem er seine verschobene Kleidung ordnete, welche ebenfalls in einer Lodenjacke bestand. „Hätt’ mir’s einbilden können, willst nichts mehr davon wissen, daß wir mit einander auf der Schulbank gesessen sind. Hätt’ mir’s einbilden können, daß der Apfel nicht weit vom Stamm fallen wird. Meinetwegen, schaut zu, Du und Dein Vater, alle Zwei mit einander, wie weit Ihr kommt mit Eurem Stolze, ich will’s aber nicht vergelten, und wenn etwa eine Frag’ an mich käm’, wo Du in der ersten Nacht gewesen bist, der Fazi verrath’ Dich nicht – ich hab’ Dich nit gesehn; auf das kannst Du Gift und Opperment nehmen.“
„Ich brauch’ Dich nicht,“ erwiderte Wildel, „wie und wann ich heut’ da hergekommen bin, das kann ich jedem Menschen sagen, wenn ich will; vielleicht hast Du’s nöthiger, wenn ich nicht sag’, daß ich Dir begegnet bin.“
„Meinst?“ rief Fazi giftig. „So will ich Dir gerade heraus sagen, wegen was ich Nachts unterwegs bin wie ein Vagabund – Dein übermüthiger Vater ist daran schuld. Er hat mich mir nichts Dir nichts aus der Arbeit gejagt und mich noch obendrein verschwärzt, daß mir der Meister Feierabend gegeben hat und ich brodlos geworden bin. Ich muß fort und schau’n, wo ich auswärts was verdienen kann; jetzt komm’ ich von meinem alten Vetter drinnen am Fall; ich hab’ ein Reisgeld von ihm haben wollen, aber das alte Mannl hat selber nichts als Noth und Elend. So werd’ ich halt schauen müssen, wer sonst mir ein Reisgeld borgt auf Nimmer-wieder-zahlen. Jetzt weißt Du, wie Du mit mir daran bist,“ fuhr er fort und kletterte zur Fensteröffnung empor, „jetzt will ich Dir die kalte Herberg’ allein überlassen; wir werden wohl einmal wieder zusammenkommen, wie dazumal auf der Schulbank.“
Im Augenblicke war er in’s Freie gesprungen, und sein Schritt verhallte auf dem weichen Wiesengrunde, aber als ob er zeigen wollte, daß er nichts scheue und zu scheuen habe, fing er zu singen an, und das Lied vom klugen Vogel Kukuk, der seine Eier in’s fremde Nest legt, klang lustig über Matten und Berge, die eben im ersten schwachen Morgengrauen aufzuwachen begannen.
Nachdenklich streckte sich Wildel auf das duftende Lager. Es währte geraume Zeit, bis der unangenehme Eindruck, den das plötzliche Begegnen mit Fazi auf ihn gemacht hatte, in ihm zu verschwinden begann; dann zog allmählich eine andere Gedankenreihe durch seine Seele. Er fühlte nach dem Silberringe an seinem Finger, und als trotz Betrübniß und Aufregung die ermüdete Natur ihr Recht zu fordern begann, war die Heuhütte und der Himmelmooserhof vergessen, und er saß träumend unterm Gebüsche einer schattigen Waldspitze und die Ringspenderin neben ihm.
Das Bild schwebte noch vor ihm, als er nach ein paar Stunden aus dem Schlafe auffuhr. Draußen leuchtete die Morgenfrühe in aller Klarheit. Er lachte in sich hinein, als er, die Hütte verlassend, um sich blickte und nun erst genau erkannte, welche Richtung trotz Finsterniß und Unmuth sein fliehender Fuß unwillkürlich und unwissentlich eingeschlagen hatte. Sah nicht über die Felsmauer, von der die Matte eingeschlossen war, ein steiler Grat wie das Haupt eines riesigen Wächters herein, der nach dem jungen Bergwanderer aussah, den er so oft auf der Almfahrt belauscht? Zu den Füßen desselben hinter der Mauer lag die Brünnleinsalm, von der man so weit und wunderbar in’s ganze Land hinaussah wie über eine ausgebreitete Landkarte. Dort, meinte er, wäre der richtige Platz, sich auch seine eigene Zukunft zu überschauen – die Sorgen der Nacht begannen zu verschwinden wie die Nebel, welche zerflatternd noch hier und da um die Bergkuppen hingen.
Noch hatte der Tag nicht die volle Herrschaft erlangt, als Wildel schon zu der Brünnl’-Alm hinanstieg; dieselbe bestand aus zwei stattlichen Sennhütten, zwischen welchen eine ungewöhnlich starke und klare Quelle sich aus einem Baumstamme, der als Brunnenröhre diente, in einen weiten Trog ergoß; von dort sprang und rauschte sie über den Abhang hinunter. Es war noch so früh, daß das Almvieh der kalten Nächte wegen nicht auf die Weide gelassen war; die Hütten waren noch geschlossen, und auch über denselben zeigte nirgends eine aufsteigende Rauchsäule, daß die Sennerin drinnen ihr Tagewerk bereits begonnen.
Der Bursche kam näher und klopfte an das Fenster der [396] einen Hütte; befremdet trat er etwas zurück, als statt der erwarteten bekannten eine ganz fremde Stimme antwortete und zu schelten anfing, ob man denn gar niemals Ruhe habe und wen denn schon vor Tag der Teufel auf die Brünnl’-Alm herauf geführt habe. Die Enttäuschung wurde nicht freundlicher, als der Fensterladen von innen aufgestoßen wurde und das verschlafene und verdrießliche Gesicht einer alten, zahnlosen Frau mit gerötheten Augen sichtbar wurde. Sie schien geneigt, in der angeschlagenen Tonart fortzufahren, als sie aber des jungen stattlichen Burschen gewahr wurde, ging es wie ein Sonnenstrahl über das verrunzelte Antlitz – es mochte wohl der Abglanz einer Erinnerung aus den Zeiten sein, da auch sie jung gewesen und das Pochen am Fenster ihr selber gegolten. Um Vieles freundlicher gab sie Bescheid, als Wildel, auf der Thürbank sitzend, ihr ein rasch erfundenes Märchen erzählte, daß er wegen eines Holzgeschäftes hinein müsse zum Förster am Falle und deswegen schon so früh unterwegs sei, weil er fürchtete, daß ein Anderer ihm dabei zuvorkommen möge, und als er hinzufügte, daß er über seiner Eile sogar das Frühstück versäumte und ein Gläschen kraftbittern Enzians ihm nicht unwillkommen sein würde, reichte sie ihm bald das Gewünschte und war bereit, während er die herbe Stärkung ausschlürfte, seine leicht hingeworfenen Fragen zu beantworten. Er hütete sich wohl, nach irgend Jemand zu forschen, aber er wußte seine Reden so einzurichten, daß sie unaufgefordert ihm Alles erzählte, was er zu wissen wünschte. „Du schaust doch aus wie ein gewandter Bursch,“ sagte sie und füllte ihm das Glas zum zweiten Male, „wie kannst Du so in den Tag hinein reden! Das mußt Du doch auf den ersten Blick sehen, daß eine Sennerin allein nit im Stand’ wär’, die zwei großen Almen zu regieren, und wenn Du doch in der Nachbarschaft daheim sein willst, wirst auch wissen, daß jede einem Andern gehört. Bis gestern sind wir sogar unser Drei gewesen, ich und die Steiner-Rosel und das Engerl.“
Den Hörer durchzuckte es, daß er Mühe hatte, seine Bewegung zu verbergen. „Wer?“ fragte er mit scheinbarer Gleichgültigkeit. „Das Engerl? Wer ist denn das?“
Die Alte sah ihn zweifelnd an; ihr schnell gefaßtes Zutrauen zu ihrem Gaste gerieth in’s Wanken, da er abermals solche Unkenntniß von Land und Leuten verrieth. Kopfschüttelnd nahm sie die Aufklärung hin, daß er lange Zeit fort gewesen und daheim beinahe fremd geworden. „Na, wenn Du in der Stadt und bei dem Militär gewesen bist, dann kann’s sein,“ sagte sie, „in der Stadt hat diemalen (manchmal) Einer noch viel mehr vergessen. – Wer das Engerl ist? Das Engerl ist ein armes Dirnl’, das keinen Vater und keine Mutter und auch keine Heimath hat – Vater und Mutter sind gestorben, und das Häusel, das sich der Vater, der ein Holzknecht und ein Flosser gewesen ist, selber zusammengenagelt hat in den Bergen drinnen, das hat einmal im Frühjahre eine Lahn mitgenommen, daß nur mehr der Dachfirst herausschaut aus dem Stein und dem Schutt, sie selber aber laßt sich’s nicht anfechten; sie verdient sich ihr Leben als eine richtige Magd und ist alleweil allert (lustig) wie ein Lercherl, das zum Singen in die Höh’ steigt, wenn’s auch nichts hat, was es auf der Erden zurück lassen könnt’.“
„Das muß ja ein wahres Wunder von einem Madel sein,“ entgegnete Wildel an sich haltend, „die möcht’ ich schon auch kennen lernen; sonst heißt es doch, die alten Weiberleut’ lassen an den jungen kein gutes Haar, und Du lobst sie ja über den Schellenkönig. Kann man’s nicht zu Gesicht kriegen, das Engerl?“
„Für dasmal bleibt Dir der Schnabel sauber, Du spöttischer Bub’,“ rief die Sennerin, „und wenn Du die alten Leut’ schänden willst, so laß Dich aufhenken, weil Du noch jung bist. Ich laß’ nichts kommen auf das Madel; das hat seinen Namen nit umsonst, und damit Du weißt, wie Du daran bist, will ich Dir nur Eins von ihr erzählen. Sie ist als Sennerin in der Hütten da, die ihrem Dienstbauern gehört. Die andere gehört dem Steiner von Stein, und der hat die Rosel, seine Tochter, als Almerin herauf gethan. Ich bin gestern zu Morgens heraufgekommen und hab’ zu der Rosel in Heimgarten gehn und ihr Botschaft thun wollen von ihrem Vater. Es ist gut gewesen, daß ich’s gethan hab’ – so ist ein altes Leut doch auch einmal für ’was gut gewesen.“
Der Zuhörer wandte sich der Erzählenden mit gespannter Aufmerksamkeit zu.
„Wie halt ein Unglück sein will!“ fuhr sie fort. „Da will die Rosel in ihrer Freud’ über mein’ Besuch mir einen Schmarrn kochen, geht in den Keller, versieht einen Staffel, fallt hinunter und verstaucht sich den rechten Fuß, wenn sie ihn nit etwa gar gebrochen hat. Der Fuß hat nur so hin und her geschlenkert, und sie hat sich gar nit mehr verwußt vor Wehthum und wir alle Zwei vor Sorg’ und vor Verlegenheit. Der Fuß ist aufgeschwollen und ganz roth und blau unterlaufen und das Mädel von einer Schwäche in die andere gefallen. Bis in’s Dorf sind geschlagene drei Stunden hinunter. Bis ich alte Person hinunter und der Bader und der Bauer und ein Fuhrwerk heraufgekommen wär’, hätt’ das arme Leut den halben Tag in seinen Schmerzen da liegen müssen, und am End wär’ gar der Brand dazugekommen. Was thut das Engerl? ‚Komm’ her, Rosel,‘ sagt sie, ‚bist mir alleweil eine liebe G’sellin gewesen; ich nehm’ Dich auf den Buckel und trag’ Dich hinunter.‘ ‚Was fallt Dir denn ein, Engerl?‘ hab’ ich dagegen gefragt, ‚Du bist wohl ein kräftiges Leut, aber das ist zu viel, das kannst nit ermachen.‘ ‚Mit der Gotteshilf,‘ hat sie wieder dagegen gesagt, ‚werd’ ich’s wohl ermachen können; ich hab’ wohl schon öfter eine viel schwerere Burd’ getragen, Stunden weit; drunten auf der Betbank vor dem Schauerkreuz da kann ich sie eine Weil’ hinsetzen lassen und ausschnaufen; halt’ mir nur den Daumen fest und bet’ einen Rosenkranz, daß wir glücklich hinunterkommen!‘“
Wildel hatte mit leuchtenden Augen und angehaltenem Athem zugehört. „Und sie ist wirklich fort?“ rief er. „Sie hat’s wirklich zuwegen gebracht? Aber das kannst Du ja noch nicht wissen.“
„Wohl kann ich’s wissen und wohl weiß ich’s schon,“ rief triumphirend die Alte. „Steh’ auf denselben Felsenbrocken hinauf, der am Eck von der Hütten liegt! Dort kannst gerade hinunter seh’n auf den Steinerhof. ‚Wenn ich die Rosel glücklich hinunterbring’‘, hat das Engerl gesagt, ‚‘dann steck’ ich auf dem Dach, wo das Mittagsglöckel hängt, ein weißes Tüchel an einer Stangen aus, damit Du weißt, wie Du daran bist und Dich nit umsonst abängstigst.‘“
„Und Du hast das Fahnl geseh’n? Und da wird sie wohl bald kommen und Dich wieder ablösen?“ rief Wildel erwartungsvoll.
„Na,“ entgegnete die Alte, das Glas zurück empfangend, „heute kommt sie noch nicht; heut’ muß ich schon sehen, wie ich allein zurecht komm’; wie sie die Rosel auf den Rücken genommen hat, da hat sie noch ein Stoßgebet gesagt und hat sich verlobt, sie wollt’, weil heut’ doch die Kirchweih’ ist draußen in der Rundcapellen, auch hinaus wallfahren, wenn sie’s glücklich zu Stande gebracht hätte. – Aber jetzt hab’ ich lang’ genug geschwätzt; jetzt ist es Zeit, daß ich Feuer anmach’ und nach meinen Kühen schau. Und Du wirst auch den Weg unter die Füß’ nehmen müssen, sonst kommt Dir doch ein Anderer zuvor mit Deinem Holzhandel.“
Sie verschwand am Fenster, Wilderich aber erhob sich von der Bank, warf die Joppe über die Schulter und rückte den Hut auf dem Kopfe zurecht, daß die Spielhahnfeder sich nach vorn beugte, wie es Brauch ist, wenn es gilt einen Gegner zum Ringkampfe heraus zu fordern; es war ihm auch gerade so zu Sinn: er hatte einen Entschluß gefaßt und war bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen.
Rasch und kräftig begann er den Weg zurück zu eilen, den er gekommen war.
Die Sennerin ward es gewahr und rief ihm nach: „Was thust denn, Bub’? Bist denn ganz verdreht? Dort um’s Eck geht der Weg zum Fall. Du gehst ja wieder zurück.“
Er antwortete nicht, aber er schwenkte den Hut über’m Kopfe und stieß einen langgezogenen Juhschrei aus, so frisch und hell, daß er auch den Bergen zu gefallen schien, denn weithin riefen sie ihn hallend und verhallend einander nach. –
Die Sonne hatte noch nicht lange den Gebirgsrand überschritten und ihr volles Licht auf das Flachland davor ergossen, als Wilderich schon den letzten zur Ebene führenden Abhang erreichte, von welchem die Rundcapelle in nicht großer Entfernung sichtbar war. Das Kirchlein lag, von allen Dörfern und Einödhöfen weit abgesondert, auf einem überrasten und bebüschten Vorsprung; dem Fußwanderer, der über die langgedehnte, mitunter ermüdende Hochebene herangezogen kam, bot sich von da aus der erste Anblick der Bergwelt, die zu seinen Füßen ihre vollsten Reize auszubreiten begann. Die Capelle, ein wunderlicher [397] nicht unschöner Rundbau, stand bei dem Landvolke in hohen Ehren, und die wenigen Tage, an denen sie dem Gottesdienste und damit dem Besuche sich öffnete, waren eben so viele Festtage, zu welchen Alt und Jung von Thälern und Bergen herbeigeströmt kam. Dann erhob sich an der sonst einsamen und schweigenden Capelle, deren Inneres sonst nur durch ein Gitter in der Thür zu sehen war, ein fröhlich bewegtes, laut schallendes Leben; das Portal war mit grünem Laubwerke geziert; zu beiden Seiten wurden frisch aus dem Walde geholte Fichtenbäume aufgestellt, und auf dem grünen Rasenflecke bauten sich rings um das Heiligthum allerlei Buden und Ständchen auf, um mit Rosenkränzen, bunten Kerzen und frommen Bildchen Alles zu liefern was den gläubigen Gemüthern zur Erhöhung der Andacht nöthig scheinen mochte.
Tief in Gedanken und des Weges kaum achtend, war Wildel aus dem Walde getreten; gegenüber, nur durch die vorüberführende Landstraße getrennt, sah die Kuppel der Capelle aus den Bäumen hervor, diese selbst aber liefen in eine schöne Spitze aus, die sich, wie eine Landzunge in einen See, in den Rasenabhang vorschob und dadurch nach innen eine Art grüner Bucht bildete, in welcher, vor den Winden geschützt, Unterholz und Gebüsch die hochragenden Stämme umkleidete. Da streckte die Hasel ihre breitlaubigen Gerten mit den zierlichen Nußsternchen empor; der Weinschörl prunkte mit den hochrothen Trauben, deren Gluth mit jener der reifenden Hagebutten wetteiferte, und an den Stämmen emporrankend hatte die Zaunrübe ihre zarten gefiederten Dolden gleich einem Baldachin aufgehangen.
Es war ein liebliches Bild, das sich dem Auge des frühen Wanderers darbot und ihn still stehen machte; es war die Wiederholung dessen, was er wie einen Schatz immer in und mit sich getragen; stand er doch an der nämlichen Stelle, wo er beim Abschiede von der Heimath noch einmal auf dieselbe zurückgeschaut hatte, wo es ihm zum ersten Male klar geworden, wie viel mehr, als er bisher selber geahnt, er in ihr zurücklasse, und wo an seine bis dahin freie Hand sich der erste Ring einer künftigen Kette angelegt.
Lange stand er so und schien sich zu besinnen, ob er wache oder träume.
Er hatte wohl auch Grund dazu, denn nicht nur Rasen und Bäume waren dieselben wie damals – auf den Baumwurzeln unter dem Hasel- und Berberitzen-Gesträuche saß auch wie damals eine weibliche Gestalt, den Kopf mit dem hohen, grünen, goldumschnürten Hut auf die eine Hand und den Ellenbogen auf den Baumstumpf nebenan gestützt, während die andere Hand lässig in’s Gras herunter hing.
Der Bursche hatte den Hut abgenommen und fuhr sich über die Stirn, wie um eine Blendung wegzuscheuchen, dann theilte er rasch die Gebüsche, die ihn noch von dem Mädchen trennten, und stand lautlos vor der überrascht Aufspringenden, welche ihn ebenfalls anstarrte, als habe sie einen Geist erblickt, die Büsche aber rauschten im Zusammenschlagen so laut, als freuten auch sie sich des Wiedersehens.
„Du bist es, Engerl?“ sagte Wildel nach einer Weile. „Bist es denn wirklich? Gieb doch einen Laut von Dir, daß ich’s glauben kann! Oder hat’s Dir ganz und gar die Red’ verschlagen?“
„Ich bin’s schon,“ entgegnete sie, „dabei ist nichts zu verwundern, aber wie Du daher kommst, das ist schon ein besonderer Zufall.“
„Und wenn’s kein Zufall wär’? Schau, wir sind alleweil aufrichtig gewesen mit einander – ich will’s jetzt auch sein und will’s eingestehen: ich hab’s gewußt, daß Du daher kommen wirst, ich hab’s auf der Brünnl’-Alm erfahren und bin schnurgerad’ auf das Platz’l zugegangen … jetzt sei Du auch aufrichtig und sag’ – ist es wirklich ein Zufall, daß ich Dich gerad’ an dem Platz’l find’?“
Das Mädchen senkte den Blick zu Boden und spielte erröthend mit der an ihrem Mieder hängenden Münze; es war ein altes viereckiges Schaustück, ein sogenannter Ruperti-Thaler, und der einzige Schmuck, der an dem aus geringem Silber genestelten Geschnür hing. Sie fand nicht gleich eine Erwiderung, denn es widerstrebte ihr, zu verneinen, was sie vor sich selbst nicht leugnen konnte, und doch brachte sie noch minder ein offenes Geständniß über die Lippen. Auch er schwieg einen Augenblick und war im Beschauen des Mädchens versunken, das wohl auch weniger befangene Blicke zu fesseln vermocht hätte. Obwohl groß und schlank, war sie doch so fein gebaut und gegliedert, daß sie im Ganzen eher den Eindruck des Zierlichen, als des Kräftigen machte. Die Züge des von ganz schwarzem Haar umrahmten Gesichts waren wohlgeformt, ohne eben schön zu sein, aber aus den blauen Augen schimmerte so treuherzige Güte, um die frischen Lippen spielte so harmlose Heiterkeit, daß die Anmuth reichlich ersetzte, was vielleicht an Regelmäßigkeit fehlte.
„Was schaust mich denn so an?“ sagte sie in steigender Befangenheit.
„Weil ich mich nicht satt sehen kann an Dir,“ rief er rasch entgegen. „Weil ich such’ und such’ und gar nit begreifen kann, wo Du die Stärk’ sitzen hast. Du bist so geschlacht und geschlingig, wie ein Hirschel, und ein krankes Leut drei Stunden weit auf dem Rücken über den Berg herunter tragen – das thut Dir so leicht Niemand nach.“
„So hat die alte Plauschmirl das Schwatzen doch nit gerathen können,“ sagte das Mädchen verschämt, „das hätt’ ein jedes Anderes auch gethan – das ist des Redens nit werth.“
„Das hätt’ nit jedes Andere gethan. Dazu muß Eines Dein Herz und Dein Gemüth haben, Engerl. Die Alte hat Recht, Du hast Deinen Namen wahrhaftig nit umsonst.“
„Red nit so sündhaft daher!“ unterbrach sie ihn unwillig, „sag’ lieber, wann Du wieder heimgekommen bist – ich hab’ noch gar nichts erfahren davon.“
„Gestern Abend,“ war Wildel’s beklommene Antwort.
„Gestern Abend?“ fragte sie staunend und mit einem Blicke des Vorwurfs. „Und da bist Du schon auf der Brünnl’-Alm gewesen? Bist nit einmal in der ersten Nacht daheim geblieben?“
Nun war es an dem Burschen, in Verlegenheit zu gerathen und die Augen niederzuschlagen; es war ihm doch nicht möglich, sogleich beim ersten Begegnen den wahren Grund seiner Nachtwanderung zu erzählen, und eine unwahre Ausflucht wollte ihm nicht von den Lippen. „Du weißt ja,“ sagte er endlich in sichtbarer Verlegenheit, „warum und wie oft ich den Weg gegangen bin.“
„Das weiß ich freilich,“ erwiderte sie, und der Vorwurf in ihren Zügen wurde zur Betrübniß, „aber ich hab’ gemeint, Du hättest den Wildschützen in der Stadt gelassen.“
„Das hab’ ich auch gethan,“ rief er, froh einen Anhalt zur Ableitung des Gesprächs gefunden zu haben, „aber etwas Anderes hab’ ich richtig wieder mitgebracht aus der Stadt – weißt wohl, dasselbe silberne Ringel, das Du mir aufzuheben gegeben hast.“
Sie erröthete. Das düstere Licht der Augen schwand, und lächelnd ließ sie es geschehen, daß er ihr zuerst die Hand mit dem Ringe zeigte, dann denselben abzog und ihre Hand ergriff, um ihn ihr an den Finger zu stecken. „So hast das Ringl wirklich so gut aufgehoben, wie Du versprochen hast?“ fragte sie mit leisem Beben in der Stimme. „Ist es niemals von der Hand weg oder gar an eine andre Hand gekommen?“
„So gewiß als meine Hand nit von meinem Arm ’kommen ist,“ rief er freudig. „Das Ringl war mein einzigs Vergnügen, und ich hab’ mir immer ’denkt, wenn ich einmal heimkäm’, nachher wollt’ ich Dir’s erzählen und Dich fragen, ob ich Dir’s wirklich wieder zurückgeben muß.“
„Freilich wohl,“ sagte sie leise, ohne ihm die Hand zu entziehn, „es ist schier das einzige Andenken an meine Mutter selig, aber es muß nit gleich für den Augenblick sein. Wenn Du mir’s noch weiter aufheben willst …“
„Aufheben?“ rief er entzückt; „ich möcht’ es ja am liebsten ganz behalten, den Ring und die Hand und den Arm und Alles, was dran hängt, aber ich hab’ das Herz nimmer, daß ich Dich drum bitt’.“
Sie schlug die Augen voll und fragend gegen ihn auf, aber ihr Lächeln zeigte, daß sie die Frage sich gleich selbst beantwortete und einen Scherz erwartete. „Du hättest das Herz nit, Du wilder Ding?“ fragte sie; „wie wär’ denn das gemeint?“
„Ich seh’ wohl, es geht nit anders; ich muß Dir Alles sagen,“ rief er und warf Hut und Joppe mit einer Geberde des Unwillens in’s Gras. „Einmal mußt Du’s doch erfahren. Setz’ Dich wieder nieder auf Deinen Baum! Ich leg’ mich auf den Boden und erzähl’ Dir die traurige Geschicht’.“
[398] Sie that nach seinem Begehren; er streckte sich auf den Rasen nieder und barg das Angesicht, das von der Wucht der Erinnerung wieder zu glühen anhob, wie zur Kühlung in den frischen, duftigen Halmen.
Dann begann er die Ereignisse des ersten Abends im Vaterhause zu erzählen, und immer ernster, immer trüber ward das Antlitz seiner Zuhörerin – zuletzt saß sie regungslos da, die Hände im Schooß gefaltet, und wehrte den Thränen nicht, die ihr das Auge verdunkelten.
„Schau, Engerl, ich bin alleweil gern zu Dir heimgarten gegangen,“ schloß er den traurigen Bericht, „ich hab’ immer am liebsten mit Dir geredt und hab’ selber nie so recht gewußt, warum. Wie ich Dich aber beim Fortgehn da an demselben Platze angetroffen und Dir ’b’hüt Gott’ gesagt hab’, da ist mir auf einmal ein Licht aufgegangen, wie eine Fackel oder wie ein Sonnwendfeuer so groß. Ich hab’ mir vorgenommen, es Dir zu sagen, sobald ich wieder heim käm’, und hab’ mir selber zugeschworen, Du und keine Andre müßtest mein Weib werden, und hundertmal hab’ ich mir in Gedanken die Freud’ ausgemalt, wie wir im Himmelmoos mit einander hausen wollten, nit anders wie die Engel im Himmel. Jetzt ist Alles aus; jetzt bin ich ein armer Bursch, der nichts hat, als was er sich mit der Arbeit verdient. Wie könnt’ ich Dich jetzt fragen, ob Dir auch so um’s Herz ist! Was thätst Du mir jetzt antworten auf die Frag’?“
Das Mädchen trocknete sich die Augen und erhob sich – auch er sprang empor.
„Da hast meine Antwort,“ sagte sie rasch und fest und hielt ihm, näher tretend, den Silberreif entgegen, er aber faßte die Hand und zog sie daran näher bis an seine Brust.
„Ist es denn wahr?“ rief er mit von Lust und Schmerz erschütterter Stimme. „Willst wirklich mir gehören, Engerl?“
„Ja,“ sagte sie und sah ihm mit dem vollsten Ausdruck der Liebe in’s Angesicht. „Da, nimm das Ringel, nimm und hebe mir’s auf, bis Du mir einmal die Augen zudruckst! Ja, ich will Dir gehören und mich freut’s, daß es so gekommen ist, daß ich Dir das jetzt sagen kann – jetzt kannst Du nit denken, daß es die Aussicht, eine reiche Bäurin zu werden, ist, warum ich so sag’. Ich kann Dich nit loben und nit schänden wegen dem, was Du gethan hast, aber verzagen mußt’ nit. Vielleicht laßt sich Dein Vater etwan doch noch berichten und wenn’s nit so ist, dann wird’s uns wohl so aufgesetzt sein, dann wollen wir erst recht fest zusammenhalten – nachher wird uns unser Herrgott auch nit verlassen.“
Sie konnte nicht weiter, denn unwillkürlich fanden sich die Lippen zum ersten Kusse, und von der Capelle her töne feierlich das erste Glockenzeichen wie ein Ruf des Segens und der Weihe.
Vom Waldwege wurden zugleich die Stimmen von herankommenden Wallfahrern laut und scheuchten das Paar auseinander; kaum hatten sie noch Zeit einander auf das Fest zu vertrösten, bei dem sich wohl eine Gelegenheit bieten möchte, sich wieder zu begegnen. Sie wollten thun, als hätten sie sich noch nicht gesehen, der Tanz gab ja den besten Anlaß, sich zu sprechen und zu besprechen, was weiter geschehen sollte.
Bald war der Gottesdienst in der Capelle zu Ende. Das ländliche Fest begann und verlief, wie es Jahr für Jahr verlaufen war, so lange die ältesten Leute sich zu erinnern vermochten; die Kinder schmausten Obst und Süßigkeiten und balgten sich im Grünen. Die sich wieder der zweiten Kindheit näherten, die Alten, drängten sich um den Ort, wo die Wurstkessel brodelten und dumpfe Schläge auf den Spund das Anzapfen der Bierquelle verkündeten: die glückliche Mitte zwischen beiden Lebensstufen aber, die reife Jugend, zögerte nicht, ihre Ueberkraft im Drehen, Ländern und Schuhplatteln auszutoben.
Bei den Alten hatte auch der Bauer vom Himmelmoos sich einen Platz gesucht und saß wortkarg hinter seinem steinernen Maßkruge, kaum hinhörend auf das laute Gespräch seiner Umgebung und vollauf mit den eigenen Gedanken beschäftigt – sie hingen wie Wetterwolken über den schwarzen Brauen; die Ereignisse seiner Nacht waren auf einen engern Kreis beschränkt gewesen als die seines Sohnes, aber sie waren nicht minder unruhig und hatten nicht mit einem so rosigen Morgentraume abgeschlossen. Er hatte lange in die Nacht hinein gewacht, aber was er befürchtete oder in seinem Grolle vielleicht sogar herbeiwünschte, erfolgte nicht: Alles im Hause blieb todtenstill, und zuletzt behauptete die Natur auch bei ihm ihr Recht. Er tauchte die Finger in das Weihwasserkesselchen an der Thür, bekreuzte sich und legte sich, einen Fluch zwischen den Zähnen, auf sein Lager. Manchmal regte sich allerdings etwas in ihm, was ihn mahnte, von seiner Härte nachzulassen; manchmal fand er es ganz natürlich und angenehm, daß er sich in die obere Stube zurückzöge und daß der Sohn ihm eine Schwiegertochter in’s Haus brächte, aber die Rinde um sein Herz war zu starr geworden, als daß sie solch’ sanftem Pochen gewichen wäre: um sie zu sprengen bedurfte es eines gewaltigeren Schlages. Bald fiel er daher immer wieder in den Groll und Unwillen zurück. Der Stolz seines Lebens war es, Herr zu sein auf seinem Hofe und in seinem Hause und immer bei dem zu bleiben, was er einmal ausgesprochen hatte – wenn er hinterher sich selber zugestehen mußte, daß er geirrt oder sich übereilt habe, er nahm das Gesagte nie zurück: sein Wort mußte gelten und gehalten werden, und wäre es hundertmal zu seinem Schaden gewesen. Darum ging ihm auch Judika’s letzte Rede nicht aus dem Sinne – dieselbe hatte ein altes Ereigniß wieder aufgedeckt, über dem längst Gras gewachsen war: sie hatte ihn an ein Versprechen erinnert, das er gegeben und seither vergessen hatte. Er mußte zu seiner Kränkung gestehen, bei der Kindtaufe, an welche sie ihn gemahnt, hatte er sein Wort gegeben, weil aber Niemand war, der auf die Erfüllung drang, war es unerfüllt geblieben.
Nach langem Sinnen und Brüten dünkte ihm das Beste, vor Allem jeden Anlaß zu vermeiden, der ein Gespräch über das Vorgefallene herbeiführen konnte; dazu war es das Klügste, wenn er so bald wie möglich das Haus verließ und vor Abend nicht wiederkehrte. Dadurch gewann er nicht nur Zeit, Alles nochmal zu überlegen, er konnte auch den Bräumeister noch einmal besuchen, der von der großen Eiche nichts hatte wissen wollen, weil er den Landrichter fürchtete, und war auch im Stande, gleich noch die Erkundigungen einzuziehen, deren er bedurfte, um zu einem bestimmten Entschlusse zu kommen.
Als es hell geworden und er an’s Fenster trat, gewahrte er auf den Feldwegen verschiedene Leute, die in festtäglichem Gewande thalauswärts gingen. Das Fest in der Rundcapelle fiel ihm ein und damit ein erwünschter Vorwand, seinen Vorsatz auszuführen. Bald war er angekleidet und stieg mit schweren polternden Tritten die Stiege herab – er beachtete Judika nicht, die mit einer Pfanne unter die Küchenthür trat, und blieb auf der Hausschwelle stehen. Ein gellender Pfiff auf den Fingern rief den Knecht herbei, der unfern im Stalle beschäftigt war. „Ich will ausfahren,“ sagte er zu dem näher Kommenden, „schirr’ mir den Eisenschimmel an’s Schweizerwägel an und fahr’ mir damit nach in’s Dorf hinunter! Ich geh’ voran. Schau mir darauf, daß die Arbeit geschieht, wie ich Dir’s gestern schon angeschafft hab’! Auf den Abend komm’ ich heim.“
Der Knecht entfernte sich eilig und ohne Erwiderung; Judika hatte schon lang’ auf das Erscheinen des Bauern gewartet und sich klüglich ausgedacht, wie sie die Zwiesprach mit ihm zu beginnen und den Hausfrieden wieder einzuleiten vermöge; seine rasche Entfernung vereitelte all ihre Pläne und war nur dazu angethan, die Sache zu verschlimmern. Sie trat der Thür zu, aber ehe sie ihre Anrede zu beginnen vermochte, schnitt ihr der Alte vollends den Faden ab. „Ich komm’ auf Mittag nicht heim, daß Sie’s weiß,“ polterte er sie an, „ich hab’ gar ein wichtiges Geschäft – ich muß machen, daß Sie mich nicht mehr an’s Worthalten mahnen kann und an die Kindstauf’.“
Damit war er aus dem Hause und Judika außer Stande, ihm nachzueilen; die Ueberraschung war ihr in Arme und Beine gefahren, daß Pfanne und Kochlöffel beinahe ihren Händen entfielen. „Ich muß wieder meinen Fluß in den Ohren haben,“ rief sie nach einer Weile, „oder ich hab’ mich so verhört. Das wär’ ja doch, daß man an der Wand hinauflaufen müßt’! Der Alte wird doch nicht …“
Sie vollendete nicht und rannte eilig der Küche zu. Sie mußte vor Allem versuchen, mit sich in’s Reine zu kommen, was zu thun sei, wenn die in ihr aufgeblitzte Vermuthung sich bestätigen sollte, aber nach ein paar Stunden war sie noch so weit wie zu Anfang, und die Ehhalten konnten sich nicht genug verwundern, daß das Mittagsmahl beinahe eine ganze Viertelstunde zu spät auf den Tisch kam.
Der Bauer vor seinem Kruge war in der gleichen Lage; [399] auch ihm gelang es nicht, in’s Reine zu kommen; er war sogar noch verwirrter geworden, denn er hatte vom Pfarrer, bei dem er unterwegs angehalten, die Auskunft, die er gewünscht, nicht bekommen und stand nur neuen Zweifeln gegenüber. Nur mit halbem Ohre und doch mit beistimmendem Kopfnicken hörte er aus dem Gespräche seiner Nachbarn die Geschichte, daß der alte Rieder von Ried, obwohl er schon ein guter Sechziger sei, noch einmal an’s Freien denke und das jüngste und sauberste Mädchen in seinem Dorfe zur Frau nehmen wolle. Seine Aufmerksamkeit wurde erst dann etwas mehr gefesselt, als der Steinerbauer von Stein, der auch am Tische saß, von seiner Tochter zu erzählen anfing, wie sie auf der Brünnl’-Alm’ in den Keller gefallen sei und sich am Fuß wehgethan habe. Es sei ein wahres Glück gewesen, daß die Sennerin in der andern Almhütten solch’ ein herzhaftes Leut gewesen, die Rosel auf den Rücken genommen und so in den Hof herunter getragen habe. Der Bader habe gesagt, es sei die höchste Zeit gewesen mit dem Fuß, und wenn die Rosel auf der Alm so lang hätt’ liegen müssen, bis die Botschaft herunter und die Hülf’ hinaufgekommen wär’, hätt’s leicht geschehen können, daß man den Fuß hätte abnehmen müssen. „Da drüben steht sie justament, die Prachtdirn’,“ setzte er hinzu und deutete gegen den Tanzplatz hin, wo Engerl eben mit einem Burschen vom Tanze abgetreten war und ausruhte. „Komm einmal her zu mir, Engerl!“ rief er ihr zu, „ich bring’ Dir’s – thu’ mir Bescheid! Du bist schuld, daß meine Tochter, meine Rosel, kein Krüppel ’worden ist. Das vergiß ich Dir niemals, Madel – wenn ich nur erst wüßt’, wie ich mich bedanken soll.“
Das Mädchen hatte nicht umhin gekonnt, der Aufforderung zu folgen; mit dem ihr eigenen angenehmen Lächeln, nicht gerade demüthig und doch nicht unbescheiden trat sie hinzu und trank aus dem ihr gebotenen Krug. „Gesegn’ es Dir Gott, Steiner!“ sagte sie, „und laß Dir wegen dem Bedanken kein graues Haar wachsen! Ich thät doch nichts annehmen –“
„Oho,“ entgegnete der Bauer, „da hab’ ich auch ein Wörtl mitzureden. Wenn Du jetzt auch nichts annehmen willst, dann wart’ ich, bis Du heirathest, und das wird so lang nit sein – dann führ’ ich Dir eine Kuh vor’s Haus, die schönste, die zu haben ist auf drei Stund’ in der Rund’; da darfst nachher nicht Nein sagen: darauf mußt mir die Hand geben.“
Lachend schlug sie in die ihr dargereichte Hand und gab damit das Zeichen für Alle am Tische, die ihr ebenfalls die Hand faßten und schüttelten.
Der Himmelmooser war dadurch auch aufmerksamer geworden; er warf einen flüchtigen Blick nach dem Mädchen hinüber, dieser genügte aber, ihn so zu fesseln, daß er die Augen nicht mehr von ihr abzuwenden vermochte, doch hingen dieselben weniger an der schlanken Gestalt und dem feinen Gesicht des Mädchens, als an dem Geschnür, mit welchem das Mieder geschmückt war, und an dem viereckigen Rupertithaler, der daran hing.
Plötzlich stand er auf und trat zum Staunen Aller, die sich längst über sein hartnäckiges Schweigen gewundert hatten, vor das Mädchen hin und bot ihr die Hand. „Da hast meine Hand auch,“ sagte er, „weil Du doch so eine wackere Dirn’ bist, will ich auch keine Ausnahme machen.“
Das Mädchen stand wie vom Blitz getroffen. Gluthroth stieg es ihr in’s Gesicht, und erst nach einer Weile bekam sie Fassung und Athem genug, um antworten zu können – eh’ sie ein Wort hervorbrachte, fuhr der Bauer fort. „Brauchst nit zu erschrecken, Madel,“ sagte er, „wirst wohl auch gehört haben, daß der alte Himmelmooser ein unbändiger grober Ding ist, es ist aber nit so arg, als die Leut’ es machen – brauchst Dich nit zu fürchten vor mir.“
Engerl schlug unbefangen die blauen Augen gegen ihn auf. Ihr Innerstes erbebte vor der Wunderbarkeit der Begegnung, welche sie so plötzlich dem Vater des Geliebten gegenüber stellte – kurze Zeit nachdem sie erfahren, wie feindselig er gegen denselben gesinnt war und warum – und obendrein in einer Weise, die diesem Alten so gänzlich widersprach, und ihn eher als freundlich und wohlwollend erscheinen ließ. Dennoch faßte sie sich und erwiderte gelassen: „Ich fürcht’ Euch nicht, Himmelmooser. Ich hab’ Euch ja nichts zu leide gethan, und wenn Jemand mit mir anbinden will ohne Ursach’, dann hab’ ich das Herz und die Zung’ auch auf dem rechten Fleck.“
[400]
Am 20. September 1777 sahen sich die gebildeteren Kreise der stillen und idyllisch gelegenen Residenzstadt Dessau in eine ungewöhnliche Aufregung durch das plötzliche Entschwundensein eines Mitbürgers versetzt, an den große Interessen und Hoffnungen des Landesfürsten und der Bewohnerschaft sich geknüpft hatten. Mancher große und kleine Ort hat in den gegenwärtigen Tagen ähnliche Schrecken und Bestürzungen seiner Bevölkerung erlebt. Dieselben galten aber dem heimlichen Entweichen irgend eines Bankdirectoriums, dem unerwarteten Zusammenbruche vertrauenerweckender Speculationsunternehmungen, deren Sturz für Hunderte oder Tausende ruinirende Verluste an Geld und Gut mit sich führte. Von solchen stürmischen Wechselfällen eines leidenschaftlichen Mammonsdienstes wußte indeß jene letzte Periode des achtzehnten Jahrhunderts noch nichts, die eine Zeit erregter Innerlichkeit und beglückenden Wiedererwachens der Geister aus langem und dumpfem Schlummer war. Gab es damals überhaupt schon öffentliche Interessen, so waren sie vorwiegend idealer Natur. Große Culturfragen gährten in den Gemüthern und unter ihnen wurde keine mit tieferer Inbrunst erfaßt als die einer durchgreifenden Reform der Erziehung und des Jugendunterrichts. Durch diese Reform sollte das neu aus gedrückter Vergangenheit hervorwachsende Geschlecht einer vernunftgemäßen harmonischen Bildung zugänglich gemacht, dem finsteren Aberglauben und der Rohheit, so wie allem lieblosen Vorurtheil entzogen und jenen Grundsätzen der Humanität, der Duldsamkeit und veredelten Gesittung gewonnen werden, welche die Propheten der Epoche unablässig als den Ausgangspunkt des Heils, als die Erlösung der Menschheit aus der Nacht zum Lichte, aus der Knechtschaft zur Freiheit verkündeten.
Ja wohl, es war eine warm den Tiefen der Seelen entströmende, gewaltig aufleuchtende Geistesmacht, die in dieser Zeit traurigster Volksunterjochung hier und dort zu thatkräftigem Leben gediehen war. So unwiderstehlich war ihr Zug, daß er auch in die Paläste drang, auch die Herzen mancher Gewalthaber ergriff und verschiedene Regenten deutscher Länder zu begeisterten Aposteln des Verjüngungswerkes machte. Ihr Wirken ging nach einer oder der anderen Richtung hin. Während Karl August von Weimar vornehmlich der jung aufstrebenden Literatur und Dichtung einen Boden und Mittelpunkt zu behaglichem Wachsen bereitete, war das Bestreben seines Freundes und Gesinnungsgenossen, des erleuchteten und kunstverständigen Fürsten Franz von Dessau, mehr auf praktische Ziele der Veredlung und Wohlfahrt seines Volkes gerichtet. Leider fehlt es in unserer Literatur noch an einem Lebens- und Charakterbilde dieses seltenen Mannes, der unablässig und erfolgreich der großen Aufgabe sich widmete, aus seinem Lande ein auch mit den Reizen landschaftlicher Schönheit ausgestattetes Musterland zu schaffen, ohne daß er mit seiner umfassenden Arbeit und Sorge auf diese Umgestaltung der engen Heimath und namentlich ihres Schulwesens sich beschränkt hätte. Um mit den reformatorischen Erziehungs-Ideen Rousseau’s Ernst zu machen, zu deren eifrigsten und verständnißvollsten Jüngern der Fürst Franz gehörte, errichtete er auch 1774 in Dessau jenes sogenannte „Philanthropin“, das ursprünglich nur eine Art Seminar werden sollte, eine Pflanz- und Uebungsschule junger Lehrer, um von hier aus die frohe Botschaft der befreienden Lehr- und Erziehungsmethode in alle Lande zu tragen. Unter den Hauptpunkten des dafür aufgestellten Programms nennen wir nur zwei für jene Zeit wahrhaft revolutionäre: die Sorge für eine gleichmäßige Entwickelung des Körpers und Geistes und eine vollständige Confessionslosigkeit des Unterrichts, so daß katholische, protestantische und jüdische Zöglinge hier unterschiedslos und in friedlicher Gemeinschaft nur zu gesunden, guten und tüchtigen Menschen erzogen werden sollten. Zum Leiter der von den Aufgeklärten aller Orten mit hohen Erwartungen begrüßten Humanitätsanstalt wurde der berühmte pädagogische Reformator Basedow berufen, aber die Art seines Charakters befähigte ihn nicht für diese Aufgabe. Trotz der hingebenden Aufopferung des Fürsten krankte das in Betreff seiner Absichten schnell zu einem Weltruf gelangte Institut an ungeordneter Wirthschaft und namentlich an geheimen Zwiespältigkeiten des Lehrerpersonals, so daß es erst einen Aufschwung nahm und zu einiger Blüthe gedieh, als 1776 in dem dreißigjährigen Joachim Heinrich Campe ein begeisterungsvoller Verkünder und Vertheidiger der neuen Richtung als Mitcurator und Lehrer gewonnen war.
Mit Einsicht und rüstigster Thatkraft ging Campe an das Werk der Reorganisation, und es wurden auch die Erfolge bald sichtbar. Aber selbst die angestrengteste Selbstverleugnung konnte den Wurm nicht beseitigen, der von vornherein in verborgenen Winkeln der jungen Schöpfung gesessen hatte. Die Kraft des Neuberufenen erlahmte daher bald in eben so aufreibenden wie vergeblichen Kämpfen mit den Genossen; er erkannte, daß er auf diesem Platze nicht bleiben durfte, aber er sah auch, daß sein Gesuch um Entlassung nur einen Sturm von unwiderstehlichen Bitten und Zugeständnissen begegnen würde. Darum wählte er entschlossen, wenn auch mit schwerem Herzen, den Weg der heimlichen Flucht. Während Fürst Franz und die Bewohner seiner Residenz am Vormittage jenes 20. September mit Gefühlen schmerzlichster Ueberraschung nach der leeren Stelle blickten, auf der gestern noch die imposante Erscheinung des geliebten und allseitig verehrten Mannes gestanden hatte, war derselbe schon seit vielen Stunden dem Weichbilde der Stadt und den Grenzen des Ländchens für immer entrückt. Auf einem durch diese aufsehenerregende Flucht berühmt gewordenen Schimmel ritt er ohne Rast, still und in sich gekehrt, nach Hamburg, dem Ziele seiner Wünsche. Alle späteren Vorstellungen und Bemühungen, ihn zur Rückkehr nach Dessau zu bewegen, zerschellten an seiner Entschlossenheit; in eigener Person war Fürst Franz sogar nach Hamburg gereist, um den Unentbehrlichen für das Institut zu retten. Dieser hatte zu deutlich erkannt, daß für den Plan des schönen Unternehmens die geeigneten Werkzeuge noch nicht vorhanden seien. Das Philanthropin verging denn auch wie eine frühreife Blüthe, Campe aber hat es noch lange überlebt in selbstständigem Aufsteigen zu großer Thätigkeit und hohem Ruhm. Unter den Männern, welche die Gedanken des Philanthropinismus vertraten, ist er der Einzige, dessen Geistesspuren noch in lebendigen Strömungen der heutigen Tage deutlich zu erkennen sind. Nicht blos ihm, sondern auch uns selber sind wir es schuldig, daß wir sein Bild und die Erinnerung an sein Leben und Wirken in uns aufzufrischen suchen.
Schon Campe’s Berufung nach Dessau war nur eine Folge der vertrauensvollen Achtung und Anerkennung gewesen, welche der jugendliche Mann durch sein bisheriges Leisten und den Eindruck seiner ganzen Persönlichkeit in hervorragenden Kreisen sich erworben hatte. Nicht ohne schwere Mühen und Kämpfe war er mit eigener Kraft und Begabung zu dieser Stufe emporgestiegen, und wie die Mehrzahl der ausgezeichneten Geisteshelden aller Zeiten blickte auch er auf einen dornenvollen Jugendweg zurück. Sein Vater war zwar aus begütertem adeligem Geschlechte, besaß aber selber nur ein unbedeutendes Gütchen und betrieb zugleich einen bürgerlichen Handel mit Garn und Leinen in dem braunschweigischen Dorfe Deensen. Dort wurde unser Joachim Heinrich am 19. Juni 1746 geboren. Die Verhältnisse der Familie waren damals ganz behaglich. Eine durchaus wohlgesittete patriarchalische Häuslichkeit und das freie Leben auf dem Lande waren der gesunden Entwickelung des befähigten und ungewöhnlich ernsten Knaben günstig, während die Eindrücke der reizend schönen Umgebungen in ihm jenes tiefe Naturgefühl weckten, das eine der stärksten Seiten seines Wesens blieb. All’ dieses stille Glück des elterlichen Hauses reichte jedoch nicht über sein zwölftes Jahr hinaus. Eine schnell verlaufende Krankheit raffte den Vater hinweg, und nicht lange darauf wurde die Ruhe des Dörfchens durch die ersten Heimsuchungen des siebenjährigen Krieges gestört, unter dessen weiteren Drangsalen und Verwüstungen das väterliche Erbe der Campe’schen Familie zum größten Theile verloren ging. Es waren vielfach harte, nur durch unablässigen Fleiß und rüstiges Aufstreben beschwingte Jahre, die der Knabe auf der Klosterschule in Holzminden, der nachherige Studirende der Theologie auf der Universität Helmstedt durchleben mußte.
Unter den theologischen Lehrern dieser Hochschule standen [401] sich damals der freisinnige Teller und der orthodoxe Dunkelmann Carpzow kämpfend gegenüber. Der junge Student fühlte sich sofort mächtig zu Teller hingezogen, saß eifrig zu den Füßen dieses großen Theologen und schärfte seinen Geist an der Erklärung der Bibel und an dem Studium der hebräischen und griechischen Sprache. Rings um die beiden Lehrer wogte ein leidenschaftlicher Parteistreit in Betreff der von ihnen vertretenen Standpunkte, Campe stand indeß fest zu dem Manne der freien Forschung, und es konnte ihn in seiner Armuth wohl betrüben, aber nicht zum Heuchler und in der Verfolgung seiner Richtung nicht irre machen, als die braunschweigische Landschaft ihm ein von ihr bewilligtes Stipendium (jährlich hundert Thaler) aus Gründen entzog, die auch heute noch mannigfach bei solchen Zuwendungen entscheidend sind, wenn man auch nicht mehr naiv genug ist, sie so unverhohlen einzugestehen, wie es damals die braunschweigische Landschaft gethan hat. Diese schrieb nämlich an Campe, „man sei nicht gewillt, die Wohlthaten des Vaterlandes an einen leichtsinnigen(!) Jüngling zu verschwenden, der von verrufenen Irrlehrern (Teller!) sich zum Irrglauben verführen lasse.“ Finanzielle Bedrängnisse und verschiedene, durch die vermehrten Entbehrungen und Anstrengungen hervorgerufene Krankheitsleiden waren die Folgen dieses Verlustes, aber sie verbitterten den frischen Humor und beugten den Muth des heitern und warmherzigen Jünglings nicht. Mit allen Kräften erstrebte er eine möglichst allseitige wissenschaftliche Ausbildung, und es zeigte sich schon damals bei ihm ein lebhafter Drang und eine entschiedene Fähigkeit zu schriftstellerischem und dichterischem Schaffen. Von Helmstedt war er 1768 nach Halle gegangen, und hier übte Semler, damals der kühnste und bedeutsamste unter den Vorkämpfern der freimüthigen protestantischen Theologie, einen mächtig bestimmenden Einfluß auf die Entwickelung des neuen Jüngers. In Halle selber aber gefiel es demselben nicht, und da seine Universitätsstudien ohnedies beendigt waren, zog es ihn nach Berlin, wo eben unter dem Schutze des großen Friedrich ein neues Geistesleben zu erblühen schien und wohin jetzt Alles den Blick gerichtet hielt, was an aufstrebender Kraft und an hochfliegenden Hoffnungen in Deutschland sich regte.
Durch Empfehlung Teller's kam denn auch der junge Candidat als Erzieher in das Haus des Major von Humboldt, wo er zuerst den Stiefsohn desselben unterrichtete, später aber auch der erste Lehrer und Erzieher der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt wurde. Ein schönes Zeugniß für Campe und für die bereits von ihm erlangte Geistes- und Charakterreife liegt in dem Umstande, daß er nicht blos in der ausgezeichneten Häuslichkeit, die ihn gern zu den Ihrigen zählte, sondern auch in den hochgebildeten Gesellschaftskreisen, unter den Schriftstellern und sogenannten Weltweisen der Hauptstadt eine beachtete und angesehene Persönlichkeit war. Seine dichterischen Beiträge zu Göckingk’s Musenalmanach und namentlich seine philosophischen Abhandlungen zeigten nach Inhalt und Stil einen durch Bildung und Begabung über das Mittelmäßige sich erhebenden Menschen, während seine Erscheinung, die ziemlich hohe und schlanke Gestalt, das edel und regelmäßig geformte Antlitz mit dem seelenvollen Auge einen herzgewinnenden Eindruck machten, der noch wesentlich verstärkt wurde durch eine ungezwungen bescheidene und doch eigenthümlich feierliche Weise des Auftretens und Benehmens. Auch mit den Hofkreisen kam er in freundliche Berührung, so daß ihn der damalige Kronprinz (nachherige König Friedrich Wilhelm der Zweite) zum Feldprediger in Potsdam berief, wo er von 1775 ab auch eine Zeitlang als Prediger an der Heiligengeistkirche wirkte. Das geistliche Amt aber befriedigte seinen inneren Drang und gewann seine Zuneigung nicht, wenn es ihm zunächst auch, trotz des dürftigen Gehalts, die hinreichende Selbständigkeit gegeben hatte, mit seiner geliebten Marie Hiller in Berlin jenen Ehebund zu knüpfen, der Jahrzehnte hindurch für ihn und alle Genossen und Freunde seines Hauses durch die ausgezeichneten Eigenschaften dieser gemüth- und geistvollen, eben so anmuthigen wie tüchtigen Frau ein überaus reicher Quell des Segens geworden ist. Gerade aber diese Begründung häuslichen Glückes gab ihm gleich anfänglich der Sporn und Schwung, sein über das Enge und Alltägliche hinausstrebendes Wollen und Können nicht in pastoraler Handwerksmäßigkeit verkümmern zu lassen. Von Dessau winkte das Philanthropin mit der Aussicht auf eine bedeutsame, der gesammten Menschheit geltende reformatorische Thätigkeit, auf die Verwirklichung hoher, mit aller Gluth der Seele längst von ihm erfaßter Ideale. Wir haben gesehen, wie diese Hoffnungen Campe's und des ihm stets wohlwollend gebliebenen Fürsten Franz an der Unreife der Zustände und an der Unzulänglichkeit der Menschen gescheitert sind.
Als Campe „aus Gewissensdrang“ heimlich von Dessau entfloh, hatte er eine begründete Stellung und eine gesicherte Zukunft für sich und die Seinigen aufgegeben. Ohne jeglichen Boden und Rückhalt stand er allein auf der Welt, ganz nur auf seine eigene Kraft angewiesen inmitten eines Vaterlandes, das im Ganzen für die Stimme des Geistes noch nicht viel Gehör und Theilnahme zeigte. Der Zustand des Volksgeistes und der Unterthanenschaften war weit und breit noch ein verwahrloster, die politische Lage des Bürgerthums eine tiefherabgedrückte, die Theilnahme für Allgemeines und Geistiges nichts weniger als rege. Dahin hatten Jahrhunderte hindurch Zersplitterung und Ohnmacht, sowie ein umfassender geistlicher und weltlicher Despotismus jene Millionen gebracht, die nur durch den Mutterboden, auf dem sie wohnten, und durch die Gleichheit ihrer Sprache, ihres Charakters und ihrer Sitten als eine zusammengehörige deutsche Nation sich zu erkennen gaben. Aber seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war endlich der Wendepunkt eingetreten, wo dies anders werden sollte. Die Nation war ja nicht gestorben, sondern nur durch die willkürliche Gewaltherrschaft ihrer Bedränger in Betäubung und unbeholfene Erstarrung versetzt; nach langer und regungsloser Stumpfheit erwachte in den Tiefen ihrer Seele die warme und herzensfrische Lebenskraft und kündigte zunächst in dem majestätischen Aufstrahlen einzelner Lichter sich an. Nacht war es ringsumher noch in den Geistern der Massen, aber um Erwecker wie Lessing, wie Klopstock etc. sammelte sich bereits eine Schaar empfänglicher Jünger, deren Kreis mehr und mehr sich vergrößerte. Aufklärung und Humanität wurde der Schlachtruf dieser Bewegungsmänner und mit Wort, Schrift und That eröffneter sie den Kampf gegen eine versteinert in den Köpfen und Herzen sitzende Weltanschauung voll roher Unduldsamkeiten und engherziger Vorurtheile, voll hochmüthiger Menschenverachtung oder knechtischer Würdelosigkeit.
Die Gemeinde dieser „Aufgeklärten“ war nicht groß, aber sie war fast über alle Theile Deutschlands verbreitet und bestand meistens aus bewußten, hingebenden, zu thätigem Eingreifen entschlossenen und befähigten Streitern. Die Literatur und die Acten der Zeit geben Zeugniß von der Inbrunst und Energie, mit welcher diese ersten Entzünder des Lichtes ihren Ueberzeugungen Bahn zu brechen und ihr Werk zu fördern suchten. Das war die Fahne, zu welcher auch Campe sich gesellt hatte; die Verbreitung und Befestigung humaner Bildung, das Wirken für Befreiung, Duldung und Menschenversöhnung wurde für ihn immer mehr und mehr die Aufgabe, der er sein Talent, sein reiches Wissen und helles Denken, allen hohen Ernst seines Wesens, allen Drang und alle Kraft seines unleugbar reinen, liebreichen und tapferen Herzens zur Verfügung stellte. Kenner unserer Zeitgeschichte wissen sehr wohl, daß es später im Bereiche der „entschiedener“ fortgeschrittenen Standpunkte Mode wurde, mitleidig auf den Ideengehalt jener Aufklärungsperiode des achtzehnten Jahrhunderts herabzusehen und denselben höhnisch als schwächlichen und seichten „Aufkläricht“ zu bezeichnen. Dieser Hochmuth aber ist wieder verstummt oder doch bedeutend kleinlauter geworden, seitdem ein eingehenderes Studium der geschichtlichen Zusammenhänge das Gefühl der Gerechtigkeit und Dankbarkeit in Bezug auf Vergangenes geweckt und seitdem tief eingreifende Vorgänge unserer Tage uns handgreiflich belehrt haben, daß wir mit unseren größeren Erfahrungen und unserer tiefer und weiter gewordenen Erkenntniß im Grunde doch noch denselben Kampf zu führen haben, den die Geistesapostel des vorigen Jahrhunderts gegen Dummheit und Verwahrlosung, gegen staatlichen Despotismus und pfäffische Verfinsterung für eine bessere Erziehung und Belehrung des Volkes in so eifriger und musterhafter Weise zuerst eröffnet hatten. Wohl uns, wenn die Menschheit jetzt schon auf dem Punkte stände, wohin ein Campe vor mehr als hundert Jahren sie heben und bringen wollte!
Hamburg gehörte zu den Orten, wo der bezeichnete Umschwung des geistigen Lebens in den gelehrten sowohl wie in den kaufmännischen Kreisen eine beträchtliche Schaar treuer und verständnißvoller Anhänger gefunden hatte. Der flüchtige Campe [402] folgte einem richtigen Zuge des Herzens, als er dorthin seine Schritte lenkte. Ein bescheidenes Quartier hatte er bald gemiethet und dasselbe wurde zu einer wahrhaften „Wohnung des Friedens“, als ihm Weib und Töchterchen von Dessau her in das neue Asyl gefolgt waren. Hier wollte er sich und die Seinen zunächst durch schriftstellerische Arbeit ernähren. Aber es kam ihm auch in der großen Handels- und Weltstadt wieder so viel aufrichtige Gastfreundschaft, so viel Liebe und Vertrauen entgegen, daß er sich gegen seinen Willen bald von Neuem in die eben erst verlassene erzieherische Laufbahn verschlagen sah. Einige befreundete Männer, reiche, wackere und hochangesehene Kaufleute Hamburgs, baten ihn so dringend, die Erziehung ihrer Söhne zu übernehmen, daß er nicht widerstehen konnte. So entstand allmählich jenes berühmt gewordene, reizend im Billwerder Ausschlage am grünen Hammerdeiche gelegene Erziehungsinstitut, in welchem die Grundsätze des verbesserten Unterrichts- und Erziehungswesens so durchaus lebenswarm und musterhaft vor den Augen der Welt verwirklicht und erprobt wurden. Bei der absichtlich nur beschränkten Zahl der Zöglinge (nicht mehr als zwölf) gestaltete sich diese Stätte allmählich zu einem Quell des Heils und der reinsten Beglückung. Hier walteten der große Menschenbildner und seine verständnißinnige Gattin mit der unermüdeten Hingebung eines hochsinnigen Elternpaares, und es war über ihr Verhältniß zu den ihnen anvertrauten Knaben und Jünglingen, so wie über das Thun und Schaffen des ganzen Kreises ein Glanz der Liebe, des Eifers und der gesunden Frische und Heiterkeit gebreitet, der die sehr zahlreich oft von weiter Ferne herbeikommenden, meistens hervorragenden Besucher bezauberte und zur Bewunderung hinriß. Und noch ein anderes Glück war Campe durch diesen Aufenthalt am „grünen Deich“ gewährt. „Ich bin jetzt ganz Landwirth,“ so schrieb er 1779, „und dabei mit meinem ganzen Hause so gesund, als wir nie gewesen sind … wie viel ich jetzt arbeite und ohne Erschlaffung arbeiten kann, davon haben Sie keine Idee. Ich schreibe beinahe immer für zwei Pressen.“
In der That war das schriftstellerische Leisten Campe’s während dieser Hamburger Periode ein ungemein fruchtbares. Während er mit den bedeutsamsten Geistern der Epoche – wir nennen nur Klopstock und Lessing – in reger Correspondenz und naher Freundschaftsbeziehung stand und für alle großen Fragen des sittlichen und materiellen Volkswohls ein offenes Auge hatte, wurde er im eminentesten Sinne zugleich der Jugendschriftsteller seiner Zeit. Unter den Erzählern und Schriftstellern für die Jugend hat keiner wieder die Bedeutung, das Ansehen und den Einfluß Campe’s erlangt, und sind seine Kinderschriften später von Kritikern und Literarhistorikern stark getadelt worden, so war es, wie mit Recht dagegen bemerkt wurde, die rein ästhetische Betrachtungsweise, welche bei gänzlichem Zurseitelassen der pädagogischen Gesichtspunkte zu solchen absprechenden Urtheilen führte. Alle Jugendschriften Campe’s gehen von dem leitenden Grundsatz aus, daß man der erstrebten Umgestaltung der menschlichen Zustände auch neue Menschen entgegen bringen müsse.
Der Lectüre der ersten Lebensperiode fiel in dieser Hinsicht eine große Aufgabe zu und für ihre ersprießliche Lösung vereinigte sich in Campe die Kraft des Dichters mit den vielseitigen Wissen des Gelehrten und dem methodischen Geschicke des von innigster Liebe zu der Kinderwelt beseelten Pädagogen und Lehrers. Ein Zeugniß dafür ist unter Anderen die in Hamburg erschienene „Kinderbibliothek“, und vor Allem die schönste und duftigste Blüthe im reichen Kranze der Campe’schen Jugendschriften sein „Robinson der Jüngere“, bekanntlich eine durchaus selbstständige Bearbeitung des bekannten Defoe’schen Romans. Das Buch entstand aus mündlichen Erzählungen Campe’s an seine Zöglinge und aus wirklich daran geknüpften Unterhaltungen mit den Kindern. Es ist hier nicht der Ort, den späteren ästhetisch-kritischen Angriffen gegenüber, die außerordentlichen Vorzüge dieser Leistung zu beleuchten. In seiner Vorrede bemerkt Campe selbst, daß es ihm nicht allein um Unterhaltung, auch nicht allein um die Belehrung der jungen Leser, oder nur um eine allgemeine, sittliche Einwirkung auf dieselben zu thun gewesen sei. Ausdrücklich wollte er vielmehr auch durch das Büchlein für eine specielle Culturaufgabe der Zeit wirken und einer schlimmen Krankheit derselben entgegen arbeiten: den müßigen Rührungen eines in eingebildeter süßlicher Schäferwelt lebenden Empfindsamkeitsfiebers, „dieser garstigen Seuche, die zwar nicht mehr am hellen Tage verdirbt, aber noch immer im Finstern schleicht und die junge Nachkommenschaft an Leib und Seele zu schwächen, ihre Selbstthätigkeit zu untergraben droht“. Allen diesen Zwecken ist denn wohl auch durch den ungeheuern Erfolg, die beispiellos große und besonders durch ihre Nachhaltigkeit sich auszeichnende Verbreitung des „Robinson“ gedient worden, der schnell eine Weltberühmtheit erlangte und seit nunmehr achtzig Jahren mit den freundlichsten Jugenderinnerungen aller seitdem erstandenen Geschlechter verwachsen ist. Wir wissen nicht, wie groß in unserer Literatur die Zahl der Bücher ist, die, wie Campe’s „Robinson“, in alle europäische Sprachen übersetzt sind, sogar in’s Lateinische, in’s Neugriechische und Russische. Aber zu den seltenen Ausnahmen gehört es wohl, daß solche Uebersetzungen in den betreffenden fremden Ländern eine Reihe von neuen Auflagen erlebten, wie der „Robinson“. Vom deutschen Original war 1833 bereits die siebenundzwanzigste, 1872 die zweiundachtzigste Auflage erschienen.
Es war im Monat Mai des Jahres 1875, als die untergehende Sonne mit ihren letzten Strahlen die Häuser von Wirballen, einer kleinen Stadt an der russisch-preußischen Grenze, beleuchtete. Auf dem Saume des Horizontes lagerte eine feuerige, glühende Wolkenschicht und spiegelte sich in der runden und blanken Kuppel der griechisch-katholischen Kirche goldig glänzend wieder. Eine festlich geschmückte Menge, welche heute kein Auge für die Schönheiten des Abendrothes hatte, eilte lebhaft gesticulirend und plaudernd dem Bahnhofe zu. Hohe und niedrige Militärs von verschiedenen russischen Garde- und Linienregimentern in Galauniform gingen bereits auf dem Perron auf und ab und bildeten mit den von Nah und Fern herbeigeeilten Bauern in der russischen Nationaltracht und den langbärtigen Juden mit dem schwarzen, glänzenden Kaftan ein eigenthümlich belebtes Bild. Auch der Aermste hatte sich ein festliches Gewand angezogen, galt es doch, in dem russischen Kaiser den geliebten Landesherrn zu begrüßen, dessen baldige Ankunft mit einem Extrazug bereits signalisirt war.
Zum festlichen Empfang flatterten Fahnen in den russischen und preußischen Nationalfarben stolz von den Zinnen des Bahnhofsgebäudes und sprachen laut für das Einvernehmen, welches zwischen den beiden großen Nachbarreichen herrschte. Prächtige, aus frischem Grün geflochtene Guirlanden umwanden die eisernen Säulen des stattlichen Perrons und zweigten sich in gefälligen Bogen zu den kaiserlichen Empfangszimmern ab, über deren Hauptportal eine große Krone mit dem Namenszug des Kaisers in buntfarbigen Blumen prangte. Auf der Seite des Bahnhofs, in die das preußische Geleis mündet – die russischen und preußischen Eisenbahnen haben bekanntlich verschiedene Spurweiten – stand bereits ein langer Wagenzug, mit zwei Schnellzugsmaschinen bespannt, welche, sauber geputzt, in dem scheidenden Licht der Sonne prächtig glänzten. Prüfend gingen Führer und Heizer, mit Oelkannen und Schraubenschlüsseln in den Händen, um die Maschine herum, besahen und befühlten nochmals jeden einzelnen Theil, zogen die Schrauben und Muttern an besonders gefährdeten Stellen fester an und füllten bis zum Rand die Oelbehälter, welche mit Korkstöpseln oder Kapseln verschlossen wurden. Lange Strecken mußten durchfahren werden, ehe ein Nachölen wieder stattfinden konnte, und heute galt es den besonders ausgewählten Beamten für eine Ehrensache, den Extrazug sicher und ungefährdet an den Bestimmungsort zu befördern.
Der Zug selbst bestand aus dem kaiserlich russischen Train, der in der Blüthezeit des französischen Kaiserreichs für die Kaiserin Eugenie gebaut und, als die Macht desselben bei Sedan gebrochen, zu Fahrten in Deutschland von der russischen [403] Krone angekauft war. Derselbe besteht aus dem Salon- und mehreren Gefolgewagen mit Küche und Schlafgemächern – ein elegantes Ganzes, das bereits in Nr. 22 dieses Blattes im Vorübergehen erwähnt wurde. In der Mitte befand sich der hellblau lackirte kaiserliche Salonwagen, zu dem der Zugang vermittelst einer kleinen Treppe mit einem feingearbeiteten und reich bronzirten Geländer in den beiden hintern Wänden stattfindet. Zwei große ovale Spiegelscheiben nehmen rechts und links fast die ganze Front der beiden Seitenwände ein und gestatten, wenn die Portièren aus blauem Damast geöffnet sind, eine völlige Ein- und Aussicht nach und von dem Innern des Wagens. Plafonds aus Ahornholz zieren die Decke, türkische Teppiche bedecken den Fußboden und dämpfen den Schritt des darauf Wandelnden. Eine reich mit Silber gedeckte Tafel, über die ein blendend weißes Damasttischtuch gedeckt war, prangte in der Mitte des Salons, an dessen Wänden künstliche, aus Nußbaum geschnitzte Fauteuils standen. Die einzelnen Wagen sind mit einander verbunden und gestatten, auch während der Fahrt den Zugang zu der Küche und den bequem eingerichteten Schlafgemächern, welche mit matten Ampeln beleuchtet und durch blauseidene Gardinen geschlossen werden können. Zur Aufnahme des zahlreichen Gefolges reihten sich vorn und hinten Personenwagen erster und zweiter Classe an. An der Spitze des Zuges, gleich hinter dem Packwagen, stand der der königlichen Ostbahn gehörige Salonwagen, welcher zur Aufnahme der höhern preußischen technischen Eisenbahnbeamten, welche den Zug begleiteten, bestimmt war.
Plötzlich drängte Alles nach einem Punkte; die aufgestellten Wachen hielten die allzu Neugierigen zurück; die höhern Militärs griffen salutirend an den Helm, und stolz, wie ein auf dem Wasser dahinsegelnder Schwan, glitt der Extrazug auf der russischen Seite in den Bahnhof hinein. Ein donnerndes „Hurrah!“ durchzitterte die Luft. Viele warfen sich auf die Kniee, berührten mit der Stirn die Erde und wagten kaum das Auge zu dem allmächtigen Kaiser zu erheben. Leutselig grüßend, stieg derselbe, eine Suite russischer und preußischer Generale hinter sich, welche, zum feierlichen Empfang commandirt waren, heraus und begab sich in die hergerichteten Zimmer. An den Eingang postirten sich zwei riesige Tscherkessen, welche in der malerischen Tracht ihres Landes, mit den krumm geschwungenen Säbeln, den glänzenden Pistolen in den Gürteln und zwei Patronenbehältern auf jeder Seite der Brust, jedem Unberufenen den Eintritt wehrten.
Neugierig gingen die russischen Unterthanen an die dicht verhangenen Fenster des Empfangsalons im Bahnhofsgebäude oder bewunderten die herrliche äußere Ausstattung des kaiserlichen Extrazuges. An den Seitenwänden heben sich die erhaben gearbeiteten Wappen der kaiserlichen Familie auf grünem Grunde goldig glänzend ab. Vier vergoldete Adler halten an den vier Ecken in den Schnäbeln die herrlichsten Verzierungen, welche längs der Decke dahinlaufen. Spiegelscheiben in doppelten Fensterrahmen wehren den Eintritt des Staubes während der Fahrt und sind außerdem von außen noch mit schwarzem Pelz garnirt. Jeder Theil ist bis in das kleinste Detail sauber gearbeitet. Die Achsbuchsen sind vergoldet, die einzelnen Lager der Tragfedern polirt, die äußeren Wände selbst auf’s Sauberste grün lackirt.
Die innere Ausstattung ist der äußern entsprechend und übertrifft an Eleganz und Feinheit der Arbeit die des Salonwagens auf preußischer Seite. Der innere Raum ist mit weißseidenen Tapeten decorirt; goldene Agraffen halten die schweren Gardinen aus himmelblauem Damast; echt türkische Teppiche decken die Fußböden, auf denen weiche Sessel verlockend zur Ruhe einladen. Die Decke ist aus den seltensten Hölzern geschnitzt und überreich mit goldenen Leisten ausgelegt. Die elegant ausgestatteten Schlafgemächer enthalten zur Bequemlichkeit und zur Toilette während der Fahrt alle nur denkbaren Gegenstände und sind gleichfalls mit den andern Wagen verbunden.
Während die neugierige Menge auf den Perrons staunend auf- und abwogte, verluden unter Aufsicht des Reisemarschalls die russischen Gepäckträger, welche an dem blauen, russischen Hemde aus Tuch und an einem um die Taille geschlungenen rothen Shawl leicht erkenntlich sind, die gewichtigen Koffer mit großer Geschwindigkeit in die Gepäckwagen des Extrazuges auf der preußischen Seite.
Der Tag hatte sich geneigt, und wie mit einem Zauberschlage entzündeten sich die Gaslaternen auf dem Perron und in den Waggons. Kerzen auf massiven silbernen Leuchtern strahlten ein blendend weißes Licht aus und warfen einen hell blinkenden Schein auf die schön ciselirten Tischgeräthe, welche symmetrisch auf der Tafel geordnet waren. Die Flügelthüren öffneten sich; die stattliche Gestalt des russischen Kaisers in preußischer Generalsuniform, geleitet von einem höhern Eisenbahnbeamten, tritt heraus und nimmt in dem Salonwagen Platz, während das zahlreiche Gefolge in den andern Wagen, welche für den Inhaber an den Fenstern durch eine Karte in russischen Buchstaben markirt sind, sich eiligst placirt.
Nachdem die Genehmigung zur Abfahrt eingeholt, nehmen auf den beiden Maschinen zwei technische, in dem Salonwagen die höhern Mitglieder der Direction Platz. Ein leiser Pfiff, und der Zug setzt sich unter dem Hurrahrufe der Menge langsam in Bewegung. Bald ist die Grenze überschritten, an der ein Soldat, mit einer riesigen Bärenmütze auf dem Kopfe, das Gewehr präsentirend, seinem Kaiser in dem großen russischen Reiche das letzte Geleite giebt.
Schneller und schneller wird das Tempo des Zuges; rascher entweichen aus dem Schornsteine die gleichmäßigen Schläge des ausströmenden Dampfes. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschen die Führer mit aus der Ueberdachung vorgebeugtem Kopfe auf den Gang der Maschinen und ziehen denselben befriedigt zurück, nachdem sie sich von der ruhigen und gleichmäßigen Arbeit durch Gesicht und Gehör Ueberzeugung verschafft haben. Weiter öffnen sie nun den Regulator; mit Macht entströmen die gefesselten Geister dem eisernen Riesenleib und finden in dem Dampfkolben einen Widerstand, den sie siegreich überwinden, dadurch die Geschwindigkeit des Zuges vergrößernd.
Allmählich breitet die Nacht ihre Rabenfittige über die Erde; kein Sternlein blinkt am Himmel, und nur wenn frische Kohlen dem unersättlichen Schlunde von den Heizern zugeführt werden, strömt ein glänzendes Lichtbündel aus der geöffneten Feuerthür, beleuchtet auf einen Moment die ganze Umgegend tageshell und faßt den aus dem Schornsteine ausströmenden Dampf mit einem röthlich glänzenden Saume ein. Aufathmend von der gehabten Anstrengung, wischt sich der Heizer den Schweiß von der Stirn und beschattet mit den Händen die Augen, welche durch den Blick in das intensiv weißstrahlende Feuer geblendet sind – da werden schon wieder neue Anforderungen an ihn gestellt, die er mehr tastend als sehend ausführen muß.
An Wärterhäusern, Signalpfosten, Dörfern fliegt der Zug vorbei, ohne Rast, ohne Ruh’; nur vor den Bahnhöfen wird die Geschwindigkeit gemäßigt, da hier beim Passiren der vielen Weichen und Harzstücke Gefahren tückisch lauern und eine falsche Stellung der Weichen den Zug in’s Verderben führen könnte. Der Führer der vorderen Maschine, in dessen Hand die große und schwere Verantwortung allein gelegt ist, strengt die Sehkraft auf’s Aeußerste an, um über den kleinen, eng begrenzten Schein, den die Locomotivlaternen mit ihren Reverberen auf den gefahrvollen Weg werfen, hinauszusehen, im Augenblicke bereit, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, jede Gefahr von dem theuren Haupte des Kaisers fern zu halten. – Glücklich ist endlich der erste Anhaltepunkt, Station Insterburg, erreicht und dem Zuge ein Aufenthalt von fünfzehn Minuten vergönnt. Während die Heizer das Feuer reinigen und die Führer die Lager mit dem Rücken der Hand befühlen, denjenigen Theilen, welche der größten Reibung ausgesetzt sind, die erforderliche Nahrung zuführen und Reifen und Federn einer schnellen Revision unterwerfen, beleuchten die Wagenrevisoren die Wagengestelle und untersuchen jedes Rad, jede Achsbuchse, jede Feder. Mit einem Handhammer schlagen sie an die Bandagen und ein helltönender Klang giebt ihnen Gewißheit, daß dieselben noch fest an den Unterreifen anliegen. Die größte Aufmerksamkeit widmen sie indessen dem kaiserlichen Salonwagen. Der überall anhaftende Staub, welcher an den Achsbuchsen und an den Rädern im Vereine mit dem Schmieröle dicke Krusten gebildet hat, erschwert allerdings die eingehende Untersuchung, doch entgeht kein gefährdeter Theil unter dem Scheine der Handlaterne dem geübten Auge des Revisors.
Endlich ist die Revision beendet und mit einem „Gott sei Dank! Alles ist in Ordnung,“ schreitet er zu der des nächstfolgenden Wagens. Hier entdeckt er den Verlust zweier Schrauben nebst Muttern, welche sich von dem Untertheil der Achsbuchse gelöst haben, sodaß dieser nur noch von der Achsgabelverbindung [404] gehalten wird. Eine weit klaffende Wunde gestattet dem Schmutz und Staub freien Eintritt; wenn dieselbe nicht schnell geschlossen wird, ist ein Brennen des Achslagers unvermeidlich und die Gefahr groß. Nur wenige Minuten fehlen zur Abfahrtszeit. – Neue Schrauben nebst Muttern einzuziehen, fehlt es an Zeit. „Was kann ich thun, um schnell den Schaden zu repariren?“ überlegt der revidirende Beamte nur einen Augenblick. Schnell ist sein Entschluß gefaßt; mit kräftigen Bindesträngen befestigt er den heraufgedrückten Untertheil an den Obertheil, und der Verschluß ist wieder hergestellt. Kaum ist der letzte Knoten geschürzt und die Arbeit beendet, so ertönt auch schon das Signal zur Abfahrt. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung und ist bald dem Bereiche des Bahnhofes entschwunden.
„Wird der Strick auch seine Schuldigkeit thun und bis Königsberg halten? Wird sich derselbe durchscheuern und die glücklich abgewendete Gefahr erneuern? Hast Du Nichts in der kurzen Zeit übersehen? Werden alle Tragfedern und Reifen aushalten?“ Alle diese Gedanken wirbeln dem Wagenmeister chaotisch durch den Kopf. Die Station hat allerdings auf seine Veranlassung Königsberg durch den Telegraphen benachrichtigt und bei der Ankunft um schleunige Abhülfe gebeten, doch ein seltsames Gefühl von Unruhe, theilweise hervorgerufen durch die Vorwürfe des Stationsvorstehers, beschleicht den Revisor. Sicherlich wäre es besser gewesen, wenn der Wagen ausrangirt und lieber der Aufenthalt verlängert worden wäre, wenn auch dieses Manöver großes Aufsehen erregt hätte.
Unaufhaltsam rollt der Zug weiter. „Vorwärts! Vorwärts!“
Langsam und majestätisch steigt die Mondscheibe empor und beleuchtet mit ihrem matten Silberschein die einsame Gegend, an welcher der Zug vorübersaust und die in der Stille der Nacht wie ausgestorben daliegt. Nur von fern hört man das Bellen von Hunden oder den klagenden Ruf eines Käuzchens. Fledermäuse durchschwirren die Luft und fliegen erschreckt von dannen, wenn beim Auffeuern heller Schein den geöffneten Feuertüren entströmt.
Feierliche Stille in der Natur und in den kaiserlichen Gemächern, nur durch das einförmige, gleichmäßige Klappern der Räder unterbrochen. Das monotone Geräusch übt auch auf die Männer auf der Maschine einen einschläfernden Einfluß aus, und wenn dieselben mannhaft gegen diese Anwandlungen von Schwäche ankämpfen und sich gewaltsam zusammenraffen, so will die Natur doch immer auf's Neue ihr Recht geltend machen. Gedanken reihen sich an Gedanken, und unwillkürlich beschäftigen sich dieselben mit dem hohen Reisenden und seinen Begleitern.
„Wer doch auch so bequem in den weich gepolsterten Kissen liegen könnte, statt auf der zugigen Maschine zu stehen und unverwandt in die dunkle Nacht hinauszuschauen!“ „Hörten Sie nicht auch ein Pfeifen?“ wendet sich plötzlich der Führer der zweiten Maschine an den Heizer, welcher stillträumend in's Leere starrt und nun unsanft aufgerüttelt wird. „Das Pfeifen wiederholt sich; der verdammte Staub, den die erste Maschine aufwirbelt, überschüttet mir das ganze Gewerk; kaum kann ich die Augen noch öffnen. Reichen Sie mir die Oelkanne her! Ich muß hinaus und die Ursache ergründen.“ Leicht und gewandt wie eine Katze schwingt sich der Führer längs der Galerie auf das Trittblech und horcht noch einmal mit gespanntem Ohr auf das ungewöhnliche Geräusch. Schneidender Wind, Dampf und Rauch von der ersten Maschine benehmen ihm anfangs den Athem, doch der Gefahr muthig in's Auge schauend, erfaßt er mit der rechten Hand die Oelkanne und gießt Ströme voll Oel auf den gefährdeten Theil, während er sich mit der linken krampfhaft an den Laufstangen festhält. Verschwunden sind die stillen Träumereien, und die ganze Aufmerksamkeit ist nur auf den gefährdeten Theil concentrirt. Bleiern fließen die Minuten dahin, und trotz der großen Geschwindigkeit scheint der Zug sich nur langsam fortzubewegen. „Ach, wäre doch erst Königsberg erreicht!“ In der Aufregung schlagen alle Pulse heftiger; die Minuten werden zu Ewigkeiten; nun ist auch der letzte Tropfen verölt. „Wenn sich noch einmal das unheimliche Geräusch wiederholen sollte, muß ich doch noch den Zug halten lassen. Was würden der Kaiser und die Vorgesetzten sagen! Adieu, guter Ruf und Ehre!“
Schneller und schneller braust auf dem anhaltenden Gefälle der Zug dahin; eine Station wird im Fluge nach der andern passirt; nun ist auch die letzte erreicht, und alle Theile scheinen immer noch gut und sicher zu functioniren.
In undeutlichen Umrissen tauchen bei dem schwachen Mondschein die Thürme von Königsberg auf – noch eine kurze Spanne Zeit, und der Zug ist geborgen. Horch! von der ersten Maschine ertönt ein leiser Pfiff, dem in kurzen Intervallen drei gleich kurze Töne folgen. Der Zug steht einen Moment an der Ueberkreuzung mit der ostpreußischen Südbahn still, um sich sofort wieder in Bewegung zu setzen.
Ein unendliches Meer von Lichtern taucht auf. Signale und Weichenlaternen geben dem vorderen Führer die Richtung zur Einfahrt nach dem äußeren Bahnhof an. Dumpf rollt der Zug über die Brücke des Festungsgrabens und hält bald darauf unter dem stattlichen Perron, wo auf den speciellen Wunsch des Kaisers keine Empfangsfeierlichkeiten stattfinden sollen.
„Es war die höchste Zeit,“ ruft der Führer der zweiten Maschine mit erleichtertem Herzen aus und geht prüfend und fühlend um die Maschine herum. Heiß sind allerdings alle Gewerkstheile gelaufen und dick mit Staub überkrustet, doch die Ehre ist gerettet und der Zug prompt befördert worden. Auch der Bindestrang hatte seine Schuldigkeit gethan und bis zum letzten Augenblick gehalten. Den schnell herbeigeholten Arbeitern gelang es in kurzer Zeit, den Schaden zu repariren. Nachdem sich zwei frische Maschinen vor den Extrazug gelegt hatten, dampfte derselbe lustig in die Morgenluft hinein und erreichte ohne jeden Unfall Berlin.
In den letzten Tagen des Juni feiert die Stadt Ulm ein Fest, wie es einer Stadt ihres Ranges nur selten einmal im Laufe der Jahrhunderte zu feiern vergönnt ist und für welches sie wohl aller Orten, soweit die deutsche Zunge klingt, freudiger Theilnahme sich versichert halten darf.
Es war in der Zeit des kräftigsten Emporstrebens, es war eine That stolzen Machtgefühls, als die Ulmer im Morgengrauen des 30. Juni 1377 feierlich den Grundstein zu ihrer neuen Pfarrkirche legten, welche der größte Dom Deutschlands werden sollte. Ein Jahr zuvor hatten sie den Kaiser Karl den Vierten, als er mit Heeresmacht vor ihren Mauern erschien, um ungerechte Forderungen durchzusetzen, zu wenig rühmlichem Abzuge gezwungen, und vor wenigen Wochen erst hatten sie die Kunde von dem bei Reutlingen erfochtenen Siege der Städter über den Sohn des Grafen von Württemberg und die schwäbische Ritterschaft erhalten. Auch nachdem elf Jahre später der Sieg Eberhard's des Greiners bei Döffingen das Uebergewicht der Fürstenmacht in Schwaben entschieden hatte, war damit dem Wachsthum der Stadt keineswegs ein Ziel gesetzt; das Gebiet vergrößerte sich; Gewerbe und Handel blühten; „Ulmer Geld regierte die Welt“. Und wenn durch die neueste Forschung die gegenwärtig noch allgemein verbreiteten Annahmen über die Bevölkerungszahlen der deutschen Städte im Mittelalter bei vielen als übertrieben nachgewiesen werden, wenn namentlich das mittelalterliche Ulm schwerlich je mehr als zwanzigtausend Einwohner innerhalb seiner Ringmauern gezählt hat, so muß man umsomehr die Thatkraft jenes Geschlechtes bewundern, das so weitreichender Entwürfe fähig war.
Der Bau des Münsters wurde durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert in bald rascherem, bald langsamerem Fortschreiten, je nachdem Zeit und Mittel es erlaubten, fortgesetzt; als Leiter waren an demselben hauptsächlich Ulrich, Matthäus und Moriz aus der Baumeisterfamilie der Ensinger, Hans Kuhn, Matthäus Böblinger und endlich Burkhard Engelberger thätig. In der Ausschmückung des Innern wetteiferten mit den Häuptern der damals blühenden Ulmer Malerschule, einem Herlen, [405] Zeitblom, Schühlein, Scheffner, der Glasmaler Hans Wild und die Holzschnitzer Syrlin, der ältere und der jüngere, und der soeben als Baumeister genannte Engelberger.
Aber bald nach dem Anfang des sechszehnten Jahrhunderts gerieth der Bau in's Stocken,[1] und die Reformationszeit brachte in der Periode der Bilderstürmerei dem Inneren schweren, ja zum Theil unersetzlichen Schaden. So stand der Dom, das gewaltigte Denkmal der Spätgothik, durch Jahrhunderte mit eben zur Hälfte vollendetem und dann so gut oder so schlecht wie möglich überdachtem Hauptthurm, ohne die Chorthürme, von denen nur der untere Aufbau bis zu dreiviertel Höhe des Mittelschiffs ausgeführt war, und mit den Strebebögen und Pfeilern, auf beiden Langseiten Schmuck und Sicherung zugleich entbehrend. An den Ausbau dachte im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert bei den schlechten Zeiten, der noch schlechteren Wirthschaft und der immer zunehmenden Verengung des Gesichtskreises, wie sie in jener Periode fast in allen ähnlichen Gemeinwesen sich zeigt, Niemand mehr, und das Innere wurde vollends gar über Gebühr vernachlässigt. Dennoch war auch in diesem Zustande das Münster ein Gegenstand des Stolzes für den Ulmer, der Bewunderung für die Fremden, die sich in zahlreichen Zeugnissen ausspricht; wie z. B. der so oft mit Unrecht verschrieene Fritz Nicolai in seinem Reisewerk das Münster einer eingehenden und verständigen Schilderung und Beurtheilung unterzieht.
Erst in den vierziger Jahren ist mit der Restauration des Münsters begonnen worden, nachdem noch 1817 zur Feier des Reformationsfestes das Innere übertüncht worden war, sodaß man nun, wie ein gleichzeitiger Bericht wohlgefällig bemerkt, „nicht mehr an den Wänden die alten oft Aberglauben nährenden Gemälde sah“. Neben dem wieder allgemein erwachten und von kunstverständigen Männern belebten Sinn und Interesse für den Bau als Kunstwerk trieb dazu die unabweisbare Erkenntniß, daß der Dom, wenn nicht Einhalt gethan werde, dem Verfall entgegengehe. Am Hauptthurm bedurften namentlich der Kranz und die Vorhalle des Hauptportals dringend der Ausbesserung, und die Errichtung der Strebebögen und Pfeilerpyramiden zu beiden Seiten des Langhauses durfte bei dem gefahrdrohenden Weichen der Wände des Mittelschiffes ebenfalls nicht mehr aufgeschoben werden.
So wurden denn bei anfangs spärlich, allmählich und namentlich seit Gestaltung der Münsterbaulotterie reichlicher fließenden Mitteln zuerst kurze Zeit unter Mauch's, dann unter Thrän' s und seines Gehülfen Seebold und seit deren Tode unter des trefflichen Münsterbaumeisters Scheu Leitung die Arbeiten am Münster bis auf den heutigen Tag fortgeführt. Es sind, um von vielen sonstigen Einzelheiten, namentlich den Renovationen am Hauptthurm, zu schweigen, die zwanzig Pfeiler und Strebebögen des Langhauses, die Galerien über beiden Seitenschiffen, die acht Chorpfeiler, der bedeckte Umgang am Chor vollendet, und seit 1875 ist mit dem Ausbau der beiden Chor- oder Seitenthürme nach Scheu's Plan begonnen worden. Während die aus Nr. 34 von 1868 in diese Nummer wieder aufgenommene Abbildung (S. 406) die Westfront mit dem Hauptthurme in seiner einstigen Vollendung (in 143 Meter Höhe) zeigt, bringt die andere Abbildung die Seitenthürme zu beiden Seiten des Chors am südöstlichen oder nordöstlichen Ende des Langhauses zur Anschauung. Beide werden die gleiche Hohe von 86 Meter erhalten; der südliche, welchen, wie man sieht, die Abbildung vollständig zeigt, wird bis zum Jubiläum nahezu (bis auf 15 Meter) vollendet sein; vom nördlichen wird allerdings auf der Seite, von welcher die Abbildung aufgenommem ist, noch nichts zu sehen sein, begonnen ist er aber ebenfalls und wird in ein paar Jahren fertig dastehen. Man wird dann, da die Höhe der Chorthürme der jetzigen des Hauptthurmes sammt Nothdach nahezu (bis auf 10 Meter etwa) gleichkommt, nicht umhin können, auch den Ausbau des letzteren ernstlich in's Auge zu fassen.
Im Innern ist zwar schon in den fünfziger Jahren eine gewaltige, den Dimensionen des Domes entsprechende, freilich auch die Architektonik des Inneren einigermaßen beeinträchtigende Orgel (von dem rühmlichst bekannten Walter) aufgestellt worden, erst in neuester Zeit aber ist unter der Leitung des Oberbauraths v. Egle, des Prälaten v. Merz und des Directors des germanischen Museums, v. Esenwein, ein ausführliches Programm für die zeitgemäße Wiederherstellung und Ausschmückung des Münsters im Innern ausgearbeitet worden, das neben dem äußeren Ausbau zur Ausführung kommen soll.
Bedenkt man nun, daß gleichzeitig die Stadt Ulm, beengt, wie sie durch die Wälle der Festung ist, dennoch unter der thatkräftigen Verwaltung ihres Oberbürgermeisters von Heim in den letzten Jahrzehnten große Anstrengungen gemacht hat, nur ihren Bewohnern das zu bieten, was man in einer modernen Stadt mit Recht verlangt, daß bedeutende städtische Bauten theils vollendet, theils im Gange sind, so wird man einerseits den Wunsch der Ulmer, die thätige Beihülfe auch Auswärtiger zu dem nationalen Werk des Münsterbaues in erhöhtem Maße zu gewinnen, wie andererseits das freudige Selbstgefühl begreiflich finden, mit dem sie zu ihrem Feste einladen.
Dieses Fest wird nicht einen ausschließlich kirchlichen oder gar confessionellen Charakter tragen; es soll zugleich ein Volksfest sein, ein Erinnerungsfest an eine große That deutschen Bürgerthums. Deshalb werden sich auch an der Hauptfestlichkeit des Hauptfesttages, des 30. Juni, Angehörige aller Confessionen betheiligen. Es ist dies ein costümirter historischer Festzug in drei das vierzehnte, sechszehnte und achtzehnte Jahrhundert darstellenden Hauptgruppen. Derselbe Tag bringt eine Wiederholung der altberühmten Ulmer Volksfestlichkeit, eines Fischerstechens auf der Donau, sowie Abends gesellige Unterhaltungen in festlich decorirten Räumen. Am Vorabende, dem 29. Juni, findet im festlich beleuchteten Münster die Aufführung des Händel'schen „Messias“, am 1. Juli sodann, auf welchen das Reformationsfest fällt, der eigentliche Festgottesdienst und Abends eine Aufführung lebender Bilder durch die Theilnehmer des Festzuges statt. Während der Festtage wird eine Ausstellung von Werken der alten Ulmer Malerschule eröffnet werden, für welche eine große Zahl der werthvollsten Bilder von deren Besitzern zugesagt worden ist. Die Festschrift, verfaßt von dem Herausgeber des „Ulmischen Urkundenbuches, Professor Dr. Pressel, wird über Alles, was die historische Seite des Festes anlangt, quellenmäßig sichern Aufschluß geben.
Möge ein freundlicher Himmel dem Feste leuchten und aus allen Gauen, wo man deutsche Art und Kunst versteht und liebt, der alten Reichsstadt die willkommenen Gäste zuströmen!
Das Läuten der Sturmglocke in der Nacht war zugleich das Signal für den Beginn einer anderen Revolution geworden, deren Kampfplatz eine Menschenbrust war: diejenige des Doctor Urban. Bisher hatte die Laune des Moments in dem reich begabten, aber charakterlosen Manne mit zwingender Gewalt seinen Willen in Besitz genommen; wo ein Widerstand sich geregt hatte, da war er auf wirkungslose Proteste beschränkt geblieben, welche die priesterliche Stimme seines Gewissens ausgesprochen. In dieser Nacht aber waren alle Geister seines Innern mit einem Male aufgestanden und hatten die Rüstungen angelegt und die Waffen ergriffen. Seine demokratische Vergangenheit empörte sich wider die Gegenwart, alle seine Ideale standen auf ihrer Seite; die Bilder alles dessen, was er einst geliebt, waren lebendig geworden. Er sah das stille, treue, ernste Gesicht Karl Hornemann's, und er gewahrte daneben jene schönen, stolzen Augen, die noch immer
[408] ihre entzündende Kraft besaßen. Auf der anderen Seite stand sein Weib, die Geister seines häuslichen Herdes, aber auch die Fratzen dessen, was das letzte halbe Jahr seines Lebens brandmarkte; eine gefährliche Hülfe für die arme kleine Toni.
Sie kämpften die dunkle Nacht hindurch, und sie kämpften noch immer, als der Doctor Urban die Chaussee hinunter ging, um nach Bandmüller zu forschen, und wie er vor den Männern stand, welche, die Waffen in der Hand, mit den trotzigen Gesichtern verächtlich auf den Abgefallenen blickten, da wäre die Entscheidung erfolgt, wenn er den Muth gefunden hätte, Karl Hornemann unter die Augen zu treten, aber er zögerte und zögerte, und als er sich langsam zur Rückkehr umgewandt hatte, da war der rechte Augenblick vorüber geflogen, und der Streit begann auf’s Neue.
Er ging an seiner Wohnung vorüber, dicht am Hause her, und beobachtete in der Nähe der Kaiserbrücke den Barricadenbau – lange Zeit. Hinter ihm langten schnellen Schrittes die Kämpfer an, welche draußen die Feuerprobe bestanden. „Die Hälfte von der Barricade her, die andere Hälfte von der entgegengesetzten Seite!“ hörte er sagen. „Ich werde die Führung der ersteren übernehmen – und wer wird die zweite führen?“
„Ich!“ sagte Urban plötzlich und wandte sich um. Vor ihm stand Karl Hornemann, erstaunt und kühlen Blickes. „Ja, ich, Karl,“ wiederholte der Doctor. „Ich will meine Sünden büßen.“
„Und wenn Du uns statt dessen noch einmal verräthst?“ fragte der Pascha.
Urban kreuzte die Arme. „Du hast Recht, Karl. Ich werde als Gemeiner fechten und, wenn es dem Himmel gefällt, sterben. Wer einmal im Zuchthause war, findet schwer Arbeit.“
„Heinrich, sieh’ mir in die Augen!“ sprach der Pascha wärmer und trat nahe zu dem ehemaligen Freunde heran.
„Ich habe böse Träume gehabt,“ erwiderte dieser, „vielleicht sehen sie noch etwas übernächtig davon aus.“ Aber es mußte doch etwas in den Augen geschrieben stehen, das Karl Hornemann das Herz rührte, – und als sich die Beiden umarmten, schwenkte ihre Umgebung die Waffen in der Luft und schrie Beifall. Jemand überreichte dem Neugewonnenen einen alten Reitersäbel.
Durch die Nerven Urban’s fluthete wieder brennend jener heilige Enthusiasmus, den er lange nicht empfunden. Er führte seine Truppen am Canal hin und weiter, bis sie sich in weitem Bogen auf’s Neue der Kaiserstraße näherten. Endlich machte er Halt und ließ recognosciren, und als der Erdboden vom ersten Kanonenschusse bebte und die benachbarten Fensterscheiben so eigen klirrten und surrten, da brach die Schaar auf. Die friedlichen Vedetten flüchteten; Hörnersignale ertönten auf der Kaiserstraße.
Die Leute Karl Hornemann’s kletterten über die Barricade und zwangen von drüben das Militär, sich zu theilen; in der Mitte standen die Geschütze, zum Schweigen verurtheilt. Auf beiden Seiten tobte das Handgemenge; Gewehrfeuer und Carabinerschüsse knallten. An den Scheiben hie und da ein blasses, ängstlich-neugieriges Zuschauergesicht.
Das Militär wich anfangs zurück; Reiter, und Pferde stürzten, und ein Paar der letzteren jagten scheu mit leerem Sattel, Verwirrung hüben wie drüben anrichtend, in dem Gewühle umher. Urban hieb jenen Officier vom Rosse, der draußen den Parlamentär gemacht hatte; er verschwand mit einem trotzigen Fluche unter den Hufen. Aber dann riß ein mächtiger Anprall die Ordnung der Revolutionäre auseinander; vereinzelt stak Alles zwischen den Pferden, und die blitzenden Klingen sausten Verheerung nieder. Ein schmaler Durchgang, der kaum eine Gasse zu nennen war, nahm Alles auf, was entkam. Urban war darunter, leicht am Kopfe verwundet. „Zurück zur Barricade!“ sagte er. „Wir können hier nichts mehr entscheiden.“ Er keuchte, aber seine Augen glänzten in freudigem Feuer. Sie erreichten in der Nähe des Hornemann’schen Hauses den Canal und sahen die Gegend beim Ausgange der Kaiserstraße in Pulverdampf gehüllt. Es schien, daß aus den Häusern geschossen wurde. „Eilen wir! Mir ahnt nicht viel Gutes.“
Hinter der Barricade lagen etwa zwanzig Menschen, ladend und feuernd. „Gott sei Dank!“ sagte eine Stimme, als Urban und der Rest seiner Begleiter, soweit sich dieselben nicht unterwegs verloren hatten, heraufgeklettert kam. „Es geht uns schlimm genug, und wir können Hülfe brauchen.“
„Wo ist Karl Hornemann?“ fragte der Doctor, welcher die Stimme des Stadtbaumeisters erkannte.
„Das weiß der Himmel,“ lautete die Antwort. „Was nicht gefallen ist oder Pardon genommen hat, steckt in den Häusern. Ah, da kommen sie – schießt – schießt!“
Urban blickte über die Barricaden und sah die jenseitige Böschung sich mit aufwärts kletternden Uniformen bedecken, und wie Manche auch unterwegs liegen blieben, die Meisten langten auf der Höhe an. Funkelnde Lanzen und flatternde Fähnlein – ein Herüber und Hinüber – Geschrei und Flintenschüsse; dann flüchtende Haufen, beide Seiten des Trottoirs am Canal hin und die Kaiserbrücke von ihnen bedeckt. Urban hatte eine Lanze gepackt und rang mit ihrem Träger um den Besitz, bis er stolpernd das Gleichgewicht verlor und hinunter rollte. Er raffte sich auf, und ein flüchtiger Blick belehrte ihn, daß es Wahnsinn gewesen wäre, zu bleiben. Er stürzte links das Canalufer entlang.
Zwanzig Schritte vor ihm ertönte aus der Mündung einer Straße Hufschlag und das Schnauben von Pferden. „Verloren!“ sagte er zornig. „Sie fangen mich ein.“ Aber es kam ihm ein rettender Einfall: er glitt die Ufermauer hinab in den Canal und drückte sich, halben Leibes im Wasser stehend, hart an die Wandung. Sein Herz pochte heftig; er hatte Mühe, geräuschlos zu athmen. Die Soldaten kamen auf das Trottoir geritten; er vernahm dicht über sich ihre Reden und sah Pferdeköpfe vor- und zurückschnellen. Dann erscholl ein Signal – die Gefahr entfernte sich.
Die Höhe der Mauer nöthigte ihn, in dem kalten Wasser abwärts zu waten, um eine der Steintreppen zu erreichen, welche in abgemessenen Entfernungen vom Trottoir auf das Wasser führten. Er war barhäuptig; sein Hut lag auf der Kaiserstraße, und er dankte demselben, daß die Säbelwunde auf seinem Scheitel so unbedeutend ausgefallen war; gleichwohl begann sie jetzt zu schmerzen. Das Wasser rieselte und gurgelte leise um ihn; er sah die riesigen, kahlen Aeste eines Baumes über die halbe Breite des Canals sich strecken und erblickte in dessen Bereiche Treppenstufen. Als er nach vorsichtiger Umschau über das Niveau der Straße tauchte, wollte ein neugieriges Mädchen im gegenüberliegenden Hause erschreckt das Fenster schließen, zu dem sie hinausgelugt hatte, dann aber schien ihr das Mitleidwürdige in seiner Erscheinung aufzufallen, und sie gab den verständlichen Gesten des Einlaßbegehrenden nach.
„Ist der Herr des Hauses daheim?“
„Der Herr ist verreist, nur die Frau ist zu Hause.“
„Melden Sie ihr einen verwundeten Flüchtling, der ihre Hülfe erbittet.“
Ein altes Weib steckte den Kopf aus einer Thür und sah ihn mit blöden Augen einen Moment an, um rasch wieder zu verschwinden. Langsam folgte er dem voraus eilenden Mädchen treppauf, und in seinem schmerzenden Gehirn arbeitete eine Erinnerung. Der Baum vor dem Hause – war das nicht die Wohnung –
„Sie möchten eintreten –“
Das Mädchen führte ihn in elegante Räume und warf verstohlene Blicke auf seine Beinkleider, von welchen das Canalwasser auf die Teppiche rieselte. Wohlige Wärme umgab ihn; eine Portière schlug auseinander – eine blühende, stolze Frauengestalt verließ das Fenster und winkte dem Mädchen mit plötzlicher Handbewegung, sich zu entfernen –
„Milli!“ stieß er leidenschaftlich hervor, indem er sich vor ihr niederwarf. „Ein guter Geist hat mich hierhergeführt, nicht mein Wille. Vergieb mir, was ich an Dir gesündigt habe aus trotziger Liebe! Das ist die zweite Schuld, die ich bezahle – die Quittung für die erste trage ich hier, und sie ist mit Blut geschrieben –“ Er zeigte auf die frische Wunde.
Sie neigte ihr glühendes Gesicht über ihn. „Stehen Sie auf! Um Gottes willen, wenn Jemand Sie in dieser Stellung sähe! Mich dünkt, ich höre die Thür gehen.“
„Nein, ich will beichten, knieend beichten, auch was ich an Deinem Manne verbrochen, und dann hilf mir oder weise mich aus Deinem Hause, wie Du willst –“
Leise schlich zu derselben Zeit ein Mann über den dicken Teppich des Nebenzimmers; er drängte sich vorsichtig durch die Thür auf den Corridor hinaus und stieg die Treppe hinab. Es war Zehren, der seine Gattin hatte überraschen wollen. Das Mädchen [409] blickte ihn verwundert an, als er unten wieder die Hausthür öffnete und ohne ein Wort zu sagen auf die Straße ging.
Er hatte sein Zimmer auf dem Rathhause verlassen, weil sich an diesem Morgen keine Seele um ihn gekümmert hatte; er war im Rathhause Menschen suchen gegangen und hatte keine gefunden. Draußen waren verwundete Flüchtlinge vorbei geeilt, und mit der aufdämmernden Ahnung dessen, was sich zugetragen, hatte sich seiner die Sorge um Weib und Haus bemächtigt, und er war unangefochten durch die Schreckensspuren der Revolution heimwärts geschritten. Die beruhigenden Versicherungen des Mädchens, das ihm geöffnet, hatten dem Erfreuten den Einfall eingegeben, heimlich, ganz heimlich zu seinem Weibe zu schleichen und dann plötzlich zu sagen: „Da bin ich.“
Ein flüchtiger Blick durch die Portière oben – und er war wieder umgekehrt.
„Ich darbe und hungere nach ihrer Liebe,“ sprach er mit bebendem Munde vor sich hin. „Ich habe ein Weib und habe doch keines. Und zur Zeit, da sie mich verreist glauben muß, finde ich meinen bittersten Verfolger und Nebenbuhler auf den Knieen vor ihr. Aber ich darf ihr nicht mißtrauen; sie müßte der Auswurf ihres Geschlechts sein, um eine solche Schuld zu tragen – weg mit dem Gedanken! Ich hätte dem Mädchen gebieten sollen, ihr nichts von meinem Besuch zu sagen; sie wird sich beunruhigen – –“
Er stieg zerstreut über das Geröll am Fuße der Barricade auf die Kaiserbrücke, auf welcher das Militär bereits mit dem Abtragen beschäftigt war. Die Körper der Gefallenen mußten weggeräumt sein, nur die Blutspuren verriethen noch, wo sie gelegen. In der Nähe des Hornemann’schen Hauses überfiel ihn erschreckend der Gedanke an das Schicksal seines Schwagers. Er konnte nur vermuthen, daß derselbe in die Empörung mit verwickelt gewesen war; von der Bedeutung, welche dessen politische Thätigkeit innerhalb der demokratischen Partei hatte, wußte er nichts Genügendes, um vollaus zu begreifen, in wie weitem Umfange er zu Besorgnissen Grund hatte. Er beeilte sich, um in den alten Bau zu gelangen.
Ein Mann kam ihm entgegen, und als er das Auge auf ihn richtete, erkannte er den Polizeicommissar Donner. Der Beamte blieb vor ihm stehen und deutete mit fragendem Gesicht in die Gegend, in welcher das Rathhaus lag.
„Ich bin frei, sobald ich will,“ meinte Zehren, „weil meine Gefangenschaft eine freiwillige war.“
Donner zuckte die Achseln. „Ich kann Sie nicht freilassen ohne ausdrückliche Zustimmung des Herrn Geheimrathes.“
„So lassen Sie mich wenigstens erst in jenem Hause einen Besuch machen,“ entgegnete Zehren, unmuthig vor sich hinweisend. Aber Donner erwiderte etwas, woraus er zum mindesten die Aufforderung verstand, ihn sofort zu begleiten, und er fügte sich.
Sie stiegen über die Barricade und betraten eines der anstoßenden Häuser. Auf der Treppe begegnete ihnen ein Polizeidiener, mit dem Donner ein paar Worte wechselte, und oben standen vor einer Thür zwei Husaren mit blankem Säbel Wache. Hier traten sie ein.
Ein kleiner, freundlicher Raum – wohl ein Fremdenzimmer der Hausbewohner; die Rouleaux vor den Fenstern herabgelassen. Vor einem weiß überzogenen Bette kniete, die Stirn auf den Bettrand gelegt, die alte Frau Hornemann, regungslos, und auf dem Bett lag der Pascha, – ein Todter. Sein Kopf war mit Binden umwickelt; seine Augen waren geschlossen.
„Allmächtiger Gott,“ stammelte Zehren, „mein armer Schwager!“
Donner näherte sich der alten Frau und zog eine Hand voll Papiere aus der Tasche. „Frau Hornemann, hier sind die Briefe,“ sagte er mit gedämpfter Stimme, indem er leise ihre Schulter berührte. Sie bewegte sich nicht. Erst als der Beamte die Worte wiederholte und die knisternden Briefe neben ihr Ohr auf das Bett legte, richtete sie sich langsam auf und wandte das geisterhaft graue, thränennasse Gesicht herum.
Sie erkannte Zehren und schwankte, unbekümmert um den lange bewahrten Fund Donner’s, der die Kette sprengen sollte, an der sie das Unglück ihrer Vergangenheit mit sich herumgeschleppt, auf den Schwiegersohn zu. „Mein Sohn!“ rief sie in herzzerreißendem Jammer, „mein einziger Sohn!“ Ihr Kopf sank schwer an die Brust des Fabrikanten; sie war ohnmächtig geworden. -–
Eine Viertelstunde später schritten Donner und Zehren dem Rathhause zu, trübe und schweigend. Ein paar Ulanen kreuzten ihren Weg, zwei Zigeuner geleitend, denen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Die Zigeuner waren Michal und sein Vater, und als Donner eine Frage hinüber rief, machte einer der Soldaten mit lachendem Gesicht die Geste des Stehlens.
Der Geheimrath Rehling war im Rathhause nicht anwesend; Franz Zehren mußte sich bequemen, im nämlichen Zimmer, in welchem er die Nacht verbracht, die Ankunft desselben abzuwarten. –
Die Todten wurden der Erde übergeben, und obschon am Tage, da dies geschah, die Nachricht vom Märzsturm der Berliner eintraf, gestattete man, daß Tausende mit Musik und Fahnen den Särgen folgten; man glaubte sich auf Seiten der Behörde wie des Militärcommandos gesichert, nachdem man aus den Reihen der Unionspartei eine Bürgerwehr organisirt hatte. Niemand verwehrte den Angehörigen, die Gräber zu bekränzen und auf denselben zu weinen. Mit Verhaftungen ging man sparsam vor; man unterschied zwischen „Verführern“ und „Verführten“.
Die Spuren der Barricaden beeilte man sich so vollständig wie möglich zu verwischen.
Die Rotte, welche den Ueberfall in der Fabrik des Commerzienrathes verübt und später auch auf anderen Stellen ihre socialistische Ausgleichungstheorie in die Praxis umzusetzen versucht hatte, war theils schon gelegentlich dieser Versuche eingefangen worden, theils hatten ihre Mitglieder die Flucht ergriffen, und die Signalements derselben flogen durch das Rheinland und über die Grenzen. Eines Tages fand ein Bauer, der den Weg durch das Gebüsch hinter der Schmiede nahm, welche in Verbindung mit dem ersten Barricadensturm jetzt so viel genannt wurde, unter der Hänge-Eiche den Leichnam des Fabrikleiters Bandmüller; tief im Rücken stak ihm ein Dolch, welchen Niemand kennen wollte, – der Dolch der Zigeunerin. Das Grauen über ihre That mochte ihr nicht verstattet haben, das mit ein paar edlen Steinen besetzte Instrument wieder an sich zu nehmen. Der Raub fand sich unberührt in den Taschen des Ermordeten vor.
Nach Urban suchte man vergeblich. Die arme kleine Toni zerfloß in Thränen, und der Commerzienrath hatte nicht einmal die Genugthuung, über den Empörer schelten zu dürfen, wenn er ihre leidenschaftliche Aufregung nicht zu bedrohlichen Zufällen steigern wollte. Dann wurde sie mit einem Male ruhiger. Ihr Vater beobachtete sie scharf.
„Würdest Du im Stande sein, Deinen Vater zu verlassen, um einem unwürdigen Gatten in das Ausland zu folgen?“ fragte er sie gelegentlich, wie zufällig.
„Vater und Mutter zu verlassen um seinetwillen, wie es in der Schrift steht, Papa.“
Er beschloß, von nun an mit aller Aufmerksamkeit über sie zu wachen, und am nächsten Morgen war sie gleichwohl schon verschwunden. Ein Billet enthielt die zärtlichsten Abschiedsworte und Spuren von Thränen, aber keinen Fingerzeig über ihren Verbleib.
Zehren war von dem Geheimrath unverzüglich nach dessen Ankunft entlassen worden; er kehrte zu Milli zurück, und die tiefe Trauer um den Gefallenen drängte in den ersten Tagen jedes andere Interesse in den Hintergrund. Nach dem Begräbniß aber beruhigten sich die Gemüther ein wenig. Am raschesten faßte sich die alte Frau, welche dem bittenden Schwiegersohn aus der qualvollen Einsamkeit ihres Hauses in das seine folgte, um weiterhin dauernd hier ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Sie fand Trost in der Rücksichtslosigkeit, mit der sich ihr plötzlich das Herz der Tochter erschloß, und – noch in etwas Anderem, was sie ängstlich als ihr Geheimniß aufwahrte. Ein Geheimniß hatte freilich auch Milli; sie brütete darüber, und sie machte Ausgänge, über welche sie Niemandem Rede stand und welche sie, wenn es ging, verbarg. Bei Zehren aber wirkte jetzt die Erinnerung an jenen flüchtigen Besuch seines Hauses eine Beklommenheit, welche sein Auge mit verstohlenen Fragen füllte. Der Name Urban’s kam weder über seine, noch über Milli’s Lippen, aber sie fragte ihn auch nicht einmal über seine angebliche Reise. Manchmal überraschte er ihre Blicke, wie sie warm und innig auf ihm ruhten, daß eine Ahnung unaussprechlichen Glückes den ernsten, resignirt stillen Mann durchschauerte.
[410] Eines Abends stand sie zum Ausgehen gerüstet vor ihm. „Ich werde auch einmal eine plötzliche Abreise veranstalten,“ sagte sie mit den Lippen, und diese Lippen lächelten so eigen, und ein tiefes Roth war über ihr Antlitz gegossen. „Ich will Dir aber wenigstens Lebewohl sagen.“
Er blickte sie mit großen Augen an und nahm die schlanke Hand, welche sie ihm reichte, aber er sagte nichts, sondern nickte blos. Sie ging zur Wohnung der alten Rottmanns, in die Louisenstraße.
Tief in der Nacht stand der letzte Zug, welcher zum Rhein hin abgehen sollte, formirt und mit Passagieren besetzt auf dem Bahnhofe. Die Thüren waren zugeschlagen; das Abfahrtssignal wurde jede Secunde erwartet. Da trat der Polizeicommissar Donner auf den schwach beleuchteten Perron, rief dem Zugführer etwas zu und begann mit flüchtigem Auf- und Abspringen Coupé um Coupé zu mustern. Aus einem derselben lehnte sich, den Einblick in das Innere wehrend, eine schlanke, jugendliche Frauengestalt in der Kleidung tiefster Trauer. Donner blickte ihr scharf in das Gesicht, als er an diesen Punkt des Zuges gelangte, und griff, plötzlich zurücktretend, mit höflicher Verneigung grüßend an die Mütze. Der schöne Kopf neigte sich leise zum Gegengruß. Der Zug pfiff – die Locomotive stöhnte und setzte sich in Bewegung – und noch immer, noch Minuten nach der Abfahrt, blickte das blasse Gesicht aus dem Fenster, und der Zugwind spielte mit dem schwarzen Tüll des Schleiers auf der Stirn. Dann setzte sich Milli Zehren in die Kissen und sagte zu ihrem Nachbar, einem schlanken, ältlichen Herrn mit grauem Vollbart: „Gott sei Dank, diese Gefahr wäre glücklich vorübergegangen.“ Und sie holten Beide tief Athem. –
Wieder ward es Abend. Zehren saß einsam vor dem lodernden Kamine, und der Widerschein des Flammengeflackers spielte auf seinem nachdenklich gesenkten Antlitze, während seine Finger mechanisch die weichen Quasten des Fauteuils bewegten. Frau Hornemann war ausgegangen.
Er sah nicht, wie hinter seinem Rücken leise die Portière auseinander geschlagen wurde, und hörte weder das Rascheln des schwarzen Seidenkleides, das sich leise auf ihn zu bewegte, noch den weichen Tritt der zierlichen Stiefelchen auf dem Teppiche. Aber da legte sich plötzlich eine warme Hand auf seine Stirn, und er wandte jäh den Kopf und sah dicht über sich die ernsten braunen Mandelaugen, aus denen glückverheißende Blicke wie Mairegen auf ihn fielen. Ein Sturm von Liebe brauste durch alle seine Nerven, und er sprang auf und schloß sein Weib in die Arme, bebend und mit feuchten, seligen Augen. Sie duldete es lächelnd, und ihre warmen rothen Lippen suchten die seinen – zum ersten Male.
Er gestattete nicht, daß sie den Hut und den pelzgefütterten Sammtmantel ablegte; er hielt sein Glück fest umschlungen und führte es den Teppich auf und nieder, und Keines von Beiden sprach ein Wort. So fand sie Frau Hornemann.
„Bist Du wieder da?“ fragte sie überrascht; „und wo warst Du?“
„In Holland, Mutter,“ sagte sie, träumerisch weiter wandelnd. „Ich habe den Doctor Urban zu seiner Pflicht, zu seinem Weibe und in Sicherheit gebracht. Der Frühlingswind wehte und hat die dürren Blätter einer todten Vergangenheit in den Rhein geschüttet. Urban wird sich mit Toni in London niederlassen.“
Frau Hornemann ging zum Kamine und nahm in dem Fauteuil Platz, den Zehren verlassen. Sie legte den Muff in ihren Schooß und nahm zwei Papiere aus demselben, entzündete sie an der Flamme und warf sie endlich ganz auf die Kohlen. Die Hitze trieb die Asche empor, daß die Flocken wie lebende Wesen in der lohen Gluth tanzten.
„Was haben Sie da verbrannt, Mutter?“ fragte die junge Frau.
„Den Fluch meines Lebens,“ erwiderte mit einiger Heftigkeit die Angeredete. Und plötzlich nahm sie den Kopf in beide Hände und brach in bitterliches Schluchzen aus, und die Tochter drängte sich aus dem Arme des Gatten und sank zu ihr nieder und barg das Gesicht in ihrem Schooße.
„O Karl, mein Sohn, mein Sohn!“ jammerte die alte Frau. – –
Der Canal ist heute überbaut; über den stillen, dunklen Wellen wandeln die Menschen und fahren die Wagen im Sonnenlichte. Der schnörklige Bau mit der verwitterten Doppelthür und den Erkern ist längst abgebrochen, und ein hohes, stattliches, modernes Gebäude erhebt sich, wo er gestanden. Frau Hornemann ist todt, der Commerzienrath auch; er liegt auf einem der Kirchhöfe Londons begraben – er hatte es nicht ertragen können, ohne die lustigen Augen seines Kindes zu leben, und war ihr nachgezogen. Die beiden Paare leben noch, aber sie sind alte Leute; nur in stillen, einsamen Stunden oder Nachts im Traume besucht sie manchmal ihre Jugend.
Die Revolution ist fast vergessen; die Kinder einer bessern Zeit wollen kaum noch etwas von ihr wissen. Von denen, welche den klaren, sonnig funkelnden Wein in die Gläser gießen und schlürfend seine Blume athmen– wer von ihnen fragt nach der Zeit, da der gährende Most im Fasse wühlte und seine Perlen und Blasen trieb?
Nach langen Kreuz- und Querfahrten befand ich mich auf dem wenigstens provisorischen Kriegsschauplatze, war aber in Verlegenheit, wohin ich meine Schritte lenken sollte, um ja die Hauptaction nicht zu versäumen. Es war meine Absicht, von Bukarest nach Galatz zu gelangen, weiter als Braila ging jedoch der Zug nicht. Aus einem einfachen Grunde, einfach besonders bei den wohlbekannten und nach Gebühr beleumundeten Constructionsverhältnissen der rumänischen Bahnen. Der stürmische, heftige, achttägige Regen hatte die famose Borboschi-Brücke gänzlich unfahrbar gemacht und ein gutes Stück des Eisenbahndammes weggeschwemmt. Die Elemente hatten also übernommen, wozu die Türken zu faul gewesen sind. Die vielbesprochene Brücke, die den raschen Bahnverkehr zwischen der Moldau und der Walachei vermittelt, war zerstört und weder Civil noch Militär konnte durch. Endlos waren die Wagenreihen mit Mannschaft, Pferden und Munitionskarren besetzt; sie konnten nicht vom Fleck – und wir auch nicht. Schon hatte ich mich entschlossen, nur um dem boshaften schadenfrohen Gekicher der Bediensteten des Restaurationslocals zu entgehen, Kehrt zu machen und mit dem in einer viertel Stunde nach Bukarest abgehenden Zug diese „Concentration nach rückwärts“ zu vollziehen, als ich fühlte, wie man mir auf die Schulter klopfte. Ich drehte mich um. Welch eine Ueberraschung! Hinter mir stand, eine wohlbekannte, befreundete Figur, Herr von Z., ein Pariser Lebemann, mit dem ich öfters und bei stets angenehmen Gelegenheiten verkehrte, ein Mäcen, der im Künstlerviertel gut angeschrieben ist und mit den Spitzen der Pariser Literatur und Journalistik auf dem vertrautesten Fuße lebt. Der Held des Salons trug heute hohe Stiefel und an der Seite den breiten Pallasch. Statt der Blumen auf der Brust schmückten dieselbe mehrere im Kaukasus und in der Krim erkämpfte Medaillen. Einige Worte, die der gegenseitigen Begrüßung folgten, klärten Alles auf. Von Z., der, nebenbei bemerkt, einer großen adligen Familie Rußlands angehört, hatte den Gedanken nicht ertragen können – im besten Mannesalter und ledig – während des Sommers den gewohnten Bade-Cyklus durchzubummeln, während seine Freunde und Bekannten daheim im Begriffe waren, die Oper „Das Leben für den Czaren“ in der Wirklichkeit aufzuführen. Er war nach Petersburg geeilt und hatte es durch hohe Einflüsse durchgesetzt, in dem nämlichen Regimente, wo er vor zwei Decennien gedient hatte, einzutreten. Das Regiment lag nun in Braila. Als
[411] Herr von Z. sich erbot, mir als Cicerone zu dienen, und gar von Gastfreundschaft in seinem Quartiere sprach, war bei mir von der beabsichtigten Concentration nach rückwärts vorläufig keine Rede mehr. Ein rothausgeschlagener Wagen mit zwei guten Pferden, wie man sie überall in der Walachei findet, selbst in den entlegensten und kleinsten Ortschaften, nahm uns auf, und wir fuhren mitten in strömendem Regen in das Quartier meines Freundes, welches am nördlichen Ausgange der Stadt lag.
Ich dachte, daß das Geknatter in dieser Gegend kein Ende nehme – ich war aber eine Stunde im Quartier meines Gastgebers und hatte noch keinen einzigen Schuß gehört. Herr von Z. bemerkte, daß, seitdem der famose Monitor in die Luft geflogen, die Türken von ihrer in den ersten Tagen documentirten Bombardirungswuth vollständig gelassen hatten, dies zur nicht geringen Befriedigung der Bewohner der Stadt, die sich einbildeten, man würde ihre Behausungen in einen Schutthaufen verwandeln, und die nun mit dem heilen Schrecken und einigen durchlöcherten Mauern davongekommen sind.
„Aber mich wundert,“ bemerkte Herr von Z., „daß unsere Leute heute so beharrlich schweigen; sie pflegen sonst die Nachbarn drüben zu begrüßen – richtig, man feiert ja heute den Namenstag des Platzcommandanten und deshalb wird er wohl den Artilleristen, da nichts zu besorgen ist, Ruhe gegeben haben.“
Das Fest wurde in dem größten Gasthofe, „Hôtel St. Petersbourg“, gefeiert, und wir fuhren dorthin.
In der Restauration knallten die Champagnerstöpsel; ein Toast folgte auf den andern; mit slavischer Ueberschwenglichkeit umarmten sich die Cameraden und küßten einander, daß es schnalzte. Eine Regimentscapelle trug das Ihrige zur Erhöhung der festlichen Stimmung bei, und draußen behingen flinke Artilleristen den Eingang des Festsaales mit Laternen. Inmitten der allgemeinen Festlichkeit, die drinnen herrschte, war mir der Ernst mehrerer junger Officiere aufgefallen, von denen zwei die Uniform des Ingenieurcorps, zwei jene der Artillerie trugen. Von Z. hatte mit denselben einige Worte gewechselt und raunte mir in’s Ohr: „Es bereitet sich für heute Nacht etwas vor; was es ist, kann ich Ihnen nicht sagen, aber es giebt für Sie etwas zu sehen.“
Da von Z. Nachtdienst hatte, verließ er mich bald und wiederholte, daß sein Diener Befehl habe, auf mich zu warten. Ehe er wegging, stellte er mich jedoch einigen Officieren, neben welchen wir saßen, vor. Das Gespräch wurde durch die Dazwischenkunft eines rumänischen Officiers unterbrochen. Die Herren plauderten deutsch – wahrscheinlich in der Meinung, daß die Sprache für mich eine unverständliche wäre. „Nun?“ fragte der Russe, „waren Sie drüben?“
„Den ganzen Nachmittag,“ antwortete der Rumäne, der offenbar – das merkte ich an dem Accente – in Wien studirt haben mußte. „Ich war wie gewöhnlich als Dattelnhändler mit meiner Ladung Früchte nach Matschin gekommen – und was der Zufall will! Ein Matrose ladet mich ein, mit ihm auf das vor der Canalbiegung ankernde Schiff zu kommen, weil der Capitain ein großer Dattelnfreund wäre und mir gewiß meine Waare gut abkaufen würde. Zuerst glaubte ich mich entdeckt und besorgte, in eine Falle zu gehen – aber die Aussicht, das feindliche Terrain mit eigenen Augen zu recognosciren, siegte über alle Bedenken. Ich ging mit der Barkasse an Bord des Monitors.“
„Wirklich?“ unterbrach der Russe.
„Wie ich es Ihnen sage. Der Capitain, ein dickbäuchiger Effendi, hoch in den Vierzig, kaufte mir meine Datteln ab und warf mir dafür diese Münze zu –“ der Rumäne zog einen silbernen Medjise aus der Tasche – „und als ich ihm herausgeben wollte, wies er das Kleingeld zurück, aber begann mich auszufragen. Er hielt mich offenbar nicht für einen Spion, wohl aber für einen jener Landstreicher, die in solchen Zeiten überall herumkommen und durch welche nicht immer Wahres, aber immerhin Etwas zu erfahren ist. Der Effendi bekümmerte sich ganz besonders um die Musik und das festliche Gewoge, welches seit heute früh vom Schiffe aus gehört und beobachtet wurde. Ich erzählte sofort, daß im russischen Lager wegen der Einnahme von Ardahan Schnaps und Bier für die Soldaten, Champagner für die Officiere in Strömen flossen, und daß vor Einbruch der Nacht Alles hier – total betrunken sein werde. Der Effendi wendete sich zu den Officieren, welche aus der Schale sehr eifrig meine Datteln aßen: ‚so können wir wenigstens heute Nacht ruhig schlafen,‘ er gähnte dabei; ‚es wird uns nichts schaden.‘ Er winkte, und die nämliche Barkasse, die mich an Bord geführt hatte, brachte mich nach Matschin, von wo ich auf dem gewohnten Wege an’s andere Ufer gelangte.“
„Und haben Sie sich,“ fragte der Russe, „den Standplatz des Monitors auch ganz genau gemerkt?“
„Ich könnte im Finstern hin treffen.“
„Gut,“ antwortete der andere Officier, „heute Nacht muß es geschehen; ich will nur mit dem Commandanten reden.“
Er ging zum General, der oben an dem Ehrenplatze der Tafel vor einem riesigen Blumenstrauße saß. Er raunte dem Vorgesetzten einige Worte in’s Ohr; der General that sehr verwundert und nickte schließlich zustimmend. Indessen wendete ich mich deutsch an den rumänischen Officier und eröffnete ihm, die Aufrichtigkeit gebiete mir zu erklären, daß ich das soeben Gesprochene verstanden hatte. Der Rumäne war ziemlich bestürzt, und wechselte mit dem russischen Officier einige erregte Worte. Dieser aber beschwichtigte ihn mit ruhiger Bewegung der Hand und äußerte, daß, da die Sache einmal beschlossen sei, es nicht darauf ankomme, ob einer mehr oder weniger davon wüßte. Ja, er lud mich sogar ein, den Vorbereitungen zur „Operation“ beizuwohnen, wenn ich dazu, trotz des rauhen Wetters, einige Lust verspürte. So ging es denn hinaus, durch die ganze bereits stille Stadt, hinaus an das Wasser. Die ausgelassene Freude der Soldaten schien sich in’s Unendliche gesteigert zu haben; die nationalen Gesänge erschallten, und wenn man näher kam, sah man die abenteuerlichen Gestalten sich in raschen Reigen drehen. Die Türken jenseits des Matschinarmes, in der Stadt Matschin, wo man einige Lichter flackern sah, mußten sich in der That beruhigt fühlen. Ein Heerlager, wo man sich amüsirt, kann auf nichts Böses sinnen. Die Donau beschreibt bei Braila eine Biegung um die Stadt, und diese Biegung ist es, die man den Matschincanal zu nennen pflegt. Am Ein- und Ausgange wurden von den Russen starke Batterien errichtet; wir begaben uns zu jener oberhalb der Stadt. Ich konnte nicht umhin, die Stärke des Baues und die Zweckmäßigkeit der schützenden Erdarbeiten zu bewundern. Jede Kanone, die ihren ungeheuren, ehernen Schlund neugierig in die Nacht hinaus steckt, ist da in eine Behausung untergebracht, wo die Kanoniere bequem und sicher manövriren konnten; hinter der Batterie, welche in ihrer Gesammtheit eine Art von Schanze bildete, befindet sich das ziemlich geräumige Blockhaus. Auf dem Schiffe eines der Officiere trat ein Unterofficier der Artillerie aus dem Blockhause; der Officier redete ihn russisch an, und der Mann kehrte nach einer Weile zurück, von etwa zwölf Artilleristen begleitet. Vier davon trugen je zwei zu zwei einen Kübel, der eine blecherne Hülse enthielt. Lautlos setzte sich der kleine Zug in Bewegung, in der Richtung nach der Donau hinunter.
„Ich muß Sie aufmerksam machen,“ bemerkte einer der Ingenieur-Officiere, „daß die Sache eine sehr gefahrvolle ist. Was Sie in den Kübeln sehen, sind Torpedos. Wir werden trachten, das Zeug unter einem der Monitors anzubringen, die da hinten im Schilfe lagern. Wird die Mannschaft an Bord des Ungethüms rechtzeitig alarmirt, so genügen zwei Salven, um uns auf den Grund zu schießen. Auch wenn das Feuerwerk zu früh losgehen sollte, könnten wir mit den Türken zusammen das Bad nehmen.“
„Aber wie gelangen Sie hin?“ fragte ich.
Wir waren an den Rand des Wassers gekommen. Auf der Oberfläche schaukelten sich zwei sehr winzige, zierliche Dampfer, so klein, daß sie auf einem Garten-Bassin hätten schwimmen können, mit einem engen, fadenscheinigen Schlauch, so dünn wie eine Häringssehne. Aus den beiden Schläuchen quoll Dampf. Schweigend nahmen Officiere und Mannschaften, je zur Hälfte, auf einem der kleinen Fahrzeuge Platz.
„Finden Sie Ihren Weg allein zurück?“ fragte mein Officier. „Wenn nicht, so warten Sie auf unsere Rückkehr, was hoffentlich nicht lange dauern wird!“
Ich sah noch, wie der Torpedo aus dem Kübel geholt wurde und wie mit ungeheuerer Vorsicht ein großer Draht hineingefädelt wurde. Darauf hörte man leise im Wasser plätschern, aber die Nacht war so stockfinster, daß man auf zwanzig Schritt die Fahrzeuge nicht mehr sah, die sich entfernt [412] hatten. Es regnete zwar nicht mehr so stark, aber noch immer war die Luft höchst rauh und unwirthlich. Ich stand etwa zehn Minuten am Ufer, als sich plötzlich die Wolken zertheilten und der Mond, der ja im Kalender als „voll“ angegeben war, schalkhaft herunter lächelte. Der Lichtstrahl zeigte mir genau hinter dem hohen Schilf der Insel das eiserne Ungethüm, den „Monitor“. Es war eine ungeheuere klumpenartige Masse, etwa wie ein Haus, das, in’s Wasser getaucht, mit eisernem Schornstein über die Fluthen emporragt. Majestätische Stille lagerte um das Ungeheuer.
Es wollte mir scheinen, als läge auch in dieser Stille ein gutes Stück echt türkischer Sorglosigkeit. Immer deutlicher zeigten sich die Umrisse der Wasserfestung, aber vergeblich schaute ich mich nach den beiden Booten um. Das einzige Anzeichen, welches auf deren Anwesenheit zu schließen erlaubte, war ein sehr schwacher Qualm, der über dem Schilf aufstieg. Richtig hörte ich das Geplätscher wieder und konnte noch sehen, wie eines der Boote mit aller Raschheit dem Monitor zueilte und hart an dessen eiserner Armatur anlegte. Doch hier wurde der Vorhang herabgelassen; das heißt: der Mond verbarg sich abermals hinter einer Wolke. War nichts mehr zu sehen, so hörte ich vom Winde getragene menschliche Laute; es war mir sogar, als erkenne ich die Stimme des rumänischen Officiers, der sich der Expedition angeschlossen hatte.
Plötzlich dröhnte ein Schuß und darauf ein zweiter. Das Leuchten des zweiten Schusses zeigte mir, wie in einem Traume, die Vision einer türkischen Schildwache, welche, auf der Verdeck-Brücke des Monitors stehend, zielte. Nun krachte es vom rumänischen Ufer. Nach fünf Minuten aber vernahm ich wieder das Geklapper der Räder im Wasser, und der eine der kleinen Dampfer legte an. Einer der Officiere hielt ein Ende des Drahtes, den ich früher an den Torpedo befestigen gesehen hatte, in der Hand.
„Nun?“
„Alles vortrefflich gelungen,“ antwortete ein Officier. „Wir kamen von hinten angefahren, die Anderen von vorn. Wir gelangten unbemerkt bis an den Kiel, und unser Taucher,“ er deutete auf einen durchnäßten Artilleristen, „brachte das ‚Ding‘ am richtigen Fleck an. Die Kerls müssen schlafen wie die Murmelthiere. Sie hatten wirklich nur eine einzige Schildwache. Diese war es, welche das andere Boot mit einem türkischen ‚Wer da?‘ anrief. Der Rumäne, welcher das Türkische ausgezeichnet spricht, stellte sich als ein angetrunkener Officier der Flotille, der etwas verspätet aus Matschin ankam und dem Muselmann an’s Herz legte, seinetwegen keinen Scandal zu machen. Als der Dampfer sich zu entfernen begann, schoß der Türke natürlich darauf los, aber es war zu spät. Hier sind die Uebrigen.“
Und wirklich war auch das zweite Kanonenboot sammt der Bemannung da. Man beglückwünschte sich gegenseitig; es begann wieder stark zu regnen. „Ist’s Zeit?“ fragte der Officier, welcher den Draht in der Hand hielt. Der Ingenieur antwortete mit einem Kopfnicken. Es leuchtete in die Nacht hinein, wie wenn in einem finstern Zimmer Feuerstein geschlagen wird. „Zurück! Zurück!“ hieß es, und Alle eilten die kleine Anhöhe hinauf, wo die Batterie stand. Da gab es einen Knall, so fürchterlich, so erschütternd, daß mir noch jetzt die Ohren davon summen. Nach diesem Knall folgte ein Geprassel, das ungefähr fünf Minuten dauerte, beinahe als wenn man mit einem halben Dutzend Mitrailleusen geschossen hätte. Nach diesem Geprassel noch ein Knall und darauf ein stärkerer – und dann nichts mehr. Aber von der Batterie aus sahen wir die Oberfläche des Wassers in einem weiten Umkreis geröthet, ob geröthet von Feuer oder von Blut – es wäre schwer zu sagen. Aber es war eine unheimliche Röthe, besonders da die hineinplätschernden Regentropfen hundert und hundert von kleinen Lachen bildeten. Auf der röthlichen Oberfläche schwammen einige Trümmer, aber als folgten sie einer unwiderstehlichen magnetartigen Anziehungskraft – sie versanken auf der nämlichen Stelle in die Tiefe des hochangeschwollenen Stromes.
Der Monitor war durch die fürchterliche Wirkung der mit Dynamit gefüllten Torpedos in Fetzen gerissen, so ungefähr wie ein ärgerlicher Brief in den Händen eines jähzornigen Adressaten. Daß die großen Trümmer die gewaltigen Bestandtheile der eisernen Armatur waren, konnte leicht errathen werden, aber die kleinen bunten Stücke, die eine Weile lang herumschwammen? In viele Bruchtheile mögen wohl die achtzig Mann der Besatzung zerrissen worden sein, die, als die Katastrophe sich ereignete, in tiefstem Schlummer lagen. Einer der Officiere gedachte ihrer. „Arme Leute,“ sagte er, „aber der Krieg!“ Ist’s denn aber auch Krieg, diese moderne nächtliche Massenbeförderung von Schlummernden in die Ewigkeit, und weckt da noch der Krieg, wie früher, alle Gedanken persönlichen Muthes wie mit Gefahren verbundenen Trotzes gegen den Feind von Angesicht zu Angesicht? –
In dem Festlocal hatten sich die Reihen wohl ein wenig gelichtet. Die Wenigsten wußten, was für eine Expedition geplant worden, als sie aber in dem Speisesaal den fürchterlichen Krach vernahmen, theilte man ihnen mit, um was es sich handle. Nun wurde frischer Sekt gebracht, um das Gelingen des Coups würdig zu feiern. In Braila selbst war Alles, was von Spießbürgern noch dageblieben ist, aus den Federn gefahren, als der Krach vernommen wurde. Es gab Conventikel auf dem Marktplatz, als die Leute aber hörten, daß wieder eines jener Ungeheuer, die ihnen so immensen Schrecken einjagten, zum Teufel geschickt worden, freuten sie sich unbändig. Am nächsten Tage besah ich mir die Stelle der Katastrophe. Auf den Regen war gewaltige Schwüle gefolgt; die vorübereilenden Wolken senkten sich einzeln hinter den Wasserspiegel, als wollten sie die Seelen der am kühlen Grunde Ruhenden im Paradiese Mahomed’s aufnehmen.
Rumänische Volksmiliz. (Mit Abbildung Seite 399.) Mit vielem Geschick und nicht ohne einen glücklichen humoristischen Wurf ist es unserm Artisten auf dem Kriegsschauplatze gelungen, die militärischen Schwächen des kleinen politischen Gerngroß Rumänien in einem charakteristischen Bilde zu verkörpern. Der komische Ernst und Eifer, mit dem die trefflichen Söhne der Donau hier ihre strategischen Studien machen, die possirliche Art, mit der sie die ungewohnten Waffen handhaben, und das bunte Allerlei dieser schnell improvisirten Waffen selbst – alles das giebt ein wirkungsvolles Gesammtbild, welches dem Beschauer die früher nur schüchtern gehegte Hoffnung von der zukünftigen nationalen Größe des Donaufürstenthums nunmehr als untrügliche Gewißheit vor’s Auge rückt. Mit solchen Kämpfern kann das Gängelkind Rußlands den Weg des Ruhms nicht verfehlen.
Berichtigung. In einem Theile der Auflage ist in dem Feuilleton-Artikel der Nr. 22: „Leicht Gepäck“, der Schriftstellername des Dr. Fleckles mit August, statt mit Julius Walter angegeben. Wir bitten dies zu corrigiren.
Den vielen Einsendern zorniger Missions- und sonstiger Blätter der orthodoxen Richtung sagen wir für diesen Beweis der Sympathie, besonders aber für die freundlichen, oft humoristisch gefärbten Begleitschreiben hiermit unsern wärmsten Dank und bitten uns von der zeitraubenden Abfassung von Separatantworten gütigst dispensiren zu wollen. Wir sehen aus der Fluth so erfreulicher Zustimmungen, daß unsere alten Freunde uns trotz schwarzer und rother Widersacher noch immer getreu zur Seite stehen. Die von einigen Seiten ausgesprochene Aufforderung, wir möchten die auf uns geschleuderten Wurfgeschosse in gleicher Weise erwidern, war doch wohl nicht ernst gemeint? Eine solche Erwiderung wäre übrigens heute, wie wir offen erklären, um so weniger an der Zeit, als wir inzwischen durch authentische Mittheilungen von ehrenwerther Seite belehrt wurden, daß sich in dem vielfach angefeindeten Artikel „Das Wupperthal als Hort der Orthodoxie“ (in Nr. 3 unseres Blattes) mehrere Ungenauigkeiten und unbegründete Behauptungen eingeschlichen. Die Verantwortung für dieselben müssen wir dem Herrn Verfasser überlassen, welcher uns in seiner Zuschrift ausdrücklich erklärt, daß er sich auf verbürgte Thatsachen stütze.
K. M. in Sch. Nein! Ihre Vermuthung ist falsch. Die schöne Illustration in Nr. 20: „In der Künstlerwerkstatt“, ist nach einer Photographie der „Photographischen Gesellschaft in Berlin“, nach dem Oelgemälde des Malers, auf Holz übertragen.
L. P. in B. Etwaige Manuscripte sind, wie bereits mehrmals angezeigt, stets an den Redacteur dieses Blattes, Herrn Ernst Keil, einzusenden.
- ↑ Der Bau des Hauptthurmes wurde eingestellt, als im Jahre 1492 große Steine aus dem Thurmgewölbe herabfielen. Unter Engelberger's Leitung wurde der Thurm unterfahren und, wohl ebenfalls der größeren Sicherheit wegen, die beiden Seitenschiffe durch Reihen schlanker Säulen in je zwei abgetheilt.
- ↑ Der Herr Verfasser hat, wie nachfolgende Mittheilungen zeigen, unsere gelegentlich seines vorigen Artikels (Nr. 22) ausgesprochenen Wünsche ebenso freundlich wie schnell erfüllt, indem er uns als erste Berichterstattung vom Kriegsschauplatze diese unseres Ermessens sehr geschickte Schilderung eines äußerst interessanten Vorgangs einsendet.D. Red.