Die Gartenlaube (1877)/Heft 21
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No. 21. | 1877. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Das Gespräch hatte sich im Fluge abgesponnen, während der Commerzienrath sich unter der Decke wand. Seine Zähne knirschten. Urban nahm die Arzenei heraus und hielt sie vor sich.
„Ich werde Ihrem Wunsche vielleicht entsprechen, aber nicht gezwungen. Hier halte ich Ihre Rettung eingeschlossen, Contrebande, vernehmt von der Union: es ist die Arzenei Hornemann’s, und ich bin der Einzige, der sie zu vergeben hat. Ihr Leben gegen mein Glück, ein bedingungsloses Glück –“
„Ja, ja, wie Sie wollen.“
„Einen Moment Geduld! Man muß von Erfahrungen lernen.“
Urban ging, ohne weiter auf die flehenden, begierigen Augen zu achten, raschen Schrittes hinaus und stieg treppab. Er eilte durch die stillen, dunkelnden Zimmer bis in das Arbeitsgemach des Fabrikanten. Hier entzündete er eine Kerze, suchte Papier und warf rasch ein paar Zeilen hin, welche er kurz nachher nebst der gefüllten Feder in das Krankenzimmer brachte. Es war ihm Niemand begegnet; er hatte unterwegs keinen Laut vernommen, ausgenommen den Schall seiner Tritte. Das stolze Haus war wie ausgestorben.
Auf dem Nachttischchen, von dem das Licht der großen Hauslampe über das Bett fluthete, lag ein Buch; der Commerzienrath mochte wohl gewöhnlich vor dem Einschlafen noch lesen. Der Arzt nahm es mit entschlossener Bewegung, legte die Schrift darauf und reichte dem Commerzienrath die Feder. „Ich möchte Sie gegen Reue sichern,“ sagte er fest.
Die weiße, marmorkalte, zitternde Hand des Kranken nahm mit fiebernder Hast die Feder; er raffte alle Kraft zusammen und unterzeichnete. Es war ein gespenstischer Anblick, wie die hagere Gestalt des alten Mannes mit der weißen Flanelljacke und der nickenden Spitze der Nachtmütze, halb aufgerichtet, sich über das Papier neigte.
Er ließ die Feder fallen und sank zurück. „Ich habe nichts lesen können, Doctor, aber ich vertraue Ihnen. Und nun – Barmherzigkeit! Geben Sie mir die Arzenei! Es packt mich wieder –“
„Johannes!“ rief Urban, indem er das Buch auf den Tisch legte und mit dem Korkzieher seines Messers in den tief gestoßenen Pfropfen der Flasche bohrte.
Der Kutscher trat ein.
„Würden Sie sich freuen, wenn Fräulein Toni und ich ein Brautpaar wären?“
„Wie Gott will,“ entgegnete Johannes mit einem scheuen Blick nach dem Bett; „Ehen werden im Himmel geschlossen.“
Urban blinzelte ein wenig mit den Augen; die ehrlichen Worte des wackeren Mannes da klangen wie ein Hohn auf ihn, aber es war jedenfalls ein unfreiwilliger Hohn.
„Es ist so, Johannes, und auf dem Blatte da steht es, von mir und dem Herrn Commerzienrath unterschrieben. Ihr armer, kranker Herr aber wünscht, daß Sie Ihren Namen auch noch darunter setzen. – So! Und nun reichen Sie mir einmal das Glas da – und nun die Wasserflasche!“
Urban hatte die Arzenei durcheinander geschüttelt und eingegossen, und der gequälte alte Mann im Bette trank mit gierigen Lippen.
„Mehr, Doctor!“ stammelte er lechzend.
„Es kann nicht schaden,“ murmelte der Arzt und goß nochmals ein Gemisch von Arzenei und Wasser zusammen.
„Nun verlassen Sie mich nicht! Um Christi willen bleiben Sie bei mir!“
Urban besann sich.
„Gut,“ sagte er endlich, und durch die bisherige Kälte in seinem Wesen brach es wie unwillkürliche warme Theilnahme. „Ich bleibe. Ich bin kein Feigling, und soviel an mir liegt, will ich mein Wort ganz und voll einlösen.“
Es waren ein paar Stunden tiefer, mühsam verhaltener innerer Aufregung, die Urban an dem Krankenbette des Mannes zubrachte, mit dessen Leben er experimentirte; jedes Aechzen und Stöhnen, jedes gewaltsame Aufzucken der Krankheit rüttelte sein Inneres auf. Es war ihm immer, als müsse er beten: Herr des Himmels, binde deinem Würgengel die Hände, nur dies Mal, nur dies eine Mal! Er nahm die Hülfe des alten Dieners draußen nicht in Anspruch; er fand einen Trost darin, jede Hülfeleistung mit eigener Hand zu gewähren. Nur einmal trat er leise auf die Schwelle des Nebenzimmers und rief: „Johannes!“
Der treue, alte Mann saß zusammengekauert auf dem Stuhle; er hatte die Hände über die Kniee gefaltet und das Gesicht tief geneigt.
„Johannes, beten Sie für den Herrn Commerzienrath, daß Alles gut gehen möge!“
„Das thue ich allbereits seit einer Stunde, Herr Doctor,“ sagte der fromme Mann und hob sein ehrliches, bekümmertes Gesicht zu dem Arzt auf.
[342] „Er schläft, Johannes, und ich hoffe, er wird am Leben bleiben.“
Da drückte der alte Mann die dargebotene Hand wie mit eisernen Klammern und fuhr sich mit dem Aermel über die Augen.
„Gott sei gepriesen! – Wollen Sie wirklich gehen, Herr Doctor?“
„Ich muß ein Stündchen in’s Freie hinaus; später komme ich wieder. Wenn er Durst bekommt, geben Sie ihm zu trinken!“
Als der Arzt an den Zimmern Toni’s vorbei ging, stand die Thür ein wenig offen und die Frau des Kutschers, wie er an der Stimme erkannte, steckte den Kopf heraus und flüsterte: „Das gnädige Fräulein ist in Todesängsten, Herr Doctor, und möchte gern wissen, wie es dem Herrn Commerzienrath geht; von uns hat sich Keiner hinüber getraut.“
Urban faßte nach der Thürklinke, aber da verschwand der Kopf mit einem Male und die Thürspalte verengte sich bis zu einer schmalen Ritze. „Bitte, Sie möchten nicht hereinkommen,“ hörte er sprechen.
„Nun dann – Bestellen Sie einen Gruß an meine Braut, und daß ich ihr sagen ließe, es sei Alles gut! Alles – hören Sie wohl? Das müssen Sie betonen.“
Er stieg die Treppe hinunter; die Hauseingänge waren unverschlossen; in der Verwirrung hatte sich Niemand um sie gekümmert. Er wählte den nächsten Weg in’s Freie, der auf die Chaussee nach der Erlenfuhrt führte.
Als er in die Nähe der Schmiede kam, in welcher noch gearbeitet wurde, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Eine menschliche Gestalt schlenderte langsamen Schrittes vor ihm her, und als sie den Feuerschein passirte, der aus dem thorartigen Eingang der Schmiede strömte, glaubte Urban in dem Spaziergänger Bandmüller zu erkennen.
Eine rasche Combination wollte ihm diesen Einfall bestätigen: er gedachte der Zigeunerin und der Mittheilungen, welche der Fabrikleiter ihm in der Morgenfrühe gemacht. Zugleich aber kamen ihm die Eröffnungen des Commerzienrathes in die Erinnerung. „Doppelzüngiger Schurke,“ murmelte er, und es wallte zornig in ihm auf, „jetzt dürfte ich die Macht in Händen haben, dich zur Rechenschaft zu ziehen.“
Sein Auge folgte scharf den Bewegungen des Mannes vor ihm, und seine Schritte beschleunigten sich unwillkürlich, indem er zugleich so leise wie möglich auftrat. Er sah, daß der Mann um die Schmiede bog und am Rande des Buschwerks verschwand.
Urban ging quer über das flache Stück Terrain vor ihm und fand unschwer den Eingang des Weges, in welchen jener eingetreten war. Er stand einen Augenblick und horchte, aber er vernahm nur in ziemlicher Entfernung etwas wie ein leises Rascheln und schritt alsbald entschlossen, aber mit Vorsicht das Anstreifen vermeidend, den schmalen Pfad hin. Ein paar erschreckte Vögel, welche von ihm aufgescheucht sein mußten, schwirrten ihm entgegen, und der Flügel des einen streifte fast sein Gesicht. Der Weg dehnte sich weiter und weiter und lenkte immer mehr nach rechts ab. Plötzlich tauchte die Gestalt des Verfolgten wieder vor ihm auf, aber nur auf einen Augenblick. Und nun tönte ein Aufkreischen durch die nächtliche Stille, grell wie der Schrei eines Raubvogels, um auf's Neue dem geheimnißvollen Schweigen Platz zu machen.
Der Arzt beflügelte seine Schritte, hielt aber dann plötzlich inne und drückte sich zwischen das Gesträuch. Unter einem Baume hervor schleppte der Mann den kraftlosen Körper eines Weibes, den er um die Brust gefaßt hielt, und ließ ihn an der Berglehne niedergleiten. Der Hut war dem Manne vom Kopfe gefallen und Urban hörte seinen Athem keuchen.
Es drängte ihn vorwärts, aber er bezwang sich.
In der Hand des Menschen flammte ein Zündholz auf. Kein Zweifel – es war Bandmüller, der ihm da den Rücken kehrte; auf dem Rasen aber lag die braune Juschka, völlig wehrlos, ein Tuch im Munde, die Handgelenke zusammengeschnürt. Die kleinen braunen Hände zerrten an dem Tuche, und das Gesicht arbeitete krampfhaft, während die großen, schwarzen Augen Blicke voll Angst und tödtlichen Hasses auf den Gewaltthätigen schleuderten.
„Wie nun, mein Engelchen?“ sagte höhnisch die Stimme des Fabrikleiters. „Noch immer so rachsüchtig? Glaubst Du denn, daß wir hier in einer Wildniß leben, wo jeder thut, was er will und kann? Hast Du niemals gehört, daß es verboten ist, nach anderen Leuten mit Dolchen zu stechen, und daß man Leichtsinnige, welche der Lust dazu nicht widerstehen können, zwischen vier nackte Wände sperrt, um ihnen das klar zu machen? Und nun gar ein Mädchen! Und wie liederlich Du aussiehst – die Brust halb offen –“
Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter; er wandte sich jäh um und blickte in das finstere Gesicht des Arztes. Das Feuerzeug, welches er hielt, entfiel ihm; der Brand an dem einen Zündholz erlosch auf dem feuchten Rasen, und die ganze Gruppe tauchte in das Dunkel der Nacht.
„Sie hier?“ stammelte der Ueberraschte, „muß Sie der Teufel mir überall in den Weg führen?“
„Ich denke, Sie sparen sich den übrigen Theil Ihrer Anstandslection,“ sagte Urban mit erzwungener Kälte. Er bückte sich und nahm der Zigeunerin das Tuch aus dem Munde.
„Was wollen Sie hier? Warum mischen Sie sich in meine Angelegenheiten?“ fragte Bandmüller zornig, der seine ganze Frechheit wieder gefunden hatte.
Urban richtete sich rasch auf und trat dicht vor ihn hin. Er sah das Weiße im Auge seines Gegenüber blitzen.
„Was ich will?“ grollte es aus ihm hervor. „Sie vor einem neuen Lumpenstreiche schützen –“
„Oho! Sie wissen, daß Sie nicht zu allen Zeiten ein Feind solcher Streiche gewesen sind.“
Dem Doctor schoß das Blut in's Gesicht. Gerade das Treffende dieser boshaften Bemerkung raubte ihm die Selbstbeherrschung, und er packte mit eisernem Griffe die Arme des Fabrikleiters und schüttelte ihn wie einen leeren Rock.
„Mensch,“ sagte er dumpf. „Du bist der Letzte, der ein Recht hat, mich für die häßlichste Sünde meines Lebens zur Verantwortung zu ziehen. Du wirst Dich hüten, sie zu verrathen, wie Du unsere Revolutionspläne verrathen hast.“
„Ah! Wissen Sie schon?“ entgegnete der Gepackte mit schmerzhaftem Lachen, wie im Gefühl seiner Ohnmacht einlenkend. „Hat mich der Alte doch verrathen? Nothwehr, nichts als Nothwehr! Ich kann mir freilich denken, daß Sie nicht sehr erbaut über den Verlust einer solchen Braut sind. Aber schließlich will Jeder zu etwas Rechtem kommen. Lassen Sie mich doch los! Ihre Hände sind ja wahre Schraubstöcke.“
„Sie haben Recht,“ sagte Urban ironisch und trat einen Schritt zurück. „Wir wollen einmal versuchen, wer von uns Beiden den Anderen aus seinem Wege zu räumen vermag. Im gegenwärtigen Falle werden Sie kein Bedenken tragen, das Terrain mir zu überlassen.“
„Angenehmes Schäferstündchen, werther Herr Doctor!“ war die grinsende Antwort. Bandmüller drehte sich um. „Ja so – ich will meinen Hut nicht im Stiche lassen,“ sagte er plötzlich und verlor sich, an Urban vorbeistreifend, im Dunkeln.
Urban kehrte sich der Stelle zu, wo die Zigeunerin gelegen – sie war leer. Er schränkte die Arme in einander, bis er den Fabrikleiter durch die Büsche brechen hörte, – ferner und ferner.
„Juschka!“
Keine Antwort.
„Thörichtes Mädchen, ich will Dein Bestes. Ich habe Dich gerettet und fordere Vertrauen.“
Es knisterte, wie wenn Waldmäuse durch dürres Haidekraut schlüpfen, aber es kam nichts. Er stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf und war im Begriffe zu gehen. Da knackte ein Zweig hinter ihm; er wandte noch einmal das Gesicht, und da stand die Zigeunerin, kaum fünf Schritt von ihm entfernt, den Kopf geneigt und die aus den Fesseln gelösten Hände schlaff zur Seite hängend.
„Die Juschka muß Euch danken, Herr, daß Ihr sie aus seiner Gewalt befreit habt,“ sagte sie mit unsicherer Stimme. „Was wollt Ihr, Herr?“
„Ich habe Dich zu finden gewünscht, Mädchen, seit ich erfuhr, daß Du Dich noch in der Gegend aufhältst. Ich bin noch tief in Eurer Schuld und will einen Theil meiner Rechnung abtragen. Wo sind Deine Leute?“
„Die sind weiter gezogen über die Berge,“ gestand sie zögernd.
Er trat überrascht einen Schritt näher.
„Also Du bist wirklich allein hier? Und wie willst Du sie wiederfinden bei Eurem Vagabundenleben?“
[343] „Wir haben unsere bestimmten Wege, Herr, und ich weiß, wo sie Halt machen auf der Fahrt und die Dascha ausspannen.“
„Aber es ist unverantwortlich von den Deinigen, Dich allein zurück zu lassen.“
„Sie wollten nicht mit der Juschka bleiben; da hat sie heimlich den Wagen verlassen,“ sagte die Zigeunerin trotzig. „Sie sind wie die Schafe; sie wollten fortlaufen, weil der Hund sie gebissen hatte. Meine Mutter liegt unter der Pappel, und ihr Blut trocknet auf der Erde, und der Mann, der sie in das Zelt geworfen hat, geht herum und lacht, weil der Muth von unsern Männern gegangen ist. Wer todtgeschlagen hat, soll sterben, sagen die alten Leute in unserm Volke.“
„Du bist toll, Mädchen.“ Urban lachte hell auf, und doch berührte ihn die trotzige Energie des jungen Geschöpfes sympathisch. Juschka wandte sich plötzlich verletzt um und machte Miene, sich zurückzuziehen.
„Bleibe, Kind! Ich spotte Deiner nicht. Gieb mir die Hand!“
Sie zögerte, aber endlich fühlte er die zarte, warme Hand in der seinen; er blickte lächelnd in die großen, furchtsamen Augen und sagte: „Kleine Juschka, ob Ihr unter einander Blut mit Blut vergeltet nach dem Spruche Eurer alten Leute, das weiß ich nicht. Aber wer in unserm Lande lebt, Mädchen, der muß sich nach unsern alten Leuten richten, und wenn Du gethan haben würdest, was Du wolltest, dann würde man Dich einfangen, meine arme kleine Juschka, und so lange zwischen Mauern sperren, bis Deine glänzenden Augen trübe, Dein schwarzer Krauskopf grau und die Blüthe Deiner Haut welk geworden wäre. Du wirst mir versprechen, die Gegend hier zu verlassen und Deinem Wagen nachzugehen. Die Nacht ist hell und warm, und es ist besser für Dich, im Dunkeln zu wandern, als im Tageslicht.“
„Laßt die Juschka bleiben, Herr!“ sagte sie flehend. „Sie wird sich nicht wieder fangen lassen.“
„Du wirst gehorchen, Mädchen.“
„Und doch nicht, Herr!“
Urban schleuderte ihre Hand weg.
„So werden morgen Leute zu Fuß und zu Pferd durch die Gegend streifen, so lange bis sie Dich gefunden haben, und dann wird man Dich mit Gewalt zu Deinen Männern bringen.“
Der zornige Ton, in dem er das sprach, übte eine merkwürdige Wirkung. Sie stürzte ihm zu Füßen und brach in Schluchzen aus, so heftig, daß es ihm warm zum Herzen strömte. Er bückte sich und faßte sie um den schlanken, jugendlichen Leib, um sie aufzurichten; sie hing willenlos und kraftlos in den Armen des blühenden Mannes, und er sah in die strömenden, halb geschlossenen, dunklen Augen und auf den kleinen, zuckenden, halb offenen Mund –
Plötzlich ward sie lebendig; blitzschnell spannte sich jede Muskel ihres Körpers, und sie glitt ihm unter den Händen weg. Er hielt noch das Leere umarmt, als ihr weißer Oberkörper schon in einiger Entfernung durch das Schattendunkel leuchtete.
„Die Juschka geht, Herr,“ hörte er sie sagen.
Die Büsche rauschten auf und verschlangen sie.
Der Herbst ging hin, und der Winter ging hin, ein kalter, schneereicher Winter. Die Weltgeschichte hatte die Siebenmeilenstiefeln angezogen:
In Italien Aufstände. In der Schweiz der Sonderbund gesprengt, die Jesuiten vertrieben, die Verfassung regenerirt. In Frankreich die Reformbankets verboten, und trotzig und drohend die Einladung zum Februarbanket durch die Gassen und Straßen von Paris fliegend. In Baiern Sturz des Ultramontanismus; Straßenkampf in München. Ueberall düstere Stirnen, zuckende Nerven, eine gährende Zeit!
Wer die Augen schließt und aufhorcht, der vernimmt Geräusche, welche wie das Murmeln und Schwatzen, das Kichern und Flattern der Sturmgeister klingen, das dem Seemanne den nahenden Orkan verkündigt, während um das Schiff herum die Windstille lagert. Die Zeit der Vorboten, der spielenden Windwirbel, von denen die Segel aufflatterten, ist vorüber; was jetzt kommt, das ist der wuchtige Sturm mit seinen Schrecken.
Das letzte Februardrittel des Jahres Achtzehnhundertachtundvierzig hat begonnen, und es ist Windstille auch innerhalb der engen Grenzen, zwischen denen unsere Geschichte spielt – die nämliche Windstille, in welche das bedrohliche Geräusch des heranziehenden Sturmes herüberklingt.
Ein halbes Jahr verstrichen, und welche Veränderung!
Die Seuche ist längst erloschen. Sie verschwand, wie sie gekommen – plötzlich. Der Commerzienrath Seyboldt schlich noch auf matten Füßen durch sein Zimmer. Einige Zeit nachher glänzten die stattlichen Räume des Fabrikantenhauses vom Festgepränge einer Hochzeit; der Bräutigam war, einigermaßen zur Verwunderung befreundeter Kreise, Doctor Urban. Die Häupter der Union waren zugegen, und der Geheimrath Rehling gratulirte dem Doctor mit feinem Lächeln zu seiner Bekehrung. Was diesen veranlaßt hatte, einer solchen offenen Manifestation seiner veränderten Parteistellung zuzustimmen? Nun: man hatte ihm im Wiedenhofe sehr unverhohlen gezeigt, daß er dort ein Fremder geworden, und sein Trotz antwortete mit dem nackten Abfall. Aber das war nicht der alleinige Grund. Urban war seit der Krankheit des Commerzienrathes von einer Aufmerksamkeit und Nachgiebigkeit gegen denselben, die um so gewinnender war, je fremder sie an dem rücksichtslos selbstsüchtigen und stolzen jungen Manne erschien. Aber die Union sah sich in ihrer Hoffnung getäuscht, mit dem Arzte zugleich die Geheimnisse der demokratischen Partei gewonnen zu haben. Derselbe Mann, welcher durch Donner die Partei um Luft und Sonnenschein gebracht hatte, erklärte: er wolle sich der Union dadurch empfehlen, daß er sich weigere, ein Verräther zu sein.
Uebrigens schwärmte der Doctor sofort nach der Hochzeit mit seiner jungen Gemahlin in den Süden Europa's. Die weichen Lüfte Italiens, Griechenlands, des Mittelmeeres sollten wieder Rosen auf die noch blassen Wangen der Genesenen zaubern. Erst die Furcht, für unbestimmte Zeit durch die drohenden Februarunruhen von der Heimath abgeschnitten zu werden, führte den sonnengebräunten jungen Ehemann und die zierliche, blühende, glückliche Gazelle, welche sein eigen geworden, in die für sie hergerichtete obere Etage des Vaterhauses. Da saßen sie am lodernden Kamin, in dessen Schlot der Thauwind heulte, und Toni Urban war der nämliche Sonnenstrahl, der Toni Seyboldt einst gewesen war. – –
In den Fabrikräumen waltete kein Bandmüller mehr. Urban hatte leicht siegen, als er den Sturz des Fabrikleiters bewirken wollte; ein Bruchtheil des Materials, das ihm zur Verwerthung gegen denselben zur Verfügung stand, genügte, um den Kündigungsbrief zu erlangen. Bandmüller blieb in der Stadt; er hatte viel Verkehr, namentlich mit den Leuten aus der Seyboldt'schen Fabrik, und wenn er an den Karyatiden vorüberging, grub er die Hände in die Taschen und lächelte boshaft und vergnügt. – –
Auch in den Räumen des Zehren'schen Hauses, welche jetzt mit allem Comfort ausgestattet waren und wunderbar wohnlich anheimelten, waltete ein junges, schönes Weib als Gattin des Besitzers. Ernst und bestimmt, wie sie das Ja vor dem Altare der kleinen Dorfkirche gesprochen, glitt sie durch die Zimmer, wirthschaftlich sorgend und ordnend, freundlich, aber selten ein Lächeln auf den Lippen, das wie ein flüchtiger Sonnenblick mahnte, der über eine wolkenbeschattete Landschaft streift. Zehren küßte ihr die Hand; er küßte sie auf die Stirn, aber er hatte ihr nur einmal den Mund berührt, – vor dem Altar. Je wärmer und verlorener sein Auge auf der wundervollen Gestalt, auf dem feinen, stolzen Kopfe ruhte, den der schlanke Hals so vornehm trug, desto fröstelnder strömte ihm aus ihrem Wesen eine Kühle entgegen, welche so unnatürlich wie genau berechnet erschien. Wie viel Franz Zehren auch beneidet und beglückwünscht wurde, – glücklich war er nicht geworden. Aber die Welt wußte nichts davon, wenn er saß und den Kopf in die Hand stützte und mit trüben, großen Augen die Bewegungen seiner jungen Frau verfolgte, welche aussahen wie die Bewegungen einer Königin, und die Welt hörte es nicht, wenn die hohe Gestalt zu dem Seufzenden hinglitt und ihm, mit den weißen Fingern über die bewölkte Stirn streifend, die Worte sprach: „Nicht traurig sein, mein Freund, und nicht bereuen!“ Dann lächelte er bitter und fuhr fort, sie zu lieben und mit jenen tausend zarten Aufmerksamkeiten zu überhäufen, welche so wohlthun, weil sie niemals die Absicht verrathen.
An die Taubheit ihres Gatten gewöhnte sich Emilie merkwürdig schnell. Zuweilen vergaß sie ganz, daß ein solches Hinderniß ihres Verkehrs bestand. Zehren sprach selber gern und [344] gut, und er verkürzte ihr die langen Winterabende unter dem milden Lichte der großen, prächtigen Deckenlampe durch Vorlesen. Verkehr hatten sie wenig. Der Mutter hatte sich Emilie wieder genähert, aber ihre Vertraute war sie nicht, und gegen den Bruder hielt sie die gezogene Schranke aufrecht, während Zehren mit demselben in innigster Beziehung stand.
Ueber die trüben Krisen im Leben der Mutter, welche diese jetzt tiefer erschütterten als früher, zerbrach sich Karl Hornemann vergebens den Kopf. Jene räthselhaften Thränen, welche sie von Zeit zu Zeit an der Brust des Sohnes ausweinte, quälten ihn, dem der bestimmt ausgesprochene Wunsch der alten Frau jedes eigenmächtige Spüren nach ihrem Geheimniß versagte. Er hätte auch kaum einen Anhalt gefunden, da bezüglich der Geldangelegenheit kein Wort über Zehren’s oder der Mutter Lippen kam. Das erzwungene Eindämmen seiner begeisterten Liebe zur Schwester vermehrte die quälende Unruhe seines Innern. Dazu kam die Unterbindung seiner gemeinnützigen Bestrebungen. Sein Schooßkind, die Arzenei, welche er erfunden, war ein todtes Recept. Und die Politik erst!
Seine demokratischen Ideale, die so maßvoll waren, standen in dem Tempel, in welchem er betete. Und nun zerfiel Alles, was er zu ihrer Verwirklichung gebaut, unvollendet in Ruinen. Keine Gewaltthat war geschehen; der Herr Geheimrath war ein kluger Mann: er wohnte im Wiedenhofe, kannte die Häupter der demokratischen Partei und ließ sie bewachen – das war Alles. Der Club existirte nur noch dem Namen nach, und als ein paar Verwarnungen erfolgt waren, zogen selbst die meisten Mitglieder des kleinen Raths es vor, die Hände in den Schooß zu legen und zu – warten.
Windstille vor dem Sturm! Und der Sturm kam.
Man schrieb den zweiundzwanzigsten Februar; die schwarzen, drohenden Wolken mit den weißen Säumen hingen über Paris, und die Windsbraut heulte durch die Straßen und über die Boulevards. Ein paar Tage später wußte man in der rheinischen Fabrikstadt, daß ein mächtiger Volkswille in Europa sich für souverain erklärt und einen Thron zertrümmert hatte, den stolzen Thron von Frankreich.
Die Wirkung war eine bedrohliche. Industrie und Gewerbe stockten plötzlich; die Wirthshäuser füllten sich, und die Köpfe erhitzten sich. An den Wänden der Häuser beschien der grauende Tag da und dort Inschriften, mit Kohle oder Kreide geschrieben: „Es lebe das Volk, die Republik, die Constitution!“ oder: „Nieder mit den Reichen! Es lebe der Arbeiter!“ Die Polizei wurde selbst thätlich insultirt. Eines Nachts kam Donner nach Hause, ohne Gewehr und Mütze, die Uniform zerrissen, schäumend vor Wuth; man hatte ihn überfallen und ihm seine Unpopularität sehr nachdrücklich klar gemacht.
Die Clubs traten wieder in volle Thätigkeit. Die Union hielt täglich Versammlungen, aber auch Karl Hornemann und die übrigen Häupter seiner Partei wagten unter dem Schutze der allgemeinen Aufregung ihre Truppen wieder zu organisiren. An Stelle des Wiedenhofes mußte freilich ein anderes Local zum Orte der Zusammenkünfte gesucht werden, und man wählte den „Rothen Engel“ am Flusse drunten. Aber es gab Orte, wo noch ganz andere Elemente zusammenkamen und ganz andere Reden gehalten wurden, unheimliche, bluttriefende, verbrecherische Reden, die man früher nicht vernommen hatte und welche in einer dunstigen Atmosphäre von Branntweinduft und brenzlichem Oelgeruch verhallten. Die Sprecher waren hier: ein stadtbekannter Schneider, welcher beständig ein Paar alter gelber Nanking-Beinkleider und einen zugeknöpften Frack trug, den er einst einem Kunden verschnitten hatte, ferner ein verkommener ehemaliger Student und – der gewesene Fabrikleiter Bandmüller.
Die Haifische regten sich.
Am nämlichen Tage, an welchem die Nachricht vom Wiener Studentensturm und dem Sturze Metternich's eintraf und sofort tausendfach gedruckt durch die Häuser getragen, an die Straßenecken geklebt, verschlungen und bejauchzt wurde, saß der Geheimrath Rehling, die Stirn so glatt wie immer, aber das Gesicht blasser als sonst, in seinem Arbeitscabinet auf dem Rathhause, und vor ihm stand der Polizeicommissar Donner.
„Sie haben also wirklich die Ueberzeugung, daß jener Fabrikant Zehren, von welchem die Welt glaubt, daß er taub sei, derjenige Mann ist, in dessen Händen hier die Fäden der demokratischen Verschwörung zusammenlaufen?“
„Ja wohl, Herr Geheimrath. Wie ich Ihnen sage, er ist der Schwager des berüchtigten Hornemann, ist in Amerika gewesen und durch häufige Reisen verdächtig. Er war schon einmal festgenommen und – was die Hauptsache ist – jene chiffrirten Briefe haben wirklich existirt, obgleich heute kein Mensch mehr in der Registratur wissen will, wohin sie gekommen sind. Freilich bin ich heute nicht mehr so sicher wie früher, daß er sich blos taub stellt.“
„Der Doctor Urban, sagen Sie, war es, der Ihnen über diesen Herrn Zehren die ersten Mittheilungen machte?“
„Derselbe, Herr Geheimrath.“
Der Angeredete drehte sich auf dem Stuhle herum, schrieb eine Karte und couvertirte sie.
„Besorgen Sie das an den Fabrikanten und zwar persönlich! Im Uebrigen schaffen Sie mir sofort einen Wagen!“ –
Zehn Minuten später hielt eine Droschke vor dem Hause des Commerzienrath Seyboldt; der Kutscher riß den Schlag auf und schellte. Der Geheimrath stieg aus, und bald darauf stand er oben vor Toni Urban und küßte ihr artig die Hand.
„Wie wohl Sie aussehen, gnädige Frau! Ich erkenne immer deutlicher, daß man auf der Welt nichts Besseres thun kann, als reisen. – Treffe ich Ihren Herrn Gemahl zu Hause? Ich möchte ihn auf ein paar Minuten allein sprechen.“
„Um Gottes willen, Sie bringen doch nichts Schlimmes für ihn in’s Haus, Herr Geheimrath?“ sagte sie und erblaßte ein wenig.
Der Beamte lächelte. „Sehe ich wie ein Unglücksbote aus?“
„Mein Mann ist ohnehin so reizbar und aufgeregt seit Kurzem. Aber ich will Ihnen vertrauen, und Sie sollen eine ganze Viertelstunde mit ihm allein sein dürfen.“ –
Urban empfing den Besuch mit einiger Ueberraschung.
„Aber nun zur Sache!“ sagte der Geheimrath nach kurzer Begrüßung. „Ich ehre die Beweggründe, auf Grund deren Sie sich weigern, Ihre ehemaligen Parteigenossen zu compromittieren, bester Herr Doctor, aber wie die Dinge gegenwärtig liegen, müssen Sie es mir zu Gute halten, wenn ich Sie nichtsdestoweniger um einige Aufschlüsse bitte. Ich werde mich auf das Allernothwendigste beschränken.“
Die Worte klangen vertraulich, fast herzlich. Und dennoch legte sich ein Schatten über die Augen des Arztes, und er antwortete kühl und mit Achselzucken: „Ich bedaure, daß die Gründe, welche mich leiten, keine Ausnahme gestatten.“
„Das kann Ihr letztes Wort nicht sein,“ meinte der Geheimrath. „Ich beabsichtige zunächst durchaus nicht, den Demagogenfresser zu spielen. Es liegt mir im Gegentheil daran, mit der maßgebendsten Persönlichkeit jenes Kreises ein vernünftiges Wort zu reden, um drohendem Unglück vorzubeugen. Zu diesem Zwecke muß ich sie freilich kennen. Ich möchte mich nicht vergreifen. Ich habe zunächst Herrn Zehren in’s Auge gefaßt; was meinen Sie dazu? Sie haben ja den Bann der Discretion bezüglich dieses Herrn schon einem meiner Commissare gegenüber gebrochen, und ich darf vielleicht auf das nämliche Entgegenkommen Ihrerseits rechnen.“
Urban beachtete nicht, wie scharf beobachtend die grauen Augen des Beamten auf ihm ruhten. „Ich habe gegen diese Wahl durchaus nichts einzuwenden,“ sagte er unbefangener und leichtherziger, als vielleicht klug war.
„Hm! Vielleicht giebt es noch eine andere Persönlichkeit, welche Sie mir empfehlen könnten; nur noch eine. Man muß immer auf Reserve halten. Was meinen Sie zum Exempel zu Herrn Hornemann? Herr vom Rath ist leider verreist.“
Der Arzt machte eine Bewegung der Ungeduld.
„Ich verstehe schon,“ meinte der Geheimrath rasch. „Ich will Sie nicht quälen und danke Ihnen für Ihre Gefälligkeit.“ –
Urban stieß ärgerlich einen Stuhl bei Seite, als er den Besuch hinausgeleitet hatte. „Ich hätte dem sehr ehrenwerthen Herrn Zehren endlich Ruhe verschaffen sollen. Welchen Nutzen hätte ich jetzt noch davon, ihn zu quälen?“
Eine Thür öffnete sich, und Toni steckte erst den Kopf herein, ehe sie eintrat.
„Ist der Geheimrath fort, Heinrich? Wahrhaftig, und ohne Abschied. Du siehst so verstimmt aus.“
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[346] „Männersachen, mein Kind! Kümmere Dich nicht darum!“
Sie sah ihn an wie ein erschrockenes Kind, und ihre dunkeln Augen füllten sich mit Thränen. Dann ging sie still, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Urban schien es gar nicht zu bemerken. –
Die Droschke mit dem Geheimrath Rehling als Insassen rollte bereits wieder zum Rathhause zurück. Als er in sein Arbeitscabinet trat, traf sein Blick in die warmen, klugen blauen Augen Zehren’s.
„Mein Name ist Rehling. Bitte, behalten Sie Platz, Herr Zehren!“ sagte der Geheimrath verbindlich. Er zog sich, nachdem er den Hut weggelegt, einen Stuhl in die Nähe und sah ziemlich erstaunt auf, als der Fabrikant stehend sein Täfelchen aus der Tasche nahm und bemerkte:
„Sie wünschten meine Gegenwart, Herr Geheimrath, und ich muß Sie nur bitten, mir aufzuschreiben, womit ich Ihnen dienen kann, denn ich habe durch einen unglücklichen Zufall mein Gehör verloren.“
„Teufel, das hatte ich vergessen,“ warf der Beamte hin und schlug sich leicht vor die Stirn. Er nahm die Tafel an sich und lud den Fabrikanten mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.
„Ihre Stellung an der Spitze der demokratischen Partei in dieser Stadt ist mir kein Geheimniß,“ schrieb er. „Die Stadt ist in Aufregung, und mir liegt es ob, für die öffentliche Ordnung unter allen Umständen zu sorgen und Unheil zu verhüten. Sind Sie geneigt, ein paar Worte von mir anzunehmen, welche den Zweck haben, eine Verständigung zwischen uns anzubahnen?“
Zehren las; die Adern an seinen Schläfen schwollen über dem Lesen an, und sein Gesicht röthete sich.
„Es giebt hier einen Menschen,“ stieß er hervor, „der sich das boshafte Vergnügen macht, mich dem Gesetze als Haupt einer regierungsfeindlichen Partei hinzustellen. Ich kenne ihn und die Ursache seines Hasses.“ Er besann sich ein paar Augenblicke und fuhr dann ruhiger und mit fast melancholischem Tone fort: „Ich bin kein Parteimann, Herr Geheimrath, und es wird Niemandem gelingen, mich in das Getriebe des Parteiwesens zu ziehen. Ich kann keine politische Rolle spielen, denn ich bin taub. Ich vermag so gut wie viele Andere auf theoretischem Wege eine politische Ansicht zu construiren, welche mir richtig scheint, und ich habe in der That meine Ansicht, aber ob das Leben um mich herum, ob die Menschen und die Verhältnisse geeignet sind für die praktische Durchführung meiner Ansicht, das vermag ich nicht zu entscheiden; dazu muß man alle fünf Sinne gesund haben, und mir fehlt ein Hauptsinn. Ich bin ein Kaufmann und will weiter nichts sein; wenn mein Geschäft durch mein Gebrechen Schaden leidet, so habe ich allein den Schaden. Im Uebrigen achte ich die bestehenden Gesetze und bin stolz, wenn mir Niemand nachsagen kann, daß ich eines derselben mit Wissen oder Willen verletzt habe. Das ist Alles, was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Geheimrath.“
Der Beamte nickte, stand auf und schrieb an seinem Tische etwas nieder. Als er fertig war, klingelte er.
„Zu Herrn Hornemann!“ sagte er kurz zu einem eintretenden Schreiber. Dann schritt er, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und nieder.
Plötzlich stand er wieder vor dem Fabrikanten, diesen mit einer artigen Handbewegung um die Tafel bittend.
„Würden Sie sich weigern, im Interesse des Gesetzes sich einer kurzen Haft zu unterwerfen?“
„Wenn es sein muß –“
„Es muß sein, aber damit Sie sehen, daß wir Ihre Zustimmung als einen Act der Gefälligkeit betrachten, werde ich sorgen, daß Ihnen einer meiner Beamten in diesem Hause sein Logis einräumt und daß allen billigen Ansprüchen Ihrerseits an Comfort und Unterhaltung genügt wird. Ihrer Frau Gemahlin notiren Sie vielleicht in einem Billet, daß Sie plötzlich zu einer kurzen Reise Veranlassung erhalten hätten.“
Das Gesicht des Fabrikanten verrieth nicht eben Freude, aber das „Muß“ des Beamten mochte ihn von der Nutzlosigkeit eines Widerstandes überzeugt haben, und die Gutherzigkeit, mit welcher derselbe ihn behandelte, hatte etwas so Entwaffnendes, daß Zehren nickte. Der Geheimrath führte ihn in höflichster Form in das Nebenzimmer, ein Empfangszimmer in elegantester Ausstattung, und entfernte sich wieder.
„Ich darf ihn nicht entlassen, soviel Vertrauen er mir auch persönlich einflößt,“ sagte der Beamte im Arbeitscabinet für sich; „der Verdachtsmomente sind zu viele, und er ist zu intelligent.“ Er griff wieder zur Klingel.
„Der Polizeicommissar Donner soll kommen.“
Der städtische Thiergarten zu Karlsruhe, welcher in jüngster Zeit durch den angrenzenden Park mit seiner im großartigsten Maßstabe erbauten neuen Festhalle wesentlich erweitert und durch einen erst kürzlich geschaffenen See erheblich verschönert worden, beherbergt seit Kurzem eine ebenso schöne wie zahlreiche und interessante Thierfamilie, die Leo’schen Vorstehhunde, welche wohl erst in den letzten Jahren in ferneren Gegenden bekannt geworden sind.
Der Vorstehhund ist bei den heutigen Jagdverhältnissen der geschätzteste aller Jagdhunde, denn auch da, wo reicher Wildstand den Betrieb der Jagd mit Hatzhunden zuließ, ist der Jäger zu der Einsicht gekommen, daß er mittelst Vorstehhund seine Jagd schonender und mit besserm Erfolge auszuüben vermag. In den letzten dreißig Jahren wurden nach dem Continente, insbesondere nach Deutschland, die englischen Vorstehhunde eingeführt, weil der alte (deutsche) Hühnerhund nicht mehr geeignet war, die gering besetzten Jagden vortheilhaft zu betreiben, allein weder der langhaarige englische Setter, noch der kurzhaarige englische Pointer waren dazu geschaffen, unsern continentalen Jagdverhältnissen zu entsprechen, weil sie nur reine, zwar mit guten Geruchsorganen versehene Vorsteher, aber keine Apporteure und Würger waren; dabei hatten diese reinblütigen Thiere mit den klimatischen Verhältnissen schwer zu kämpfen. – Vom Jäger wurden diese großen Mängel längst erkannt, und jeder bemühte sich, nach seiner Idee durch Kreuzung mit einheimischen Hunden dauerhafte und brauchbare Thiere zu erzielen; so entstand ein wahres Chaos von Mischlingen, die alle mehr oder weniger in Form und Eigenschaften unbefriedigende Geschöpfe blieben, weil bei der Anpaarung der vermiedenen Objecte meist die Kenntniß und namentlich auch die große Ausdauer fehlte, welche so unerläßlich nothwendig ist, nur einen so vielen Anfordernden entsprechenden Vorstehhund hervorzubringen, wie er vom Jäger gewünscht werden muß. Kein Waidmann wußte sich ein derart erzüchtetes Thier zu beschaffen und blieb darauf angewiesen, seine Hunde, so gut es eben ging, selbst zu erzielen.
Unsere Illustrationen führt nun zwei Racen vor Augen, die durch systematische Anpaarungen eigens für die heutigen Jagdverhältnisse erzüchtet sind, und beginnen wir mit der Beschreibung des Leo’schen Setters, der durch Kreuzung von Gordon-Setter mit dem Retriever und dem deutschen Hunde entstanden, d. h. es wurden Gordon-Setters mit gewellten Haaren, die bekanntlich etwas Retrieverblut tragen, mit dem deutschen Hunde gepaart. Die vorzüglichen Geruchsorgane des Ersteren, die Apportlust des zweiten wie der Muth und die Ausdauer des Letzteren sind in diesem neuen Vorstehhunde trefflich vereinigt; seine Figur ist stämmiger und meist größer als die des englischen Hundes; sein Gliederbau ist mäßig hoch, der Kopf wuchtig, der Behang ziemlich groß, die Lippen (Luppel) tief, sein Körper schmäler und die Rippen weniger hoch gewölbt als die des altdeutschen Hundes, den er an Größe erreicht; seine Brust ist breit, die Hungergrube etwas aufgezogen; die dünne, fast horizontal getragene Ruthe wird durch eine reiche Fahne geziert, die wie die ganze Behaarung meist etwas gewellt ist; seine Farbe ist gewöhnlich schwarz oder braun mit rostgelben Abzeichen, doch kommen auch andere Zeichnungen, wie weiß, schwarz und braun gefleckt, nicht selten vor.
Der Leo’sche Pointer ist aus einer Kreuzung des englischen Pointers mit dem deutschen Hühnerhunde und dem alten Leithunde hervorgegangen, das heißt: es wurden solche deutsche Vorstehhunde
[347] mit dem Pointer gemischt, die Leithundblut trugen, wie man sie in Süddeutschland noch vereinzelt trifft; der Leithund selbst ist bekannter Maßen längst ausgestorben; sein Blut kann also nur einen verschwindend kleinen Bruchtheil beim Leo’schen Hunde bilden; auch hier sind es die vorzüglichen Geruchsorgane des Ersteren, der Muth und die Ausdauer des Zweiten, wie der treffliche Spürsinn des Letzteren, die in diesem kurzhaarigen Vorstehhunde vereinigt sind. Die Anpaarung des Leithundes hat diesem Thiere ganz außerordentlich schöne Formen verliehen; insbesondere sind es Eigenthümlichkeiten, wie der gewaltig hochaufgebaute Schädel, die langen und tiefen Lippen, das tiefliegende Auge und der tiefangesetzte, große, weich und schlaff fallende Behang, welche bei der meist sehr ansehnlichen Größe diesem Hunde ein so charakteristisches und imponirend schönes Aussehen verleihen, daß er wohl einer der schönsten Jagdhunde genannt werden kann und deshalb auch nicht selten als Begleiter von Leuten gehalten wird, die nie zur Jagd gehen. Die Farben und Zeichnungen variiren mehr als beim Setter; man findet diesen Hund einfarbig braun mit gelben Extremitäten, einfarbig schwarz, weiß, gelb und braun gefleckt. Eine besonders geschätzte Zeichnung weist der Forellentiger auf, wie ihn der Züchter nennt. Er hat über der ganzen Decke auf weißem Grunde enggesetzte kleine braune Tupfen, während auf Füßen, Maul und über den Augen ein herrliches Rothgelb lagert und so eine Farbenwirkung entsteht, die jedes Hundeliebhabers Herz erobert.
Beide Hunde, sowohl der Setter wie der Pointer, sind feste Vorsteher, ferme Apporteure und gute Würger, Hunde für jeglichen Gebrauch. Der Setter eignet sich besonders auch zur Wasserjagd, während der Pointer besser auf den Schweiß arbeitet. Durch solche Anpaarungen gediegene Vorstehhunde zu erzielen, bedarf es sicherlich großer Kennerschaft, Ausdauer und sorgfältigster Wahl der Zuchtobjecte, denn gerade die Anpaarung des Retrievers einer- und des Leithundes andererseits kann ebensowohl das Resultat gänzlich entwerthen, wie sie in diesen beiden Fällen so vortheilhaft mitgewirkt haben. Die Leo’schen Vorsteher tragen von diesen beiden Racen deshalb nur einen verschwindend kleinen Theil Blutes, sodaß diese neuen Vorstehhunde sicherlich den reinblütigen Originalthieren weit vorzuziehen sind, weil sie vielseitiger zu verwenden, ausdauernder, unempfindlicher gegen klimatische Einflüsse und viel gelehriger sind; jene schauderhaften Dressurproceduren, wie sie beim altdeutschen Hunde nöthig waren oder gar beim englischen Hunde, dem der Jäger oft vergeblich die sogenannte „deutsche Dressur“ beizubringen versuchte, fallen bei diesen Hunden gänzlich weg; jedem Jäger, der öfter seine Jagd begeht, ist es leicht, diese verständigen Thiere zu fermen Jagdhunden heranzuziehen, vorausgesetzt, daß er selbst das nöthige Verständniß hierfür besitzt. – Wollte man heute reine englische oder gar altdeutsche Hunde züchten, man würde damit sicher einen tüchtigen Waidmann, der ja nur Thiere für die Arbeit braucht, niemals befriedigen. Die eine Race vereinigt also in sich die Eigenschaften eines Vorstehers, Apporteurs und Wasserhundes, die andere diejenigen der beiden Erstgenannten und des Schweißhundes.
Wenn tägliche Beobachtung den Menschen im Ganzen die alte Ahnung bestätigen muß, daß es ihren thierischen Mitgeschöpfen nicht an der Leuchte geistigen Lebens fehlt, so bezieht sich das doch meistens nur auf diejenigen Thiergattungen, welche durch ihre körperliche Größe in die Augen fallen. Je kleiner dagegen ein thierisches Wesen ist, um so mehr pflegt man sich einzubilden, daß auch seine körperliche Organisation sehr einfach, seine Intelligenz sehr gering sein müsse. Der Einfluß dieses Vorurtheils ist bis heut noch ein sehr großer bei der Mehrzahl der Menschen. Der riesige Umfang eines Walfisches oder Reptils aus der geologischen Urzeit erregt die allgemeine Aufmerksamkeit, während eine solche Theilnahme viel schwerer zu erwecken ist, wenn es sich selbst um die wunderbarsten Erscheinungen im Leben einer Mücke oder Ameise handelt. In einem kleinen Artikel über die Sprache der Insecten haben wir kürzlich, angeregt durch Dr. Ludwig Büchner’s hochinteressantes Werk „Aus dem Geistesleben der Thiere“, zunächst einige Hinweisungen gegeben, welche die wunderbare Verstandesfähigkeit dieser winzigen Geschöpfchen nicht mehr bezweifeln lassen. Es ist schade, daß das Interesse für ein so wichtiges Feld der belehrendsten und erhebendsten Beobachtungen in den weitesten Kreisen des Publicums noch viel zu wenig geweckt wurde. Und doch hätte schon die unglaubliche Feinheit der Sinne jener Thierchen, hätten schon ihre ungewöhnlichen Muskel- und Körperkräfte längst zu der Erwägung führen müssen, daß solche besondere Kräfte nur einem Wesen gegeben sein können, das sie vermöge seiner geistigen Beschaffenheit auch zu gebrauchen weiß. Ist doch die Körperkraft mancher Insecten so groß, daß sie die des Menschen und der größeren Thiere verhältnißmäßig um das Zwanzig-, Dreißig-, ja selbst Hundertfache übertrifft.
Bleiben wir zunächst bei den Ameisen stehen, denen die neuere Forschung in Bezug auf die geistige Befähigung den höchsten Rang in der Classe der Insecten oder Kerbthiere einräumt, und die von Dr. August Forel in seinem berühmten Werke über die Ameisen in der Schweiz (1874) unter den übrigen Insecten als dasjenige bezeichnet werden, was der Mensch unter den übrigen Säugethieren sei. Daß große Befähigungen eines Thieres immer auch mit einer besonderen Entwicklung seines Nervensystems und namentlich seines Denkorgans oder Gehirns verbunden sind, versteht sich für den Kenner, d. h. den Anatomen und Physiologen, von selbst. Bei den Ameisen sind die Kopfganglien – welche bei den wirbellosen Thieren die Stelle des Gehirns der Wirbelthiere vertreten – nicht größer als vielleicht das Viertel eines Stecknadelkopfs. „Zieht man das in Betracht,“ sagt Darwin, „so ist das Gehirn einer Ameise das wunderbarste Substanzatom in der Welt und vielleicht noch wunderbarer als das Gehirn des Menschen. Zugleich zeigt uns aber auch diese Thatsache, daß eine außerordentliche Thätigkeit bei einer äußerst kleinen absoluten Masse von Nervensubstanz existiren kann.“
Aber nicht blos durch die Organisation ihres Gehirns und Nervensystems sind die Ameisen – deren es jedoch in Europa über dreißig Gattungen und hundert Arten, auf der ganzen Erde mehr als tausend Arten giebt – zu der wichtigen Rolle befähigt, die sie in der Natur spielen. Eine hervorragende Stellung inmitten der übrigen Thierwelt ist ihnen auch durch die ganze Beschaffenheit ihres ungemein kräftigen und dabei leicht beweglichen Körpers gegeben, namentlich durch den Besitz ausgezeichneter Sinnesorgane und mächtiger Schutz- und Angriffswaffen sowie der geeigneten Instrumente für Bauen, Graben und Reinigen, endlich durch ihren ungestümen und unerschrockenen, dabei aber vorsichtigen und ausdauernden Charakter. Diese Ausrüstungen und Eigenschaften benutzen die Ameisen zur Verfolgung bestimmter Zwecke, welche allerdings schon mannigfach wahrgenommen wurden, wenn auch die zuverlässigeren Beobachtungen heut Wunderbareres gefunden, als die Phantasie erdichten konnte.
So steht es jetzt fest, daß die Ameisen nicht blos ihre besondere Sprache haben, man weiß auch auf das Genaueste, daß sie in einem wohlorganisirten republikanischen Staatswesen leben und sich Wohnungen mit Zimmern, Sälen, Vorzimmern, Zwischenwänden, Säulen und Tragbalken erbauen. Sie haben ferner Soldaten, führen Kriege und liefern sich Schlachten, führen Belagerungen aus, machen Gefangene und Sclaven, treiben Landwirthschaft, halten sich Melkvieh und bewahren die größte Sorgfalt für ihre Nachkommenschaft und die Pflege und Erziehung derselben. Hört nun ein Uneingeweihter das zum ersten Male so obenhin behaupten, so muß es ihm freilich zunächst als durchaus märchenhaft und als eine Häufung von kühnen Deutungen erscheinen. Beruhigt er sich aber nicht bei diesem oberflächlichen Eindruck, fühlt er sich zu jener eingehenden und ruhigen Prüfung angeregt, welche dieser Gegenstand erfordert, so wird er bald überzeugt sein, daß ihm hier ein sicherer Einblick in großartige Thatsachen des Naturlebens
[348] geworden, die freilich bisher ihre innersten Geheimnisse meistens nur der unermüdlichen Beobachtung hervorragender Forscher erschlossen haben. Die meisten und hauptsächlichsten dieser wunderbaren Thatsachen können als durchweg erwiesen gelten und nur wenigen fehlt zu ihrer gänzlichen Bestätigung noch der volle Beweis. Um jedoch daraus für die eigene Naturanschauung eine begründete Ueberzeugung zu gewinnen, bedarf es einer Kenntniß und eines Ueberblickes jener ganzen Zusammenhänge, wie sie Dr. Büchner in dem hier mehrfach genannten Werke dargelegt. Nur einige merkwürdige Punkte seien noch hervorgehoben!
Eines der erstaunenswürdigsten Beispiele von sichtlicher Verstandesentwickelung eines Thieres bietet eine große braune Ameise in Mexico, die nicht blos harte Körner einsammelt – was notorisch auch einige europäische Arten thun – sondern diese Körner auch verpflanzt und nach der Reife einerntet, also einen förmlichen und vollständigen Ackerbau betreibt und dabei passende und zeitgemäße Anordnungen für die verschiedenen Jahreszeiten trifft. Ein Doctor Lincecum in Texas und seine Tochter haben, außer anderen Beobachtern, dieses merkwürdige Thier länger als zehn Jahre lang in der Umgebung ihrer Wohnung fortwährend studirt, und kein Geringerer als der berühmte Darwin hat die betreffenden Mittheilungen des Mexicaners für so wichtig gehalten, daß er sie der Linne’schen Gesellschaft in London vorlegte. Dem Berichte zufolge, wohnt die bezeichnete Ameisenart in, wie man es nennen könnte, gepflasterten Städten, und trifft mit geduldigem Fleiße, mit Geschick und landwirthlichem Vorbedachte passende Anordnungen für die verschiedenen Jahreszeiten. Wenn sie für ihren Aufenthalt einen Platz mit gewöhnlichem trockenem Boden ausgewählt hat, so bohrt sie ein Loch, um welches sie den Boden drei bis sechs Zoll erhöht, indem sie einen niedrigen kreisförmigen Wall bildet, welcher vom Centrum sanft abwärts bis zu dem drei bis vier Fuß vom Eingange entfernten äußersten Rande steigt. Ist dagegen die Localität auf niedrigem, flachem und feuchtem Lande, welches überschwemmt werden kann, so erhöht die Ameise den Wall in Gestalt eines ziemlich spitzen Kegels auf fünfzehn bis zwanzig Zoll oder mehr und macht den Eingang an der Spitze. In beiden Fällen reinigt sie dem Grund um den Wall von allen Hindernissen und ebnet und glättet die Oberfläche um drei bis vier Fuß vor dem Thore der Stadt, indem sie dem Platze das Ansehen eines schönen Pflasters giebt, was es auch wirklich ist. Innerhalb dieses gepflasterten Hofes aber wird kein anderes grünes Blatt geduldet als eine einzige Art von korntragendem Grase. Nachdem das Insect dieses Korn ringsum in einem Kreise gepflanzt hat, zwei bis drei Fuß von der Mitte des Walls entfernt, pflegt und cultivirt es dasselbe mit steter Sorgfalt, indem es alle anderen Gräser und Kräuter abbeißt, welche außen um den Ackerkreis herum aufschießen mögen. Das so culivirte Gras wächst dann auch auf’s Ueppigste und producirt eine reiche Ernte kleiner, weißer, kieselharter Samenkörner, welche unter dem Mikroskope gewöhnlichem Reis sehr ähnlich sehen. Ist das Korn reif, so wird es sorgfältig eingeerntet, von den Arbeiterameisen in die Kornkammer geführt und hier von der Spreu befreit, die sodann herausgetragen und über die Grenzen des gepflasterten Hofes hinausgeworfen wird.
Buckley erzählt, daß die Tochter des genannten mexicanischen Doctors täglich in den Garten ging, um die Ameisen ihren Getreidevorrath einheimsen zu sehen, welcher oft mehr als einen halben Scheffel betrug. Der Doctor aber selber schreibt: „In einem Pfirsichgarten nicht weit von meinem Hause befindet sich eine beträchtliche Erhöhung, auf welcher ein ausgedehntes Felsenlager ist. In den Sandlagern, welche Theile dieses Felsens bedecken, befinden sich schöne Städte der ackerbautreibenden Ameisen von offenbar sehr hohem Alter. Meine Beobachtungen über ihre Sitten und Gewohnheiten beschränken sich auf die letzten zwölf Jahre. Immer gegen den ersten November jedes Jahres kann man die Aussaat der Ameisen aufschießen sehen, und es kann nicht bezweifelt werden, daß die eigenthümliche Art des erwähnten korntragenden Grases absichtlich gepflanzt wird. Während der Zeit seines Wachsthums wird durch die kleinen Ackerbauer der Boden, auf dem es steht, von allen andern Kräutern und Gräsern gesäubert. Wenn das Korn reif ist, wird sodann die trockene Stoppel abgerissen und weggetragen und der gepflasterte Hof unbehelligt gelassen bis zum folgenden Herbste, wo derselbe ‚Ameisen-Reis‘ in demselben Kreise wieder erscheint und dieselbe landwirthschaftliche Fürsorge erhält – und so fort, Jahr auf Jahr, wie ich weiß, daß es der Fall ist in allen Verhältnissen, unter denen die Ansiedelungen der Ameisen vor andern grasfressenden Thieren geschützt sind.“
Wenn man an die Umstände denkt, unter denen diese Beobachtung Jahre hindurch gemacht, sowie an den Charakter und die Bedeutung des großen englischen Forschers, der sie dem Urtheile des wissenschaftlichen Publicums unterbreitet hat, so wird im Hinblicke auf andere bereits feststehende Ermittelungen nicht minder wunderbarer Art zu einem Zweifel an der Glaubwürdigkeit des angeführten Berichts ein irgend stichhaltiger Grund nicht zu finden sein. Die landwirthschaftliche Thätigkeit der Ameisen ist aber hiermit noch nicht erschöpft.
Wissen wir auch bis jetzt nur von jener besondern Art derselben, die zu wirklichem Feldbau fortgeschritten ist, so ist es doch gewiß, daß die meisten Arten einen andern wichtigen Zweig der Landwirthschaft, die Viehzucht und Milcherei, in einer Weise betreiben, die wiederum ihrem Scharfsinne ein ehrenvolles Zeugniß giebt. Ihr Melkvieh steht natürlich nur im Verhältnisse zu ihrer eigenen Größe und trägt einen Namen, der für unsern menschlichen Geschmack nicht besonders anmuthig und appetitlich klingt. Wer hat nicht schon mit Gefühlen des Widerwillens die sogenannten Blattläuse oder Aphiden haufenweise auf den Blättern der von ihnen heimgesuchten Pflanzen sitzen sehen. Muß es uns nicht possirlich erscheinen und unsern Humor erwecken, wenn wir hören, daß es Geschöpfe giebt, welche nach dieser uns ärgerlichen und widerwärtigen Thiergattung das brennendste und zärtlichste Verlangen tragen? Das Reizende an der Blattlaus aber ist für ihre Verehrer nicht ihre Person selber, sondern ein Schatz, den sie in ihrem Innern birgt, ein süßer Saft, den sie aus ihrem dicken Hinterleibe ausschwitzt und der für die Ameise ein Gegenstand leidenschaftlicher Begierde ist.
Zwar huldigen nicht blos die Ameisen dieser Feinschmeckerei und Liebhaberei, auch Fliegen, Wespen, Bienen schwärmen für jenen süßen Saft, und namentlich hat man im Herbste Gelegenheit, Weidenbäume ganz bedeckt mit Blattläusen und mit den von ihnen angezogenen Ameisen und sonstigen Insecten zu sehen. Keines dieser Thiere indeß versteht die Besitzerin des begehrten Kleinods besser zu behandeln, als die Ameise, welche mit ihren feinen Fühlern den Hinterleib der Blattlaus so lange zu bestreichen weiß, bis sie einen Tropfen ihres Saftes von sich giebt. Es muß dies jedenfalls auf eine besonders zarte und schmeichlerische, jenem Thierchen angenehme Weise geschehen, denn Darwin bemühte sich vergebens, es den Ameisen hierin gleich zu thun und den Blattläusen durch Bestreichen mit feinen Haaren ihren Saft zu entlocken.
„Auf einer Ampfer-Pflanze,“ so erzählt er, „hinderte ich einige Stunden lang die Annäherung der Ameisen an eine Gruppe von etwa zwölf Aphiden. Nach dieser Zeit nahm ich wahr, daß die Blattläuse das Bedürfniß der Entfernung des Saftes hatten; ich beobachtete sie mit einer Loupe, aber es erfolgte nichts. Darauf streichelte und kitzelte ich sie mit einem Haare auf dieselbe Weise, wie es die Ameisen mit ihren Fühlern machen, aber ohne Erfolg. Nun erst ließ ich eine Ameise zu, und aus ihrem Widerstreben, sich von den Blattläusen wieder hinwegtreiben zu lassen, schien hervorzugehen, daß sie augenblicklich erkannt hatte, welch ein reicher Genuß ihrer harrte. Mit ihren Fühlern begann sie darauf, den Hinterleib erst einer und dann einer anderen Blattlaus zu betasten, von denen jede, sowie sie die Berührung des Fühlers empfand, sofort den Hinterleib in die Höhe richtete und einen klaren Tropfen süßer Flüssigkeit ausschied, der alsbald von der Ameise eingesogen wurde.“
Die Beziehungen der Ameisen zu den genannten Thierchen sind nun freilich schon seit ziemlich langer Zeit bekannt und schon Linné bezeichnete die Blattlaus als „die Kuh der Ameise“. Aber erst durch die neueren Untersuchungen ist die merkwürdige Thatsache festgestellt worden, daß die Ameisen jene Pflanzenläuse sogar mit in das Innere ihrer Wohnung nehmen und dort als förmliches Melkvieh unterhalten. Unter den Kennern besteht kein Zweifel mehr, daß eine Ameisencolonie um so reicher ist, je mehr Blattläuse sie hält. So lebt nach Dr. Forel die sogenannte „braune Ameise“, welche ihr Nest selten verläßt, fast ausschließlich von sehr großen Rindenläusen, welche sie in ihren meist in Baumrinde ausgehöhlten Kammern und Gängen unterhält und erzieht. Sie zeigt die [349] größte Sorge für diese Thiere, trägt sie davon, wenn das Nest aufgedeckt wird, oder führt sie, wenn sie zu groß sind, um getragen zu werden, in die noch unverletzten Galerien. Auch die „gelbe Ameise“ lebt ausschließlich vom Safte der Blatt- oder vielmehr Wurzelläufe, welche sie in ihren in der Umgebung von Baumwurzeln angelegten Nestern unterhält. Deckt man ihr Nest auf, so tragen sie ihre geliebten Milchkühe mit derselben Sorgfalt davon, wie ihre eigenen Larven. Dr. Forel hat oft in der Schweiz Gelegenheit gehabt, das zu sehen. Manche Arten bauen ihnen sogar auf Bäumen und Pflanzen besondere Ställe, das heißt Dächer und Galerien aus Erde, um sie möglichst gegen äußere Unbilden zu schützen. Andere wieder verstehen es sogar, im Inneren ihrer Wohnung aus den im Herbste gesammelten Eiern die Pflanzenläuse selber zu erziehen und zu erhalten. „Sie sorgen,“ sagt Schmarda in seinem 1846 erschienenen „Seelenleben der Thiere“, „für diese Eier so sorgsam wie für die eigenen.“
Auch die auf Pflanzen und Bäumen lebenden sogenannten Gall-Insecten können bei den Ameisen ganz dieselben Dienste verrichten und im Verein mit den Pflanzenläusen liefern sie in unseren Gegenden der Ameise den größten Theil ihrer Nahrung, obgleich hierin und im Einzelnen, in Bezug auf die Arten, große Verschiedenheiten herrschen und die körnersammelnden Ameisen die Pflanzenläufe gänzlich verschmähen. Sieht man aber Ameisen in großer Menge an Baumstämmen auf- und absteigen, so geschieht das fast immer nur wegen der aus dem Baume befindlichen Blattläuse. Namentlich gehen sie deswegen auf Obstbäume, rühren aber die unverletzten Früchte selber niemals an. Leiden Bäume und Pflanzen, welche viel von Ameisen besucht werden, dennoch Noth, so sind diese nur die indirecte Ursache des Schadens, da die der Pflanze schädlichen Blattläuse sich unter ihrer Zucht und Pflege stärker als ohne dieselbe vermehren und außerdem noch der Pflanze desto mehr Stoff entziehen müssen, je mehr sie den Ameisen in Folge ihrer Liebkosungen und Reizungen abgeben. Wo übrigens die Natur nicht freiwillig für das Vorhandensein ihres geliebten Melkviehs gesorgt hat, da haben sorgfältige Beobachter die Ameisen sogar neue Blattlaus-Colonien eigens gründen sehen, zu denen sie die Colonisten von entfernten Sträuchern her trugen und damit das Laub in der Nähe ihres Aufenthalts besetzten.
Für den weiten Kreis der vollständigen Laien muß es immer von Neuem betont werden, daß wir es in allen diesen Mittheilungen nicht mit Erfindungen von Fabeldichtern oder Spaßvögeln zu thun haben, sondern mit Dingen, die von dem nüchternen Scharfblicke ernster Männer gesehen, und die meistens nicht eher veröffentlicht wurden, als bis sie nach jahrelanger unablässiger Beobachtung und Vergleichung als erkannte Wahrheiten sich herauswagen durften. Muß aber Alles uns eigenthümlich berühren, was bisher in einer ganzen Reihe glaubwürdiger und durchaus wissenschaftlicher Darlegungen von dem Benehmen und den Charaktereigenthümlichkeiten, den kriegerischen und friedlichen Thätigkeiten der Ameisenwelt erzählt worden ist, so wird dies Alles doch von einer anderen Einrichtung in den Schatten gestellt, welche die Forschung in dem bewundernswürdigen Gemeinwesen dieser kleinen Geschöpfe entdeckt hat. Es ist nämlich erwiesen – und Darwin hat in seiner „Entstehung der Arten“ eine mächtige Ausführung über diesen Punkt – daß die Ameisen sich Sclaven halten.
Möge man aber deshalb den Ameisen nicht einen zu niedrigen Grad sittlicher Cultur beimessen, ihre Sclaverei ist ohnehin eine sehr milde. Denn die Ameisenräuber stehlen keine Erwachsenen, sondern meistens nur Larven und Puppen anderer Arten, aus denen sie dann im Innern ihrer eigenen Wohnung wirkliche Sclaven erst erziehen, sodaß diese niemals die Süßigkeit der Freiheit gekannt haben. Daher denn auch alle diese Sclaven – so weit es die in der Schweiz beobachteten Arten betrifft – in der Regel mit ihren Herren alle für Erhaltung der Colonie nöthigen Arbeiten gern und ungezwungen verrichten, ja sogar mit denselben gegen ihre eigenen Stammesangehörigen kämpfen. Sie werden mehr als Freunde, denn als Sclaven betrachtet, wie sie auch nicht daran denken, sich ihrer Lage durch die Flucht zu entziehen.
Was die Sclavenhalter unter den Ameisen betrifft, so hat man deren in Europa bis jetzt drei Arten kennen gelernt. Die interessanteste unter ihnen ist die berühmte oder berüchtigte Amazone, deren merkwürdiges Thun und Treiben zuerst von dem Genfer Huber genauer beobachtet und beschrieben worden ist. Es ist eine große, starke, sehr lebendige, glänzendröthliche Ameise, die aber, wie auch manche menschliche Herrscher, gar nicht arbeitet, sondern sich Alles von ihren Dienern, Sclaven und Arbeitern besorgen läßt. Ja, sie frißt nicht einmal allein, sondern läßt sich von ihren Sclaven füttern wie der Dalai-Lhama in Tibet. Freilich hat sie dafür eine sehr triftige Entschuldigung in ihren langen, schmalen und starken Kiefern, die nicht, wie bei den anderen Arten, in einen gezähnten Rand, sondern in eine scharfe Spitze auslaufen, sodaß sie als wahre Zangen zu betrachten sind. Diese Zangen sind ganz ausgezeichnet als fürchterliche Waffen oder Bekämpfungsmittel zu gebrauchen, machen aber dem Thiere das Arbeiten und Alleinfressen ganz unmöglich. Die Amazone ist also eigentlich die Sclavin ihrer Sclaven, ohne deren Hülfe sie verhungern und die ganze Amazonencolonie zu Grunde gehen müßte. Huber brachte etwa dreißig Amazonen mit ihren Larven und Puppen und etwas Erde in eine Schachtel und versah sie mit hinlänglicher Nahrung. Nach Verlauf von nur zwei Tagen war ein Theil der Amazonen verhungert oder vielmehr verdurstet, während man nach Dr. Forel’s Erfahrung Ameisen vier Wochen lang ohne Nahrung erhalten kann, wenn Luft oder Erde hinlänglich feucht sind. Die Amazonen waren weder im Stande, zu fressen, noch ihre Brut zu besorgen, noch die Erde zu bearbeiten. Nun brachte Huber eine einzige Ameise von der Sclavenart hinzu, und diese stellte in kurzer Zeit die Ordnung wieder her. Sie fütterte Jung und Alt mit dem vorgelegten Honig, fing an Zellen für die Puppen und Larven zu bauen, reinigte dieselben etc. Um nun diese von Huber zuerst gemachte Beobachtung zu controliren, legte Lespès eines Tages ein Stück angefeuchteten Zuckers vor ein Nest der Amazonen, und bald darauf wurde der Zucker von einer Ameise der Sclavenart entdeckt. Sie nahm so viel zu sich wie möglich und kehrte in die Wohnung zurück. Bald erschienen weitere Liebhaber, und es wurde dem leckeren Mahle fleißig zugesprochen. Endlich sah Lespès auch die Amazonen herbeikommen. Sie liefen anfangs in verwirrter Weise umher, ohne den Zucker anzurühren, bis sie schließlich anfingen, ihre pflichtvergessenen Sclaven an der Beinen zu ziehen und sie aufmerksam zu machen, daß sie auch bedient sein wollten. Dies geschah, und alle Theile schienen nunmehr befriedigt.
Auch Dr. Forel hat niemals eine Amazone allein fressen sehen. Hat sie Hunger, so bearbeitet sie mit ihren Fühlern den Kopfschild eines Sclaven, bis dieser einen Tropfen Nahrung aus seinem Vor-Magen hergiebt und seinem Herrn von Mund zu Mund darreicht. Die Amazone läßt eben alle Nothwendigkeiten ihres Lebens und Haushaltes durch die Sclaven besorgen; ihr einziges Geschäft ist der Krieg. Ueber das Soldatenwesen, die Schlachten, Feld- und Raubzüge der Ameisen überhaupt ist in den Darstellungen Büchner’s Ausführliches zu finden. Was uns betrifft, so haben wir hier aus dem Leben dieses Thieres nur einzelne Züge mitgetheilt, um auf die Freuden hinzuweisen, welche jedem denkenden Menschen aus der genaueren Beschäftigung mit den unerschöpflichen Wundern der Insectenwelt sich ergeben müssen.
Es gab eine Zeit – und sie gehört verhältnißmäßig noch nicht sehr lange der Vergangenheit an –, wo diejenigen Individuen der menschlichen Gesellschaft, welchen die Natur einen der fünf Hauptsinne vorenthalten hatte, Blinde und Taubstumme, auf Grund irriger Anschauungen Seitens der Vollsinnigen von der Cultur ausgeschlossen, ja in vielen Fällen von ihren gefühllosen Mitmenschen gehaßt und als „Gezeichnete“, an denen sich irgend ein Strafgericht Gottes vollzog,[1] gemieden und verstoßen wurden. Die Humanitätsbestrebungen der neueren Zeit ist es vorbehalten
[350] gewesen, auch auf diesem Gebiete Bahn zu brechen, seitdem man zu der einfachen Erkenntniß gekommen war, daß der Blinde ein ebenso bildungsfähiger wie bildungsbedürftiger Mensch ist. Auf Grund dieses für die Blinden wie für die Nationalökonomie wichtigen Satzes entstanden besondere Bildungsanstalten, deren erste Anregung wir unseren westliche Nachbarn, den Franzosen, zuerkennen müssen. Valentin Hauy, Lehrer in Paris, sprach zuerst den großherzigen Gedanken aus, daß der Blinde, den man bis dahin als wissenschaftlicher Bildung wenig oder gar nicht zugänglich zu erachten gewöhnt war, auf die Theilnahme an dem Gemeingute der Civilisation Anspruch zu erheben berechtigt sei. Auf persönliche Anregung Hauy’s gründete der gelehrte Professor Dr. Zeune 1806 die preußische Central-Blinden-Anstalt. Nachdem dieselbe circa siebenzig Jahre segensreich gewirkt und schließlich in ihren äußeren Einrichtungen den Anforderungen nicht mehr genügen konnte, wurde ein Neubau beschlossen. Es darf als ein höchst glücklicher Gedanke bezeichnet werden, daß das neue Gebäude, welches Anfangs dieses Jahres beendet wurde, nicht wieder inmitten des Häusermeeres der Residenz erstand, sondern nach dem sieben Kilometer südwestlich von der Stadt gelegenen Dorfe Steglitz verlegt wurde.
Um der neuen Anstalt einen Besuch abzustatten, begeben wir uns nach dem Potsdamer Bahnhofe und benutzen von hier einen der fast stündlich abgehenden Züge. In circa fünfzehn Minuten ist das Ziel erreicht. Das Dorf Steglitz hat sich während der letzten Jahre bedeutend vergrößert und verschönert. Zu den prächtigsten Bauten gehört jetzt, abgesehen von einigen recht geschmackvollen Villen, die neue königliche Blinden-Anstalt. Dieselbe liegt, wenige Minuten vom Bahnhofe entfernt, in dem ehemaligen Schloßpark an der Rothenburger Straße. Auf dem acht Morgen großen, mit alten prächtigen Bäumen bestandenen Grundstücke erheben sich die drei aus rothem Ziegelstein aufgeführten Gebäude, denen durch den dahinter sanft aufsteigenden Wald mit seinem frischen Grün ein malerischer Hintergrund verliehen wird.
Das in der Mitte befindliche Hauptgebäude hat eine Front von fünfundfünfzig Meter und ist mit allen praktischen Erfindungen der Neuzeit, sowohl in Bezug auf die innere Einrichtung, wie auf das Blindenwesen, versehen. Hierzu hat der Anstalts-Director Rösner, im Auftrage der königlichen Regierung, Reisen nach den größeren Instituten Deutschlands und des Auslandes unternommen, mit Kennerblick das Beste und Erprobteste studirt und in der neuen Anstalt zur Geltung gebracht. Dieselbe ist keine Heilanstalt für Augenkranke, sondern eine Unterrichts- und Erziehungsanstalt; diejenigen Blinden, welche dem Institut zugeführt werden, sind sämmtlich unheilbar.
Schon beim Eintritt durch die Gartenpforte umfängt uns das sichere Gefühl des Wohlbefindens und glücklicher Zufriedenheit, welches bei eingehenderem Studium nur gehoben und gekräftigt wird. Das Institut (Internat), welches für hundert Zöglinge Raum gewährt, zählt augenblicklich erst circa die Hälfte. Die meisten der Blinden verbleiben in derselben von dem sechsten, resp. siebenten Jahre bis zu ihrer Confirmation, besonders Befähigte indeß bis zum neunzehnten und zwanzigsten Jahre, und genießen entweder die Benefizien einer der vierundzwanzig Freistellen, oder zahlen sechshundert Mark jährliche Pension. Fragen wir zunächst nach den Ursachen der Blindheit, so ergiebt sich die ebenso überraschende wie zu beherzigende Thatsache, daß die meisten der Zöglinge nicht zu den Blindgeborenen sondern zu den Blindgewordenen gehören. Die ersteren sind höchst selten und zu den letzteren liefert, was auch von anderer Seite oft warnend mitgetheilt worden ist, die Augenentzündung der Neugeborenen (Ophthalmia neonatorum) ein bedeutendes Contingent. Wir enthalten uns absichtlich der diese Behauptung bestätigenden statistischen Tabellen, rufen aber an dieser Stelle allen Müttern und Kinderpflegerinnen zu, bei jedem eintretenden Augenübel der Kleinen nicht den Weisungen einer angeblich klugen Nachbarin oder quacksalbernden Alten zu folgen, sondern sofort die energische Hülfe eines tüchtigen Arztes in Anspruch zu nehmen.
Ein erheblicher Procentsatz der Blinden verdankt sein mangelndes Augenlicht der Nachlässigkeit und, wir wollen milde urtheilen, der Unwissenheit der Eltern. Manche der Schüler des königlichen Blinden-Instituts erzählen uns die Veranlassung ihrer Blindheit. Der Eine weiß noch ganz genau, wie er an einem schönen Sommertage eine Glasflasche auf einem Steine zerschlug, deren Stücke ihm beide Augäpfel zerrissen und ihn in dunkle Nacht hüllten; ein Anderer wollte in kindlicher Neugier das Innere einer kleinen Steinkugel (Murmel) untersuchen, wobei ihm beim Zertrümmern derselben ein Splitter in das rechte Auge fuhr, dessen unheilbarer Zustand sich in kurzer Zeit auch auf das linke übertrug; ein blondlockiger Knabe verlor sein Augenlicht während einer Schulstunde, indem ihm sein Nachbar aus Unvorsichtigkeit einen Schlag gegen die Stirngegend versetzte. Doch forschen wir nicht weiter nach den Ursachen des Uebels! Bei dem reichen und tiefen Gemüthsleben aller Blinden ist es eine erklärliche Erscheinung, daß der Einzelne nicht gern von seiner Blindheit spricht, und – wir legen Allen, die mit Blinden verkehren, dies an’s Herz – nicht bedauert und bemitleidet sein will. Begleiten wir jetzt unsere kleinen Freunde, die sich von unserer Uhrkette, unsern Händen und Kleidern durch Betasten mit den Fingerspitzen gern eine Vorstellung machen, auf ihrem Tagewerke und ihrer Tagesfreude! Morgens sechs Uhr, beziehungsweise einhalb sieben Uhr, ertönt eine weithin schallende Glocke, welche Alle zum Aufstehen ermahnt. Unter specieller Beaufsichtigung des betreffenden Anstaltspersonals geschieht dies sofort. Nach beendigter Morgentoilette und nachdem die Erwachsenen ihre Betten in Ordnung gebracht haben, begeben sich Alle hinunter in den Speisesaal. Einzelne finden den Weg durch Corridore und Treppen mit einer Sicherheit, welche die durch das ganze Gebäude angebrachten Leitstangen für sie überflüssig macht. Befreundete wandern Arm in Arm, und es gewährt einen unbeschreiblich rührenden Anblick, wenn ältere Schüler Neulinge auf den rechten Pfad führen.
Endlich befinden sich sämmtliche Zöglinge auf ihren bestimmten Plätzen, die Mädchen links, die Knaben rechts; auf ein gegebenes Glockenzeichen erheben sich Alle, um nach einem kurzen Gebete ihr Frühstück einzunehmen; es besteht in süßem Kaffee und zwei „Schrippen“ im Gewichte von hundertsechszig Gramm. Unter freundlichen Gesprächen verfliegt eine halbe Stunde, worauf sich sämmtliche Schüler und Schülerinnen durch gesonderte Ausgänge nach ihren Zimmern begeben. Der Gang nach dem Speisesaale wird im Laufe des Tages zum Einnehmen der Mahlzeiten viermal unternommen.
Nach dem sehr richtigen Grundsatz, den Blinden in beständiger Thätigkeit zu erhalten und nicht einem schädigenden Hinbrüten zu überlassen, ist die Unterrichtszeit mit den entsprechenden Erholungspausen auf den ganzen Tag vertheilt. Der Unterricht zerfällt in drei Theile: 1) Lehrgegenstände der Volksschule mit Ausschluß des Zeichnens, 2) industrieller Handarbeitsunterricht und 3) ein eventuell bis zu höchster Vollendung führender Musikunterricht. Wenn schon nach dem Ausspruch eines bedeutenden Pädagogen beim Unterrichten und Erziehen vollsinniger Kinder „wie beim Ausbrüten der Kücklein Stille und Wärme nöthig ist“, so tritt diese Anforderung in erhöhtem Maße an den Blindenlehrer heran. Eine Blindenclasse, in der stets Knaben und Mädchen auf getrennten Plätzen gemeinschaftlich unterrichtet werden, bietet dem Besucher einen eigenthümlichen und zugleich erfreulichen Anblick. Zwar lachen dem Lehrer nicht fröhliche Kinderaugen entgegen, denn die Augenhöhlen der Schüler sind entweder geschlossen oder zeigen nur starre, pupillenlose Augäpfel, aber trotzdem stellt das Ohr, dieses zu erstaunlichen Leistungen fähige Organ, zwischen Lehrer und Schüler ein so inniges Band des Verständnisses, der Freundschaft und Anhänglichkeit her, wie es nicht schöner gedacht werden kann. Der Lehrer ist das erleuchtende und erwärmende Gestirn, zu dem sich das liebebedürftige Kindergemüth gleich wie die Blume zur Sonne hinneigt. Doch mit welchen Schwierigkeiten ist der Unterricht verknüpft!
Erfahrungsmäßig entstammen die meisten blinden Kinder den ärmeren Bevölkerungsschichten, wo in gar vielen Fällen den Eltern unter dem Drucke harter Arbeit und niederdrückender Sorgen Luft und Befähigung für ihre natürlichen Erzieherpflichten verloren gehen. Das unglückliche Wesen verbringt in Folge dessen seine ersten Lebensjahre in dumpfem Stillsitzen; an Stelle der lebensvollen Entwickelung, wie wir sie bei dem sehenden Kinde beobachten, tritt hier ein todtes Vegetiren. Die königliche Blinden-Anstalt erhält nicht selten Schüler, die leiblich und geistig auf [351] einer unglaublich niedrigen Stufe stehen. Manche sind nicht im Stande zu gehen, etwas zu ergreifen oder selbstständig Nahrung zu sich zu nehmen. Der erste Unterricht hat daher zunächst die doppelte Aufgabe, das Kind leiblich und geistig zu entwickeln. Behalten wir zunächst die leibliche Erziehung im Auge, so tritt hier in überaus fruchtbringender Weise das Turnen, respective Gymnastik ein. Es ist wohl einleuchtend, daß darunter nur eine besondere Auswahl der Uebungen zu verstehen ist, die der Sehende ausführen kann. Die allen Blinden eigenthümliche schlaffe Haltung, Zaghaftigkeit und Unbeholfenheit weicht durch methodische Ausbildung in der Gymnastik (Freiübungen und Geräthturnen) einem frischen, kräftigen und selbstbewußten Wesen, welches sich in vortheilhaftester Weise in der jungen Seele wiederspiegelt.
Die geistige Erziehung entbehrt von vornherein des Hauptcanals aller seelischen Eindrücke, des Auges; sie ist deshalb genöthigt, sich an die vier andern Hauptsinne, Gefühl, Gehör, Geruch und Geschmack, zu wenden. In Bezug auf den ersteren gilt der Satz: „Die Fingerspitzen des Blinden sind seine Augen.“ Auf dem Wege des Fühlens und Tastens werden ihm alle Formvorstellungen übermittelt; deshalb wird der Ausbildung des Tastsinnes und seines Werkzeuges, der Hand, die größte Aufmerksamkeit gewidmet.
„Sieh nach!“ ruft der Lehrer dem Kinde in verschiedenen Unterrichtsstunden zu.
„Ich muß doch ‚nachsehen‘, welche Personen im Zimmer sind“, hören wir den Blinden sagen, indem er die Anwesenden betastet. Um seine Mitschüler zu erkennen, genügt oft ein leichtes Streichen über die Kleidung derselben; bei näherer Bekanntschaft bestimmt er den Namen des Betreffenden sogar nach den Athemzügen oder dem Geruch. Wenden wir uns zu den Unterrichtsgegenständen, bei denen die Vermittelung der Hand eine große Rolle spielt! In der königlichen Blindenanstalt kommen mehrere Systeme des Lese- und Schreibunterrichts zur Anwendung, die entweder die Communication mit den Sehenden oder mit den Blinden bezwecken. Für letztere ausschließlich ist die französische Punktschrift (Braille’s System) eingeführt, eine sinnreiche Erfindung des Pariser Blindenlehrers Braille. Zur Herstellung derselben dient eine Tafel in Großoctavform aus Zink- oder Eisenblech. Mit Hülfe eines messingenen Lineals und stumpfen Stahlstiftes drückt der Blinde in das eingespannte Papier Punkte und zwar von rechts nach links, diese Punkte, welche in zwei Reihen von einem bis sechs anwachsen
( | ⠁ | ⠃ | ⠉ | ⠙ | ) | |
a | b | c | d | etc. |
, erscheinen auf der untern Seite des Blattes erhaben und werden dann, nachdem dasselbe herumgedreht, von links nach rechts gelesen. Das zweite System ist eine Blauschrift, für Blinde zu schreiben, aber nur von Sehenden zu lesen. Zur Ausführung dient eine ähnliche Tafel, wie die oben genannte; in dem über dem Papier liegenden Messinglineal sind kleine Oeffnungen mit verschiedenen Richtpunkten angebracht, innerhalb deren die Buchstaben mit einem spitzen Stahlstift zur Darstellung gelangen; durch abfärbendes Blaupapier entsteht auf dem darunter befindlichen weißen Papier eine Schrift, die mit einer telegraphischen Depesche in Druckbuchstaben große Aehnlichkeit hat. Wie groß ist nicht die Freude der Angehörigen, von dem bisher zu Allem unfähig gehaltenen blinden Kinde den ersten Brief zu erhalten! Ein drittes System, welches alle Schüler erlernen, führt den Namen „erhabene Uncialschrift“; die Buchstaben erscheinen auf starkem Papier reliefartig und werden von den Schülern der Anstalt theilweise durch Druck in einer eigens dazu eingerichteten Druckerei hergestellt. In diesem Systeme sind auch die meisten Werke, welche zum Lesen für Blinde bestimmt sind, ausgeführt: Lesefibeln, Bruchstücke der Bibel, belehrende Aufsätze etc. Punktschrift und Reliefbuchstaben werden mit den Fingerspitzen gelesen. Es ist beklagenswert, daß derartige Literatur bisjetzt noch recht schwach auf dem Büchermarkte vertreten ist, doch wird auch hierin die Neuzeit nicht zurückbleiben.
Unentbehrlich ist die Hand ferner in der Arithmetik, Geometrie, Geographie und Naturgeschichte. Im Rechnen hat jeder Schüler eine sogenannte russische Rechenmaschine (auf Draht gezogene Holzkugeln), mit welcher die ersten Zahlenbegriffe gewonnen werden; hieran schließt sich später das schriftliche und Kopfrechnen, bei welchem manches gleichaltrige sehende Kind in Bezug auf die Resultate in der Concurrenz erliegen würde.
Viele Blinde haben außerordentliches Talent für Rechnen und Mathematik, welche Erscheinung auf das vorzügliche Gedächtniß, eine Hauptkraft derselben, zurückzuführen ist. Die Geometrie hat Körper und tastbare Zeichnungen, die Geographie Reliefkarten als Anschauungsmittel. Es ist äußerst interessant zu sehen, mit welcher Sicherheit und Schnelligkeit die Schüler den Lauf der Flüsse oder der Gebirge verfolgen, mit welcher Freude sie die durch erhabene Metallbuchstaben markirten Städte „zeigen“. Großes Vergnügen pflegt der naturgeschichtliche Unterricht zu bereiten. Hier vermitteln die Fingerspitzen die Erkenntniß der Thierformen (Modelle oder ausgestopfte Exemplare), Pflanzen und Steine. Wie weit sich das botanische Wissen erstreckt, geht daraus hervor, daß viele Blinde die ihnen vorgelegten Pflanzen bis auf die Staubgefäße zu bestimmen vermögen; reicht die Fingerspitze nicht aus, so helfen Geruch und Geschmack nach.
Wir übergehen die übrigen Unterrichtsgegenstände, Religion, Geschichte, Physik, Sprache, und wenden uns zu einer Disciplin, die in der Erziehung des Blinden, ja für das ganze Leben desselben von eminentester Bedeutung ist: der Musik. Der Director des königlichen Blindeninstituts, Rösner, eine anerkannte Autorität, sagt darüber, „Organ“ XIV, 54: „Der Musikunterricht ist ein Hauptlehrgegenstand unter den Unterrichtsobjecten der Blindeninstitute, denn Natur, Neigung, Bedürfniß verweisen den Blinden auf die Musik. Ein richtiger und gründlicher Musikunterricht hat gerade hier die erfreulichsten Resultate darzulegen, derart, daß wir die Musik der Blinden nicht blos als eine angenehme Unterhaltung und eine ihrem Zustande angemessene Zerstreuung und Vergnügung in vielen einsamen Stunden ihres Lebens, auch nicht blos als ein mit Naturnothwendigkeit gefordertes Surrogat für die der Blindheit verschlossenen Reize und Freuden in den Gestaltungen der Sichtbarkeit erachten und behandeln können, sondern sie als ein wesentliches, die ganze Persönlichkeit des Zöglings veredelndes Bildungselement anzuerkennen genöthigt sind.“
Was dem Sehenden der Anblick einer Frühlingslandschaft, das ist dem Blinden das Anhören der Musik; ihren Klängen folgt er wie der Vogel dem Lockrufe. Der Musikunterricht des königlichen Instituts umfaßt Gesang, Instrumentalmusik und Theorie. Da den Blinden die Notenschrift nur in beschränktem Maße zu Gebote steht, so muß hier das Gedächtniß und ein sehr weitgehender theoretischer Unterricht eintreten; durch letztern erklären sich auch Leistungen, wie der Vortrag Bach’scher Fugen und schwerer contrapunktischer Compositionen auf der Orgel und dem Claviere. Für die „Königin der Instrumente“ hat das Institut schon bedeutende Virtuosen ausgebildet, von denen mancher als wohlbestallter Organist sich eine Existenz gegründet hat. Schreiber dieser Zeilen hörte von einem fünfzehnjährigen Schüler in der Aula der Anstalt eine Toccate von Bach mit großer Klarheit und Sicherheit vortragen; als er, um dem jungen Künstler eine Freude zu machen, eine Phantasie über einen bekannten Choral vortrug, hatte sich hinter ihm mit Blitzesschnelle ein Auditorium gesammelt, wie es dankbarer und aufmerksamer nicht leicht gefunden werden dürfte. Die blinden Kinder hatten mit feinem Ohre die oftgehörte Toccate von der neuen Pièce durch mehrere Etagen hindurch zu unterscheiden gewußt.
Das in der Musik gestellte und mögliche Pensum für Blinde ist ein sehr hohes; bei Erreichung desselben hören wir von einem Gesangchor unter Begleitung aller Streich- und Blasinstrumente einen Theil der Haydn’schen „Schöpfung“ oder Fragmente des „Paulus“ von Mendelssohn. Vielen Blinden dient die Erlernung eines Instruments als spätere Erwerbsquelle. – Von besonderer Wichtigkeit ist der industrielle Handarbeits-Unterricht, derselbe hat die Aufgabe, die Zöglinge mit technischen Fertigkeiten auszurüsten, um sie durch eine nützliche Beschäftigung in vielen langen, einsamen Stunden vor der geisttödtenden Langeweile und dem entsittlichenden Müßiggange zu bewahren und ihnen als brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft eine Existenz zu sichern. Folgende Beschäftigungen dienen vielen Blinden zu ihrem späteren Fortkommen: Seilerei, Korbmacherei, Flechten von Tuchleisten, Stroh, Schilf, Binsen, gespaltenem Rohr und Draht, Fischnetzstrickerei, Rohrstuhlbeziehen, Bürstenbinderei, Cigarrenwickeln, Pianofortestimmen und Aufziehen von Claviersaiten; für weibliche [352] Blinde außerdem: allerlei Strick- und Filetarbeit, Anfertigung von Bekleidungsgegenständen und Luxussartikeln, Spinnen, Häkeln, Perlenarbeit etc. Wir verlassen jetzt das mühevolle Gebiet des Unterrichts, auf welchem außer dem Director drei wissenschaftliche Lehrer, zwei Musiklehrer, ein Handarbeitslehrer, eine Handarbeitslehrerin mit dem größten Segen unterrichten, und folgen unsern jungen Freunden auf ihre Erholungsstätten. Bei ungünstiger Witterung machen sie entweder Spaziergänge in den langen Corridoren oder halten sich in ihren Wohnzimmern auf; hier spielen sie Schach, Domino, „Tivoli“; jüngere Zöglinge erfreuen sich an Holzsoldaten oder bauen sich eine kleine Stadt auf, ganz in der Weise eines vollsinnigen Kindes. Ein interessantes Bild entfaltet sich an schönen warmen Tagen in dem Anstalts-Park. Es ist ein weitverbreiteter Irrthum, daß Blinde des Lichtes entbehren können. Nichts ist ihnen nöthiger als Sonnenschein und Tageslicht, und die Blinden des Königl. Instituts versäumen gewiß keine Minute der Freiheit, das Lehrgebäude zu verlassen, um in den herrlichen Anlagen Erholung und Erfrischung zu suchen. Durch das mit großer Sorgfalt gepflegte, eingezäunte Grundstück führen breite mit Steinen eingefaßte Wege; Stufen und Vertiefungen sind auf das Gewissenhafteste vermieden, so daß die Zöglinge sich ungehindert und frei bewegen können. Von keinem Sterblichen wird wohl das Herannahen des Frühlings mit so großer Aufmerksamkeit und inniger Hingabe beobachtet, als von unsern Blinden. Die Faust’sche Frage: „Wo fass’ ich dich, unendliche Natur?“ durchzittert auch die Brust des in ewige Nacht Gehüllten und sucht eine Beantwortung. Ergötzt er sich auch nicht an dem sprossenden Grün der Bäume und Sträucher oder den lachenden blumigen Wiesen, seinem Ohr erschließen sich tausend Reize. Er empfindet voll und ganz den Aufruf des Dichters:
„Horch, wie es in den Wipfeln rauscht,
Horch, wie’s im stillen Thale lauscht!
Dir schlägt das Herz, Du merkst es bald,
Der liebe Gott wohnt in dem Wald,“
nicht minder Goethe’s Wort:
„Doch ist es Jedem angeboren,
Daß sein Gefühl hinaus und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt.“
Wie lauschen die auf ihren Spielplätzen sich sonnenden Knaben und Mädchen dem Vogelgesang! Sie erkennen aus den einzelnen Vogelstimmen nicht allein den Sänger und seine Art, sie unterscheiden sogar seinen Freuden- und Angstruf und erkundigen sich nach dessen Ursachen. Verschiedene Zugvögel bestimmen sie nach dem Geräusch des Fliegens; sie kennen die Bäume, auf denen wilde Tauben brüten. – Die herrliche Lage des Parkes bietet indeß noch vielerlei andere Vergnügungen für das Ohr. Aus dem ziemlich weitentfernten „Grunewald“ wird bei günstigem Winde das Rothwild gehört; vorüberbrausende Züge zweier Bahnen und deren Signale dienen zu Zeitbestimmungen; Glockengeläute aus entlegenen Ortschaften, Kanonen- oder Gewehrschüsse aus den Berliner Exercirplätzen oder das weithintönende Pfeifen der Locomotiven geben zu Unterhaltungen reichen Stoff. – Wir verabschieden uns ungern von den einzelnen Gruppen, vergessen aber nicht, den fleißigen Turnern am Barren und Reck, desgleichen einigen guten „Schützen“ auf der Kegelbahn, deren Gäste bis zum Aufsetzer nur aus Blinden bestehen, einige Worte der Anerkennung zuzurufen. Wir scheiden mit dem Bewußtsein, eine Stätte kennen gelernt zu haben, wo manches Herz aufgerichtet, manche Seele gerettet, wo das Leid vergessen und in Freude umgewandelt wird. Möge die Anstalt im Dienst der Humanität noch weiter blühen, wachsen und gedeihen!
Wir theilen heute unseren Lesern die ersten directen Berichte vom Kriegsschauplatze mit. Auch sie können über einleitenden und vorbereitenden Inhalt nicht weit hinausgehen, geben uns jedenfalls aber ein wahres Bild von wirklich Gesehenem und schildern nicht nach Hörensagen. Wenn die laufenden Ereignisse, welche Telegraph und Tagespresse sofort melden, unseren Mittheilungen weit voraus geeilt sind, so darf der Leser eben nicht außer Acht lassen, daß der Weg für die Sendungen von Wort und Bild bis zu uns ein weiter ist und wir selbst der Ausgabe unserer Nummern stets drei Wochen vorausarbeiten müssen, um die außerordentliche Aufgabe für den Drucker ausführbar zu machen. Jedenfalls halten wir es aber für unsere Pflicht, lieber unsere Originalberichte abzuwarten, als uns mit aus Zeitungsnotizen zusammengestellten zu begnügen. Lassen wir nun unsern Berichterstatter sprechen, der uns zunächst den Pruthübergang und den Durchzug der Russen durch Jassy schildert. Er schreibt:
„Westlich und nordöstlich von Jassy senkt sich das moldauische Hügelland plötzlich in jähem Abfalle zur Pruthebene hinab. Wer dort am steilen Hange steht, übersieht mit einem Blicke meilenweit das flache Pruththal mit seinen eingestreuten kleinen Waldungen, seinem von geschlängelten Wasserrinnen durchfurchten, ausgedehnten, mannshohen Schilfdickicht, wo die wilde Ente und das Rohrhuhn ihr stilles Dasein führen, auf feuchten Wiesen die Trappenheerden weiden und hoch oben in den Lüften der Raubvogel seine Kreise zieht.
So manches Mal auf meinen Jagdfahrten stand ich sinnend vor dem plötzlich auftauchenden Bilde, und jedes Mal bot es mir erneuerten Reiz. Wer hätte noch vor wenigen Monaten ahnen können, daß sich bald gerade in diesen stillen abgelegenen Regionen der erste Act eines blutigen weltgeschichtlichen Dramas abspielen würde? Es kam aber auch buchstäblich über Nacht. Memorandum, Protokoll und alle die schönen papierenen Dinge waren beseitigt und der Czar, dessen Abreise aus Petersburg man dem übrigen Europa erst nach vierundzwanzig Stunden zu melden für gut fand, hatte in einem Fluge eine Strecke von mehreren Tausend Werst seines unendlichen Reiches zurückgelegt, um am 23. April auf dem großen Blachfelde bei Ungheni die Revue über jene Truppen zu halten, denen die Ehre zu Theil ward, zuerst officiell den Pruth zu überschreiten.
Wer, wie ich, die hohe imponirende Gestalt des mächtigen Mannes an jenem stürmischen Revuetage gesehen, wie er im strömenden Regen die Reihen seiner Truppen abritt; wer deren eigenthümliches dumpfes Hurrah, aus 20,000 rauhen Kehlen ausgestoßen, gehört, wer die tiefernsten augenscheinlich vom Bewußtsein seines folgenschweren Entschlusses durchdrungenen Züge seines Antlitzes beobachtet hat, als er mit vibrirender Stimme seine kurze Anrede an sein Officiercorps hielt, dem wird dieser Moment noch in späten Tagen in lebhaftem Gedächtniß bleiben. Nach der Revue fuhr der Czar in seiner Kalesche in Begleitung seines Bruders, des Großfürsten und Armee-Commandanten Nicolaus, an das lehmige, jäh abfallende Pruthufer. Von dort aus betrachtete er sich einen Augenblick das moldauische Land und die Brücke, über welche noch in derselben Nacht seine Heersäulen einer ungewissen Zukunft entgegen marschiren sollten.
Wer aber in grauer Frühe des 24. April auf jenen westlichen Abhängen des Pruththales gestanden hätte, dessen Aufmerksamkeit würde sich schwerlich nur der prachtvollen Fernsicht zugewendet haben. Von Süden her, dort, wo der Bahndamm wie der Leib einer großen Wasserschlange das tiefliegende Morastland durchschneidet, hätte ein unaufhörliches dumpfes Rollen an sein Ohr geschlagen und erstaunt hätte er aufgehorcht. Ein Zug folgte dort dem andern. Wohl waren es nur Güterwagen, die die Locomotive in endloser Reihe nicht zu schnell hinter sich her schleppte, diesmal bargen sie aber ungewöhnliche Fracht, und aus der schmalen Spalte, die ihnen Luft und Licht gewährte, lugten grauröckige Soldaten in den kühlen Morgen hinein. Innen aber lagen und lauerten sie, so gut es eben ging, denn der Raum war schmal, und Rußland hatte alle Eile, seine Soldaten an die Donau zu schaffen, bevor der Türke etwa auf den Einfall käme, die einzige Eisenbahnverbindung in der Mitte durchzuschneiden und die von seinen Donau-Monitors erreichbare Brücke über den Sereth bei Barbodschi zu zerstören. Man hatte wohl schon früher, so unter der Hand, unter Leitung von russischen Genie-Officieren dort Verschanzungen und Erdwerke durch rumänisches Militär angelegt, und dieses hielt sie auch besetzt. Aber auf Rumäniens Kriegsmacht war doch kein rechter Verlaß, und so zog man es vor, möglichst schnell selbst bei der Hand zu sein, und deshalb rollte es im Morgengrauen des 24. April so ungewöhnlich im Pruththale bei Ungheni.
Aber auch beiläufig anderthalb Meilen weiter nordwärts, auf der alten Straße von Jassy nach Skuliani, ging es auffallend zu. Dort, wo sonst höchstens indolente rumänische Bauern mit ihren langen Zügen von Ochsenkarren den Staub der Straße träge aufwirbelten oder, je nachdem, den breiartigen Koth durchfurchten, dort erblickte man dunkle, sich fortbewegende Massen; Piken erglänzten in der Morgensonne; Pferdegetrappel und Gewieher wurde vernehmbar; Helme leuchteten, und ein jäher Windstoß brachte wohl auch unarticulirte Laute, die, in Massen ausgestoßen, von den Russen Gesang genannt werden, aber mit der üblichen Tambourinbegleitung doch eine eigenthümliche wilde Wirkung auf den Zuhörer ausüben.
So zogen sie ihres Weges, Kosaken, Fußvolk, Ulanen, wieder Fußvolk, Train, Sanitätswagen etc.
Um halb fünf Uhr früh, am 24. April, kam der erste Militärtrain in Jassy an. Dort befanden sich Behörden und Eisenbahnleitung in nicht geringer Verlegenheit. Von der Regierung lagen keine Instructionen vor, weder für den Empfang, noch für die Weiterbeförderung. Was die letztere anbelangt, so wäre es sonst vielleicht am einfachsten gewesen, die Russen mit den angekommenen Zügen weiter durchpassiren zu lassen, aber von Ungheni nach Jassy sind die Eisenbahnen mit russischer (bekanntlich um vier Zoll größerer) Spurweite gebaut, und Alles muß hier umwaggonirt werden. Was war da zu thun? Die Stellung des Betriebsleiters
[353] der Bahn in Jassy war in diesem Augenblicke eine sehr kritische. Es wurde schleunigst nach Bukarest und Wien, an die Regierung und die Generaldirection telegraphirt. Die Antwort der ersteren ließ lange auf sich warten. Die Russen wurden ungeduldig und drängten. Natürlich! Jede Minute war ihnen kostbar. Sie verlangten Weiterbeförderung zum rumänischen Militärtarif, eine Concession, welche die Betriebsleitung ohne Ermächtigung von Bukarest nicht gewähren wollte.
Dort scheint man einen Moment rathlos gewesen zu sein. Man hatte den Einmarsch der Russen erst am 28. April erwartet, um inzwischen die vom Ministerium mit Rußland abgeschlossene Durchzugsconvention von der Kammer formell votiren zu lassen. Endlich kam telegraphische Ordre nach Jassy, den Russen Concessionen zu gewähren. Hier wollte das russische Commando den früh um sieben Uhr regelmäßig nach Bukarest abgehenden Personentrain für sich in Beschlag nehmen. Die Eisenbahnleitung protestirte. Endlich fuhren dreihundertfünfzig Russen mit, aber gegen volle Bezahlung, als gewöhnliche Passagiere. Die Ordnung wurde bald wieder hergestellt, und die Militärtransporte nahmen ungehindert ihren Verlauf.
In Jassy fing es inzwischen an, immer bunter auszusehen. Dem günstigen Wetter der ersten zwei Tage folgten stark regnerische. Die Bäche und Flüsse der Moldau wurden nach alter Gewohnheit ihres Bettes überdrüssig und traten über. Das Pruththal und das Bachluithal, an dem Jassy liegt, glichen großen Seen, und wo sich dem anströmenden Wasser Chaussee- und Eisenbahndämme in den Weg stellten, wurden sie arg mitgenommen. Bald waren letztere auf der russischen sowie auf der rumänischen Linie auf drei bis vier Stellen durchbrochen oder so arg beschädigt, daß Lastzüge nicht passiren konnten. Diese plötzliche Verkehrsstörung bewirkte manche Unordnung, aber auch in Folge dessen manches komische Intermezzo, von denen ich Ihnen hier eines erzähle.
Ein russischer General, ein kleiner runder Herr mit höchst jovialem Gesicht, saß bei einer Flasche Bordeaux im Bahnhofe zu Jassy, während seine Division einwaggonirt wurde. Sei es die amüsante Gesellschaft, in der er sich befand, seien es andere Ursachen, kurz, als sich nach einiger Zeit der alte Herr seiner Soldaten erinnerte und einmal nachsehen wollte, was sie machten, fand er zu seinem Erstaunen den ersten Zug, mit dem er ebenfalls fahren sollte, schon abgegangen. Darüber Zetermordio, welches der russische Militär-Stationschef nur mit der Versicherung beschwichtigen konnte, daß der nächste Zug seiner Division in einer Stunde abgehen und sich Alles in Pasdschani, der Zweigstation, zusammenfinden würde. Inzwischen langte eine Depesche an mit der Nachricht: der abgegangene Zug sei nur mit Mühe und Noth über die vom Wasser bedrohte Stelle der Bahn gelangt, ein weiterer Verkehr sei aber unmöglich. Neuer Verzweiflungsausbruch des alten Herrn, aber da doch weiter nichts zu machen war, tröstete er sich mit dem Gedanken, daß eine schleunige Reparatur des Dammes bald Alles wieder in’s Geleise bringen würde. Doch hatte ihn die Erfahrung klug gemacht und sein Mißtrauen erweckt. Er quartierte sich sofort mit Pferden und Bagage in seinen zur Abfahrt stehenden Zug ein, um sie ja nicht wieder zu versäumen. In seinem Waggon dritter Classe, andere waren nicht vorhanden, schlief, aß und rauchte er, und wenn er einen Bekannten auf dem Perron erblickte, winkte er ihn herbei und lud ihn in schlechtem Deutsch oder ebenso schlechtem Französisch ein, mit ihm eine Flasche Bordeaux in der Restauration zu trinken. Aber auch da setzte er sich so, daß er seinen Zug stets im Auge behalten konnte; die Furcht, daß er ihm wieder durchginge, war ihm aus den Augen zu lesen. Es verging aber ein Tag; es vergingen deren zwei – der Regen goß unaufhaltsam herab. Das Gesicht des alten Herrn wurde immer trübseliger, und die Bekümmerniß um seine ‚Jungens‘, und was sie wohl bei diesem Hundewetter ohne ihn machten, und ob auch für sie genügend gesorgt wäre, fand immer lauteren Ausdruck.
Der Stadtcommandant, Oberst P., lud ihn ein, sein Zimmer auf dem Bahnhofe zu benutzen, wo er sich ihm ein Feldbett aufzuschlagen erbot, aber dazu war General R. um nichts in der Welt zu bewegen.
Endlich am vierten Tage kam die Nachricht von der Wiederherstellung der Bahnstrecke. Zur Feier dieses glücklichen Ereignisses wurde ein halbes Dutzend Bordeauxflaschen geleert, und ich erinnere mich nicht, ein freudiger erregtes Gesicht gesehen zu haben, als jenes unseres alten Freundes, des Generals R., als er uns beim Abgange des Zuges aus seinem Coupéfenster den Abschied zuwinkte. Die Sorge um das Schicksal ‚seiner Jungens‘ sollte ja nun bald gehoben werden.
Die Bevölkerung sah dem Einmarsch der Russen anfangs mit Besorgniß entgegen. Man sprach von Kosaken, Tscherkessen, Tataren, Turkmanen und anderen fragwürdigen Völkerschaften, denen der Ruf voranging, in Bezug auf Eigenthumsrecht stark communistischen Anschauungen zu huldigen. Nun, wir haben sie gesehen und von Kosaken namentlich sehr viele gesehen, und sie haben sich bereits den Ruf von gutmüthigen Burschen errungen, die genügsam alles dankbar annehmen, was man ihnen bietet, und ein Glas Schnaps dem Galgen vorziehen, mit dem man ihnen gedroht hat, für den Fall, daß sie die rumänischen Hühnerställe und Viehheerden nicht gehörig respectirten. Die donischen Kosaken haben bekanntlich für verschiedene Begünstigungen, die ihnen schon seit
[354] Menschenaltern eingeräumt worden, die Verpflichtung, im Kriegsfalle sich selbst auszurüsten, und so ist alles, Pferde, Uniform und Waffen, ihr persönliches Eigenthum, mit Ausnahme des Hinterladers, der ihnen vom Czar geliefert wird und den sie in getheertem Futteral auf dem Rücken tragen. Bewunderungswerth ist das Geschick, mit dem sie die lederüberzogenen Tschakos tief seitwärts gedrückt auf dem Hinterkopfe balanciren; dazu das lange am Halse glatt rasirte Haupthaar, der eigenthümliche Säbel in der Lederscheide, mit dem dolchartigen Griff ohne Korb, die beinahe knopflose Uniform, der penetrante Theer- und Juchtengeruch – das Alles giebt ein originelles Gepräge. Uebertroffen werden sie darin aber noch von den Uralkosaken, welche schwarze Fellmützen mit oben sichtbarem rothem Tuchlappen tragen. Das Fell hängt ihnen über Gesicht und Nase, und man erblickt nichts als dieses und den Bart.
Die übrige Cavallerie hat mehr europäischen Anstrich. Die Pferde sind gut und die Equipirung ist zweckmäßig.
Die Infanterie ist etwas stark beladen. Sie trägt Zelte und Zeltstangen auf dem Rücken und sechs Rationen Zwieback im Tornister, lange graue Ueberröcke mit vorn auf der Brust gekreuztem graugelbem Baschlik und französische Käppis. Die Hinterlader nach dem französischen Tabatière-System mit Metallpatronen sind nicht allzugroßen Kalibers. Die Mannschaft ist voll von Siegesbewußtsein, die Officiere verhehlen sich aber keineswegs die Schwierigkeiten des Feldzuges. Viele von ihnen kennen die Türken schon aus dem serbischen Kriege und sprechen mit Achtung von ihrer Tapferkeit.
Das Benehmen der Truppen ist ein ganz ausgezeichnetes, und nirgends werden Klagen darüber laut. Alles wird baar bezahlt. Daß aber die Mäßigkeit in der Aufnahme geistiger Getränke den russischen gemeinen Soldaten auszeichnet, läßt sich nicht behaupten. In Würdigung dieses Umstandes wurde auch vom Armeecommandanten befohlen, um neun Uhr Abends sämmtliche Schenken zu schließen. – Auf dem Bahnhofe von Jassy geht es sehr lebhaft zu. Tag und Nacht pfeifen die Locomotiven; das Restaurationslocal ist meistens mit russischen Officieren gefüllt, die ihren Tschin oder ihr Glas Bier trinken oder speisen. Dazwischen gehen die Personenzüge so regelmäßig, wie früher, ab. Auf den Geleisen stehen schwer beladene Züge mit Munitionskarren, Sanitätswagen, Kanonen und Mörsern schwersten Kalibers. Pferde und Mannschaft werden meistens nachts einwaggonirt.
In den asphaltirten Straßen der Stadt rollt es in einem fort. Wir haben Tage gehabt, wo tausend bis tausendzweihundert Wagen Train ankamen, vor jedem zwei- oder vierrädrigen Wagen drei oder vier Pferde. Die auffallende Anzahl der letzteren soll in Bulgarien als Vorspann verwendet werden; vorläufig führen sie Säcke mit Zwieback für den Armeebedarf. Außer per Bahn gehen noch auf der Chaussee. nach Waslui lange Züge ab. Die Infanterie hat Ordre, täglich vierzig, die Cavallerie achtzig Werst (5 5/7 und 11 3/7 deutsche Meile) zurückzulegen. Man sieht es an Allem: Rußland bietet alle seine Kräfte auf. Die Uebermacht soll die Türkei erdrücken. Soviel ist aber sicher: der Krieg wird ein fürchterlicher, erbarmungsloser werden. Die Grausamkeit wird die Rache und der Fanatismus den Fanatismus aufstacheln, und der Völkerhaß mehr als eines Jahrhunderts wird in einer Brandfackel, sich selbst verzehrend, zum Himmel emporlodern.“
Soweit dieser Bericht. Einem zweiten, aus Braila, entnehmen wir das Folgernde: Da, wo die Donau von der einzigen reinnördlichen Richtung ihres Laufes, etwa fünfzehn deutsche Meilen vor ihrer Mündung, wieder in die östliche übergeht, liegen drei in diesem Kriege vielgenannte Orte, Braila, Galatz und Reni. Heute betrachten wir zunächst Braila. Diese Stadt, auch „Brailow“ oder „Ibraila“ geschrieben, war unter der dreihundertjährigen Türkenherrschaft eine starke Festung, wurde aber nach der Uebergabe derselben im Jahre 1829 an die Walachei von den Russen unter dem Commando des Großfürsten Michael zerstört und ist seitdem eine freundliche Handelsstadt. Gegenwärtig ist sie von den Russen militärisch befestigt und bereits der Schauplatz des ersten Zusammenstoßes der beiden kriegführenden Mächte gewesen. Alle neutralen Schiffe haben seinen Hafen verlassen; schon am 29. April sind dort die ersten Schüsse gewechselt worden.
Ein russischer Erlaß stellte es den Einwohnern frei, sich und ihre fahrende Habe vor den Kriegsgefahren nach Belieben zu retten und die Stadt oder eigentlich die Schußlinie der Donauufer zu verlassen und gewährte ihnen drei Tage Frist und Unterstützung dazu. Viele der Reichen haben sich in das Ausland begeben; in Wien ist ein Eisenbahn-Separat-Zug mit den Tresors und dafür verantwortlichen Beamten der größern rumänischen Banken eingetroffen; die minder wohlhabenden Bürger mit ihrem beweglichen Hab und Gut, Weib und Kind, der Landmann mit seinem Viehstande und Feldfrüchten haben sich landeinwärts geflüchtet. Viele Häuser wurden in Casernen und Lazarethe umgewandelt; russische und rumänische Soldateska füllt lärmend Gassen und Plätze, während die armen Einwohner Braila’s und des ganzen untern Donauufers neben ihren hochbeladenen Karren einhergehen, in Wäldern oder auf Weilern Abends ihre schlechtgeschützte Ruhestätte suchen und das erste ergreifende Bild der Kriegsnoth uns vor Augen führen.
Die russischen Manifeste fordern Jedermann auf, an seine gewohnten Geschäfte zu gehen, versprechen pünktliche Baarbezahlung der Requisitionen und die Ausbauung der Eisenbahnlinie Maracesti-Fokschani-Buseo, eine Strecke von einhundertzwanzig Kilometern, die außerdem den Bau von sechs großen Brücken erfordert. Anhaltende Regengüsse und die dadurch bedingten Anschwellungen der Flüsse hatten die Straßen aufgeweicht und Bahndämme zerstört, so daß das russische Eisenbahn-Bataillon vollauf zu thun hatte, die schon vorhandenen geschädigten Communicationswege wieder herzustellen.
Braila, die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirkes, liegt in einem der Kimpeni oder Flachländer der „großen Walachei“, an dem Punkte, wo sich der Sereth in die Donau ergießt, die sich da in sechs Arme spaltet, deren einer den durch starken Getreidehandel berühmten Hafen der Stadt bildet. Diese hat ungefähr 20,000 Einwohner, ist der Sitz des Kreisvorstandes und einer Quarantaine-Anstalt, und besitzt mehrere schöne Straßen und Bauwerke. So die St. Michaelskirche, von den Russen zum Andenken an den Sieg des Großfürsten Michael im Jahre 1829 erbaut. Die großen Getreidemagazine entstanden aus den Steinen der damals demolirten Festungswerke. Außerhalb der Stadt befindet sich noch ein Denkmal russischen Ursprungs, eine Erinnerung an die glückliche Rettung des Großfürsten Michael, der bei der damaligen Belagerung wie durch ein Wunder einer türkischen Granate entging. Der Sommer ist dort tropisch heiß, der Winter streng, das Klima ziemlich ungesund, fiebererzeugend.
Bereits vielgenannt ist die Eisenbahnbrücke über den Sereth bei Barbodschi, deren Nichtzerstören den Türken zum schweren Vorwurf gemacht wird, weil dadurch den Russen der Vormarsch nach Braila, Bukarest etc. wenigstens sehr erleichtert worden ist. Nunmehr haben die Russen bei Braila starke Batterien schweren Geschützes errichtet und dadurch die Türken gezwungen, ihre Geschütze vom Ufer (wie unsere uns von Braila zugegangene Illustration sie noch zeigt) auf die rückwärts liegenden Anhöhen zu postiren. Die russischen Batterien sind schon wegen der hier nicht unbedeutenden Erhebung des walachischen Ufers über den Donauspiegel den türkischen Monitors, die lange Zeit die Herren der Donauufer waren, höchst gefährlich geworden. Eine Dampfcorvette von neun Kanonen und mit hundertfünfzig Mann Besatzung ist am 11. Mai das erste größere Opfer jener türkischen Nachlässigkeit geworden, indem das Schiff, in den Dampfkessel getroffen, durch Entzündung der Pulverkammer in die Luft flog. Braila gegenüber liegt, am Ende des Matschincanals, die türkische Festung Matschin. Aus dortiger Nähe, aus Getschit, sollen am 13. Mai drei russische Dampfbarkassen allda für die türkische Donauflottille deponirte Kohlenvorräthe weggeholt haben. Der Uebergang russischer Truppen nach der Dobrudscha und die vollendete Aufstellung der Türken daselbst sind wenige Tage später ebenso eilig berichtet wie wiederrufen worden, werden aber in den nächsten Tagen doch noch eintreffen.
Heutzutage, wo jedes wichtige oder nur halbwegs sensationelle Ereigniß sofort eine weltumspannende Oeffentlichkeit erlangt, kann man auch von Verbrechern als von „Helden des Tages“ sprechen, und man kann ihre Namen als die von allgemein bekannten Persönlichkeiten nennen, in der Voraussetzung, daß die Geschichte ihrer Verbrechen in allen Gegenden, in welche nur ein Zeitungsblatt dringt, bekannt geworden sei. Der vielgenannte Francesconi hatte zu Wien kaum den Richtplatz betreten, auf welchem er seinen mit furchtbarem Raffinement an einem armen Briefträger verübten Raubmord durch sein eigenes Leben sühnen sollte, er hatte kaum in reumüthiger Ueberschwenglichkeit seinen Ankläger, den Staatsanwalt, geküßt und von diesem eine Minute vor der Hinrichtung den unabsichtlich humoristischen Abschiedsgruß: „Leben Sie wohl!“ entgegengenommen, als die Wiener Behörden schon eines anderen Candidaten für den Galgen, Raimund Hackler’s, des verthierten Muttermörders, habhaft wurden. Bald wurde auch dieser vom Leben zum Tode geführt, und man kann sich denken, daß zwei so rasch nach einander vollzogene Todesurtheile in allen Schichten der Wiener Gesellschaft die Discussion über die Zweckmäßigkeit und die Berechtigung der Todesstrafe in den Vordergrund rückten.
So saß denn auch eines Abends eine vorwiegend aus Künstlern bestehende Gesellschaft um einen runden Marmortisch in einem Wiener Kaffeehause und debattirte mit vielem Eifer über die große Tagesfrage. Neue Argumente wurden allerdings nicht aufgebracht, wohl aber alle bereits allgemein bekannten mit vielem Feuer vertreten. Es ist vielleicht kaum mehr möglich, neue Argumente in dieser Frage in’s Treffen zu führen, aber es scheint auch kein Bedürfniß nach solchen vorzuliegen, da ja die vorhandenen für die Vernunft sowohl, wie für das Gefühl vollkommen ausreichen. Man sprach von der Besserungsfähigkeit der menschlichen Natur, von der Möglichkeit eines Irrthums, also auch von der eines Justizmordes, von der Unmöglichkeit, einen [355] solchen Irrthum wieder gut zu machen; man beleuchtete die Abschreckungstheorie; man führte, allerdings durch keinen Notar beglaubigte, aber bona fide hingenommene statistische Daten in’s Feld – kurz, man vergaß nichts, was einiges Licht über diese wichtige Frage zu werfen geeignet schien. Man disputirte eine Weile hin und her, bis endlich ein Mitglied der Gesellschaft, einer der trefflichsten Architekten Wiens, der bis dahin sich schweigend verhalten hatte, in unverkennbarer Erregung ausrief:
„Könnt Ihr denn nicht von etwas Anderem reden? Ich werde förmlich trübsinnig, so oft ich an derlei Geschichten erinnert werde.“
Warum gleich trübsinnig? Warum soll ihm ein solches Gespräch näher gehen als einem Andern? Es sei Pflicht, da zu reden, und so laut wie möglich zu reden. So ungefähr tönte es aus dem Chorus heraus, bis auch der Architekt glücklich in das Vordertreffen der Debatte hineingedrängt wurde und schließlich statt aller weiteren Beweisgründe eine Geschichte erzählte, die uns in der That gar viele Argumente aufzuwiegen scheint und die wir hier fast wörtlich, wie sie uns im Gedächtniß haften blieb, wiedererzählen wollen.
„Denkt Euch zwei junge Mädchen, die an einem Brautkleide nähen! Ein hübsches Bild – nicht wahr? Die Freundin war gekommen, der Braut zu helfen; Beide sind glücklich; sie sehen froh in die Zukunft, die sie rosig ausmalen, dann träumen sie, um gleich darauf fröhlich zu lachen, sich zu umarmen und dann wieder munter weiter zu arbeiten. Nur wenn sie sich auf zu ungebundener Fröhlichkeit ertappen, halten sie plötzlich inne, sehen sich erst bedeutungs-, beinahe vorwurfsvoll an, um dann einen Blick der tiefsten Trauer und innigsten Theilnahme auf eine dritte Persönlichkeit zu werfen, die sich mit ihnen in derselben Stube befindet und am allereifrigsten an dem Brautkleide arbeitet. Diese Persönlichkeit hatte übrigens nichts Auffallendes; es war ein Frauenschneider, wie es ihrer unzählige geben mag, ganz ohne irgend welche hervorstechende Eigenthümlichkeiten in seiner äußeren Erscheinung, welche als ‚besondere Merkmale‘ hervorgehoben zu werden verdienten. Als die Mädchen wieder einmal ihre Heiterkeit plötzlich unterbrachen, als hätten sie sich auf einer Schuld ertappt, richtete der Schneider einen fast gütig zu nennenden Blick auf sie und sagte sanft:
‚Warum hören Sie auf zu lachen? Ich höre das Lachen so gern.‘
Die beiden Mädchen seufzten tief auf, und ihre Augen füllten sich mit Thränen.
‚Denken Sie nicht daran!‘ fuhr der Schneider fort, ‚auch ich bin ja ganz ruhig, und aus ruhigem Herzen heraus schwöre ich Ihnen, daß ich kein Mörder bin. Ich bin verurtheilt und werde morgen hingerichtet werden; ich lüge nicht, so nahe meiner letzten Stunde. Ich beklage auch mein Schicksal nicht, und ich werde leicht von dieser Welt scheiden. Der Herr in jener andern Welt wird meiner armen Seele gnädig sein. Es ist Alles abgeschlossen, und von Ihnen erbitte ich nur das Eine: Denken Sie doch ja nie, daß es wirklich ein Mörder gewesen sei, der an diesem Brautkleid mitgenäht hat!‘
Darauf schwieg er wieder und lächelte, ja er lächelte fast wie verklärt vor sich hin. Und es war kein stiller Irrsinniger, der diese Worte gesprochen; der Mann war wirklich zum Tode verurheilt und sollte wirklich am nächsten Tage geköpft werden. Die Braut war die Tochter des Gefängnißdirectors in einer mittelgroßen Stadt Deutschlands; ihre Freundin war meine Schwester. Der hier erwähnte Schneider hatte die Ausstattung der Braut zu nähen übernommen, doch ehe er noch damit zu Ende war, wurde er gefänglich eingezogen, unter die Anklage auf Mord gestellt und nach kurzem Processe – denn die Sache lag sehr einfach – zum Tode verurtheilt. Einen Fluchtversuch oder sonst irgend welche Excesse hatte man von ihm nicht zu befürchten, und so wurde seinen inständigen Bitten, bis zu seinem letzten Tage an der Ausstattung weiter nähen zu dürfen, Folge geleistet. Die beiden Mädchen, die den Mann von früher her kannten, hatten sich, überdies bereits gewöhnt, in der Nähe von Verbrechern zu leben, mit diesen sogar dann und wann zu verkehren, bald in seine Gesellschaft gefunden, sodaß sie sogar zeitweilig ganz vergessen konnten, in welcher Gesellschaft sie sich befanden.
Der Criminalfall des Schneiders war in der That ein sehr einfacher, und der Proceß konnte wirklich ein sehr kurzer sein. Er hatte mit seiner Mutter und seiner Frau ein unscheinbares Häuschen fast am Ende der Stadt bewohnt. Seine Ehe war keine glückliche, und es war notorisch, daß er mit seiner Frau in Unfrieden lebte. Eines Tages starb seine Frau plötzlich, und der des plötzlichen Todes halber vorgenommene Obductionsbefund ergab, daß die Frau an Gift gestorben sei. Es wurde durch Zeugenschaft der Nachbarn erhärtet, daß sie am Tage vor ihrem Tode einen heftigen Streit mit ihrem Manne gehabt habe; es wurde dem Schneider nachgewiesen, was er übrigens gar nicht leugnete, daß er nach dem Streite weggegangen sei, um Rattengift zu kaufen, und daß er das Rattengift auf das Fensterbrett in der Küche gelegt habe. Am nächsten Morgen stand seine Frau nicht auf, weil sie sich unwohl fühlte; seine Mutter war schon seit Wochen bettlägerig; ein Dienstmädchen gab es in dem Hause nicht; also sah er sich genöthigt für seine Frau zu kochen. Er hatte ihr einen Eierkuchen gemacht. Er erinnert sich nicht, die Küche auch nur auf kurze Zeit verlassen zu haben, und giebt selbst zu, daß es geradezu eine Unmöglichkeit gewesen wäre, daß irgend ein Fremder, ohne von ihm bemerkt zu werden, die Küche hätte betreten können. Er selbst hat seiner Frau den Eierkuchen gebracht; er hat ihr, nach eigenem Geständniß, zugeredet ihn ganz zu verzehren, da er für sich und seine Mutter schon etwas Anderes besorgen wolle, – und in diesem Eierkuchen befand sich das Gift, ein großer Theil desselben Giftes, das auf dem Fensterbrett in der Küche lag.
Es wurde der Apotheker vernommen, der das Gift verkauft hatte. Er erinnerte sich genau, wie viel er davon abgegeben habe, und so weit es sich schätzen ließ, fehlte an dem aufgerissenen Päckchen am Fensterbrett genau so viel, wie sich bei der Obduction der vergifteten Frau in deren Körper nachweisen ließ. Der Schneider gab Alles, Alles zu, nur die Hauptsache nicht, daß er nämlich seine Frau vergiftet habe. Vergeblich hielt man ihm vor, daß ein reumüthiges Geständniß ihm als ein mildernder Umstand zu Gute kommen würde – es war Alles umsonst; er leugnete standhaft. Freilich war auch das vergebens; der Thatbestand war ein zu klarer, der Indicienbeweis ein zwingender – er wurde zum Tode verurtheilt. Das Urtheil nahm er mit Gelassenheit auf, auf die Frage des Gerichtspräsidenten, ob er noch Etwas vorbringen wolle, schüttelte er den Kopf und rief mit andächtiger Innigkeit: ‚Herr! Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ Natürlich war Alles empört über eine derartige Verstocktheit und Heuchelei.
Nun wandte er sich mit einer fast wunderbar erscheinenden Freudigkeit der letzten Arbeit seines Lebens, der Brautausstattung, zu, und als er endlich am Tage nach der im Eingang geschilderten Scene auf dem Armen-Sünder-Karren zum Richtplatze geführt wurde, da grüßte er wohlgemuth zu dem Fenster hinauf, an welchem die beiden Freundinnen, auch seine letzten Freundinnen in diesem Leben, bitterlich weinend standen. Seine Heiterkeit verließ ihn bis zu seinem letzten Augenblicke nicht, und als er an den Block geschnallt wurde, rief er wieder mit andächtiger Innigkeit: ‚Herr! Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ Das waren seine letzten Worte; einen Augenblick später war sein Kopf vom Rumpfe getrennt. Der irdischen Gerechtigkeit war Genüge geschehen. –
Noch lange sprach man von diesem ruchlosen Mörder, der mit so merkwürdiger Verstocktheit in den Tod gegangen war; über sein standhaftes Leugnen war doch nicht so leicht hinwegzukommen. Einige – und diese blieben mit ihrer Ansicht in der Minderheit – behaupteten, daß er nicht ganz zurechnungsfähig gewesen; die überwiegende Mehrheit jedoch bekämpfte alle solche Zweifel und pries die Justiz, welche die Welt von einem solchen Scheusal befreit hätte. Nach und nach verstummten auch diese Debatten, und die ganze Geschichte gerieth im Vergessenheit, bis sie nach acht langen Jahren den Bewohnern der Stadt in ganz eigenthümlicher Weise in Erinnerung gebracht werden sollte. Um diese Zeit starb die Mutter des Hingerichteten; kurz vor ihrem Tode jedoch, als sie fühlte, daß ihre letzte Stunde gekommen sei, hatte sie einen geistlichen Herrn zu sich beschieden und diesem das Geständniß abgelegt, daß sie es gewesen sei, welche das Gift in jene verhängnißvolle Speise geschüttet habe. Sie habe es mit ansehen müssen, wie ihre Schwiegertochter ihrem Sohne das Leben verbittere, und da habe sie den unglückseligen Entschluß gefaßt, ihn von diesem Weibe zu befreien. Sie habe den Moment erhascht, als ihr Sohn von der Küche in den Hof gegangen sei, [356] um etwas Holz für den Herd zu spalten; da sei sie von ihrem Krankenlager aufgesprungen, aus der Kammer geschlüpft, und als eine halbe Minute später ihr Sohn zurückgekehrt, da sei das Gift schon in der Pfanne gewesen und sie wieder auf ihrem Krankenlager. Als sie dann weiter gesehen habe, welche Wendung die Dinge nahmen, da habe sie wohl ihre unselige That tausendmal verflucht, und doch habe die entsetzliche Furcht vor dem Tode sie immer und immer abgehalten, durch ein Geständniß das Leben und die Ehre ihres Sohnes zu retten. –
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht in der ganzen Stadt. Der alten Mörderin war der Proceß nicht mehr zu machen, denn wenige Stunden schon nach ihrem Geständnisse stand sie vor dem höchsten Richter über alle Welten, aber die Ehre des unschuldig Gerichteten sollte, soweit dies möglich, wiederhergestellt werden. Seine Leiche wurde aus dem ‚Verbrecherviertel‘ in den Friedhof übergeführt, dahin, wo auch andere ehrliche Menschen den ewigen Schlaf schlafen. Ein unabsehbares Geleite folgte dem Todten, und die ganze Stadt bemühte sich, ihm die letzte, die verdiente Ehre zu erweisen. Als die Menge sich nach dieser Trauerfeierlichkeit verlaufen hatte, knieten noch zwei junge Frauen betend vor dem frisch aufgeworfenen Hügel; es waren die beiden Freundinnen, in deren Gesellschaft der Unglückliche seinen letzten Tag verlebt hatte. –
Das ist die Geschichte, und darum werde ich immer bis in die Seele hinein traurig, wenn ich für die Beibehaltung der Todesstrafe streiten höre; als ob es nicht hundertmal besser wäre, zehn Schuldige zu milde zu bestrafen, als auch nur einen Unschuldigen seines Lebens und seiner Ehre für immer zu berauben!“ Mit diesen Worten beschloß der Architekt seine Geschichte; die ganze Gesellschaft hatte mit tiefer Theilnahme zugehört. Nun war jede weitere Diskussion abgeschnitten. Alle schienen es zu fühlen: Wozu noch Argumente suchen, wenn sie mit so furchtbarer Klarheit schon vor Augen liegen?
Die Farbenblindheit in der Schule. Die Farbenblindheit, auf welche in neuester Zeit mehrfach die allgemeine Aufmerksamkeit gelenkt worden ist, vermag bekanntlich für die mit diesem Fehler des Gesichtssinnes Behafteten recht unangenehme Folgen herbeizuführen, falls dieselben in den Eisenbahndienst einzutreten oder ihr Brod als Seeschiffer zu erwerben beabsichtigen. Es dürfte daher ganz zeitgemäß und als eine den Betreffenden erwiesene Wohlthat erscheinen, wenn schon die Schule in gewissen Zeiträumen Untersuchungen auf die Farbenblindheit vorzunehmen sich bewogen fühlen wollte, damit in den Farbenblinden bei Zeiten die nothwendige Selbstkenntniß eintritt, und dieselben von der Wahl eines für sie unmöglichen Berufes abgehalten werden. Diese Erwägung hat den Unterzeichneten veranlaßt, im Vereine mit mehreren Collegen in den oberen Schulclassen unserer kleinen, aber bedeutenden Seestadt eine Prüfung auf Farbenblindheit vorzunehmen. Ich erlaube mir, das dabei Beobachtete in Kürze mitzutheilen.
Die Untersuchung geschah vermittelst handgroßer Zettel bunten Papiers, welche alle Farben des Regenbogens und noch einige Mischfarben trugen. In Betracht kamen von den vorhandenen fünfzehn Schulclassen mit achthundertsechszehn Zöglingen nur die obersten acht, worunter fünf Knaben- und drei Mädchenclassen. Bei jüngeren oder geistig weniger entwickelten Kindern trifft die Untersuchung auf bedeutende Schwierigkeiten, da Kinder die Farben verhältnißmäßig sehr spät und sehr schwer kennen und unterscheiden lernen. Selbst bei den älteren bedurfte es oft wiederholter Versuche, um ganz sicher zu gehen; bei einigen konnte überhaupt kein sicheres Resultat erreicht werden. Sie bezeichneten diese oder jene Farbe ganz richtig, schienen aber bei späterem Vorzeigen über dieselbe Farbe durchaus nicht im Klaren zu sein.
Als sicherstes Zeichen einer theilweisen Farbenblindheit glaubte ich die Unsicherheit betrachten zu müssen, mit welcher Einzelne, nachdem sie ohne Zögern Blau und Gelb richtig angegeben hatten, zu rathen, umherzutappen und sich zu widersprechen anfingen, sobald ihnen Roth und Grün vorgezeigt wurde. Einen solchen unsichern Passagier ließ ich an die Wandkarte von Europa treten und forderte ihn auf, ein blau colorirtes Land zu zeigen. Sofort wies er auf das dunkelblaue deutsche Reich, dann auf das wasserblaue Italien. – Nun ein gelbes! – Skandinavien – ganz richtig. Nun ein grünes! – Rath- und hülflos irrte der Zeigefinger von Land zu Land und haftete unschlüssig einen Augenblick auf dem etwas zweifelhaft dunkelgelb gefärbten Ungarn, eilte aber, durch die ausbrechende Heiterkeit der Mitschüler eingeschüchtert, sofort weiter und blieb mit großer Sicherheit auf dem – ziegelrothen Britannien stehen. Als ich darauf ein rothes Land zu sehen verlangte, wurde mir mit beneidenswerthem Selbstgefühle das – erbsengrüne Dänemark gewiesen.
Untersucht wurden hundertzweiundsechszig Schüler im Alter von sechszehn bis zehn Jahren und hundertdreiundvierzig Schülerinnen. Unter den Knaben wurden vier Farbenblinde (zweieinhalb Procent) vorgefunden, darunter ein gänzlich Farbenblinder, der nur Weiß und Schwarz, Hell und Dunkel, nicht aber Blau und Gelb, Roth und Grün zu unterscheiden vermochte, und drei Rothblinde, die wohl Blau und Gelb, nicht aber Roth und Grün unterscheiden konnten. Blaublinde schienen nicht vorhanden zu sein.
Höchst merkwürdig mußte es erscheinen, daß unter sämmtlichen hundertdreiundvierzig Mädchen kein einziger Fall von Farbenblindheit constatirt werden konnte. Diese Thatsache ist ganz geeignet, um sozusagen stutzig zu machen. Nur durch umfangreichere Beobachtungen wird dargethan werden können, ob das weibliche Geschlecht an diesem Fehler des Gesichtssinnes weniger oder gar nicht zu leiden habe. Denn die Behauptung, daß derselbe, wie Manche wollen, lediglich auf einer Täuschung beruhe, die durch eine gewisse Gleichgültigkeit des männlichen Geschlechts gegen die Farbe hervorgerufen sei, wird schon durch die eigenthümliche Erscheinung der theilweisen Farbenblindheit widerlegt. Warum sollte ein Mensch, der gegen die blaue und gelbe Farbe nicht „gleichgültig“ ist, gerade der rothen und grünen Farbe gegenüber sich gleichgültig verhalten und nichts von ihnen wissen wollen?
Einen erfreulichen dramatischen Erfolg hat unser geschätzter Mitarbeiter Friedrich Helbig am 3. d. M. mit seinem literar-historischen Lustspiele „Die Komödie auf der Hochschule“ im Neuen Theater zu Leipzig errungen. Das Stück, in dessen Mittelpunkte die feingezeichnete Gestalt des Mathematikers und Epigrammendichters Kästner steht, stellt den reformatorischen Geist des vorigen Jahrhunderts im Kampfe mit den Ueberlieferungen eines in sich selbst zerfallenen, verknöcherten Gelehrtenthums in dramatisch wirksamer Weise dar und erntete den warmen Beifall des Publicums. Wir können diesen Erfolg des liebenswürdigen Freundes unseres Blattes nicht ohne den Wunsch registriren, daß „Die Komödie auf der Hochschule“ ihren Weg auch über die übrigen deutschen Bühnen machen möge.
Kleiner Briefkasten.
W. H. in W. Wir können von allen bis jetzt zur Versendung gekommenen Kriegskarten überhaupt nur zwei unbedingt empfehlen, die sich durch geschmackvolle Ausführung und Uebersichtlichkeit auszeichnen: die bei Mittler u. Sohn in Berlin erschienene, wahrscheinlich vom preußischen Generalstabe beaufsichtigte Greve’sche Karte, den europäischen und den asiatischen Schauplatz umfassend, und die von Hartleben in Wien ausgegebene größere Farbenkarte des europäische Schauplatzes. Daß die Flemming’schen, Meyer’schen und Perthes’schen Karten ebenfalls Vortreffliches leisten, ist selbstverständlich.
An alle Fragesteller, welche in medicinischen und gesundheitlichen Angelegenheiten unsern Rath in Anspruch nehmen, müssen wir die Bitte richten, dies stets nur unter Beifügung ihrer vollen Adresse zu thun, da, wie leicht zu ermessen, die Antworten sich nicht immer für eine öffentliche Beantwortung an diesem Platze eignen. – Zugleich allen anonymen und pseudonymen Einsendern von Manuscripten hiermit zur Nachricht, daß wir in Folge der schwierigen Zurücksendung solcher Beiträge von heute ab nicht mehr in der Lage sind, dieselben zur Verfügung der Autoren zu halten, vielmehr alle diese Einsendungen, soweit sie nicht zum Druck geeignet, dem Papierkorbe anheimgeben werden.
Zur Beachtung. Für die im Laufe des Jahres erscheinenden einzelnen Nummern unserer „Gartenlaube“ hat eine hiesige renommirte Buchbinderei einen
angefertigt, der in Form eines gebundenen Buches den beabsichtigten Zweck vollständig erfüllt und auch durch seinen äußeren Schmuck sich für jedes Zimmer eignet. Wir liefen denselben (inclusive Emballage) mit
und bitten etwaige Bestellungen bei den betreffenden Buchhandlungen aufzugeben.
- ↑ Vergl. Joh. 9, 1–2. Vom Blindgeborenen.
- ↑ Der nachstehenden authentischen Mittheilung wollen wir als einem interessanten Beitrage zur Geschichte der Justizpflege die Aufnahme nicht versagen. Die Bewohner von H. werden sich der hier ohne jede Ausschmückung geschilderten Vorgänge sicher noch erinnern. D. Red.