Die Gartenlaube (1877)/Heft 2
Der Arzt lachte, daß es zwischen den hohen Häusern in der nächtlich stillen Straße hell wiederscholl und der Commissar ihm ein: „Pst! nicht so laut!“ zuraunte.
Er schlug diesen, indem er stehen blieb, herzhaft auf die Schulter und sagte, noch immer lächelnd: „Den Mann, der Euch das überbracht hat, den macht unschädlich, sobald Ihr könnt! Ihr seid im Stande, unter seiner Beihülfe mehr Dummheiten zu begehen, als Ihr“ – er betonte die folgenden Worte – „vor meinem alten Freunde, dem Herrn Landrath und Oberbürgermeister, verantworten könnt. Aber Scherz bei Seite – ich glaube, daß ich zum wenigsten mehr von der Sache weiß, als Sie, Freundchen. Kennen Sie ein Ding, welches der 'Rothe Engel' heißt?“
„Das Gasthaus vor dem Brückenthore oder das in der Stadt?“
„Ah, ich vergaß – natürlich das Erstere. Ich bin vor anderthalb Stunden vorübergegangen. Dicht hinter der Brücke, am Wasser unten, zieht sich der lange Saalbau hin – Sie werden ihn so gut kennen, wie ich – an dem ein Paar Bretter zum Wäschespülen in’s Wasser hineinreichen. Nun hören Sie Folgendes! Ich stehe eben auf der Brücke und sehe den Fluß hinauf, über dem das Mondlicht glitzert; es war ein kostbares Bild, Commissar, ein Bild zum Malen: die alten Holzbaracken am Wasser, in denen hie und da ein rothglühendes Fenster schimmerte –“
„Aber was fange ich mit alten Holzbaracken und rothglühenden Fenstern an?“ fragte der Commissar in hörbarer Ungeduld; „zur Sache, Doctorchen!“
„Kommt alles noch!“ meinte dieser ruhig. „Was sagen Sie: Da sehe ich im Schatten dieser nämlichen Baracken sich etwas auf dem Wasser bewegen und näher und näher kommen, und das waren – bei meiner armen Seele! – drei Kähne voller Menschen. Sie sahen aus wie Blätter voll schwarzer Fliegen; so dicht waren sie besetzt. Die Gegend ist um diese Zeit einsam, wie Sie wissen, doch sah ich am Ufer drunten einen Menschen stehen, und ein zweiter kam auf die Brücke und bewegte sich ziemlich schnell und drohend auf mich zu. Ich hatte keine Lust, mir ein Messer in den Leib stoßen zu lassen, und entfernte mich langsam. Kaum bin ich zwischen die Häuser getreten, so höre ich einen zweimaligen Pfiff. Nun will der Zufall, daß dort ein paar Häuser drei Fuß auseinander stehen und daß man durch die Lücke hinübersehen kann auf das Hinterhaus vom 'Rothen Engel' – – Sie hören doch ordentlich zu, Commissar?“
„Ich werde ja doch,“ entgegnete dieser in gespannter Neugierde und rieb sich leise die Hände. „Wenn das wahr ist, Doctor, wenn der Fang wirklich beisammen wäre, ich wollte Sie umarmen.“
„Ich verzichte auf diesen Beweis Ihrer Dankbarkeit zu Gunsten der Frau Donner,“ meinte der Arzt.
Der Andere sah nach der Uhr und sprach für sich: „Wie lange also ist das her – anderthalb Stunden?“ Das Zifferblatt war im Mondenschein vollkommen deutlich lesbar. „Es ist halb[1] zwei Uhr. Ein Uhr – zwölf Uhr – ein wenig spät. Um Elf sollen sie ja sonst schon zusammen kommen.“
Der Doctor hatte diese halblaut gemurmelte Bemerkung verstanden und machte, mühsam seine Betroffenheit verbergend: „So? Sie scheinen ja gut bedient zu sein auf dem Stadthause. Nun, dieses Gesindel wird wohl nicht immer bei der alten Leier bleiben wollen, oder was sonst – vielleicht sind ja meine Leute auch verschieden von denen, welche Sie suchen –“
„Nein, nein,“ unterbrach ihn rasch der Beamte, „erzählen Sie nur weiter, Doctor! Das ist ja eine Teufelsgeschichte. Also Sie standen bei der Lücke –“
„Ja, und sah, daß die Kähne bei den Waschtritten landeten und sich ihrer Insassen entluden, welche in aller Eile um das Haus gingen; muthmaßlich giebt es einen Eingang in den Saal da hinten –“
Der Commissar stand plötzlich still und sah den Arzt wieder prüfend an. „Können Sie das beschwören?“ fragte er im Tone des Inquisitors.
Der Doctor trat bei dieser Frage drei Schritte zurück und erwiderte befremdet: „Oho! Ich bin nicht gewöhnt, mein sehr ehrenwerther Herr Commissar, daß man mich veranlaßt, freiwillige und vertrauliche Mittheilungen zu beschwören. Wenn es Ihnen genehm ist, behalte ich den Rest für mich. Ich bin kein Denunciant, mein Bester, der so etwas für Geld thut.“
„Ei, nicht doch!“ begütigte der Beamte, indem er schnell den Ton änderte, „so ist ja die Sache nicht gemeint. Seien Sie nicht böse darum, Doctorchen! Die Sache ist ja sehr merkwürdig, aber sie stimmt durchaus nicht mit meinen sonstigen Mittheilungen.“
„Das ist mir sehr gleichgültig,“ sagte der Doctor. „Machen Sie mit meinen Angaben, was Sie wollen! Hier ist mein Ziel, und nun – gute Nacht! – Halt!“ fügte er hinzu und stellte sich dabei dicht vor den Commissar hin: „Ich will Ihnen noch einen Namen nennen; was Sie damit machen, das überlasse ich Ihnen. Kennen Sie einen, der aus Amerika, dem Lande der [22] Freiheit, der Republik und der Revolution, herüber gekommen ist und Franz Zehren heißt?“
„Der?“ fragte gedehnt der Andere. „Ich habe ihn im Wiedenhofe nur einmal flüchtig gesehen. Er ist ja aber halb oder ganz taub.“
Der Arzt zwinkerte schlau mit den Augen. „Nun, Commissar, haben Sie noch nie gehört, daß Leute, welche bei der Musterung als taub eingetroffen waren, ein paar Wochen nachher mit dem besten Gehör von der Welt in die Regimenter gesteckt werden?“
„Ah!“ machte der Beamte mit den Zeichen der Ueberraschung.
„Aber reinen Mund! Ich bin die Unschuld selber und bleibe ganz aus dem Spiele. So wahr ich lebe, ich verleugne alles, wenn Sie meinen Namen in's Spiel bringen. Und nun: gut Werk, Commissar!“
Die Beiden schüttelten sich die Hände und der Commissar schritt langsam um die Ecke. Sie waren an eine Stelle der Straße gekommen, wo dieselbe ein Knie bildete. Es mußte eins der besten Viertel sein, in dem sie sich befanden – lauter zweistöckige, elegante, moderne Häuser standen da, in heller Oelfarbe gestrichen, mit Balcons und Stuckverzierungen. Der Doctor ging dreist zu einem der Häuser hinüber. Er horchte und merkte, daß der Andere jenseits der Ecke stehen blieb. „Mißtrauischer Schuft!“ brummte er ärgerlich; „so sei's d'rum!“ Er griff nach einem Klingelzuge und schellte so laut, daß es der Lauscher in der Nebenstraße hören mußte, der in der That jetzt erst, und mit ziemlicher Eile, den Weg fortsetzte.
Der Doctor sah sich prüfend um und bemerkte an einem der Nachbarhäuser eine Treppe, welche zu einem tief liegenden Hauseingange führen mußte. Er schlüpfte leise in den verdeckten Vorraum dieses Einganges. Bald nachher öffnete sich ein Fenster; ein paar ärgerliche Worte wurden hinaus gebrummt, dann schlug es wieder zu. Der unfreiwillige Veranlasser der nächtlichen Störung lachte kurz vor sich hin, aber sein Antlitz war schnell zu einem Ausdrucke von Ernst zurückgekehrt, der bewies, daß sein Intermezzo mit dem Polizeibeamten eine ziemlich bedenkliche Seite hatte. Er sprang kurz darauf flüchtig auf die Platte des Trottoirs und lief mehr als er ging den Weg zurück, den er hergekommen war. Zweimal begegneten ihm Wächter, und er war vorsichtig genug, in ihrer Nähe das Tempo seiner Schritte zu mäßigen, um sich nicht der Gefahr, angehalten zu werden, auszusetzen.
Als er wieder an die Endstrecke der Wallstraße kam, wo der Commissar den Wächter zurückgelassen hatte, schob er sich soweit an den Häusern vor, bis er gewahren konnte, daß dieser noch mit kurzem Schritte bei der alten Stelle auf und nieder patrouillirte. Er schlich dann zurück und wandte sich rechts in die Luisenstraße, eine Quergasse, welche, der Canalstraße parallel laufend, das Häuserquadrat einschließen half, zu welchem der Wiedenhof gehörte. Vor einem schmalen Hause in der Mitte der Straße hielt er an und nickte befriedigt, als er durch die Spalten eines Fensterladens Licht schimmern sah. „Noch ist es Zeit, wie ich glaube,“ murmelte er, „aber die höchste.“ Auf ein dreimaliges Klopfen an den Laden regte es sich drinnen, und die Hausthür wurde geöffnet. In der Thür stand ein alter, grauköpfiger Mann mit gewaltiger Hornbrille vor den Augen, die er möglichst weit auf die Stirn geschoben hatte. Er hielt ein Licht in der Hand.
„Patriot!“ sagte der Doctor leise. „Ist der kleine Rath noch in der Schlucht beisammen, Rottmann?“ fügte er hastig fragend hinzu,
„Sie, Herr Doctor?“ meinte der Alte, nachdem er die hohe Gestalt des Arztes einen Moment mißtrauisch beleuchtet hatte. „Nun, soviel ich weiß, sind sie noch Alle oben.“
„So bleiben Sie hier, und halten Sie die Thür offen! Man wird gleich herunterkommen. Der Teufel ist los, Rottmann, und wir müssen uns salviren. Tragen Sie Ihr Licht nur zu Ihrem Rinaldo Rinaldini, oder was Sie sonst Gutes lesen, hinein und erleuchten Sie nicht die ganze Luisenstraße! Der Hauseingang muß dunkel bleiben.“ Damit stürmte er an dem Alten vorbei über den Hausflur und hinten in den Hof. Letzterer war ein schmaler gepflasterter Platz; man sah geradeaus auf eine mit wildem Weine berankte Wand, welche zu einem dahinter liegenden Gebäude gehörte und völlig fensterlos war. Von Mondbeleuchtung war hier nichts mehr zu spüren, so wenig wie auf der Straße draußen; indeß schritt der Doctor mit vollkommener Sicherheit einer Ecke zu, wo ein Bretterverschlag sich befand, nicht breiter und höher, als zwei Menschen, welche nebeneinander stehen, Raum einnehmen. Diesen Verschlag nahm der Doctor ab, nachdem er zwei Riegel herausgestoßen, und trat in eine dunkle Oeffnung. Tastend glitt seine Hand in dem Raume umher, bis er eine Leiter erfaßt, welche er zu erklettern begann. Ueber seinem Kopfe war ein Stimmengemurmel vernehmbar, welches ab- und zunahm wie das Geräusch des Wellenschlages.
Oben angelangt, stieß er auf ein Brett über ihm, welches er mit Hülfe nur der einen Hand unschwer zu heben vermochte. Licht quoll ihm entgegen, und er kletterte jetzt vollends hinauf in einen nicht allzugroßen saalartigen Raum, in welchem etwa vierzig Personen an rohen Holztischen saßen. Halbgeleerte Gläser und Flaschen standen umher; dazwischen brannten Talgkerzen spärlich in dichtem Tabaksrauche.
„Ist Karl Hornemann noch hier?“ rief der Doctor in den Aufstand, welchen sein unerwartetes Kommen verursachte.
„Ja,“ tönte es zurück.
„Nimm ein Licht, Karl, und komm her! Die anderen Lichter auslöschen und die Fenster öffnen! Man ist uns auf der Spur.“
„Vorwärts, sechs Mann für die Wächter formirt!“ rief eine auffallend hohe Stimme, und eine Gestalt, welche derjenigen des Doctors an Größe nichts nachgab, ergriff das einzig übrige, auf einer Art Rednertribüne brennende Licht und stieg mit weiten Schritten auf die Dielenöffnung zu; die anderen Lichter waren im Nu erloschen. Man machte sich an den Fenstern zu schaffen, welche von außen noch mit Jalousien verdeckt waren. Die Gestalt mit dem Lichte sah, besonders in der schwachen Kerzenbeleuchtung, höchst wunderlich aus – ein Mann, auf dessen im Verhältnisse kleinem Kopfe eine gestickte Hausmütze mit Troddel saß und welcher überdies ein langes, schlafrockartiges Kleidungsstück trug. Sein Gesicht, welches, abgesehen von den Augen, wenig an die Züge der schönen Emilie erinnerte, war frauenhaft zart, mit schwachem Anfluge von Backenbart. Ein Zug milden Ernstes charakterisirte dasselbe, und die Augen, welche klar und fest blickten, hatten doch zugleich etwas von jenem warmen Glanze, welcher empfindsame Gemüther bezeichnet. Das war Karl Hornemann, Emiliens Bruder.
„Ein unterbrochenes Opferfest, Heinrich!“ sagte er mit stillem Lächeln. „Sind die sechs Bürger bereit?“ wandte er sich wieder mit seiner hohen Stimme an den Haufen.
Die Angeredeten traten herzu und reichten den Beiden mit kräftigem Drucke die Hände. Es waren Handwerker und Arbeiter, jüngere Leute, welche nicht ohne eine gewisse Aengstlichkeit die Gesichter ihrer beiden Führer studirten, aber, durch die ruhige Haltung Karl Hornemann's getröstet, muthig nach einander zwischen den Dielen hinab tauchten.
„Schwatzt sie möglichst weit bei Seite!“ nickte Karl Hornemann ihnen zu, und der Doctor rief ihnen nach: „Es ist augenblicklich nur eine Wache in der Nähe, vor unserem Ausschlupf in der Wallstraße, so glaube ich. Nehmt sie besonders auf's Korn, aber sichert auch die anderen Straßen! Nur um's Himmelswillen die Sache nicht leicht nehmen!“
„Bürger,“ sprach dann der Doctor nach dem Saale zu, „die Polizei weiß ziemlich Genaues um unsere Zusammenkünfte. Ich habe den Polizeicommissar Donner, der uns auflauerte, vielleicht sogar hier Euch überrascht haben würde, gründlich in den April geschickt, aber unsere Lage ist ernst. Wir werden zunächst gut thun, für zwei Monate unsere Versammlungen ganz aufzugeben, bis die Polizei sich beruhigt hat oder der Augenblick zum Handeln gekommen sein wird. Wir sorgen dafür, daß Ihr von Allem, was zu wissen nöthig, dennoch unterrichtet werdet. Es lebe die Freiheit, es lebe die Constitution!“
„Hoch!“ scholl es dumpf im Saale.
Karl Hornemann setzte das Licht auf den Boden, während sich die Männer näher um die Oeffnung sammelten.
„Herr Doctor,“ sagte Einer, eine kräftige Figur, welche zwei wahre Riesenfäuste vor sich hinreckte, „ich wollte, es ginge erst los. Das Heimliche will mir nicht gefallen.“
„Nur ruhig, Schmiede-Attes!“ lachte der Doctor, „das Eisen ist noch nicht roth.“ Ein leises Lachen ging durch den ganzen Kreis.
„Wo ist denn der Commissar?“ fragte ein Anderer in blauer Blouse.
„Ich habe ihm erzählt, Ihr wäret zu Kahn in den 'Rothen [23] Engel' hinausgefahren; er wird wohl eben den Engelwirth aus den Federn geholt haben.“
„Sechs Mann hinunter!“ rief Karl Hornemann, und wieder verschwanden die Leute im Dunkel des Stollens, und bald darauf abermals sechs, und so ging es, bis die Schritte der letzten unten im Hofe zu hören waren. Es war eine eigenthümliche Scene, diese Männer in den verschiedensten Anzügen, Graubärte mit verwitterten Gesichtern und junge Bursche, welche eben der Militärzucht entwachsen sein mochten, verwegene Gesichter darunter, aber doch ohne den Ausdruck von Rohheit, welcher die Arbeiterclasse jener Gegend sonst kennzeichnet – all Diese kauernd oder stehend und truppweis in der gähnenden Oeffnung verschwindend und das Ganze beleuchtet von dem schwachen flimmernden Lichte der Kerze.
Der Doctor und Karl Hornemann folgten den Uebrigen. Letzterer schloß sorgfältig die Diele über sich und schob unter ihr einen Riegel ein; mit gleicher Vorsicht behandelten Beide den Bretterverschlag im Hofe. –
„Pascha,“ sagte der Doctor draußen auf der Straße, als der alte Rottmann hinter ihnen zugeschlossen hatte, „weißt Du, wer uns im Grunde gerettet hat?“
„So weit reicht mein Ahnungsvermögen nicht,“ war die lakonische Antwort.
„Deine Schwester.“
„Emilie? Bist Du denn mit ihr zusammengetroffen?“
„Ich habe sie flüchtig gesehen,“ meinte leicht der Arzt, „soviel man im Mondscheine von ihr sehen kann. Ich habe sogar mit ihr gesprochen; wenn ich es nicht gethan haben würde, so läge ich ruhig im Bette und hätte den Spitzbuben Donner weder beim Spioniren erwischen, noch ihn aushorchen und auf eine falsche Fährte locken können. Sie wissen Alles, sogar die Zeit, wann wir die Versammlung begonnen haben. Ich habe die moralische Ueberzeugung, daß Ihr ohne meinen Einfall, Dich noch einmal aufzusuchen, noch diese Nacht in einigen Proben das Gefängniß geziert hättet, morgen früh vielleicht wir Alle, denn daß die Burschen, wenn man sie auf der Polizei gehörig bearbeitet, reinen Mund halten werden, dafür garantire ich nicht. Uebrigens muß Donner die Sache auf eigene Faust betreiben, sonst hätte ich vom Oberbürgermeister längst einen Wink bekommen. Der Junge hatte wirklich Recht: wenn es nur irgendwo brennen wollte! In Paris noch nichts, in Baden wieder Abwiegelung, die Polen wieder ruhig wie der Kirchhof! – Kommst Du mit mir schlafen, Karl?“
„Wenn Du mir wieder Herberge geben willst, ja. Ich störe die Frauen des Nachts nur ungern. Unterwegs könntest Du mir gut erzählen, wie meine Schwester in die Abenteuer dieser Nacht verwickelt wurde.“
Der Doctor schwieg eine Weile. Endlich sagte er: „Karl, willst Du mir helfen zu einer Heirath mit Deiner Schwester?“
Karl Hornemann schien über diese Eröffnung wenig erstaunt zu sein. In ruhigem Tone erwiderte er: „Ehrlich gestanden nein! Ich weiß ja, daß mit Euch Beiden etwas im Werke ist und daß es zu einer Entscheidung kommen muß. Ich weiß, was Du werth bist, und ich liebe Milli über Alles, aber ebenso sicher ist mir, daß Ihr Zwei miteinander die unglücklichsten Menschen von der Welt werden würdet.“
„Du bist von bewundernswürdiger Offenheit,“ bemerkte der Andere bitter. „Und von wannen kommt Dir dieses Wissen?“
„Es gehört nicht viel dazu, um zu begreifen, daß Ihr Beide ziemlich harte Steine seid, daß Du eine rücksichtslose, herausfordernde Natur bist, wie Emilie leidenschaftlich auf der einen und sentimental auf der andern Seite. Darin liegen alle Bedingungen, welche zur Erzeugung eines ewigen Krieges erforderlich sind. Und ich habe noch einen triftigeren Grund für mein 'Nein': die Abneigung meiner Mutter gegen Eure Heirath.“
Der Doctor lachte etwas wegwerfend. „Und das also würde bei Dir, bei dem Manne, der seiner besseren Einsicht gegenüber sich keinen Moment scheut, die höchste staatliche Autorität zu erschüttern, in die Wagschale fallen?“
„Das mag Dir inkonsequent erscheinen, mir nicht. Die Pietät der Familie hat ganz andere Wurzeln, als die gegen eine staatliche Autorität. Dort wirkt der elementare Zusammenhang von Blut und Leben. Was ist das Staatswesen? Eine Einrichtung, welche auf einem Vertrage zwischen Gleichberechtigten beruht. Was ist ein König? – Ein Symbol, der Repräsentant der Gesammtheit, an dessen Schmuck eine Nation so viel wenden soll, wie im Verhältnisse zu ihrer Macht und ihren Hülfsquellen steht. Ich gehorche hier, weil und soweit ich es für richtig halte, und es ist Verstandessache, die Grenze zu bestimmen. Mein Verhältniß zu meiner Mutter ist Gemüthssache.“
„Aber was um des Himmelswillen hat Deine Mutter gegen mich einzuwenden? Daß ich eine ungezogene Behandlung meiner Person – verzeihe mir den Ausdruck! – mit ein paar nicht minder ungezogenen Versen auf sie vergolten habe, kann doch eine so wichtige Frage nicht entscheiden!“
Karl Hornemann zuckte die Achseln. „Frauen sind darin eigenthümlich,“ sagte er. „Die Hauptsache aber ist ja, daß sie es im Familieninteresse für geboten hält, ihre Zustimmung zur Heirath mit Emilie Jedem – ausgenommen einen reichen Bewerber – zu verweigern. Du kennst ja wohl die Familientradition, auf der diese fixe Idee erwachsen ist?“
„Nur aus Andeutungen.“
„Die Geschichte klingt etwas romantisch. Es heißt, daß bei der Belagerung Wiens durch die Türken ein osmanischer Prinz, Ali, gefangen und später in den Norden des Reiches geschafft worden wäre, wo es ihm gefiel und wo er freiwillig verblieb. Er wurde Christ und vermählte sich, und meine Familie mütterlicherseits stammt, wie es heißt und wie irgendwo lagernde Papiere beweisen sollen, von ihm ab. Meine Mutter schwärmt im Hinblick darauf für eine angemessene Restauration unsrer äußeren Verhältnisse. Kannst Du ihr diese Idee ausreden und ihren Groll gegen Dich besänftigen – gut, so heirathet Euch, wenn Ihr durchaus wollt! Es ist menschliche Bestimmung, immer erst durch Schaden klug zu werden.“
„Du hast eine verzweifelt verständige Art zu raisonniren,“ meinte der Doctor verdrießlich. „Also auf Hülfe gegen Deine Mutter habe ich von Deiner Seite her nicht zu rechnen?“
„Gegen sie – nein!“ war die kühle Antwort.
„So will ich wenigstens versuchen, sie zu gewinnen.“
„Probire Dein Heil! Ich hoffe wenig davon.“
Eine Gestalt kam ihnen die Straße herauf entgegen, und als sie sich ihnen näherte, erkannten sie den Polizeicommissar. Der Doctor schritt auf ihn zu.
„Haben Sie die Vögel im Nest erwischt?“ fragte er mit affectirter Neugier.
„Das Nest war leer,“ antwortete ärgerlich lachend der Beamte, indem er vorübereilte. „Ich will nicht hoffen, daß die Vögel blos in Ihrem Kopfe genistet haben, Doctor.“
Es war eine schwüle Zeit damals, besonders in den Rheinlanden – das weiß jeder, der sie mit vollem Bewußtsein erlebt hat, und auch mancher, der nur von ihr gelesen hat. Es gährte und brodelte im Verborgenen. Der Zorn einer Nation war im Aufschwellen begriffen und Diejenigen, welchen er galt, verstanden die Zeichen der Zeit nicht. Die Idee der Nation als eines in sich abgeschlossenen, bewußten Riesenkörpers, welcher mit empfindlichen Nerven bis in die letzten Glieder durchzogen ist, war etwas noch zu Neues. Erst die französische Eroberungszeit hatte die Idee lebendig gemacht, wie sie selbst aus derselben geboren war; diese Zeit erst, welche die Völker durcheinander warf, zerriß und wieder zusammensetzte, bis sie am Ende durchknetet und aufgereizt waren bis zum Kinde hinunter und aufstanden ein jegliches wie ein Mann, – sie hatte Volksbewußtsein, Volkswillen, das Vollgefühl einer Vollkraft erzeugt. Und gerade als es soweit war, da ging jene Giftsaat Roms auf, die Lehre von Thron und Altar, welche einander wider jede Gefahr zu schirmen vermöchten, und die Fürsten meinten, nachdem das Bündniß zwischen beiden geschlossen worden, nun könne der Absolutismus der Josephinischen Zeit von Gottes Gnaden die Völker weiter regieren. Aber die Giftsaat zeitigte Giftfrüchte. Was in Frankreich der Geist von 1793 zu wirken im Begriff war, der lebenskräftig wieder durch die Adern der Nation sprühte, das hatte in Deutschland die Eifersucht, die Furcht, der Hochmuth des Absolutismus heraufbeschworen mit seinen Verbannungen und Einkerkerungen, mit seiner Censur und Polizei. Noch ging es wie leichte Windwirbel erst durch das Land, Staub aufjagend und plötzlich verstummend, bald hier und bald da. [24] Seltsame Stimmen flüsterten in der Luft, aus dem Gesträuch, aus den Wänden, und sie predigten von Freiheit und Volksrechten; sie predigten das Wort der kommenden Erlösung. Im Verborgenen hie und da fanden sich jene Propheten, lautere und unlautere, welche vor einer gläubigen Gemeinde die heimliche Sprache der Zeit deuteten und sehnlich warteten, um auf den Dächern rufen zu können, wessen ihre Herzen voll waren.
Jene Windwirbel waren Gewitterboten, und im Westen blitzte es flüchtig auf. Aber der Sturm war noch nicht so nahe, wie die Propheten wünschten; denn man schrieb erst das Jahr 1847.
Die schöne Emilie in dem alten Hause auf der Canalstraße stand dem Allen nicht so harmlos gegenüber, wie Frauen sonst wohl einer politisch bewegten Zeit. Heute indeß, wo sie, müde von der durchwachten Nacht, in dem Stübchen hinterm Laden saß und vom Fenster in das friedliche Gäßchen hinab sah, welches sie im Mondschatten in Liebe und Herzensnoth durchwandelt hatte, dachte sie nicht an die unheimlichen, aufregenden Clubgeschichten, in welche ihr Bruder die kluge, großherzige Schwester einzuweihen pflegte und über welche sie patriotisch mit ihm schwärmte; heute hatte sie nur Gedanken für ihr eigenes jammervolles Schicksalsräthsel, und wie sie auch brütete und hin- und hersann, es wurde ihr nicht klarer deswegen.
Es war still in dem Stübchen mit seinen altmodischen Möbeln, mit dem braungebeizten, kattunbezogenen steifen Armsessel, in dem das schöne Mädchen wie eine farbige volle Blume saß, welche aus der Modererde eines Baumstumpfes erblüht ist. Das Farbigste an ihr war freilich heute ihr zartes rosa Sommerkleid und das schwarze Sammetband, das sie um den Hals trug. Ihre Augen waren matt und die Wangen trübe; das blonde, ungewöhnlich dicke Haar war nachlässiger als sonst zu jenem wunderlich hohen Geflechte aufgesteckt, wie es die Mode der Zeit liebte. Die Mutter, welche sich sehr unscheinbar trug, ging vom Laden ab und zu; nur selten fiel ein Wort zwischen Beiden, und dann sprach die Mutter in ihrem gewöhnlichen derben, kühlen Tone und erhielt regelmäßig eine einsilbige, zerstreute Antwort. Zuweilen, wenn sie hinausging, flackerten die Blicke der matten braunen Mandelaugen in nervöser Unruhe auf und verfolgten sie mit stummen Vorwürfen.
Das Fenster stand offen; die Sommerfliegen schwärmten, und die warme Luft der Straße zog herein. Emilie hatte den Arm auf das Fensterbrett gelegt und stützte müßig den Kopf in die Hand. Die Mutter hatte sie heute noch nicht gemahnt wie sonst, daß die Küche Menschenhände brauche und daß sie dieselben entbehre, wenn das Mädchen müßig im Lehnstuhle träume. Die alte Aufwärterin war längst da gewesen und hatte ihr Theil besorgt, und es war doch noch so viel zu thun übrig.
Die Küche! – Fünfzehn Jahre war Emilie alt gewesen und hatte in der rothbraunen, mit Bolus gestrichenen Küche, auf deren Fußboden der weiße Sand knirschte, gesessen und Aepfel schälen müssen, das Kleid aufgesteckt und die blaue Schürze über den Knieen; damals war er zum ersten Male als blutjunger Arzt mit dem Bruder in’s Haus gekommen, und geradewegs in die Küche. Gerade so keck war er aufgetreten und mit den nämlichen Feueraugen wie jetzt noch, und er hatte damals mehr Schalen zur Mutter gebracht als sie selber, und all’ ihr stummer Stolz hatte ihn nicht abgeschreckt, mit ihr zu scherzen. Das war schon fünf Jahre und länger her. Sie war inzwischen üppig aufgeblüht, und er war auch nicht mehr ganz derselbe, sondern herber, unruhiger, spröder geworden. Manchmal hatte sie in der letzten Zeit ein Gefühl gehabt, als liebe er sie gar nicht mehr mit der Leidenschaft, die ihn zu ihren Füßen geführt – damals – ja damals, als sie den Paradiesesgarten ihrer Liebe mit Zittern betreten hatte. War es ihr doch selbst zuweilen, als sei ihr Herz nüchtern wie ausgebrannte Asche. Nur wenn er vor ihr stand und sie mit seinen geheimnißvollen Augen so dunkel und brennend ansah und in ihr Ohr die berauschenden Worte flüsterte, die er zu sprechen verstand wie Niemand sonst, dann fühlte sie den Faden wieder, an dem ihre Seele flatterte wie der gefesselte Falter, welchen ein Knabe als Spielzeug fliegen läßt und wieder an sich zieht.
Und doch – war er wirklich der adelige Geist, als den sie ihn bewunderte und anbetete? War alles echt an ihm? Es war ihm so leicht, eine Stimmung zu zerreißen und eine andere zu wählen; sie vermochte nicht mehr in seinen Liebesworten gedankenlos und unbekümmert sich zu schaukeln. Ah bah! er war ein Mann, und Männer sind aus härteren Stoffen gebildet.
Sie wollte ihn anbeten. Was hatte jener Andere, der sie zu lieben versicherte, sich zwischen sie und ihren Willen zu drängen? Da stand er, mitten im Wege zu ihrem Glücke, wie vor ein paar Jahren schon, als wäre er ihr Verhängniß und unabweisbar, mit dem schlicht gescheitelten blonden Haar und dem etwas verschlossenen, klugen, ernsten Gesicht, mit den lichtblauen verlegenen Augen und der vorsichtigen Haltung des Tauben. Sie mußte ihren Haß um so mehr steigern, je mehr er persönlich dazu angethan war, ihn zu entwaffnen. Seine etwas harte, hastige Stimme machte sie nervös. Sie wollte ihn weder sehen, noch hören. Fort mit ihm!
„Ich wollte, er wäre todt,“ sagte sie halblaut vor sich hin.
Draußen kam Jemand durch den Hausflur, und sie erkannte ihn am Schritt und sprang auf. Es war ihr Bruder Karl, der wunderliche Mensch mit dem Käppchen und dem langen Rocke. Jetzt bei Tage sah man deutlicher, daß er höchstens in der Mitte der Dreißiger stehen konnte, und man sah noch etwas: daß er sehr große Hände und Füße hatte. Das Mädchen schlang die Arme um seinen Hals; er neigte sich und küßte ihr sanft die Stirne.
„Wo kommst Du her, Karl? Wart ihr die ganze Nacht über im Club? Und warum bist Du nicht schon vor ein paar Stunden gekommen?“
„Der Club ist gesprengt,“ sagte er mit seinem stillen Lächeln.
„Um Gottes willen, was ist geschehen?“
„Ruhig, Milli! Nicht für immer. Die Polizei war uns nur auf der Spur, und wir sind ihr vielleicht nur um eine halbe Stunde zu früh vor den Händen entwischt. Was schadet das? Unsere Sache schläft so wenig wie die Sonne, wenn sie des Abends unter den Horizont gesunken ist. Ich hoffe, daß wir in ein paar Wochen wieder beisammen sind; ich werde ein Wort im Vertrauen mit dem Oberbürgermeister reden, für jetzt aber ist jedenfalls die Gefahr schon beseitigt.“
„Und wo warst Du bis jetzt?“
Er lächelte wieder mit einer Mischung von Schalkheit und inniger Theilnahme im Gesicht. „Bei Jemandem, der Dich gern mit dem Trauringe an sich ketten möchte, Milli.“
Ein jähes Roth streifte über ihre Wangen, und ihr Auge sah ihn halb abwehrend und halb mit scheuer Frage an.
„Später!“ sagte er und wandte sich um.
„Willst Du nichts genießen, Karl?“
„Ich danke, Kind. Ich gehe auf mein Zimmer und arbeite. Die Medicin soll, so Gott will, auch bald fertig werden, und die Menschheit wird sie brauchen können, denn an Wunden wird es ihr nicht fehlen, wenn der Sturm durch das Land saust.“
Er verließ das Zimmer, und sie folgte ihm bald. Gewiß, es war der Doctor, mit dem er gesprochen hatte, gesprochen über das, was sie marterte seit Tagen nun schon. Sie stand in der Küche und wehrte mit dem Küchentuch die Fliegen von ihrer Arbeit, und sie kamen immer wieder – immer wieder und schwarz wie ihre Gedanken. – –
Der Papst ersah falkenäugig seinen Vortheil. Seine Legaten in Deutschland schürten eifrig das Feuer der Rebellion. Aber diese sank vor dem kräftig geführten Königsschwerte Heinrichs vorderhand bei Hohenburg an der Unstrut (1075) besiegt zu Boden. Nun forderte Gregor von dem jungen Könige, daß dieser in Anerkennung der kirchlichen „Reform“ solche Bischöfe, welche ihre Stäbe mittels Simonie erlangt hätten, absetzte und seine Räthe, welche Simonie getrieben, entließe. Widrigenfalls sollte mit kirchlichen Strafmitteln gegen ihn, den König selbst, vorgegangen werden. Heinrich, der wohl fühlte, wohin Gregor zielte und daß
[25][26] die Spitze der kirchlichen „Reform“ gegen das deutsche Königthum, beziehungsweise gegen das deutsch-kaiserliche Imperium gerichtet sei, entschloß sich, den ihm hingeworfenen Fehdehandschuh aufzuheben. Er that es und konnte es thun; denn für einen tüchtigen Strategen und klugen Taktiker wäre dazumal das Kriegsspiel nicht übel gelegen. Allein wieder verdarb sich der König durch heftiges Dreinfahren seine Stellung, wobei ihm freilich zur Entschuldigung gereichen mag, daß ihn der Papst persönlich höchlich gereizt hatte. Denn Gregor hatte mittels mündlicher Botschaft den König der abscheulichsten Laster beschuldigt und im drohendsten Tone Besserung verlangt. Heinrichs Antwort war, daß er zu Worms ein nationales Koncil versammelte, welchem 24 deutsche, ein italischer und ein burgundischer Bischof anwohnten und das unter dem Vorsitze des Erzbischofs Siegfried von Mainz auf Begehren Heinrichs am 24. Januar von 1076 den „Bruder Hildebrand“ des päpstlichen Thrones, auf welchen er durch Bestechung, List und Gewalt gelangt wäre, förmlich für entsetzt erklärte. Des Königs Brief an den Entsetzten trug die Adresse: „Heinrich, nicht durch Anmaßung, sondern durch Gottes heilige Einsetzung König, an Hildebrand, nicht als an den Papst, sondern als an den falschen Mönch“ – und der Schluß des Schreibens lautete: „Verlaß den angemaßten apostolischen Stuhl! Ein anderer besteige den Thron Petri, der da nicht Gewalt übt unter dem Deckmantel der Religion, sondern die lautere Lehre verkündet. Ich, Heinrich, König von Gottes Gnaden, rufe dir mit allen meinen Bischöfen zu: Steige herab, steige herab!“
Aber Gregor stieg keineswegs von seinem Throne herab, sondern setzte sich nur fester und stolzer darauf. Ihm konnte die ihm von seiten des Königs gewordene Kriegserklärung auf Leben und Tod nur willkommen sein. Denn sie bot ihm ja eine prächtige Gelegenheit, die Ueberlegenheit des geistlichen Schwertes über das weltliche, die Macht des Geistes über die Materie in ihrem ganzen Umfange zu zeigen und kundzuthun. Der päpstliche Gegenschlag gegen den königlichen Streich kam schnell. Am 21. Februar von 1076 verkündete Gregor, umgeben von einer stattlichen Synode von Kardinälen und Bischöfen, in der Salvatorskirche des Lateran Heinrichs Entsetzung vom Königthum und Reich, entband alle Christen des dem Könige geleisteten Treueides, belegte ihn mit dem Anathem und bannte ihn förmlich und feierlich.
Die Kaiserin-Witwe Agnes, Heinrichs Mutter, war damals in Rom anwesend und zur Stunde in der Salvatorskirche Augen- und Ohrenzeugin der Bannung und Verfluchung ihres Sohnes. Da nun so ein Bann und Fluch dem Glauben der Menschen von damals zufolge die zeitliche und ewige Verdammniß des Gebannten und Verfluchten herbeiführte, so mußten, sollte man denken, Mutterherz und Muttermund unwillkürlich dagegen aufschreien. Es geschah nicht, und das ist ein schlagender Beweis, daß religiöser Wahn und Fanatismus selbst das Stärkste, was auf Erden lebt, das Muttergefühl, zu überwinden vermögen.
Kein Wunder also, daß der päpstliche Bannfluch gewaltig wirkte. Wie ein dörrender und versengender Föhn wehte er über die Alpen herüber, aber wie gefeuchtet durch den Schneehauch derselben fiel er als erquickender Regen auf alles in Deutschland, was der nationalen Einheit und dem durch Heinrich wiederhergestellten Königthume feindlich war. Einem gebannten Könige war man ja keinen Gehorsam, keine Treue schuldig. Im Gegentheil, Verrath und Empörung waren jetzt Christenpflicht. Nur wenige geistliche und weltliche Magnaten hatten ein Gefühl von Scham und Zorn, daß ein fremder Priester sich vermessen dürfte, das rechtmäßige Oberhaupt der deutschen Nation also zu beschimpfen. Die Adelsanarchie jubelte; der Partikularismus war wieder einmal obenauf. Wäre Heinrich ein Nummer-Eins-Mann gewesen, so konnte es ihm nicht allzu schwer werden, auch jetzt wieder der Rebellion den Meister zu zeigen. Allein so, wie er war, hatte er gerade in dieser kritischen Zeit durch verschiedene Uebereilungen und Mißgriffe seine Lage noch verschlimmert. Die Herzoge und Fürsten, sowie die päpstisch-gesinnten unter den Prälaten fühlten ihre Stärke. Sie versammelten sich im Oktober von 1076 zu Tribur am Rhein und faßten Beschlüsse, welche für Deutschland ein Unglück und eine Schmach waren. Sie anerkannten offen den Papst als obersten Herrn und Richter in Sachen des Reiches und beschlossen, der gebannte König müßte sich des Regiments begeben, bis er vom Banne losgesprochen wäre. Auch müßte er seine Unterwerfung dem Papste förmlich erklären. Dieser würde zu Anfang des nächsten Jahres nach Deutschland kommen und einer nach Augsburg einzuberufenden Reichsversammlung vorsitzen. Dort sollte sich Heinrich vor dem Richterstuhle des Papstes stellen, um sein Urtheil zu empfangen. Lautete dasselbe lossprechend, so sollte er wieder König sein; lautete es verdammend, sollte er des Königthums für immer entsetzt sein. Der Hauptmacher der Rebellion, welche zu diesen Beschlüssen führte, war der Bischof Bukko von Halberstadt. Die Herzoge Rudolf von Schwaben, Welf von Baiern und Berthold von Kärnten mitsammt den sächsischen Baronen hatten mit Gier den religiösen Vorwand ergriffen, von dem gebannten König abzufallen.
Heinrich seinerseits und die ihm treugebliebenen geistlichen und weltlichen Herren sahen es für eine unumgängliche Nothwendigkeit an, der Empörung diesen religiösen Vorwand zu entziehen, sowie alles daran zu setzen, den Papst nicht nach Deutschland kommen zu lassen. Ja, wenn die deutschen Städtebürgerschaften, welche treu an Heinrich hielten, wie sie trotz Bann und Interdikt später treu zu den Stauferkaisern standen, schon die Bedeutung und Macht erlangt gehabt hätten, welche sie zwei Jahrhunderte später besaßen, dann würde die Möglichkeit gegeben gewesen sein, die verrätherischen Beschlüsse von Tribur mit dem Schwerte zu zerhauen. Allein im 11. Jahrhundert war die Wehrfähigkeit des Reiches noch bei den großen Feudalherren, und dem Willen derselben mußte der verrathene König sich unterwerfen, maßen ja auch die Bischöfe und Barone seines angestammten Herzogthums Franken nichts für ihn thun wollten.
Er ging nach Kanossa.
Das ist der größte Triumph gewesen, welchen die Kirche über den Staat, der Romanismus über das Germanenthum jemals davongetragen hat. Aber, wohlverstanden, dieser Sieg Roms ist schlechterdings nur möglich geworden durch die schmachvolle Untreue der Mehrzahl des deutschen Adels und der deutschen Prälatenschaft. Zu allen Zeiten haben ja Deutsche selber ihrem Lande die bösesten Wunden geschlagen.
Von Speyer aus, wo er in halber Gefangenschaft weilte, hatte der gedemüthigte König eine Botschaft an den Papst gelangen lassen, daß er sich unterwärfe und nur um die Ledigung vom Banne bäte. Umsonst. Gregor wies die Bitte hart und herbe zurück. Er brannte vor Begierde, nach Deutschland zu kommen und inmitten der Reichsversammlung zu Augsburg als höchster Schiedsrichter auf Erden zu thronen. Gewiß, es hieße diesen großen Geist mit kleinem Maßstabe messen, wollte man dieses Verlangen auf eine persönliche Eitelkeit zurückführen, die es gekitzelt hätte, in dem Lande, wo er früher als demüthiger Mönch erschienen war, jetzo in dem ganzen Glanze seiner Vicegottheit aufzutreten. Aber es durfte und mußte den Papst reizen, die Statthalterschaft Gottes, wie er sie faßte und führte, gerade unter der Nation, bei welcher „das weltliche Schwert“, das Imperium war, mittels einer Haupt- und Staatsaktion von ungeheurer Bedeutung zu manifestiren, den Staat in der Person des angeklagten Königs zu seinen Richterfüßen zu sehen und mittels seines Wahrspruches die Erhöhung des Gottesstaates über das erste weltliche Reich und folglich über alle weltlichen Reiche ein- für allemal zu besiegeln.
Vor der Weihnacht von 1076 sandte er ein Schreiben an die deutschen Päpstler, alles zu seinem Empfange zu rüsten. Dann brach er von Rom auf, ging über Florenz und den Apennin nach Mantua, bis wohin die große Gräfin Mathildis ihn geleitete, und war im Begriffe, weiter nordwärts zu reisen das Etschthal aufwärts, als ihm der Bischof von Vercelli einen Boten zusandte mit der überraschenden Nachricht, der gebannte König der Deutschen hätte die Alpen überstiegen und stände schon auf italischem Boden. Mit Heeresmacht? Gregor mußte das glauben. Seine Eisenseele konnte sich gar nicht vorstellen, daß Heinrich, der tödtlich beleidigte und beschimpfte Germane, nicht als Rächer, sondern als Flehender käme. Eilends kehrte demnach der Papst um nach Tuscien, wo er des Schutzes seiner mächtigen gräflichen Verehrerin gewiß war, und fühlte sich erst sicher, als sich das Burgthor von Kanossa hinter dem Eingerittenen geschlossen hatte. Das war ja die festeste von Mathilde's Burgen. Etliche Meilen südwärts von Reggio ragte sie auf einem steilabfallenden, aber geräumigen Quarzfelsen [27] hoch in die Lüfte. Ein dreifacher Mauerring umgab das Schloß, welches für uneinnehmbar galt und außer den Wohn- und Wirthschaftsbauten auch ein Mönchskloster sammt Kirche enthielt. Heute bezeichnen nur Trümmer die Stelle, deren Name jedem deutschen Gemüthe sich einätzen sollte wie mit Feuer geschrieben.
Derweil war es Heinrich gelungen, etliche Tage vor der Weihnacht mit seiner treuen Königin Bertha, seinem kleinen Sohn Konrad und einem braven Dienstmann von Speyer wegzukommen und nach Besançon zu gelangen, allwo er bei dem Grafen Wilhelm von Hochburgund, dem Ohm seiner Mutter, Rast fand. Heimlich hatte er sich aus Deutschland wegstehlen müssen, weil die verschworenen Fürsten im Einverständniß mit dem Papste des Königs Reise nach Italien gewaltsam verhindern wollten und zu diesem Zwecke auch die schweizerischen, tirolischen und kärntischen Alpenpässe versperrt hielten. Die Weiterfahrt von Besançon gen Genf hatte übrigens schon kein so ärmliches Aussehen mehr, sondern gewann Schritt für Schritt ein mehr königliches. Jenseits der Rhone am Fuße des zu überschreitenden Hochgebirges wurde Heinrich von seiner Schwiegermutter begrüßt, der Markgräfin Adelheid von Savoien, welche auch ihren Sohn Amadeus mitgebracht hatte. Die Fürstin hatte alles zum Ueberschreiten des Mont-Cenis-Passes vorbereitet, und alle damals bekannten Mittel, ein solches Unternehmen möglich zu machen, waren reichlich aufgeboten. Aber ein ungewöhnlich harter Winter hatte den Paß pfadlos gemacht, und der Alpenübergang Heinrichs mit Bertha und dem dreijährigen Konrad war in Wahrheit ein furchtbares Mühsal. Schwieriger noch als das Hinansteigen war das Hinabklettern. Die Frauen mußten streckenweise auf Ochsenhäuten geschleift werden. Im gastlichen Kloster Novalesa erholten sich der König und sein Wandergefolge zuerst von den winterlichen Bergstrapazen. Dann ging der Zug weiter gen Susa, Turin, Vercelli und Pavia.
Und nun zeigte sich das Ueberraschende, daß der aus Deutschland als ein Flüchtling entwichene deutsche König auf italischem Boden jubelnd bewillkommnet wurde und imperatorisches Ansehen genoß. Lombardische Bischöfe, Grafen und Bürgermeister, alles, was dem kirchlichen Absolutismus abhold und dem Papalismus, wie ihn Gregor verstand und übte, feindselig war, sammelte sich um den gebannten Heinrich. Es stand bei ihm, mit Heeresmacht nach Tuscien hinabzuziehen und dem „geistlichen“ Schwerte zu zeigen, daß das „weltliche“ noch nicht stumpf geworden sei. Aber der König war nicht mehr ein Sausewind von Jüngling, sondern ein in der herben Schule des Mißgeschickes belehrter Mann. Vor allem mochte er den italischen Sympathiebezeigungen mißtrauen als einem bloßen Strohfeuer. Sodann haben ihm die deutschen Prälaten und Barone, welche sich, zum Theil mit ihm gebannt, in der Lombardei mit ihrem Könige vereinigten, sicherlich dringend gerathen, bei seinem Entschlusse, die Ledigung vom Banne auf friedlichem Wege zu erlangen, fest zu beharren, weil nur dadurch der Rebellion in Deutschland die Spitze abgebrochen werden könnte. Endlich mochte in Vercelli oder Pavia wohl auch etwas davon verlautet haben, daß gerade das Auftreten Heinrichs in der Rolle eines friedsamen, flehenden Büßers dem Papste am allerquersten käme. Vielleicht gerade darum gelang es dem Könige, auch seine lombardischen Anhänger zu überzeugen, daß es für jetzt das Klügste wäre, so er die übernommene Rolle durchführte.
Und er führte sie durch; mit dem höchsten Heroismus von Duldmuth führte er sie durch.
Nachdem er in Erfahrung gebracht, daß sich Gregor zu Kanossa befände und daß die Gräfin Mathildis und der Abt Hugo von Kluny, des Königs Pathe und bewährter Anhänger, bei ihm wären, brach er nach Reggio auf. Hier ließ er Weib und Kind, sowie sein ganzes Heergefolge zurück und ritt mit seiner Schwiegermutter Adelheid, seinem Schwager Amadeus, dem Markgrafen Azzo von Este, dem Bischof Gregorius von Vercelli und den deutschen Bischöfen, die ihm aus der Heimat gefolgt waren, auf Kanossa zu. Halbwegs zwischen Reggio und dem Felsenschlosse kamen die Gräfin Mathildis, von der in jenen Tagen gesagt ward, daß sie „ihren päpstlichen Gast bewirthete wie Martha und seinen Worten lauschte wie Maria“, und der Abt Hugo dem Königs-Büßer entgegen. Man sprach hin und her, wie eine Vermittelung, welche die Gräfin und der Abt gern übernommen hätten, zu ermöglichen wäre, wußte aber keinen zielsicheren Weg ausfindig zu machen. Mathildis und Hugo begaben sich nach der Burg zurück, und Adelheid, Amadeus und Azzo ritten mit ihnen. Gemeinsam wollten sie beim Papste die Fürbitte einlegen, daß er die Unterwerfung des Königs annähme und ihn vom Banne losspräche. Sie thaten so, allein Gregor wies sie ab und verlangte, daß Heinrich ihm seine Königskrone übergäbe und derselben für immer entsagte. Um diesen Preis wollte er den Bannfluch von ihm nehmen. Der Papst mochte überzeugt sein, daß der Gebannte diese Bedingung nicht eingehen würde, nicht eingehen könnte, und gerade darum hatte er sie aufgestellt. Schon die Rücksicht auf seine Bundesgenossen, die deutschen Fürsten, mußte ihn hierzu bewegen, da er sich ja denselben gegenüber verpflichtet hatte, nur gemeinsam mit ihnen den großen Streit zu entscheiden. Ledigte er nun aber den König des Bannes, so war damit der scheinbar berechtigten Verrätherei der deutschen Aristokratie die Basis entzogen und mußte dieses Präcedens dem ganzen Handel eine andere Wendung geben. Es ist daher nur gerecht, zu sagen, daß Gregor sich in einer häßlichen Klemme befand, als der König durch sein unvermuthetes Erscheinen in Italien ihm den Weg nach Deutschland abgeschnitten hatte und sich anschickte, ihm, so zu sagen, auf den Leib zu rücken, obzwar nur als bittender Büßer. Das Verhalten, welches der weiland Bauernjunge von Roavakum, der es dahin gebracht hatte, in den Augen der Gläubigen für den „fleischgewordenen Christus“ zu gelten, in den nächsten Tagen dem gebannten Könige gegenüber einhielt, sieht allerdings wie steinherziger Größenwahn aus, stellt sich aber bei näherem Zusehen als die Logik des gregorischen Papstprincips und der aus diesem erflossenen Politik dar. Daß die Logik doch nicht aushielt bis zuletzt, daß Gregor schließlich in der Hauptsache nachgab, lieferte den Beweis, daß der Vicegott eben auch ein Mensch war, dessen Nerven nur bis zu einem gewissen Grade der Bestürmung standhielten.
Derweil war Heinrich mit seinen Begleitern an den Fuß des Felsens von Kanossa herangekommen. Seine Fürsprecher haben ihm zweifelsohne sofort von der Burg herabsagen lassen, daß ihre Bemühungen fruchtlos gewesen und welche Bedingung ihm der Papst stellte. Der König scheint darauf vorbereitet gewesen zu sein; denn während seine Begleiter in dem Weiler am Fuße des Burgfelsens sich einherbergten, beschloß er, mittels eines auffälligsten Aktes der Welt zu zeigen, daß er bis zum Aeußersten sich demüthigen und durch Vornahme der strengsten Bußübungen seine Lossprechung vom Banne erkaufen wollte.
Noch am Tage seiner Ankunft vor Kanossa, wie es scheint, am 25. Januar von 1077 erschien der König barfüßig und mit dem härenen Bußhemd angethan, umgeben von seinen gleich ihm gebannten Getreuen, barfüßigen Grafen und Bischöfen, vor dem Hauptthore der Burg und verlangte als unterwürfig flehender Büßer Einlaß. Da stand der erste König der Christenheit, der Sohn Kaiser Heinrichs des Dritten, bei strenger Winterkälte mit bloßen Füßen als weinender Bettler im Schnee bis zur sinkenden Nacht. Umsonst. Am anderen Tage ging das klägliche Schauspiel auf’s neue in Scene und währte vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Umsonst. Droben im Schlosse bestürmten Adelheid und Mathildis, Hugo, Amadeus und Azzo den Papst mit Weinen und auch im Zorn: er selbst hat nachmals ausgesagt, sie hätten ihn einen hartherzigen Menschen und grausamen Tyrannen gescholten. Aber noch hielt er aus. Und ebenso der König: auch am dritten Tage that er unverdrossen seine bittere Bußarbeit und führte das Unerhörte durch. Da endlich wichen die Nerven des Papstes dem unausgesetzten Ansturm der Vermittler und Vermittlerinnen. Und auch dannzumal nur bis zu einem gewissen Punkt. Er willigte ein, die Bürde des Bannes von des Königs Haupt zu heben, aber nur unter schweren Bedingungen. Bevollmächtigte von beiden Seiten traten mitsammen in Verhandlung: von seiten Gregors sieben Kardinäle, von seiten Heinrichs der Erzbischof von Bremen, die Bischöfe von Osnabrück und Vercelli, der Abt Hugo und etliche Barone. Man kam überein, daß der König vor seiner Lossprechung feierlichst versprechen müßte, die Ausgleichung seines Zwistes mit den rebellischen deutschen Fürsten dem Urtheil und der Zeitbestimmung des Papstes zu unterstellen, sowie, die Reise Gregors nach Deutschland, falls dem Papst dieselbe zu unternehmen beliebte, mit allen Mitteln zu sichern und zu fördern. Der König gab das geforderte Versprechen. Es wurde eine Urkunde über das erreichte Einvernehmen aufgesetzt und von den beidseitigen Bevollmächtigten unterzeichnet. Für Heinrich auch von Adelheid und Mathildis.
[28] Und nun that sich das Burgthor endlich auf und ließ den König und seine Mitgebannten ein. Die Burgherrin mag den unglücklichen Gast im Hofe empfangen und in den „Palas“ geleitet haben, wo der Papst mit seinen Kardinälen der Ankömmlinge harrte. Da, als sie vor dem Angesichte des gewaltigen Priesters standen, geschah etwas, das trotz alledem und allediesem das Gefühl hervorruft, der Geist meistere die Materie. Heinrich und seine Mitgebannten warfen sich mit ausgebreiteten Armen zur Erde und stammelten unter Thränen ihr Schuldbekenntniß her. Der eiserne Papst selber vermochte sich des Weinens nicht zu enthalten. Dann richtete er Mahnungen und Tröstungen an die Büßer, sprach die Formel der Absolution und hob die also wieder in den Schoß der Kirche Aufgenommenen vom Boden auf. Hierauf schritt er ihnen voran zur Burgkirche, sprach ein Dankgebet und celebrirte selber die Messe. Der Mönch Lambert von Hersfeld meldet auch, der Papst hätte den König aufgefordert, gemeinsam mit ihm die geweihte Hostie zu genießen, dessen sich Heinrich im Gefühle seiner Unwürdigkeit geweigert habe, allein diese Meldung untersteht der Anzweiflung. Nachher tafelten König und Papst mitsammen, hatten dann noch eine Unterredung und hierauf verließ Heinrich mit seinen Getreuen die Burg.
Wie mag er aufgeathmet haben, als der Fels von Kanossa ihm aus dem Gesichte war! Was er dort gesucht, hatte er gefunden: die Lossprechung vom Banne und die Vereitelung der bedrohlichen Reichsversammlung zu Augsburg. Aber um welchen Preis? Um einen Preis, welcher den darum erkauften Vortheil weit überwog. Der Name Kanossa war fortan gleichbedeutend mit der Unterwerfung des deutschen Kaiserthums unter das römische Papstthum. Welche Fülle von Unheil, bis auf den heutigen Tag herab, für unser Land aus dieser Thatsache entsprungen ist, weiß jeder, wer es wissen will. Für uns Deutsche ist „Kanossa“ eins jener Schmerzensworte, wie jedes Volk deren eins oder mehrere besitzt, – so ein Wort, welches eine Welt von Scham und Zorn in sich faßt.
Selbstverständlich konnte ein Friede, wie er zu Kanossa zwischen Krone und Tiare mühsäligst zustandegekommen war, nur ein kurzlebiger Waffenstillstand sein. Denn auch mit dem besten Willen vermochte der König nicht zu halten, was er hatte versprechen müssen; er vermochte es nicht, weil die königliche Partei in Italien wie in Deutschland es nicht duldete. Und ganz abgesehen von allen Parteiverhältnissen und von der Politik überhaupt, wie konnte, rein menschlich genommen, eine „Versöhnung“ von der Art der zu Kanossa erzwungenen ehrlich und dauerhaft sein? Unmöglich! Der Gedemüthigte konnte dem Demüthiger nicht verzeihen und der Demüthiger ebenso wenig, ja noch weniger dem Gedemüthigten.
Daß Heinrich aus der schrecklichen Prüfung von Kanossa als ein besserer Mensch und König hervorging, untersteht keinem Zweifel. Er war, wie schon gesagt, kein Nummer-Eins-Mann, aber als einen Nummer-Zwei-Mann hat er fortan sich ausgewiesen, und ein solcher will schon etwas bedeuten auf der Schaubühne der menschlichen Tragikomödie, allwo ja sogar Nummer-Zehn-Männer als Könige, Minister, Generale, Diplomaten und Parlamentarier eine immerhin recht leidlich gute Figur machen. Mannhaft führte Heinrich den schweren Kampf um sein königliches Dasein weiter. Er wurde mit den beiden ihm durch die päpstliche Politik erweckten Gegenkönigen Rudolf von Schwaben und Hermann von Lützelburg fertig; er wurde mit Gregor selber fertig. Im Jahre 1083 kam er mit Heeresmacht nach Italien, eroberte Rom, schloß den Papst in die Engelsburg ein, ließ den Eingeschlossenen durch eine Synode von deutschen und italischen Bischöfen des Stuhles Petri entsetzen und auf diesen den Erzbischof Guido von Ravenna als Klemens den Dritten erheben, welcher dann in der Peterskirche dem deutschen Könige die römische Kaiserkrone aufsetzte. Des Kastells San Angelo vermochte er sich nicht zu bemächtigen, und Gregor ist von dort nach des Kaisers Heimkehr nach Deutschland zu seinem treuen Freunde, dem Normannenherzog Robert Guiskard, nach Unteritalien entwichen. Aber seine weltgeschichtliche Rolle war ausgespielt: er war und blieb ein entthronter und verbannter Mann. Bis zu seinem letzten Athemzuge jedoch hat er, von seinem Rechte vollständig überzeugt, für das Papstthum, wie er es geschaffen, gedacht, gesprochen, geschrieben, gekämpft. Am 25. Mai von 1085 ist er zu Salerno gestorben. Die dem Sterbenden in den Mund gelegten Worte: „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehaßt; darum sterb' ich im Elend“ – klingen nicht sehr wahrscheinlich, weil sie keineswegs gregorisch klingen. Der größte der Päpste war nicht der Mann, sterbend sich und seine Sache für besiegt zu erklären. Er wußte ja, daß sein Werk ihn überdauern werde.
Es hat ihn überdauert und war mächtig genug, den Lebensrest Kaiser Heinrichs des Vierten zu einer Hölle zu machen. Der von Gregor i. J. 1080 zum zweitenmal auf Heinrich gelegte Bannfluch war eine Last, die der lebende Kaiser nicht mehr abzuschütteln vermochte und die noch auf dem Todten wuchtete. Und das Bitterste kam noch über ihn: der Verrath der eigenen Kinder. Nach einander erhoben seine beiden Söhne, Konrad und Heinrich, rebellische Waffen gegen den Vater. Vergebens hielten, wie immer, so auch jetzt die treuen Städte zum Kaiser. Er erlag der schnödesten Untreue und List des Verräthers Heinrich, und als sich der Greis noch einmal zum Kampfe für sein gutes Recht aufraffen wollte, trat ihn der Tod an. Zu Lüttich im Schutze des treuen Bischofs Otbert ist er am 7. August von 1106 gestorben. Der Haß der Kirche verfolgte ihn bekanntlich noch in's Grab hinein oder weigerte ihm vielmehr ein Grab. Denn die Priester der „Religion der Liebe“ besitzen unbestritten den Ruhm, die Kunst des Hassens bis zur höchsten Virtuosität ausgebildet zu haben. Aber nicht darum ist die Geschichte des Christenthums die gräuelvollste aller Religionsgeschichten, sondern deßhalb, weil der arme Ikaros Mensch, je höher er in den Aether des Ideals hinaufgeflogen ist, desto tiefer in den Erdenschmutz herabfällt. Man halte einmal mit der Bergpredigt die Kirchengeschichte zusammen oder mit dem „Kindlein, liebet einander!“ die Händel der Arianer und der Athanasier, der Päpstler und der Protestanten, der „Griechen“ und der „Lateiner“, der Lutheraner und der Kalvinisten, und man wird, so man nämlich nicht schlechterdings sich selber und andere belügen will, schaudernd erkennen und anerkennen müssen, daß das christliche Ideal in der geschichtlichen Wirklichkeit nur ein höllisches Zerrbild seiner selbst geworden ist. Nicht besser kann und wird es dem sogenannten humanistischen Ideal ergehen, falls man demselben die Flügel nicht bei Zeiten beschneidet. Der Menschenbruderschaftsschwindel kann nur Unheil anrichten, weil er Blick und Sinn für das Wirkliche und Mögliche abstumpft und aus falschen Voraussetzungen verrückte Schlüsse ziehen lehrt. Die Menschen, die Parteien und die Völker sind nicht dazu da, einander zu lieben, sondern einander Konkurrenz zu machen in tausenderlei Formen. Denn nur diese rastlose Konkurrenz in allen ihren zahllosen Geschäftszweigen erhält die Firma Menschheit tüchtig und leistungsfähig. Wir leben nicht in Utopia, sondern auf Erden, und das Dasein ist keine Schlaraffei, sondern Arbeit, Sorge und Kampf.
Am 23. Februar 1866 brach in Bukarest, der Hauptstadt von Rumänien, eine sehr fein gesponnene Verschwörung aus. Die Verschworenen hatten zwar weder blonde Perrücke, noch schwarzes Collet, wie von ihnen in der „Madame Angot“ gesungen wird, aber sie besaßen die Haupttugend bei Verschwörern, tiefe, unergründliche Discretion. Niemand hatte über den Plan etwas verlauten lassen, und das Opfer, Prinz Conza, verfügte sich ganz ahnungslos zu Bette, bei seiner späten Rückkehr im Palais (er hatte eine markirte Vorliebe für nächtliche Lustwandlungen, der löbliche Hospodar) von Denjenigen ehrfurchtsvoll begrüßt, die ihn wenige Stunden später aus den Federn rüttelten und ihm in kategorischer Weise die Wahl ließen zwischen freiwilliger Abdankung oder Erdrosselung à la Paul des Ersten.
Fürst Conza aber war Philosoph; er merkte sofort, daß Halsstarrigkeit nichts nützen könnte; die Schildwachen, die Dienerschaft, die Adjutanten, Alles, worauf er rechnete, waren gewonnen. [29] So fügte er sich denn in's Schicksal, unterzeichnete im Schlafrock seine Abdankung und eröffnete wohlgemuth den Reigen der Depossedirten, deren Zahl in diesem Jahre des Heiles 1866 erklecklich anschwellen sollte. Vierundzwanzig Stunden war Seine Hoheit, der ehemalige Cavallerie-Oberst, Arrestant im eigenen Hause, dann ging's über die Grenze, und es begann für ihn die glückselige Carrière eines Millionärs, der in Ruhe und Frieden die Freuden eines reichvergoldeten und sorgenlosen Exils genoß.
Die Sorgen waren den Urhebern des Staatsstreichs geblieben. Rumänien war herrenlos. Es handelte sich darum, so rasch wie möglich einen Princeps zu finden. Der russische Bär streckte seine Tatze bereits über den Pruth, und der damals noch nicht bankrotte, deshalb auch furchteinflößende Großtürke war wüthend, weil man ohne seine Erlaubniß in Bukarest revolutionirt und conspirirt hatte. Dazu schüttelten die Diplomaten bedenklich den Kopf, schielten mit den Augen und verzogen die Mienen, als wollten sie sagen: „Meine Herren Rumänen, Sie haben sich da eine böse Suppe eingebrockt – sehen Sie, daß Sie selbe rasch hinunterkriegen!“
Wenn man irgendwo in Europa, Asien, Afrika oder auf den Fidji-Inseln wegen Besetzung eines wackeligen Thrones in Verlegenheit geräth, so wird in erster Reihe an die Bereitwilligkeit des Hauses Coburg appellirt. Die Machthaber in Bukarest hätten um Nichts in der Welt von dieser Tradition abweichen wollen; sofort wurde der Graf von Flandern zum Prinzen der Donaufürstenthümer proclamirt und ihm zu Ehren illuminirt, ein Tedeum gesungen und leidlicher Champagner getrunken. Aber die Veranstalter dieser Festivitäten hatten ohne den Wirth gerechnet. Der Graf von Flandern hatte die Schwäche, seinen lieblichen Laekener Aufenthalt dem Konak in Bukarest vorzuziehen – er bedankte sich höflich und blieb einfacher belgischer Prinz.
Die Bukarester Souverain-Erschaffer mußten daher auf eine andere Fährte gerathen. Unter den Verschworenen, die am meisten zum Sturze Conza's beigetragen hatten, that sich besonders Jean Bratiano hervor. Bratiano war kein Lehrling im Verschwörerfache. Er hatte schon längst alle peinlichen Proben eines emeritirten Carbonaro mit Auszeichnung bestanden. Im Jahre 1848 hatte er mit seinem Freunde Rosetti den Hospodar Ghika gestürzt, darauf ging er nach Paris und wurde – man weiß nicht recht wie – in Verschwörungen gegen Napoleon den Dritten verwickelt. So stand er mit Raue, dem späteren Polizeichef Gambetta's, und mehreren vollblütigen Rothen vor dem Schwurgericht der Seine den donnernden Apostrophen des jüngst verstorbenen Staatsanwalt Chaix d'Est-Ange ausgesetzt und wurde vor dessen strafender Beredsamkeit durch die sanfte Rednergabe seines Vertheidigers Jules Favre geschützt. Die Sache war nicht gespaßig; die jungen Leute standen unter Anklage, getrachtet zu haben, den Erwählten von sieben Millionen in ein besseres Jenseits zu spediren. Eine in der „Komischen Oper“ unterzubringende Höllenmaschine sollte das Werkzeug gewesen sein. Es war allerdings beim bloßen Project geblieben, aber bei der herrschenden Temperatur – kaum zwei Jahre nach dem Staatsstreich – und bei dem aufgespeicherten Material winkten unheimlich im Hintergrunde des Assisensaales die Platanen von Cayenne oder gar die röthlich gefärbten Balken des Blutgerüstes auf dem Roquette-Platz.
Bratiano kam noch billig weg. Er wurde zu einer Gefängnißstrafe verurtheilt und erfreute sich außerdem der speciellen Vergünstigung, diese Strafe in einer Maison de Santé abzubüßen. Ob Bratiano, heute österreichischer Graf, Großkrenz des St. Annen-Ordens und rumänischer Ministerpräsident, dem Kaiser Napoleon wirklich nach dem Leben getrachtet? Lange Zeit hindurch wies er mit Entrüstung diese Zumuthung zurück – kommt aber ein Republikaner nach Bukarest, so raunt ihm ein Vertrauter des Staatsmannes behaglich in's Ohr. „Sie wissen, unser Ministerpräsident hat vor Jahren den Korsen umbringen wollen.“ Doch die Feststellung dieser Thatsache gehört nicht hierher. Es genüge die Constatirung, daß Bratiano während seiner Haft Gelegenheit hatte, mit dem Potentaten auf dem Throne Frankreichs in Berührung zu kommen. Er ließ dem Kaiser verschiedene Denkschriften über die Donaufürstenthümer unterbreiten, welche von Napoleon mit großem Interesse gelesen wurden und auch wirklich auf die durch Frankreich dem Pariser Congreß aufdictirten Beschlüsse in Bezug auf die Moldau-Walachei nicht ohne Einfluß geblieben sind. Wie versichert wird, war es die Milchschwester des Kaisers, die jüngst verstorbene Mme. Cornu, welche den – bis auf Weiteres nur schriftlichen – Verkehr zwischen dem Cäsar und dem Gefangenen einleitete. Seitdem blieben der nach seiner Heimath zurückgekehrte Bratiano und Louis Napoleon in steter Fühlung mit einander. Allerdings war der ehemalige Kostgänger der „Maison de Santé“ inzwischen eine politisch markante Persönlichkeit des neugeborenen Donaustaates geworden und sollte durch den von ihm im Einverständniß mit den Tuilerien vorbereiteten Sturz Conza's noch zu höherem Ruf und höherer Bedeutung gelangen.
Als die Candidatur des Grafen von Flandern also Fiasco gemacht, drängte sich Bratiano in den Vordergrund. „Wollt Ihr,“ sagte er zu seinen Freunden und Mitschuldigen, „die Fürstenfrage in sicherer Weise erledigen, ohne Euch einen neuen Korb zu holen, so laßt mich walten. Ich kenne die richtige Adresse, an die wir uns wenden müssen; sie lautet: Paris, Palast der Tuilerien.“ Wenige Tage später, gegen Mitte März, war Bratiano auf dem Wege nach der Seinestadt. Ein italienischer Arzt, Herr Davela, in dessen Hause die Frau des Fürsten Conza nach der Katastrophe Zuflucht gefunden, begleitete ihn auf der Argonautenfahrt. In Paris wurde zuerst Kriegsrath gehalten, was für ein Prinz der besonderen und kategorischen Unterstützung des Kaisers vorgeschlagen werden sollte. Madame Cornu wurde diesem Consilium beigeordnet, und sie soll zuerst auf den Fürsten Karl von Hohenzollern hingewiesen haben. Die Königin Hortense hatte zur Zeit ihres Aufenthaltes in Deutschland vielfach mit diesem Zweige des Hohenzollern'schen Herrscherhauses verkehrt, und Madame Cornu, die unzertrennliche Jugendgespielin Louis Napoleon's, war dadurch ebenfalls in diese Gesellschaft gekommen.
Prinz Karl, damals achtundzwanzig Jahre alt, war Lieutenant à la suite im zweiten Dragonerregiment, welches in Potsdam lag. Man schrieb dem Vater und bat ihn, in Düsseldorf eine Besprechung mit seinem Sohne anzuberaumen. In der freundlichen und kunstsinnigen Rheinstadt begegneten sich der zukünftige Fürst und sein zukünftiger Premier. Es bedurfte nicht langer Unterredung, um den Prinzen Karl, dessen Temperament eben kein philiströses ist, zur Annahme der Krone zu bewegen; möglich, daß, um die Klänge des Sirenenliedes noch verführerischer zu stimmen, Bratiano, der Republikaner, damals wirklich die baldige Metamorphose der Fürsten- in eine Königskrone in Aussicht stellte und vor den Augen des jugendlichen Herrschercandidaten das verlockende Bild einer Hohenzollern'schen Großmacht an der Donau schillern ließ. Kurz und gut, der Zustimmung des Prinzen gewiß und überzeugt, daß diesmal die Tedeums nicht umsonst gesungen werden sollten, kehrten Bratiano und Davela nach Paris zurück. Das Terrain war indessen in den Tuilerien trefflich vorbereitet worden. Madame Cornu hatte sich zum Advocaten der Hohenzollern'schen Candidatur gemacht und die Idee mit der ihr eigenen Zähigkeit und Ausdauer verfolgt. Sie hatte beim Kaiser zu jeder Stunde Zutritt, und sehr oft holte sich Louis Napoleon bei seiner Jugendgespielin Rath. Auch in diesem Falle hatte die kluge Frau wieder den Beweis der gewaltigen Tragweite ihres Einflusses documentirt. Napoleon rieth den Rumäniern, nur rasch und entschieden vorzugehen. Die Conferenz, die sich indessen in Paris versammelt hatte und auf welcher Rußland, die Türkei und – schließlich auch Oesterreich, als es von der Candidatur eines preußischen Prinzen Wind bekam, sich der Ernennung eines fremden Fürsten widersetzten, die Conferenz sollte mit Lappalien hingehalten werden, bis die vollendete Thatsache durch Erscheinen des Prinzen auf dem rumänischen Boden geschaffen sein würde. Gegen diese vollendete Thatsache würde sich aber nicht ankämpfen lassen.
Bratiano und Davela ließen es sich nicht zweimal sagen. Mit der empfohlenen Beschleunigung wurde in Bukarest die Fürstenwahl zu Stande gebracht, in Düsseldorf feierlich dem jungen Prinzen die Krone angeboten und die Proteste der Conferenz mit noblem Stillschweigen übergangen. Es handelte sich nur darum, den Prinzen auf seine Herrschaft zu bringen. Das Fatale war, daß Seine Hoheit entweder über russisches oder über österreichisches Gebiet mußten. Hüben wie drüben drohte dem nicht anerkannten Souverän Verhaftung; russische und österreichische Polizisten verfolgten den Fürsten auf Schritt und Tritt. Aber Bratiano hatte während seiner Verschwörerpraxis einer löblichen Polizei allerhand [30] Kniffe abgeguckt – es gelang ihm glücklich, die Häscher auf eine falsche Fährte zu bringen. Prinz Karl versah in auffallender Weise seinen Dienst bei den Dragonern in Potsdam, bis er eines Tages plötzlich verschwunden war, ohne selbst dem Regimentsobersten von seiner Abreise Meldung zu erstatten. Das preußische Dienstreglement kennt keine Ausnahme – so wurde denn nach Ablauf der gesetzlichen Frist der Regent Rumäniens als Deserteur eingetragen. Ein junger Mann von elegantem Aussehen, der sich um diese Zeit im „Weißen Roß“ in Wien als „Kaufmann Lehmann aus Berlin“ in das Register für Reisende einschreiben ließ, hätte wohl den Obersten des zweiten Dragonerregiments am besten über seinen vermißten Lieutenant informiren können. Unter diesem höchst bürgerlichen Namen hielt sich der Prinz achtundvierzig Stunden in Wien auf und reiste dann im nämlichen Incognito über Pest seinem Bestimmungsorte zu. Turn-Severin heißt die erste rumänische Hafenstadt an der Donau. Es ist eine ziemlich behäbig aussehende Provinzstadt mit einer Promenade, einem deutschen Brauhause, einem Grand Hôtel und einem Zollamte, dessen Beamte das Gepäck der Reisenden auf offener Straße durchwühlen. In jüngster Zeit gesellte sich zu diesen Vorzügen auch ein Bahngebäude (Linie Bukarest-Orsova) und ein Café Chautant.
Hier setzte der „Kaufmann Lehmann aus Berlin“, der sich als Fürst Karl der Erste entpuppte, am 20. Mai 1866 Fuß auf’s rumänische Festland. Kanonendonner, Glockengeläute und enthusiastische Vivats begrüßten ihn. Die Reise im sechsspännigen Wagen von Turn-Severin bis Bukarest war ein langer Triumphzug mit ganz besonderen Ovationen in Krajova, Pitesti und all den größeren Ortschaften auf der Strecke. Ueberall wurde mit Pomp und Feierlichkeit dem Neuangekommenen Brod und Salz geboten, überall begrüßte man ihn als den Hort der Unabhängigkeit Rumäniens. In Bukarest war die ganze Bevölkerung, die metropolitanischc Geistlichkeit und sämmtliche Behörden an der Spitze, auf den Beinen – nur die Consuln der Mächte waren zu Hause geblieben. Der preußische Consul allein wagte es, seinem Landsmanne entgegenzureisen. Aber er hütete sich wohl, die Gala-Uniform anzuziehen und die bei festlichen Gelegenheiten gebräuchliche Equipage aus dem Stalle zu beordern. Er fuhr in einfacher Droschke und im schwarzen Fracke zum Thore hinaus. Da er aber keine Legitimation bei sich hatte, wollten ihn die Polizisten nicht fahren lassen.
Waren die Bukarester froh, den Prinzen, der ihnen als Schutzwall gegen die Angriffe von außen galt, in ihrer Mitte zu fühlen, so freuten sie sich doppelt, daß dieser Prinz von so gewinnendem und liebenswürdigem Aeußern war. Prinz und Volk verlebten glückliche Honigmonde; jeder Anlaß war für Ovationen gut, die Loyalität für den Hohenzoller war Modesache, und in dem Palaste des Bojaren wie in der Hütte des Bauern, in den feinsten Ressourcen wie im letzten Branntweindebit, nirgends durfte das Bildniß des Herrschers fehlen, hier prunkvoll in Oel und goldumrahmt, dort hinter Glas und Rahmen in Gestalt bescheidener Lithographie. Die internationalen Schwierigkeiten wurden nach und nach beseitigt. Das Uebergewicht der preußischen Waffen kam auch dem Sprößlinge der Dynastie an der Donau zu Gute. Napoleon der Dritte blieb auch seinem Schützlinge treu. Oesterreich war ohnmächtig, Rußland gezwungen, die Unabhängigkeit Rumäniens endlich anzuerkennen, und der Großtürke durch die Huldigungsreise Karl’s nach Constantinopel beschwichtigt.
Zehn Jahre sind nun verflossen. Und wie haben sich die Dinge geändert, wie anders ist das Verhältniß zwischen Fürst und Volk! Fürst Carol wohnt noch immer in dem Konak der großen Mogodoschai-Straße, der Hauptader Bukarest’s. Das Palais sieht von außen sehr bescheiden aus. Es ist ziemlich niedrig gebaut, nur ein Stockwerk hoch und bildet ein offenes Viereck. Vor dem Haupteingang stehen als Schildwachen zwei Jäger in Uniformen nach österreichischem Schnitt, den Federhut auf dem Kopfe. Zuerst gelangt man durch einen breiten Corridor, der zugleich als Wartesaal dient, in den großen Audienzsalon. Hinter demselben finden wir den Speisesaal, wo hundert Gedecke bequem Platz finden, und eine Reihe von Empfangssalons. Diese sind sämmtlich im feinsten – ich möchte sagen verschwenderischen pariser Styl möblirt. Man findet hier den Luxus der Bojaren wieder, welcher für diese unentbehrlich ist. Seltene exotische Pflanzen in porcellanenen Blumenkästen und einige Gemälde meistens deutscher oder französisch-schweizerischer Künstler vervollständigen die decorative Wirkung dieser Prachtgemächer, die sich jedoch nur ein paar Mal im Winter öffnen.
Am liebsten verweilt der Prinz oben in seinen nach deutscher Art eingerichteten Familienzimmern, die das ganze erste Stockwerk einnehmen. Seit fünf Jahren ist Fürst Carol mit einer Prinzessin von Neuwied vermählt und lebt mit derselben in glücklicher, wenn auch kinderloser Ehe. Dieser Punkt droht eben für das eheliche Glück des fürstlichen Paars eine Klippe zu werden. Die rumänischen Staatsmänner, welche einen fremden Fürsten auf den Thron berufen haben, glaubten, diese heikle Frage wäre ein für alle Mal erledigt. Sie freuten sich, durch die Proklamation des Erbrechtes statt des Wahlrechtes, welches bisher galt, alles Mißliche beseitigt zu haben. Was nützt aber der Grundsatz in der Theorie, wenn die praktische Handhabung desselben unmöglich wird! Es sind schon mehrmals und zwar in Gegenwart des Prinzen über diesen Punkt Andeutungen gemacht worden – man hat so zart wie möglich auf die Leichtigkeit hingewiesen, mit welcher die Eingeborenen von dem Rechte, Ehen, die nicht den gegenseitigen Erwartungen entsprechen, zu lösen, Gebrauch machen. Aber Fürst Carol ist bis jetzt bei seinen schlichten deutschen Anschauungen über die Heiligkeit ehelicher Bande geblieben – und fürwahr, wenn man das fürstliche Paar am Nachmittag, Beide zu Pferd, die königl. Hoheit in der schmucken Uniform eines Dorobanzenofficiers, die Dame in schwarzer Amazone, durch die Alleen der Kisseleff-Avenue reiten sieht, so stellt man unwillkürlich – nicht ohne Entrüstung – die Frage, was die Staatsraison diesem Einverständnisse anhaben kann.
Ja, die Staatsraison! Herr Bratiano und seine Collegen verstehen es, aus diesem Klumpen lauteres Gold und Silber für den eigenen Bedarf zu münzen. Die Staatsraison erforderte es wahrscheinlich, daß die Herren Bratiano oder Catargis, je nachdem die Temperatur im Parlamente roth oder blau-conservativ ist, die wahren und alleinigen Beherrscher des Landes sein müssen. Die loyale Maske von Anno 1866 war bald bei Seite gelegt, und der wirkliche Grund der Revolution vom 23. Februar hörte auf ein Geheimniß zu sein. Man hatte Conza gestürzt, weil Conza ein wenig Anspruch auf den Ausspruch Ludwig’s des Vierzehnten „L'État c'est moi“ erhob, weil er nicht blos eine Puppe in den Händen seiner Minister sein wollte. Als Herr Bratiano seine Argonautenfahrt unternahm, da dachte er sich unter dem zukünftigen Fürsten ein frommes, duldsames Geschöpf, das Alles gut finden müsse, was er, Bratiano, ihm vorschreiben würde. Mit einem einheimischen Fürsten, der das Getriebe der Parteien kennt, der mit den persönlichen Verhältnissen vertraut ist, wäre dieses Ideal von einem ultra-constitutionellen Souverain schwerlich durchzusetzen gewesen. Dem ehemaligen preußischen Lieutenant aber, der wildfremd in ein Land kam, dessen Sprache ihm wohl so gut wie unbekannt war und von dessen gesellschaftlichen Verhältnissen er keine tief gehende Kenntniß hatte, durfte man, so oft er mit einem Acte der eigenen Initiative herausrücken wollte, begreiflich machen, daß er – aus Unkenntniß und mit den besten Absichten – die ihm fremden Gefühle oder Wünsche zu verletzen auf dem Sprunge wäre. Darauf speculirten sowohl der rothe wie der reactionäre Parteichef, und unter solchen Vorwänden beuteten sie die ganze Machtstellung des Staatsoberhauptes zu ihren Gunsten aus. Da sich nun Fürst Carol diesen Verhältnissen gegenüber sehr nachgiebig zeigte, so sollte man doch denken, daß er sich die Zuneigung der Rumänen erworben habe. Durchaus nicht – im Gegentheil! Man muß es offen heraussagen: der Fürst ist als Deutscher und als Hohenzoller in gewissen Kreisen geradezu verhaßt.
Bei Beginn des deutsch-französischen Krieges antwortete der damalige Minister des Aeußern auf die Interpellation eines Deputirten, daß „dort, wo Frankreichs Fahne wehen wird, die Wünsche und die Sympathien Rumäniens sein würden“. Dieser französelnde Rathgeber eines Prinzen der preußischen Dynastie hatte damit seinen Landsleuten aus dem Herzen gesprochen. Der Cultus für Frankreich zeigte sich auch bei jedem Sieg der deutschen Heere. Nach den Schilderungen von unparteiischen Augenzeugen gab es bei jeder für die deutschen Waffen günstigen Nachricht Wuthausbrüche, wie man sie gewiß kaum in Frankreich erlebt hat. Meistens weigerte man sich [31] ganz und gar, diesen Nachrichten Glauben zu schenken; die Siege von Wörth, Sedan, Orleans und Le Mans, die Einnahme von Paris wurden zuerst als Fabeln und Erfindungen geschmäht. Dagegen erzählte man sich freudetrunken von Hunderttausenden niedergemetzelter Preußen, und die Uebertreibungen, mit denen Trochu in Paris und Gambetta in Tours den Humor der Franzosen aufrecht zu erhalten trachteten, fanden, zehn-, zwanzigfach vergrößert, ihren Weg bis in die kleinste rumänische Stadt, wo es nur ein Casino gab und da drinnen sechs Honorationen, welche die Zeitungen lasen.
Als jedoch an den Thatsachen nicht mehr zu zweifeln war, da hofften die Rumänen auf „Revanche“ – gerade wie die Franzosen. Vor Allem wollten sie sich an den Deutschen im eigenen Lande schadlos halten. Während des Krieges hatte der Fürst seine verfassungstreue Haltung bewahrt; wohl mag er mit Stolz und Freude den Thaten seiner ehemaligen Cameraden aus der Potsdamer Dragonerepoche gefolgt sein, aber er ließ von diesen Gefühlen, welche seine Umgebung verletzt hätten, nichts merken. Trotzdem drohte ihm Gefahr. Schon bei Beginn des Krieges ließen sich in Bukarest französische Aufwiegler blicken und suchten das Volk zu bewegen, den einst in den Tuilerien so gnädig aufgenommenen, aber jetzt verpönten Fürsten davonzujagen. Man redete sehr ernst von einem Angriffe gegen den Konak der Mogodoschaistraße. Da verbreitete der Haushofmeister des Fürsten, Graf H., das Gerücht, im Schlosse wäre eine deutsche Garnison verborgen, die mit Handgranaten, Orsinibomben etc. gehörig versehen wäre und entschlossen sei, mit diesen Wurf- und Sprenggeschossen die Angreifenden zu begrüßen. Diese Fabel erfreute sich des allgemeinen Glaubens, und es war durchaus nicht mehr von einer Erstürmung des Schlosses die Rede. Aber noch heute geht in der walachischen Hauptstadt die Sage von den deutschen Dolchrittern, die den Fürsten Carol bewachen, und von dem Sprengmateriale, über welches sie verfügen. Etwas später schwebte ebenfalls der Konak in Gefahr. Die in Bukarest lebenden Deutschen beabsichtigten im März 1871 eine „Siegesfeier“ zu veranstalten. Sie mietheten ein Local und erhielten auch die Erlaubniß zur Abhaltung der Feierlichkeit. Da plötzlich – man hatte soeben den Toast auf den deutschen Kaiser ausgebracht – regnete es Steine und Schiefertafeln gegen die Fenster des Bankettlocales. Ein wüthender Pöbelhaufe stürmte die Treppe hinauf; in einem Nu waren die Tafeln mit Allem, was darauf lag, zertrümmert, mehrere Gäste, darunter der deutsche Consul, verwundet und die Uebrigen gezwungen, sich eiligst zu retten. Der Haufe, auf das Vorgefallene stolz, wollte direct auf’s Schloß marschiren; aber der Prinz zeigte Muth; er jagte den rothen Minister zum Teufel und berief den conservativen Catargis, der fünf Jahre lang das Heft in Händen behielt.
Weder der Prinz noch Catargis konnten es verhindern, daß das deutsche Element, welches in den ersten Regierungsjahren des Fürsten sich eingebürgert hatte, nach und nach verdrängt wurde. Zuerst waren es die deutschen Beamten – namentlich beim Post- und Telegraphenwesen – die da weichen mußten. Die wirklich vortrefflichen Dienste, welche sie geleistet hatten, kamen selbstverständlich nicht in Betracht. Dann mußte der Fürst – immer unter dem Vorwande der Staatsraison – alles Germanische aus seiner Umgebung ausmerzen. Es soll ihm dabei so manche Trennung schwer gefallen sein. Die deutschen Geschäftsleute und Handwerker, die sich im Lande angesiedelt hatten, konnte man allerdings nicht so leicht vertreiben – und dann bedarf man ihrer ja auch. Wie würde der Bojarensohn im eleganten Beinkleide und in den blankgeputzten Stiefeln einherstolziren ohne den deutschen Schneider und den deutschen Schuster? Aber man läßt es die Leute fühlen, daß sie nur „geduldet“ werden und daß man ihrer Nation die Siege von 1870 nicht vergeben hat. Die Nachäffung des Deutschenhasses in Rumänien ist heute eine so gewaltige, daß, während man auf den Pariser Boulevards ungestraft laut deutsch zu reden wagt, dies kaum in Bukarest in Localen zu rathen wäre, wo sich Rumänen einfinden.
Fürst Carol kann dies nicht verhüten; er ist, wie erwähnt, hierin machtlos. Man dichtet auf ihn Spottgedichte, die in den Kaffeehäusern öffentlich feilgeboten werden. Staatsbeamte machen sich über seine Aussprache des Rumänischen lustig, und ist ein Fremder so naiv zu fragen, wie der Souverain über diese oder jene Frage denkt, so zuckt man die Achseln über den Einfältigen, der sich um dergleichen kümmert. So begreift man es, warum öfters von den Gestaden der Donau Abdankungsgerüchte nach Berlin hinüberwehten. Selbst auch der Gutmüthigste wird dieser ewigen Bevormundung, die sich auf alle Acte des Lebens erstreckt, satt. Aber Fürst Carol betrachtet sich auf seinem Throne nicht nur als Fürst, sondern auch als eine Schildwache. Und eine Schildwache verläßt den Posten nicht trotz Wetter, Sturm und allen möglichen Unbequemlichkeiten.Von Fr. Helbig.
Einmal war es um das Vertheilungsprincip fast ganz geschehen und der Sieg des Herzens nahezu vollendet. Als Schiller eines Abends in das Lengefeld’sche Haus kam, hatte eben ein Auftritt zwischen der Mutter und den Töchtern stattgefunden – möglich, daß es sich dabei gerade um das etwas stadtkundig gewordene Verhältniß Schiller’s zu den letzteren gehandelt hatte. Lottchen befand sich, als Schiller eintrat, noch in hoher Erregung und theilte dem Freunde die Veranlassung derselben mit. Caroline ging einen Augenblick fort. Schiller und Lotte waren allein. Er suchte sie zu beruhigen, sagte ihr trostvolle, warm theilnehmende Worte. Lottchen sah mit stummem Danke zu ihm auf und drückte ihm – das erste Mal, daß dies geschah – die Hand voll tiefer Bewegung. Da dämmerte eine geheime Erkenntniß in der zweifelnden Seele auf; die Herzen kamen in Fluß; die schlummernde Leidenschaft erwachte – als Caroline wieder eintrat und der scheue Genius der Liebe verschüchtert von dannen zog. „Damals,“ schrieb Schiller später in der Zeit seines Brautstandes, „glaubte ich in Deinem Herzen etwas zu lesen, aber die Stunde kam nicht wieder.“
Und doch hatte das seltene Vertheilungsprincip eine bedeutsame Folge gehabt. Es hatte Lottchen über Schiller’s Neigung zu ihr irre geführt. Sein geistig weit lebhafterer Verkehr mit Carolinen hatte in ihr den Gedanken angeregt, daß die geistig begabtere Schwester ihm weit mehr sei als sie. Der Gedanke machte sie nicht nur noch weit scheuer und befangener, sie handelte zugleich auch unter der Eingebung einer wahren, edlen und tiefen Liebe, die dem vermeintlichen Glücke des Geliebten todesfroh das eigene opfert, wenn sie dabei zugleich sich selbst tiefer in den Schatten stellte, um dem glänzenderen Lichte Raum zur Entfaltung zu geben.
Natürlich bleibt hier der Rückschlag auf Schiller’s eigene Neigung nicht aus. Er verfällt einem gleichen Irrthume, indem er das Benehmen Lottchens für Kälte hält und sich dabei sogar einredet, daß der Nachhall einer früheren Liebe sie noch gefangen halte. Um diese vermeintliche Selbsttäuschung nicht erkennen zu lassen, decken sie ihre wahren Gefühle denn immer wieder mit dem geborgten Mantel der Freundschaft. Lottchen ist der persönlichen Annäherung ohnedies durch eine Reise nach Kochberg eine Zeitlang entrückt. Aber die Sehnsucht folgt ihr nach, und die dortige ländliche Stille und Einsamkeit hält dieselbe beständig im Wachen. Die „Götter Griechenlands“ und die „niederländische Geschichte“ sind mit ihr gegangen. Schiller will dieselben als die „Garants ihrer Freundschaft“ ansehen. „Es sind abgerissene Stücke meines Wesens, und es ist ein entzückender Gedanke für mich, sie in das Ihrige übergegangen zu sehen, sie in Ihnen wieder anzuschauen und als Blumen, die ich pflanzte, wieder zu erkennen.“
Vor dieser hohen geistigen Fassung, wie sie freilich nur die Liebe des Dichters und Künstlers zuläßt, trat die einfach natürliche Leidenschaft des Herzens wieder schweigend zurück.
Inzwischen war bereits der October herangekommen, und die trübe herbstliche Stimmung von draußen hielt auch Einkehr [32] im Gemüthe des Dichters. Der Gedanke an des Glückes Flucht, an die Trennung von dem Freundeskreise kommt in ihm zu immer erneutem Ausdrucke. So wird ihm auch der letzte schöne Sommertag nur eine traurige, wehmüthige Erinnerung an die bald bevorstehende Stunde des Scheidens. „Ich weiß nicht, ich habe keinen großen Glauben an die Zukunft. Ist es Ahnung? Oder ist es nur schwarze Laune?“
Auch Lottchen beunruhigt der gleiche Gedanke, aber ihr heiteres Gemüth erfaßt denselben mit der ruhigen Hoffnung, daß die Trennung keine Störung ihrer Freundschaft herbeiführen werde. „Auch wenn Sie nicht mehr unter uns sind, hoffe ich, wird uns Ihr Geist nicht ganz verlassen.“ Schiller sucht dann wieder mit einer idealen Verklärung seiner Gefühle das unbefriedigte Herz zu beschwichtigen. „Lassen Sie uns der schönen Hoffnung uns freuen, daß wir etwas für die Ewigkeit angelegt haben! Diese Vorstellung habe ich mir frühe von unserer Freundschaft gebildet, und jeder neue Tag hat ihr mehr Licht und Gewißheit bei mir gegeben.“ Und doch wird von ihm der Tag des Abschieds weiter und weiter hinausgeschoben. Schon längst sind die Blätter der Pappeln und Weiden auf dem Dammufer der Saale vergilbt, und die Aequinoctialstürme rütteln an den schwanken Wipfeln der blätterlosen Erlen. Weiße Nebel steigen von der Saale auf und hängen wie flatternde Schleier an den Geländen des Thales. Schon ist die Schwelle des Novembers überschritten und der Geburtstag des Dichters gekommen. Eine stille Abendfeier, Clavierspiel und Gesang, frei von den Störungen des Tages, giebt ihm seine Weihe. In dem Geschenke einer Blumenvase findet der Beschenkte eine sinnige Hindeutung auf die Freuden des vergangenen Sommers.
Nun soll die Abreise vor sich gehen – und doch vergehen wieder zögernde Tage. Da kommt die Nachricht der Abreise der Schwestern nach Erfurt auf Anlaß ihres Oheims. Nun war kein Bleiben mehr. Als Schiller das Billet mit dieser Botschaft erhielt, preßte ihm die unvermeidlich gewordene Gewißheit seiner Trennung nach seinem späteren Geständnisse Thränen aus. „Alle Deine Hoffnungen,“ rief es zu ihm tief aus dem Herzen herauf, sind noch nicht viel weiter, als sie zu Anfang des Sommers gewesen waren; alle frohe Aussicht Deines Herzens ist wieder verfinstert. Aber,“ fügte er sich still tröstend hinzu, „wenn nur der gelegte Grund fest und massiv ist, so wird die liebe wohlthätige Zeit noch Alles zur Reife bringen.“
Um den Abschied nicht noch schmerzlicher zu gestalten, wohl aber auch, weil er dabei seines Herzens sich nicht sicher wußte, will er Lottchen nicht noch einmal sehen. „Besser, wir haben uns gestern zum letzten Male gesehen.“ Und so tritt das geschriebene Wort, das leichter zu beherrschende, an die Stelle des mündlichen.
„Ihr Andenken ist mir theuer, und theurer gewiß, als ich Ihnen mit Worten gestanden habe, weil ich über Empfindungen nicht viel Worte liebe. Auch das meinige, weiß ich, wird Ihnen Werth sein. Leben Sie recht wohl! Leben Sie glücklich! Noch einmal Dank, tausend Dank für die vielen, vielen Freuden, die Ihre Freundschaft mir hier gewährt hat! Sie haben viel zu meiner Glückseligkeit gethan, und immer werde ich das Schicksal segnen, das mich hierher geführt hat. Ewig Ihr Schiller.“
Da vertraut noch in der schweigenden Nacht, der letzten vor dem Scheiden, als das Haus schlafbefangen ruht, auch sie noch die bleichen Gedanken rückhaltloser als sonst dem Papiere.
„So sind wir denn wirklich getrennt! Kaum ist mir’s denkbar, daß der gefürchtete Moment vorbei ist. Noch sehen wir einerlei Gegenstände; die nämlichen Berge, die Sie umschließen, umgeben auch uns. Und morgen soll dies Alles nicht mehr so sein? Ich möchte Ihnen gern sagen, wie lieb mir Ihre Freundschaft ist und wie sie meine Freuden erhöht. Aber ich hoffe, Sie fühlen es ohne Worte. – Sie wissen, daß ich wenig Worte finden kann, meine Gefühle zu erklären und sie Anderen deutlich zu machen. … Lassen Sie, so oft wie Sie können und Lust haben, von sich hören, daß der Gang Ihres Geistes mir nicht fremd wird und ich ihm folgen kann. … Gute Nacht! Gute Nacht! Leben Sie so wohl, als ich’s wünsche! Denken Sie gern meiner und oft. Adieu! Adieu!“
Und als die Nacht um war, griff sie noch einmal zur Feder. „Noch einen schönen freundlichen guten Morgen von mir. Leben Sie noch einmal wohl und vergessen uns nicht; nein, dies werden Sie nicht. Adieu! Adieu! Mir ist’s heut’ früh, als sähen wir uns bald wieder.“ –
Anderen Tages fuhren die Schwestern nach Erfurt, Schiller mit dem Postwagen nach Weimar. Bis zum Flecken Teichröden war der Weg noch gemeinsam; von da an schied er sich. Lottchen war immer in dem Gedanken, dem vorausfahrenden Postwagen noch zu begegnen. „Als ich aber sah, daß unser Weg nun ganz anders wurde, fiel es mir,“ schreibt sie, „schwer auf’s Herz. Die Reise war erträglich; die Sonne, die heitere Luft waren wohlthätig, aber als sie sich verbarg und der Abend wieder über die leeren Felder wehte und wir in die kalte Luft eingehüllt waren, lieber Freund, wie wurde es mir da so weh um’s Herz! Ich dachte mir lebhaft, daß es die Stunde unserer Zusammenkunft wäre: und nun, wie so anders!“
Spät Abends kommt Schiller in Weimar an. Er bleibt, tiefer Bewegung voll, an dem Abend zu Hause. Anderen Tages wickelt er pflichtschuldig Besuche ab und ist froh, wieder daheim zu sein, um an die Freundinnen denken und mit ihnen brieflich sich in geheimen Rapport setzen zu können. Er fühlt die ganze Schwere der Entbehrung des schwesterlichen Umgangs. „Ich kann und darf es mir nicht denken, daß Meilen zwischen uns sind. Alles ist mir hier fremd geworden; ein Interesse an den Dingen mitzubringen, muß man das Herz dazu mitbringen, und mein Herz lebt unter Ihnen. Ich scheine mir hier ein abgerissenes Wesen.“ Vergebens sucht er sich die Trennung „durch Vernünfteleien“ zu erleichtern, aber sie halten die Probe nicht aus. Immer wieder bricht die zurückgedrängte Empfindung hervor. „Seien Sie tausend Mal gegrüßt und empfangen Sie hier meine ganze Seele! Es wird Alles wieder lebendig in mir! Ich darf der Erinnerung nicht nachhängen. Wie oft habe ich mich gestern nach Ihnen umgesehen, ob Ihr Wagen nicht nachkäme, und als ich den Weg nach Erfurt vorbei war, wie schwer fiel mir da auf das Herz, daß Sie nun nicht mehr nachkommen könnten! Ich hätte so gern Ihren Wagen noch gesehen.“
In seiner selbstgewählten Einsamkeit treibt er einen stillen Cultus mit den empfangenen Geschenken der Liebe, mit jener Geburtstagsvase, die er mit wohlriechenden Essenzen gefüllt hat, und mit einem Geraniumstocke, der wohlerhalten die Reise mitgemacht hat. Oft unterbricht er die Lectüre der „Phönicierinnen“ des Euripides, um den Beiden im Nebenzimmer einen Moment weihevoller Betrachtung zu widmen.
Und doch schreibt er zu derselben Zeit an Körner: „Ich habe es redlich gehalten, was ich mir zum Gesetz machte und Dir angelobte. Mein Herz ist ganz frei, Dir zum Troste. Ich habe meine Empfindungen durch Vertheilung geschwächt, und so ist denn das Verhältniß innerhalb der Grenzen einer herzlichen, vernünftigen Freundschaft geblieben.“
Der sonst so aufrichtige Freund war diesmal doch wohl nicht so ganz aufrichtig gewesen. Er befand sich, als er dies schrieb, bewußt oder unbewußt, ganz sicher in einem Irrthume. Nur formell hatte er Recht. War sie auch noch nicht ausgesprochen und erklärt, die Liebe war längst lebendig. Ihr Grund stand bereits, wie er sich selbst schon gestanden hatte, fest und massiv, gewärtig des weiteren Aufbaues. Und wenn er jene Vertheilung auch wirklich durchgeführt hatte, so war bei derselben sein Geist wohl Carolinen, sein Herz aber sicher Charlotten zugefallen.
Wie aufrichtig und klar zeichnet dagegen Charlotte die Lage ihres Herzens, wenn sie nun schreibt: „Wir kennen uns erst ein Jahr, aber mir ist’s, als wären wir immer Freunde gewesen. Ihr Geist war mir zwar nie fremd, denn immer fühlte ich mich zu ihm gezogen, wenn ich von Ihnen las, aber nun ist’s doch noch anders, denn jetzt wird es nur fast unmöglich, mir meine Freuden ohne Sie zu denken, und so wird es immer bleiben, nicht wahr?“
Mit ihrem Herzen war das Herz des Freundes schon eng verwachsen. Dort hatte wandellose Liebe die sichere, ewige Heimstatt aufgerichtet.
Der Briefwechsel Schiller’s ist jetzt ein erweiterter. Auch Caroline nimmt an demselben lebhaft Antheil, und die Briefe Schiller’s sind deshalb oft gleichzeitig an beide Schwestern gerichtet. Die Individualität derselben tritt darin scharf hervor. Durch die Briefe Carolinens geht die Kühle des räsonnirenden Verstandes,
[33][34] die sich selbst da nicht verleugnet, wo die Beziehungen mehr persönliche sind. Es spricht aus ihnen der schon angedeutete fest philosophisch geschulte Geist, der überall aus dem individuell Gegebenen das allgemeine Gesetz herauszufinden bestrebt ist. Wo Lottchen einfach empfindet, pflegt sie zu denken. Sie spricht sich z. B. so aus: „Oft ist mir’s, als wäre keine Entfernung und das wahre heilige Band der Freundschaft über den Gesetzen der Körperwelt, in anderen Momenten fühlt man aber doch wieder unser enggebundenes Dasein und daß Gegenwart, Leben und Sprache doch etwas anderes ist.“ Das drückt Lottchen so aus: „Ich suche mir viele Geschäfte und bin auch fleißig, aber Sie fehlen mir doch immer. Mir ist oft des Abends, als müßte ich hören, daß Sie gekommen wären.“ Dort redet eben der Geist, hier das Herz.
Während in Lottchens Briefen Alles subjectiv erscheint, strebt dort Alles nach Objectivität. Wo Lottchen nur zaghaft Meinungen giebt, ergreift sie oft schon die Directive und sucht bestimmend auf den Freund einzuwirken. So warnt sie ihn vor gewissen weiblichen Bekanntschaften: sie bekämpft seinen Unglauben an die Möglichkeit einer intimeren Annäherung an Goethe u. dergl. Schiller’s gerade damals stark entwickelter Neigung zur philosophischen Reflexion kommt sie dabei erwünscht entgegen, und er zahlt ihr mit doppelter Münze. Er versteigt sich in seinen antwortenden Briefen zu förmlichen philosophischen Auseinandersetzungen, wie er selbst lachend gesteht. Da wird frischweg docirt, daß der größte Staat ein Menschenwerk, der Mensch aber ein Werk der unerreichbaren Natur, der Staat ein Geschöpf des Zufalls, der Mensch, ein nothwendiges Wesen ist.
Als er einmal – wohl aus Verwechselung – in einem seiner Briefe vom December auch Lottchen gegenüber in den gleichen reflectirenden Ton verfiel, war diese darüber fast erschrocken „und empfand darüber ein Gefühl, das ihr nicht so recht wohl that“.
Es war natürlich, daß der lebhafte, wenn auch nur philosophische Discours mit Carolinen eine größere Annäherung zwischen ihr und Schiller anbahnte, die mit der Zeit auch eine wärmere Tönung annahm. Was er ihr im Laufe, des Sommers geworden war, geht aus einem der wenigen erhaltenen Briefe Carolinens – vom 18. November – hervor: „Ach, ich kenne,“ schreibt sie da, „keinen Ersatz für das, was Sie meinem Leben gegeben haben; so frei und lebendig existirt mein Geist vor Ihnen. So wie Sie hat es noch Niemand verstanden die Saiten meines innersten Wesens zu rühren. Bis zu Thränen hat es mich oft bewegt, mit welcher Zartheit Sie meine Seele in trüben Momenten gepflegt, getragen haben. Wie nöthig ist es mir in der Hoffnung zu leben; Erinnerung allein würde mein Herz zerreißen, aber so schöpfe ich aus ihr Ahnungen künftiger Glückseligkeit.“
Da scheint es fast, als habe sie ihrem Herzen einmal den Vortritt gelassen vor dem Geiste, aber nach einer solchen flüchtigen Schwäche zwang sie jenes dann nur um so tiefer wieder unter dessen Fittiche.
Aber auch die feurige Seele Schiller’s konnte sich gegen eine solche Empfindung einer gleichgestimmten Seele nicht gleichgültig verhalten, und so tauchen schon jetzt die ersten Spuren jener eigenthümlichen Doppelliebe auf, die später zur vollen Entwickelung kam und unser Interesse noch lebhaft in Anspruch nehmen wird. Das alte Vertheilungsprincip wurde nun allmählich zu einem Vereinigungsprincipe. Den Impuls dazu gab Schiller zunächst wohl die Beobachtung, daß beide Schwestern selbst in einer so innigen Vereinbarung lebten, daß sie beide zusammen, um einen Volksausdruck zu brauchen, ein Herz und eine Seele bildeten. „Ihre beiderseitige gute Harmonie,“ schrieb er deshalb, „ist ein schöner Genuß für mich, weil ich Sie in meinem Herzen vereinige, wie Sie sich selbst vereinigt haben.“
„Sie haben Recht,“ schreibt ihm hierzu ebenso neidlos wie unbefangen Charlotte, „daß ich und Caroline in einem schönen Verhältnisse sind. Es würde mir, wäre es nicht so, mein Leben nicht so angenehm machen.“ Und wie eingehend auf seine eigenen Gedanken fügt sie hinzu:
„Ich vermische gern meine Freundschaft für Sie mit der für meine Caroline und freue mich unserer Vereinigung, die, hoffe ich, nichts wird stören können.“ Ja, sie erkennt mit derselben neidlosen Herzensgröße die geistige Ueberlegenheit der Schwester an. „Ich könnte mein Herz ganz auf sie lehnen und sie giebt mir oft Trost in trüben Augenblicken. Ohne sie könnte ich hier nicht existiren, und sie würde mir an jedem anderen Orte auch fehlen.“ Ein Umstand, der später wesentlich dazu beitrug, in Schiller den Glauben an die Möglichkeit der Verwirklichung seines Problems zu wecken.
Besonders charakteristisch tritt das Verhältniß beider Schwestern zu Schiller und ihre Eigenart in der Auffassung eines bedeutungsvollen Ereignisses im Leben Schiller’s hervor, das jetzt kurz nach Weihnachten überraschend auftrat. Es war die Berufung Schiller’s zur Professur der Geschichte in Jena. Auf Schiller wirkte dieses Ereigniß zu allererst verstimmend. „Also die paar Jahre von Unabhängigkeit, die ich mir träumte, sind dahin; mein schöner künftiger Sommer in Rudolstadt ist auch fort, und dies Alles soll mir ein heilloser Katheder ersetzen!“ schrieb er in wahrhaft verzweifelnder Stimmung den Schwestern. Eine ganz andere Aufnahme erlebte die Neuigkeit in Rudolstadt. „Innigst freut mich,“ schreibt Caroline, „die Nachricht von Ihrem künftigen Aufenthalte in Jena, liebster Freund. Sie wissen, wie lieb dieser Plan mir immer war. Mir ist’s gewiß, daß Sie in der Länge Glück an dieser Existenz finden, und das macht mich gar glücklich. Ich finde diese Art von Wirksamkeit gar schön und sehr weit und tief eingreifend. Wie manche Geister werden eine höhere Richtung in dem Wehen des Ihren gewinnen! Und in der Folge werden Sie Ihrer Schöpfung in dieser Lebensart mehr leben können als in jeder anderen.“
Und Lottchen? „Es überraschte mich die Nachricht von Ihnen so angenehm, lieber Freund. Sie bleiben nun doch in unserer Nähe. Wie schön ist das!“ Sie hat schon gefürchtet, daß er nach Dresden zurückkehren oder seine Reise nach Hamburg ausführen werde. „Wer weiß, wann Sie dann wieder gekommen wären? Nun ist das nicht mehr zu fürchten.“
Für Carolinen ist also das Entscheidende die Professur, für Lottchen die Nähe des Aufenthaltes. Jene begeistert sich für die Idee, diese für die Person. Dieser ist es um deren Näherbesitz, jener um ihr geistiges Wachsen zu thun.
Durch den gegenseitigen Austausch der Ansichten über die gemeinschaftlich studirten fremden, sowie über Schiller’s eigne Werke erhält sich der Briefwechsel in der nächsten Zeit stets auf einer gewissen geistigen Höhe, ja gewinnt theilweise einen stark literarischen Anstrich.
Der gelehrte Ton, an den auch Lottchen zuletzt sich gewöhnt, hatte aber schließlich doch etwas überhand genommen, und es war Zeit, daß nach der Alleinherrschaft des Geistes auch das Herz wieder zu Worte kam. Das aber hatte all seine Hoffnung auf den Frühling gesetzt. Nun zögerte indeß der Winter diesmal ungewöhnlich lange. Auch das Geraniumstöckchen war seinem vernichtenden Hauche verfallen, und eine Myrthe hatte es vorbedeutungsvoll ersetzt.
Da, in der Mitte des Märzen, als das Wetter sich heiterte, eilte der neubestallte Herr Professor von Jena, wo er sich nach einer Wohnung umgethan hatte, nach Rudolstadt. Aber es waren nur kurze flüchtige Stunden, und ihr Werth wurde erst empfunden, als sie vorüber waren. Dennoch waren sie „weit mehr als viele Briefe“. „Es war mir,“ schreibt Lottchen, „in manchen Momenten Ihres Hierseins, als wären Sie gar nicht von uns gewesen. Der ganze lange traurige Winter war aus meinem Gedächtnisse verlöscht:“ „Ich fühle jetzt erst,“ erklärt Caroline, „ganz die wohlthätigen Einflüsse Ihres Hierseins. Der Gedanke an unser kurzes Zusammenbleiben hielt meine Seele gebunden, und ich empfand die Freude Ihres Umganges nicht ungemischt. Ich hoffe, das Schicksal will mir aus diesem Wiederfinden und Wiederscheiden eine freundliche Gewohnheit machen und ich soll das Erstere künftig mit freiem Sinne genießen.“ Dieselbe Klage tönt auch in der Seele Schiller’s weiter. „Warum trennt uns das Schicksal? Ich bin gewiß, wie ich es von wenigen Dingen bin, daß wir einander das Leben recht schön und heiter machen könnten, daß nichts von alle dem, was die gesellige Freude so oft stört, die unserige stören würde.“ Mit der vergegenwärtigenden Phantasie des Dichters malt er sich die Situation dieses gemeinsamen Zusammenlebens aus. Wie schön beschlösse sich der Tag, wenn er nach seiner Werklast zu ihnen flüchten und in ihrem Kreise den bessern Theil seines eigenen Wesens aufschließen und genießen könnte! „Alle neuen Ideen, die [35] wir erwarten, alle neuen Anschauungen der Dinge und unseres eignen Selbst würden uns doppelt wichtig, ja, sie erhielten jetzt erst ihren wahren Werth, wenn wir die Aussicht vor uns hätten, sie unsrer Freundschaft als neue Schätze, als neue Genüsse zuzuführen. Warum soll dieser Wunsch unerfüllbar sein?“
Dieser idealen Fassung ihres Verhältnisses brachte Caroline ein warmes Interesse entgegen. „Ich fühle es nur zu sehr, wie glücklich es uns machen würde, wenn Sie mit uns lebten; wie glücklich wir wären und wie wir es immer mehr werden müßten. Das Gefühl, daß auch Ihnen diese Vorstellungen so lebendig bleiben, ist meinem Herzen sehr wohlthätig. Ihr Umgang war das Element meines bessern Lebens. Kein Anderer kann mir je das sein. Ich mag es dem Schicksal nicht zutrauen, daß es mir die Freude Ihres Umgangs, wo mein Geist so frei existirt, nur zu kosten gegeben hat. Ach, möchte es, möchte es doch anders sein!“ Das ist der lang verhaltene Freiheitsruf einer schmerzlich gefesselten Frauenseele.
Schiller war inzwischen am 11. Mai 1789 nach Jena gezogen.
„Ich sehne mich recht nach Ihnen. Leben Sie recht wohl! Wir gehen oft Ihrer Gegend zu und sagen Ihnen einen Abendgruß. Kommen Sie uns mit Ihren Gedanken entgegen!“ Diese warmen sehnsuchtsvollen Worte kamen wieder von Caroline. Sie tritt jetzt immer mehr, immer rückhaltloser aus der streng bewahrten Reserve. „Mein Herz und Alles, was Sie ihm sind, muß klar vor Ihnen stehn. Unser enggebundenes Frauendasein ist schuld, daß ich Worte brauche für diese Gefühle, die an sich zu heilig dafür sind. Wäre ich ein Mann, so sollten Sie meinen Umgang nicht vergebens wünschen, wäre es Ihnen auch gefällig in Nova Zembla oder in den Mondsbergen zu wohnen.“’
1. Diphtheritis und Croup.
Vor keiner Affection zeigt wohl die Mutter eine größere Furcht, als vor der Diphtherie, Und dennoch läßt sich mit Sicherheit behaupten, daß es nirgends mehr in die Hand der Eltern gelegt ist, ein schlimmes Ende zu verhüten, als gerade bei dieser Geißel der Kindheit. Es herrschen unter dem Volke im Allgemeinen ziemlich verworrene Ansichten über diese Krankheit. Man verlegt ihre Entstehung in die Neuzeit, weiß aber nicht recht, wie die alte Rachenbräune und der Croup damit in Verbindung zu setzen sind. Die Diphtheritis ist nichts weniger als ein Product unseres Jahrhunderts, sondern nur ein neuer Name für eine längst bestandene Körperstörung. Schon Hippokrates, der berühmte Altvater der Medicin, beschreibt 450 Jahre vor Christi Geburt in einem seiner Werke eine Erkrankung, welche vollständig, wie dies schon das nachfolgende Citat beweist, unserer Diphtherie entspricht:
„wenn die Mandeln schnell weiterschreitende Geschwüre bedecken, so ist Gefahr, daß unter andauerndem Fieber und Husten wiederum Geschwüre entstehen, welche in die Halsgegend zurücktreten. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Geschwüre eine netzförmige Anordnung zeigen. So lange sich die Geschwüre nicht innerhalb fünf bis sechs Tagen vermehren, sind sie ungefährlich. Die Geschwüre, welche um das Zäpfchen herum sich bilden, verändern die Stimme, während die weiter hinten im Rachen entstandenen eine größere Gefahr mit sich führen, vorzüglich aber Athemnoth bewirken.“
In diesem kurzen Auszug des genialen griechischen Beobachters werden viele unserer Leser nicht nur leicht das vollkommen getroffene Bild der Diphtherie erkennen, sondern es geht auch mit Sicherheit daraus hervor, daß schon im Alterthum ein Abwärtssteigen aus den Rachentheilen in die Luftwege als die gefährlichste Complication betrachtet wurde.
Die Diphtherie ist eine contagiös-miasmatische Krankheit, das heißt, sie kann sich unter gegebenen Bedingungen an einem Orte von selbst entwickeln, ohne eingeschleppt zu sein, pflanzt sich aber auch außerdem durch Ansteckung weiter fort. Gleichwie Masern und Scharlach pflegt sie den Patienten in der Regel nur einmal zu befallen, sie unterscheidet sich aber darin von diesen ansteckenden Kinderkrankheiten, daß sie nicht eine Zeit lang in dem Körper verweilt und dann nach außen durchbricht, sondern zuerst an einem bestimmten Orte haftet und sich von diesem aus in den Körper verbreitet. Jede Wunde kann daher diphtheritisch inficirt werden, die Lieblingsstätte der speciell als Diphtherie genannten Krankheit aber bilden die Mandeln. Die anatomische Lage dieser Gebilde ist nicht so bekannt, wie dies ihre Wichtigkeit erfordert. Drückt man mit einem Löffelstiel (am besten vor dem Spiegel an sich selbst) die Zunge etwas nach abwärts, so bemerkt man Folgendes:
Die Mundhöhle wird nach hinten zu vorläufig abgeschlossen durch eine von oben herabhängende Hautfalte (das Gaumensegel), welche an ihrem unteren halbkreisförmigen Saume direct über der Zunge einen fleischigen soliden Vorsprung zeigt, das Zäpfchen. Rechts und links neben dem Zäpfchen liegen in einer kleinen Vertiefung des an den Seiten getheilten Gaumensegels zwei rundliche, nußförmige Organe, die Mandeln. Bei genauer Betrachtung findet man an der Oberfläche derselben verschiedene ziemlich große Grübchen oder auch Höhlen; es sind die für unsere spätere Beschreibung wichtigen Ausführungsgänge kleiner Balgdrüsen, deren die gesunde Mandeloberfläche fünfzehn bis zwanzig aufweist. Hinter dem weichen Gaumen schließt sich nach oben der Eingang in die Nasenhöhle, nach unten in den Kehlkopf und die Speiseröhre an.
Die Mandeln bilden als eine Art Schmutzwinkel der Mundhöhle den günstigen Boden, auf welchem die Diphtherie fast ausnahmlos ihren Anfang nimmt. Der erste Beginn entgeht beinahe immer der Beachtung; wie der Dieb in der Nacht befällt der gefährliche Feind den kleinen Patienten. Das Kind ist früh noch vollkommen wohl, klagt nur etwas über allgemeine Ermattung und das Essen wird nicht mit dem gewohnten Appetite verzehrt. Hierzu gesellt sich bald Frösteln, oder bei erregbaren Naturen Schüttelfrost, häufiger aber noch ein Krampfanfall und Erbrechen; die Zunge ist belegt, und die Ausleerung stockt. Bei älteren Kindern sollte die bald folgende Klage über Schlingbeschwerden die Aufmerksamkeit auf den Hals lenken, und selbst wenn sie ihrer Jugend wegen diese Empfindung noch nicht zu äußern vermögen, muß die Unlust zum Schlucken jeder sorgsamen Mutter auffällig erscheinen. Das Innere des Halses bietet zu dieser Zeit außer einer stärkeren Röthung und Anschwelllung höchstens einem scharfen Auge, vorzüglich auf der rechten Mandel, einen schleierartigen hellen Beleg, welcher sich schwer von dünnem Schleime unterscheiden läßt. Untersucht man diese Schicht bei starker Vergrößerung unter dem Mikroskope, so sieht man, daß sie zum größten Theile aus kleinsten punktförmigen Organismen, den sogenannten Diphtheritis-Pilzen (Mikrococcen) besteht, pflanzlichen Gebilden, welche sich stets in Begleitung der Diphtherie finden und durch ihre unglaubliche Wucherung den zerstörenden Einfluß erklären. Bald dringen sie in das Mandelgewebe selbst ein; den einzelnen Pionieren folgen Tausende; die Blutgefäße werden gereizt, und Blutbestandtheile treten aus, dienen aber wiederum nur als Nahrungsmaterial zur Fortentwickelung der gefräßigen Schmarotzer. Rasch mehren sich unterdessen die äußeren Symptome. Der Kopf des kleinen Patienten ist etwas zurückgebogen; die Lippen sind trocken und geöffnet; die Sprache ist näselnd, der Athem durch das Fieber und die Halsschwellung erschwert und übelriechend, und während des Schlafes verräth ein oft starkes Schnarchen das Hinderniß für den eintretenden Luftstrom. Die Mandeln zeigen jetzt deutlich die Anfänge der Diphtherie, besonders auf der rechten Seite finden sich kleine scharf umschriebene Inseln von glänzend weißer Farbe. Der fernere Verlauf richtet sich nach der Stärke der Ansteckung, der Constitution des Kindes und den getroffenen Vorkehrungsmaßregeln.
Diphtherie ist vom Croup nur durch das stärkere Eindringen in die Schleimhaut und das darunter liegende Gewebe verschieden. Bei Croup tritt aus den an der Oberfläche gelegenen Blutgefäßen nicht allein wie bei gewöhnlichen Entzündungen Blutwasser, sondern auch noch eine ebenfalls im Beginne flüssige Substanz, Faserstoff genannt, aus. Diese ergießt sich in die obersten Epithelzellen, vergrößert sie und gelangt dann auf die freie Mandeloberfläche, wo sie sofort zu einem feinmaschigen [36] weißen Netzwerke gerinnt. Die wahre Diphtherie oder Rachenbräune unterscheidet sich dagegen vom Croup insofern, als neben dem Belege auf der Mandeloberfläche die ganze Schleimhaut im Innern verschieden reichlich mit den weißen, Blutkörperchen ähnlichen Zellen durchsetzt ist. Diese Zellen mehren sich bei der brandigen Diphtheritis so sehr, daß sie sogar die Circulation unterdrücken und den Ernährungszufluß abschneiden. Selten gelangt der Proceß schon auf einer Mandel zum Abschlusse; gewöhnlich erscheinen binnen Kurzem die gleichen Belege auf der andern Mandel, fließen zu einer weißen Haut zusammen und verbreiten sich auf die Gaumenbögen und das Zäpfchen, sodaß in schlimmen, aber immerhin nicht verzweifelten Fällen die ganze hintere Mundhöhle mit einer glänzend weißen Masse bedeckt ist. Die Lymphdrüsen an den äußeren Seiten des Halses, von den Laien oft fälschlich Mandeln genannt, sind ansehnlich geschwollen; der Arzt wird zuweilen nur dieser Drüsenanschwellung wegen geholt und noch um Entschuldigung gebeten, daß man ihn des unbedeutenden Bauernwetzels wegen belästigt. Der Athem ist sehr übelriechend, das Schlucken äußerst schmerzhaft, und zur Vermeidung von Schlingbeschwerden wird der vermehrte Schleim und Speichel durch den geöffneten Mund ausgeschieden. Trotz des hohen Fiebers ist das Gesicht eher bleich als roth und etwas gedunsen. Der Tod kann durch die Höhe des Fiebers, die allgemeine Körpervergiftung, Diarrhöe oder Erschöpfung herbeigeführt werden. Bei glücklichem Verlaufe gewinnen die Belege ein immer mehr durchweichtes oder auch trockenes gelbliches Aussehen, bis sie nach und nach durch die Schluckbewegungen abgespült werden. Innerhalb drei Wochen ist gewöhnlich die Störung beendet.
Die Hauptgefahr bildet das Ueberspringen auf Kehlkopf und Luftröhre. Das feste Gewebe gestattet hier keine erhebliche Betheiligung der ganzen Schleimhaut, nur die oberste Zellenschicht mit dem darauf befindlichen Belege stößt sich ab und erfüllt als häutiger Ausguß das Innere. Der Proceß kann sich allmählich bis in die Lunge hinein fortsetzen und führt bei der Enge der kindlichen Luftwege entweder den Erstickungstod oder bösartige Lungenentzündungen herbei. Gewöhnlich vor dem fünften Tage treten als Zeichen des Croups zu dem oft die Diphtherie begleitenden sonst ungefährlichen Kehlkopfkatarrh trockner gellender Husten und Erstickungsanfälle hinzu. Auch hier ist, vorzüglich wenn das Kind das zweite Lebensjahr überstanden, Heilung möglich. Der gelockerte Croupbeleg wird herausgehustet oder durch den Luftröhrenschnitt entfernt, und die erkrankte Schleimhaut kehrt wieder zu ihrer gesunden Beschaffenheit zurück. Die Möglichkeit des Luftröhrenschnittes beruht auf dem von uns früher („Gartenlaube 1875 S. 308) geschilderten Mechanismus des menschlichen Brustkorbes. Die Operation ist selten gefährlich, doch nur dann zu unternehmen, wenn wirkliche Erstickungsanfälle vorhanden sind.
Andere Organe werden mehr oder minder betroffen. Auf gleiche Weise wie auf den Kehlkopf kann sich die Veränderung in die Nasenhöhle fortsetzen; die Nieren zeigen am häufigsten einen gleichen Katarrh, auch auf dem Magen finden sich in manchen Fällen ganz ausgeprägte Crouphäute. Die merkwürdigste Verbindung und zugleich das sicherste Zeichen einer überstandenen wirklichen Diphtherie bildet das Eintreten von diphtheritischen Lähmungen.
Ein achtjähriges Mädchen erkrankte kürzlich an einem Croup hauptsächlich der rechten Mandel. Die Krankheit verlief sehr schnell, so daß sie schon nach einigen Tagen als gesund entlassen werden konnte. Nach drei Wochen erschien die Kleine wieder wegen eines schnarrenden Beiklangs beim Sprechen, welcher ihr in der Schule Lesen und Singen unmöglich machte. Die Untersuchung ergab eine Lähmung der rechten Hälfte des Gaumensegels. Beim Sprechen zog sich nur der linke Theil zusammen, während der rechte, hin- und herschwingend, die Stimmveränderung bewirkte. Nächst der Gaumenlähmung tritt vielfach die der Augenmuskeln, also Schielen ein, doch kommt es auch zu vollständigen Lähmungen ganzer Körpertheile, welche aber sämmtlich unter geeigneter Unterstützung zu verschwinden pflegen. Daß auch die kleinen als Pilze bezeichneten Organismen selbstständig gefährliche Veränderungen nach sich ziehen, zeigt folgende Krankengeschichte. Das Kind eines Arztes wurde am zwölften Lebenstage von Diphtherie angesteckt, magerte ab und starb in der zwölften Woche. Die Section zeigte die rechte Gehirnhälfte größer und beinahe die ganze Hirnsubstanz durchsetzt mit einer Unzahl Mikrococcen, welche die Nervenelemente so zerstört hatten, daß eine Normalfunction unmöglich war.
Diese mannigfachen Störungen, welche in Begleitung unserer Krankheit erscheinen, machen eine hohe Sterblichkeitsziffer so begreiflich, daß die Frage fast überflüssig erscheint, ob die Rachenbräune in Wirklichkeit als ein so entsetzlicher Kinderfeind zu betrachten sei. Die ungenügende Statistik trägt die Hauptschuld an der großen Furcht der Laien vor der Diphtheritis. Dieselbe kann hier nur endgültig sprechen, wenn zugleich durch sie die Zahl der Genesenden neben den Todesfällen festgestellt wird. Ein wenigstens annäherndes Bild giebt folgender Auszug von Diphtheritis-Erkrankungen aus den Krankenlisten sämmtlicher Armenbezirke Leipzigs innerhalb eines Jahres. Es wurden durchschnittlich fünfundachtzig Fälle behandelt, wobei zehn Patienten starben. Bei Kindern bis zum zweiten Lebensjahre kamen zehn Erkrankungsfälle vor, von welchen vier, also noch nicht die Hälfte mit dem Tode endigten; es fallen daher auf die andern fünfundsiebzig Patienten nur sechs Todte, sicher ein guter Procentsatz, wenn man die Schwierigkeiten überlegt, mit denen der Arzt bei der ärmeren Bevölkerungsclasse zu kämpfen hat, abgesehen davon, daß er meistens erst bei vollkommen ausgebrochener Diphtherie gerufen wird. Die zahlreichsten Erkrankungen wiesen die Monate October (18), September und März auf, die wenigsten der Juli (1), der Juni und der December.
Zur genauen Erkennung der Diphtheritis ist noch die Schilderung einiger Affectionen beizufügen, welche nicht das Geringste mit ihr zu thun haben, leicht aber damit verwechselt werden. Die größte Aehnlichkeit mit der Diphtheritis hat die sogenannte folliculäre Mandelentzündung, ein ganz ungefährliches Leiden, welches durch eine Eiterung der früher erwähnten Mandeldrüschen zu Stande kommt. Die Mandel ist bedeckt mit weißen Punkten, welche aber stets isolirt bleiben und nur dann einen größeren Umfang erlangen, wenn die Mandeln durch vorhergehende Katarrhe stark zerklüftet sind. Im letzteren Falle führen sie uns sehr leicht, besonders weil die Störung fast immer von hohem Fieber begleitet wird, ein der Diphtheritis ähnliches Bild vor Augen. Man hört oft Laien über die Gefährlichkeit der Diphtherie lächeln; es käme nur auf die Behandlung an; sie oder ihre Kinder würden jährlich mehrmals von dieser Krankheit befallen und das Bestreichen mit Milch oder Citronensäure habe sie jedesmal gerettet, – selbstverständlich bei diesem ohne jedes Zuthun zur Abheilung gelangenden Leiden. Bei kleinen und heruntergekommenen Kindern können auch Schwämmchen Anlaß zur Befürchtung geben. Dieselben bedecken aber und zwar längere Zeit die Backen-Schleimhaut, Zahnfleisch und Zunge; sie lassen sich leicht entfernen und verlaufen ebenso wie die Mundfäule ohne Fieber. Die Mundfäule bildet ebenfalls der Diphtheritis ähnliche mehr speckige Geschwüre, doch befallen dieselben vor Allem Mundwinkel und Backen-Schleimhaut und haften selten auf den Mandeln. Die einfach katarrhalische Schwellung der Kehlkopfs-Schleimhaut verursacht zuweilen dem Croup ähnliche gellende Hustenstöße, doch zeigt bald der gelockerte Husten den ungefährlichen Zustand, abgesehen davon, daß der im Kehlkopf zuerst ohne Diphtherie auftretende Croup jetzt glücklicherweise seltener geworden ist.
Besitzen nun die Eltern wirksame Waffen gegen diese Krankheit? Man verhüte vor Allem ihre Entstehung! Das ist freilich leichter zu rathen als zu befolgen, aber gerade bei der Diphtheritis kann leicht die Ausführung ermöglicht werden. Interessante Versuche an Thieren haben ergeben, daß in die Darmwand eingespritzter diphtheritischer Ansteckungsstoff nur dann in dem Darm eine mit dem Tode des Thieres endigende Diphtherie erzeugt, wenn vorher die Schleimhaut durch Reizung in einen entzündlichen Zustand versetzt worden war, sonst blieb die Einspritzung ohne Erfolg. Im Anschluß an diese Untersuchungen bemerken wir auch in der Praxis, daß am leichtesten Kinder erkranken, die zu Halsaffectionen hinneigen. Man lasse daher die Kinder bei scharfen Nord- und Ostwinden nie Abends das Haus verlassen, präge ihnen ein, auf dem Schulwege allein und langsam zu gehen und mit geschlossenem Munde Athem zu holen, härte sie ab durch kaltes Waschen und lasse sie täglich mit kaltem Wasser gurgeln. Dringend müssen wir aber den Eltern an’s Herz legen, täglich einen Blick in die Mundhöhle ihres Kindes zu werfen; sie erhalten bald die erforderliche Uebung, und die Kleinen gewöhnen sich binnen Kurzem an das Hineinschauen. Sobald man nur irgend eine stärkere [37] Röthung und Schwellung bemerkt und das Kind über Schlingbeschwerden klagt, vorzüglich bei Vorkommen von Diphtheritisfällen in nächster Umgebung, behalte man den kleinen Patienten unter steter Aufsicht und isolire ihn, wenn es irgend angeht, von Geschwistern und Gespielen!
Die Hauptaufgabe der Behandlung folgt aus unserer Betrachtung. Die stets vorhandenen Pilze deuten auf abnorme Gährungsvorgänge; je mehr nun die gebildeten Producte sich zersetzen, liegen bleiben und faulen, eine desto größere Ausdehnung muß der Proceß erreichen. Reinigung und Desinfection der Mundhöhle ist daher die erste Bedingung. Solange noch nicht feststeht, daß wirklich eine Diphtherie das Kind ergriffen, beschränke man sich auf kalte Umschläge um den Hals (eine Serviette in kaltes Wasser getaucht, darüber ein wollenes Tuch, stündlich gewechselt) und löse in einer mit warmem Wasser gefüllten Tasse einen Theelöffel chlorsaures Kali (nicht zu reiben oder zu stoßen). Von dieser Lösung erhält das Kind stündlich einen Theelöffel voll zum langsamen Hinunterschlucken, und wenn es nicht zu gurgeln vermag, pinsele oder spritze man noch außerdem die Mundhöhle damit aus! Hierdurch wird der Schleim leicht gelöst und entfernt. Wenigstens drei Tage bleibe das Kind innerhalb des gut gelüfteten, nicht über 16° R. warmen Zimmers. Sorgsam spähe man auf Mandeln und Gaumen nach weißen Flecken, lasse sich aber nicht durch aus der Nasenhöhle herabhängenden Schleim das Bild derselben vorspiegeln! Entsteht wirklich ein Beleg, so schicke man sofort nach dem Arzte, und nur falls derselbe nicht zu erlangen, geschehe Folgendes: Das Kind muß sogleich zu Bett; die Mandeln werden mit einem in Spiritus getauchten Pinsel alle zwei Stunden vollständig bestrichen; das frühere Auspinseln und Spritzen ist theils mit der obigen an einem warmen Orte aufzubewahrenden chlorsauren Kalilösung, theils mit gewöhnlichem Kalkwasser (aus der Apotheke) halbstündlich zu wiederholen. Aetzen mit Höllenstein kann allein bei Beginn der Krankheit von Erfolg sein; später entwickelt sich unter dem Schorfe die Veränderung nur zu einem höhern Grade; Salicylsäure zeigt sich nutzlos, während die am besten wirkende Carbolsäure nur vom Arzte zu verordnen ist. Die Halsumschläge sind jetzt öfter zu erneuern, und wenn Eis zu erlangen, schiebe man dem Kranken bisweilen bohnengroße Stückchen in den Mund, und stets sei frischer Luftzufluß in dem Krankenzimmer vorhanden. Zur Milderung des starken Fiebers dienen kalte Umschläge von durchschnittlich 10 bis 15° Wärme um Brust und Leib mit wollener Bedeckung. Die Nahrung bestehe in Milch und etwas Rothwein, denn feste und zu warme Substanzen reizen zu sehr die entzündeten Theile. Weil auch der Erwachsene der Ansteckung unterliegen kann, vermeide die Pflegerin jede unnöthige zu nahe Annäherung (wie z. B. das Küssen). Von der Letzteren sind auch gesunde Kinder streng entfernt zu halten, und aus Fürsorge gebe man den Geschwistern ebenfalls etwas chlorsaure Kalilösung, jedoch aus einer andern Tasse. In diesen wenigen Verordnungen liegt der Schwerpunkt des mütterlichen Handelns. Manch blühendes Leben riß die Diphtheritis von den Herzen der Lieben. Möchten doch diese Zeilen eine Verminderung der Opfer bewirken!
Kaum hatte der Ruf des buntbefiederten „Hauspropheten“ den dämmernden Augustmorgen begrüßt, als der Weckruf meines Principals, des trefflichen, mir in dankbarer Erinnerung verbleibenden Oberförsters G., meine Träume von Suche und Treibjagen abschnitt und mich zur Wirklichkeit zurückführte.
„Ach, Herr D., wenn Sie doch wollten aufstehen und zusehen, was eigentlich daran sein mag; soeben meldet mir ein Holzkärrner, ein Stück Wild habe sich in den Netzen am Dienstacker verwickelt und könne nicht fort; vielleicht gelingt es Ihnen, das Thier unbeschädigt auszulösen. Ich werde Ihnen Hülfe nachschicken. Sollte es bereits verletzt worden sein, nun, so schießen Sie es todt, obschon mir jetzt, in den warmen Tagen, nicht am Wildpret liegt.“
„Rasch von seiner Lagerstatt etc.“ summte es durch meine Ohren; schnell gegürtet und „bis an die Zähne bewaffnet“, befand ich mich bald auf dem Wege zu dem mit Netzwerk umstellten Dienstacker. Ein herrlicher Morgen war es, schön, wie er nur im Walde so sein kann. Noch war die Beleuchtung mehr Dämmerung als Tageslicht, für die Eule zu spät, für den Sänger zu früh; noch schwebten die Nebelschleier in verschiedenen Schichten durch die Baumwipfel und das Gesträuch; noch perlte reichlicher Thau an jedem Halme. Kein Laut unterbrach die feierliche Stille und tiefer Friede ruhte auf der Schöpfung.
Die Oberförsterei lag einsam und idyllisch schön im Walde. An ihre Gärten und Aecker schlossen sich ausgedehnte Kiefernschonungen und Stangenhölzer, in welchen Roth-, Damwild und Rehe standen. Zum Schutze gegen diese nächtlichen, sehr ungebetenen Gäste waren die Feldflächen mit altem Jagdzeug – Netzwerk aus dicker Schnur von circa acht bis neun Fuß Höhe – umstellt worden, welches der Oberförster gelegentlich auf Jagdschloß Grunewald erstanden hatte. Ursprünglich bildete es eine Wand, die nach und nach durch Wind und Wetter zermürbt und von den Befestigungen gelöst worden war, so daß sie jetzt stellenweise am Boden lag.
Der Richtung auf die Netzwand folgend, bemerkte ich bald einen sich heftig bewegenden unförmlichen Haufen, aus dem sich, als ich mich ihm näherte, ein reichlich garnirter, stattlicher Schaufler herausschälte, der in Folge zunehmender Angst schließlich im Kampfe gegen die polypenartigen Umschlingungen solche Muskel- und namentlich Schnellkraft entwickelte, daß es ihm gelang, sich zu befreien. Das Anhängsel eines beträchtlichen Geschleppes blieb ihm indessen an den unteren Stangentheilen und den Eissprossen haften, hinderte seine Bewegungen aber nicht. Bei der nun eintretenden Flucht über eine Rillensaat ketteten sich die nachschleppenden Netztheile an das widerstrebende Wurzelwerk und verkürzten sich dadurch mehr und mehr. Bald war der Flüchtling in der gegenüberliegenden Kiefernschonung verschwunden. „Der ist unverletzt, also der Nachsatz der erhaltenen Instruction des guten Oberförsters gegenstandlos und mithin – Hahn in Ruh.“ So sagte ich mir, der Spur des Geschleppes folgend, die sich im Thau und durch Netztheile am Gewürzel markirte.
Endlich hatte ich die bereits erwähnte Schonung erreicht – ein ungleicher Bestand, stellenweise den Uebergang vom Buschholze zum Stangenholze veranschaulichend, meistens aber noch jüngern Alters aus Nachbesserungen hervorgegangen. Da wurde etliche hundert Schritte vor mir ein Gepolter bemerklich, wie wenn Jemand Stöcke rodete – im Lauf begebe ich mich an Ort und Stelle und finde meinen Schaufler an einem aus Platzsaat dicht erwachsenen Kieferhörstchen fest vor Anker gelegt. Wie er dies zu Stande gebracht und das fliegende, lose Netzwerk an den jungen Stangen so festen Halt gewinnen konnte, um so kräftigen Lauf hemmen zu können, wurde mir zur Zeit nicht klar, auch war rasches Handeln geboten. Aber was nun thun? Der Hirsch war mehr in den Lüften als am Erdboden: die riesenhaften Anstrengungen, um sich frei zu machen, hatten ihn außer sich gebracht; dicker Schaum stand vor dem Geäß und flog spritzend umher. Keuchenden Athems wurde ein Prallansatz nach dem andern unternommen und fast nach jedem derselben der Kämpfer durch den heftigen Ruck zu Boden gerissen. Sätze, kerzengerade in die Höhe gerichtet, wurden versucht und hatten nur ein vollständiges Ueberschlagen zur Folge, so daß der Herabgerissene auf Geweih und Rücken stürzte – kurz, es giebt wohl keine Körperverrenkung, keinen Formenwechsel beim Prellen eines Fuchses, die unser geplagter Schaufler nicht in vergrößertem Maßstabe veranschaulicht hätte, und mir ist heute noch unerklärlich, daß er sich nicht innerhalb der ersten fünf Minuten Hals und Läufe zerbrach. Todtschießen durfte ich das geängstigte Wesen nicht, denn noch war es ja unverletzt, und Verletzung möglichst fern zu halten, erschien mir schon aus Mitleid als Pflicht, endlich aber wäre das lebendig gekochte, blutvergiftete Wildpret für die Küche nicht brauchbar gewesen.
Ihn loszulösen oder vielleicht mit einem kräftigen Hirschfängerzuge die Bande zu zerschneiden, das war absolut unmöglich, denn auch ohne die Absicht des Rasenden wäre ich voraussichtlich den Geweihschlägen und -Stößen, namentlich aber den kräftig einsetzenden Läufen zum Opfer gefallen; zudem war ich allein – die nachgesendete Hülfe hatte mich nicht gefunden. Und den noch Festgehaltenen seinem Geschicke zu überlassen, wäre waidmännisch unrichtig gewesen; denn das arme geplagte Wesen wäre in Folge der Erschöpfung oder der Todesangst umgekommen oder Wilddieben oder Hunden verfallen. Also jetzt, und zwar rasch, mußte zu einer rettenden That geschritten werden, denn schon krachte Knoten nach Knoten, riß Masche nach Masche im Netze – im nächsten Augenblicke konnte der jetzt noch Festgeankerte wieder frei sein, und ein Verfolgen der Fährte ohne Ende und wahrscheinlich ohne Nutzen wäre dann unausweichlich geworden.
Der am Kopfe des Hirsches festsitzende Netzesschleier hatte sich inzwischen der Länge nach in zwei Theile gespalten, von denen der linksseitige die verhängnißvolle Fessel bildete, während der rechtsseitige, den Bewegungen des Thieres folgend, sich frei in allen möglichen Schlangenlinien und Curven in den Lüften umherbewegte. Rasch den Umstand wahrnehmend, gelang es mir, den fliegenden Strähn zu erhaschen, zu einem Seile zusammen zu drehen, dasselbe um einen Baum des erwähnten Hörstchens zu schlingen und einmal zu verschürzen – und angebunden war der Schaufler.
Schnell zwar war das Werk beendet, jedoch nicht ohne einige Aufregung; denn immerhin war damit persönliche Gefahr verbunden, gegen welche, falls sie hereinbrach, der bereit liegende Hirschfänger eine genügende Abwehr nicht bieten konnte. Die Ueberzeugung: der Hirsch muß zunächst angebunden werden, überschüttete mich von oben herunter mit jenem Rieselschauer, der uns angesichts ungewohnter, ernster Situationen nicht leicht erspart bleibt, dem sich fast sofort ein pochender Herzschlag zugesellt, zu welchem sodann, just um die Trias herzustellen, ein den Körper schüttelndes Fieber hinzutritt (daher auch das „Hirschfieber“). Ich mußte mir sagen, daß mein eben vollführtes Waidwerk kein alltägliches sei. Gewiß befindet sich unter Tausenden praktischer Waidleute kaum Einer, dem Aehnliches passirt ist, obschon Tausende an meiner Stelle dasselbe ausgeführt haben würden. Noch einen Blick nach dem noch immer tobenden Schaufler, und heimwärts ging es nun unter der Erwägung, daß mit Hinzuziehung einiger Hülfe die Befreiung des Gefangenen möglichst schnell und vollständig auszuführen sei, aber kaum hatte ich die Dickung verlassen und den directen Weg erreicht, als mir mein guter Oberförster begegnete, der soeben nach der Stadt fuhr, um einem der damals zahlreich stattfindenden Servitutenablösungstermine beizuwohnen. Staunend hörte er meinen Bericht, an dessen Wahrheit ja kein Zweifel sein konnte, selbst wenn meine noch immer andauernde Gemüthsaufregung, sowie die auf der Höhe sichtbaren, in steter Bewegung hin- und herwehenden Kiefernwipfel, durch die Arbeit des Hirsches geschüttelt, nicht als Beweise gedient hätten. Das Ergebniß unserer Erwägung formte sich im Munde des Oberförsters ungefähr wie folgt:
„Nun, lieber Herr D., thun Sie mir den einzigen Gefallen und schießen Sie nicht etwa den Hirsch nachträglich doch noch todt! Gehen Sie nach Hause, erholen und beruhigen Sie sich! Ich werde auf dem Rückwege Herrn Assessor von T. mitbringen und dem lieben guten Herrn wollen wir eine Freude bereiten – er mag den Schaufler todtschießen.“
Dagegen ließ sich nichts sagen; die gutmüthige, prächtige [39] Seele wollte ja einem Anderen ein seltenes Vergnügen machen – ich gestehe, nie hätte es mir Amusement gewähren können, nach einer lebendigen Scheibe zu schießen.
Verstimmt kam ich zu Hause an. Langsam, ach so entsetzlich langsam schleppte sich der Vormittag hin. Die Arbeit gewann keinen Zug; die Schwingen der Gedanken waren bleibelastet – da endlich, Nachmittags, rollte ein Wagen in den Hof. Herr von T. ist mitgekommen; der zweite Theil des Dramas beginnt.
Also Sie haben mir einen Schaufler angebunden?“ so begrüßte mich der Herr. „Na, das, bekenne ich, ist mir noch nie geboten worden.“
„Würd Ihnen auch kaum ein zweites Mal geboten werden,“ ergänzte der Oberförster.
In waidgerechter Ausrüstung brach die Expedition auf – mir war zu Muthe, als würde ein Unrecht verübt. Der Seltenheit des Falles zu Ehren, schlossen sich die beiden Damen des Hauses, die Tochter meines Principals und eine Verwandte, der Partie an. Der Hirsch hatte unser Kommen von Weitem gehört; noch fern vom Orte konnte man die jungen Wipfel des Hörstchens, welches den Schaufler fest hielt, bereits die Lüfte peitschen sehen. Als der Gefangene eine für seine Begriffe entsetzliche Anzahl von auf’s Aeußerste gefürchteten menschlichen Wesen in immer bedrohlichere Nähe anrücken sah, gerieth er geradezu außer sich, wozu der damals hochmoderne weiße Camail, mit welchem das Fräulein Tochter auf dem Tableau erschien, viel beitragen mochte.
Aber trotz Allem hielt das Seil noch fest, und auf circa zwölf bis sechszehn Schritt Distanz stellte sich der begünstigte Herr auf, legte sich in Anschlag und – das Schloß wollte und wollte nicht losschlagen; dabei befand sich der Hirsch bald in den Lüften, bald am Boden, sich nun um seine Längs-, dann aber um die Querachse drehend. Eher hätte die Kugel die Läufe zerschmettern, das Geweih treffen, als das „Blatt“ finden können. Ich empfahl deshalb einen kurzen Aufschub der Execution, da voraussichtlich das keuchende Thier wenigstens auf Augenblickslänge einmal nach Luft schnappen und still stehen mußte.
Herr von T. setzte ab, aber da der Kämpfende in seinem Befreiungswerke nicht um eines Pulsschlags Dauer nachließ, so legte unser Gast wieder an – abermals versagt das Schloß. Endlich schreitet man zur näheren Ermittelung des vorliegenden Hindernisses. Dies wird bald beseitigt. Nun ist alles in Ordnung; Schloß und Stechschloß spielen exact zusammen. Herr von T. liegt im Anschlag – jetzt – jetzt muß das Gewehr Feuer geben – Aller Augen haften auf dem Hirsche – Herr von T. zielt sehr scharf – da! sch–n–a–a–r–z reißt das Seil entzwei; der Hirsch stürzt auch ohne Kugel zur Erde, rafft sich blitzschnell auf, verschwindet hinterm Hörstchen, flieht mit mächtigen, schlanken Lançaden hinter Hoch und über Niedrig hinweg in einem vollen Viertelkreise um seine Dränger herum, mit dem Schmucke eines Netzstückes am Hinterkopfe, welches als Allonge im Tempo der Flucht auf- und niederklappt, und fern verschwindet er, hin und wieder im Luftsprung, immer mehr verkleinert, noch einmal erscheinend.
Ein fünfkehliges, homerisches Gelächter unsererseits begleitete die Flucht des endlich und zwar im letzten verhängnißvollen Augenblicke noch Erlösten, und dieser Jubelruf legt wohl besser, als Worte es vermögen, Zeugniß dafür ab, daß im Grunde keiner der Anwesenden den Tod des edlen Thieres, namentlich so zur Unzeit, gewünscht hatte, und jeder ihm die Befreiung gönnte, um die es seit dem frühen Morgen ehrlich und andauernd gekämpft hatte.
Einer der fünf Zeugen, der Oberförster, liegt schon längst zu letzter Ruhe gebettet. Wie ich aber noch lebe und gesund bin, werden es hoffentlich die übrigen drei Zeugen ja auch sein. Sollten sie die vorstehend niedergelegte Schilderung zu Gesicht bekommen und durch die Auffrischung jenes Vorganges sich an eine angenehm verlebte Zeit erinnern, so soll mich dies aufrichtig freuen, und rufe ich ihnen zu: Ein herzliches Waidmannsheil!
Ein lebender Walfisch in der Luft. Wer längere Zeit in New-York lebt, muß sich daran gewöhnen, eine Ueberraschung, oder wie man hier sagt, „eine Sensation“ nach der anderen vom Stapel laufen zu sehen. Das Neueste ist das heute, am 15. December 1876, mit allem Effect in’s Werk gesetzte Aufwinden eines Walfisches. Zur Erklärung mögen folgende Notizen dienen.
Seit dem 11. October vorigen Jahres erfreut sich New-York eines großartigen See- und Flußwasser-Aquariums, in dem, außer den üblichen Tanks mit vorderer Glasfront, auch ein im Durchmesser fünfundzwanzig Fuß großer kreis- oder vielmehr walzenförmiger Behälter ein neun Fuß langes Exemplar des weißen Walfisches beherbergt. In den ersten Monaten seines Aufenthaltes wurde dem Thiere wöchentlich drei Mal eine Portion frischen Seewassers zugetheilt, das man anfänglich aus der offenen See, später aus dem sogenannten Eastriver, das heißt der engen Wasserstraße, durch welche New-York von Long-Island getrennt wird, holte. Aber es stellte sich heraus, daß es in dieser Weise unmöglich sei, den riesigen Behälter stets mit reinem, durchsichtigem Wasser zu versorgen; theils zufällige Verunreinigungen, theils die Abgänge der vielen Aale und anderen Futterfische sowie des Walfisches selbst machten das Wasser so dick und schmutzig, daß man sich zu einer energischen Reinigung entschließen mußte. Es sollte bei dieser Gelegenheit denn auch davon Abstand genommen werden, stets neues, kostspieliges Seewasser zu holen, und statt dessen Leitungswasser genommen werden.
In Europa hätte man wahrscheinlich die ganze Aenderung zu früher Tageszeit in aller Stille vorgenommen, vielleicht auch versucht, durch allmähliche Vermischung des einmal vorhandenen Seewassers mit Flußwasser eine Aenderung zum Besseren eintreten zu lassen. Nicht so hier. Die Zeitungen hatten schon Tags vorher auf das kommende Ereigniß aufmerksam gemacht, das in nichts Geringerem bestehen sollte, als den Walfisch aus dem Wasser zu winden und, während derselbe über dem Behälter schwebte, letzteren gründlich auszuputzen, und dem zu Folge hatte sich denn auch eine nach Aufregung begierige Menge eingefunden, die geduldig stundenlang auf das versprochene Schauspiel wartete. Die Sache wurde folgendermaßen in’s Werk gesetzt: An vier passenden Stellen an der Decke des Gebäudes waren Winden angebracht, von denen Seile an die Ecken eines quadratischen Segeltuches von zwanzig Fuß Seitenlänge gingen. Dieses Segeltuch wurde am Boden des Behälters entlang gezogen, und während sich der Wal über demselben befand, gleichmäßig aufgewunden.
Unter den Klängen eines Festmarsches begann die Arbeit. Mit Beihülfe der Besucher wurde an den vier Eckseilen und vier zwischen denselben befestigten Seilen kräftig gezogen, und schon glaubte man die Schwierigkeiten beim ersten Versuche bewältigt zu haben, als der Walfisch, dem die Sache wohl zu auffallend vorkommen mochte, um sich ruhig darein zu ergeben, mit einigen effectvollen Schwüngen an einer tieferen Stelle des Tuches wieder heraus und in’s Wasser zurückplumpste. Das Publicum, das natürlich in dichten Schaaren den von Glasplatten eingefaßten Behälter umlagert hielt, war jetzt in die gewünschte Aufregung versetzt und gerieth in eine noch größere, als der „Manager“, hoch auf der Brüstung des Behälters stehend, mit Stentorstimme dazwischen rief: „Bitte, meine Damen und Herren, treten Sie etwas zurück – es ist für den Fall eines Unglücks.“ Wohl in Erinnerung an die erst kürzlich im Brooklyner Theater ausgebrochene entsetzliche Panik stob Alles auseinander, um der bei einem etwaigen Bruche einer Glasscheibe vorauszusehenden Ueberschwemmung auszuweichen, und mehrere Damen saßen erschöpft vor nervöser Aufregung auf rückstehenden Divans, um sich von dem stattgehabten Schrecken zu erholen. Gottlob, passirte aber nichts, und der Versuch wurde mit ungeschwächten Kräften nochmals und zum dritten Male wiederholt, um aber jedesmal, wie der erste, zu mißglücken. Jedermann hatte nun guten Rath feil. Der eine wollte zuerst das Wasser abgelassen haben, der andere ein Netz anstatt eines Tuches anwenden, und ein mir zur Seite stehender Musiker, ein Landsmann von der „Gartenlaube“, äußerte, er sei doch „neichierich“, ob sie ihn noch „‘rausholen“ würden. „Warum nehmen sie aber auch nicht Maschinen zum Aufwinden,“ sagte er, „es ist doch unmöglich, die große sich im Tuche fangende Wassermenge zu heben.“ (Ein Netz war vermieden worden, um dem Thiere nicht durch den Druck der Stricke zu schaden, und das Wasser floß durch zahlreiche in das Segeltuch gebohrte Löcher genügend ab.)
Mittlerweile war aber das Tuch wieder in eine günstige Lage gebracht und das Commando zum Aufwinden gegeben worden: jetzt, durch vorherige Fehler gewarnt, hoben die Arbeiter dasselbe so gleichmäßig und stetig aus dem Wasser nach oben, daß dem Walfisch keine Möglichkeit zum nochmaligen Entschlüpfen blieb; in wenigen Minuten hing er sechs Fuß hoch über dem Becken, und das zahlreiche Publicum begrüßte ihn in seiner neuen Lage mit fröhlichem Händeklatschen, dem die Musik mit einem wohlangebrachten Triumphmarsche folgte. Rasch floß nun das trübe Seewasser ab; die Reinigung und einige praktische Veränderungen wurden am Boden des Behälters vorgenommen, und schon am Abend desselben Tages erfreute sich der Walfisch, der während seines unfreiwilligen Luftbades mit Hülfe einer Douche stets feucht erhalten wurde, seiner kürzlich verlassenen Heimath wieder.
Schließlich sei noch erwähnt, daß der hier ausgestellte Walfisch nicht zu einer der großen, bartentragenden Art gehört, sondern ein Exemplar des sogenannten weißen Wales oder der Beluga (Delphinapterus leucas s. catodon) ist. Er wurde im April dieses Jahres an der Küste von Labrador gefangen und ist bereits der dritte seines Geschlechtes, der von Abgesandten des hiesigen Aquariums erbeutet wurde. Die zwei ersten gingen an Verletzungen in dem anfänglich unzweckmäßig eingerichteten
[40] Behälter zu Grunde, der dritte aber erfreut sich seit seiner Ankunft eines ungetrübten Wohlseins und wird wohl noch lange Zeit fortfahren, das interessanteste Schaustück des auch sonst sehr sehenswerthen New-Yorker Aquariums zu bleiben.H. Dorner in New-York.
Sonntagszwang. Niemand hindert bekanntlich die pietistischen Geistlichen, den Sonntag mit ihren Betbrüdern und Betschwestern ganz so muckerhaft zu feiern, wie es ihnen beliebt. Niemand auch wehrt es ihnen, Propaganda zu machen und der Art ihrer Sonntagsfeier so viele Liebhaber zu gewinnen, wie sich finden lassen wollen. Wenn sie aber, ihrer dreisten und herrschsüchtigen Art zufolge, auch in diesem wie in jedem anderen Punkte ihre specielle Ansicht zu einer Richtschnur der Gesammtheit machen und als die allein berechtigte allen anderen Menschen aufzwingen möchten, so werden wir bei Zeiten gegen eine solche Absicht uns verwahren müssen. Bedanken wird sich unstreitig Jeder dafür, dem seine freie Bewegung noch irgend lieb ist und der dem Volke den Weg zu edler und würdiger Gestaltung der Sonntagsfreude nicht durch die finsteren Machtgebote einer einseitigen kirchlichen Richtung verlegt sehen will. Seitens der pietistischen Partei werden aber in der That seit längerer Zeit Anstrengungen gemacht, uns von ihren Bet- und Bibelstunden aus mit einer Abart des öden und freudenlosen puritanisch-englischen Sonntags zu beglücken, der bekanntlich die unschuldigsten Zerstreuungen verbietet und dem bis zur Verzweiflung gelangweilten Menschen nur noch den Gang in die Kirche offen läßt.
Der Hauptsache nach soll der Zweck durch das Mittel des staatlich-gesetzlichen Zwanges erreicht werden, und eine entschiedene Bewegung dafür ist im Gange. Es wäre gut, wenn dieselbe nicht gänzlich unterschätzt würde. Denn durch ihre Stimmenmehrheit in den deutschen Kirchensynoden haben die orthodox-pietistischen Theologen wieder eine gewisse Art von Einfluß erlangt, wie sie überhaupt an mächtigen Stellen starke Reste eines geheimen Einflusses sich zu wahren wußten. Schon sind in der genannten Hinsicht laute Klagerufe und leise Wünsche an den deutschen Reichstag gerichtet worden, und in Genf hat sich kürzlich eine Anzahl orthodoxer Zionswächter zu einem internationalen, auch von deutscher Seite her besuchten Congreß für bessere „Sonntagsheiligung“ versammelt, auf dem der pietistische Wortführer Naville gelassen und ohne Widerspruch der Versammelten das erstaunliche Wort ausgesprochen hat, daß die Aufgabe des Sonntags „der Kampf gegen den Unglauben an den lebendigen Gott und an – die leibliche Auferstehung Jesu“ sei.
Zu einer so geistlosen Dürre und Verkrüppelung schrumpft eine Angelegenheit der socialen Gesammtheit, eine große Volks- und Menschheitsfrage, wie es die Erholungsfreude des Sonntags ist, in den Seelen dieser engen und verblendeten Parteimenschen zusammen. Für uns Alle soll der wöchentliche Ruhetag so hergerichtet werden, damit wir bequemer zu Pietisten gemacht und zum Glauben an die Satzungen der Orthodoxen bekehrt werden können. Glücklicher Weise ist in der gesunden Mehrheit des Volkes nicht das geringste Verständnis für das Kauderwelsch dieses Standpunktes und seiner Sprache vorhanden, und besonders willkommen muß es auch geheißen werden, daß sich in der Kirche selber eine sehr entschiedene Opposition gegen alle Vermuckerung der Religion und des Lebens zu regen beginnt. In Berlin muß wohl als Lobredner des Genfer Congresses jener Hofprediger Baur aufgetreten sein, der im vorigen Jahre dem Humbug der reisenden amerikanischen Betvirtuosen so begeisterungsvoll das Wort geredet hat. Denn an diesen Collegen bei der Hofkirche hat soeben ein bejahrter Geistlicher der Hauptstadt, der hochangesehene und freisinnige Pastor Dr. Hoßbach ein offenes Sendschreiben gerichtet, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
„Was,“ so schreibt Pastor Hoßbach, „was hat die brennende und trennende, die Gemüther erhitzende Frage der leiblichen Auferstehung Jesu mit den vorwiegend auf Erzielung der Ruhe gerichteten Bestrebungen für die Sonntagsfeier zu thun? Mir scheint es für eine würdige Feier des Sonntags und für das Gesammtwohl des Volkes dringend nöthig, wenn unser Volk den Sonntag nicht blos zu religiöser Feier, auch nicht einmal vorwiegend zu ihr, sondern zu allen Erquickungen des Leibes und des Geistes, zu Vergnügungen und Geselligkeit, zum Besuche des Schauspiels und der Concerte benutzt, kurz zu Allem, was sittlich erlaubt ist und was die nicht mit Arbeit überladenen Bürger ohne Sünde in der Woche sich erlauben. Sie dagegen muthen unserem Volke zu, auf das Meiste davon Verzicht zu leisten, aber darum so leichten Herzens, weil Sie auf einem Standpunkte stehen, der jene (weltlichen) Momente über Gebühr gering schätzt. Ich fürchte, daß dadurch der Sonntag für unser Volk aus einem Tage der Freude zu einem Tage der Qual wird.“ Die schwarze Theologenpartei hat das Ansehen der Geistlichkeit so geschädigt, daß es bei Vielen schon Verwunderung erregt, wenn ein Geistlicher heute noch so vernünftig über eine selbstverständliche Sache zu urtheilen vermag. Wir aber wissen, daß Herr Hoßbach doch nur im Sinne vieler geistlicher Amtsgenossen gesprochen hat.
Aus dem großen Reiche der Dummheit. Vor einigen Tagen – so schreibt man uns – starb mein acht Wochen alter Knabe. Abends vor seinem Tode kommt eine ältere Frau, welche oben im Hause wohnt, herab und fragt mich nach dem Befinden des Kleinen. Ich entgegne ihr, daß der Arzt erklärt habe, das Kind werde sterben. Nachdenklich sah sie vor sich hin und sagte dann ziemlich bestimmt: „Ihr Kind ist beschrieen.“ Obgleich ich sonst nicht bösartig bin, platzte mir’s doch heraus: „Und bei Ihnen ist’s wohl im Oberstübchen nicht richtig.“ – Nachdem am nächsten Morgen der Tod des Kindes erfolgt war und kurz darauf die Leichenwäscherin ihre Funktionen verrichtete, äußerte dieselbe gutmüthig gegen mich: „Sie brauchen sich nicht so zu grämen; das Kind hatte ‚das Alter‘; sie konnten ihm nicht helfen.“ Befremdet über diesen Ausspruch, sagte ich, daß ich das Kind älter gewünscht hätte, vielleicht fünfzig bis sechszig Jahre und darüber, worauf sie lächelnd erwiderte: „Ja, sähn se, wer das nich kennt, der weeß es nich, aber sähn se, ich habe als Leichenwäscherin gestudirt, und ich kenne das gleich. Sähn se, Sie hätten, wenn Sie es eben von vornherein gewußt hätten und das Kind behalten wollten, dasselbe in ein ganz reines weißes Bettchen und in ganz reine weiße Windeln legen müssen. Dann mußten Sie mit Ihrer Frau und dem Kinde zum Bäcker gehen, dort sich rechts und Ihre Frau links vor die Mündung des Backofens stellen. Hierauf mußten Sie das Kind im Bettchen auf den Brodschieber legen, denselben rechts in den Ofen hineinschieben und dabei sprechen: ‚Alt schiebe ich dich hinein, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes † † †‘, dann nach links schwenken und Ihrer Frau den Schieber in die Hand geben, welche denselben links herausziehen und dabei sprechen mußte: ‚Jung ziehe ich dich heraus, im Namen Gottes etc. † † †.‘ Ihr Kind war dann gesund und konnte nun sehr alt werden.“
Mir wurde sehr warm dabei, ich drehte mich aber um und ging weg. Nachmittags hatte ich in einem Restaurant einen Geschäftsfreund zu sprechen und erzählte diesem und dem anwesenden Wirthe schließlich diese Geschichte. Sie schüttelten die Köpfe. Die mitanwesende Haushälterin aber sagte darauf: „Glauben Sie, dieselbe Geschichte hat meine ältere Schwester wirklich durchgemacht, doch war es nicht des ‚Alters‘, sondern der ‚Mitesser‘ wegen. Meine Schwester war sechs Wochen alt, als die Hauswirthin, die zugleich Pathe des Kindes war, eines schönen Tages meiner damals einundzwanzig Jahre alten Mutter sagt: ‚Sie haben ja das Mädchen noch nicht gegen Mitesser geschützt. Es muß in den Backofen.‘ Die Mutter will aber davon nichts wissen. Vierzehn Tage später erscheint Vormittags die erwähnte Hauswirthin in unserer Stube, als meine Mutter einen Augenblick dieselbe verlassen hat, nimmt das Kind aus der Wiege, steckt es in den ‚ausgebackenen‘ Backofen, macht die vorhin schon beschriebene Procedur mit demselben durch, welche nur insofern anders ist, als sie dabei sagt: ‚Mit Mitessern schiebe ich Dich ein im Namen Gottes etc. † † † und ohne Mitesser ziehe ich Dich heraus im Namen Gottes etc.‘ Darauf trägt sie das Kind der schon suchenden Mutter zurück und versichert derselben, daß das Mädchen jetzt gegen Mitesser gesichert sei.“ Merkwürdig aber sei es, so sagt die Haushälterin, daß ihre Schwester bis jetzt – sie ist fast dreißig Jahre – so von Mitessern geplagt sei, wie wohl selten Jemand; sie sei so ‚schwarzstippelich‘, wie so ein Bild (sie zeigte auf einen Stahlstich).
Soeben erfahre ich von meinem Hauswirthe, daß die zuerst erwähnte alte Frau jetzt sehr beruhigt ist, nun mein Kind gestorben, denn es wäre das dritte Todte im neuen Hause. In jedem neuen Hause müßten, wenn der erste Miether, bald nachdem er eingezogen sei, einen Todesfall habe, noch zwei Personen sterben, weil das einmal so sei, und hier träfe es ja auch zu. (Stimmt.) Die andere Frau, welche noch oben wohnt, hätte schon eine Zeitlang Angst um ihren Mann gehabt; er sei kränklich gewesen, und sie habe geglaubt, er werde der „Dritte“ werden. W.
„Zoolyrische Ergüsse“ ist der glücklich gewählte Titel einer humoristischen Liedersammlung von Richard Schmidt–Cabanis (Berlin, Denike’s Verlag), welche Gustav Mützel mit einunddreißig Illustrationen geschmückt hat. Die Thierwelt wird lyrisch mobil gemacht – das ist ein Gedanke, der zwar nicht originell ist und an die bändereiche Fibelliteratur erinnert, aber wie hier dem oft behandelten Thema neue und pikante Seiten abgewonnen werden, das ist es, was der Sammlung ihre Berechtigung und einen gewissen, wenn auch nur vorübergehenden Werth verleiht. Es ist viel Tendenz in diesen „Zoolyrischen Ergüssen“. Aus den scheinbar so harmlosen Liederstrophen unseres Poeten, welche übrigens, nebenbei bemerkt, poetisch betrachtet, recht ungleiche Rangstufen einnehmen, guckt fast überall die Tatze des Satirikers heraus, welcher bald mit einem bärenhaft derben Schlage einem modernen Gerngroß den Garaus macht, bald mittelst einer löwenartig graciösen Ohrfeige ein Schooßkind der Zeit bei Seite taumeln läßt. Es sind neben allgemein hervorstechenden Schwächen und Verirrungen unserer Tage einige Coterien in Politik und Gesellschaft, in Kunst und Wissenschaft, welche hier theils im Allgemeinen, theils in ihren bekanntesten Trägern von dem Verfasser der Lächerlichkeit preisgegeben werden; wir erinnern nur an den „Gesang der Trichinen über den Würsten“, in welchem unsere liebe Clerisei gekennzeichnet wird, und an das komisch schwungvolle Lied „Meister Pfau“, das auf Richard Wagner und seine Schleppenträger gemünzt ist. Und bei diesen poetischen Standgerichten sieht sich unser Dichter auf das Wirkungsvollste unterstützt durch die wackere Mithülfe seines mit dem Griffel bewährten Collegen; denn die Mützel’schen Illustrationen, welche oft äußerst witzig gedacht und meistens sehr effectvoll ausgeführt sind, leihen dem Ganzen erst die rechte Plastik und Anschaulichkeit. Dichter und Zeichner haben sich hier zu einer humoristischen Schöpfung die Hand gereicht, welche, wie sie nunmehr vollendet vor uns steht, einen fast durchweg harmonischen Eindruck macht.
Unserem heutigen Kanossa-Artikel geben wir das bekannte Plüddemann’sche Bild, welches wir vor langen Jahren unseren Lesern bereits vorführten, noch einmal bei und zwar in einem verbesserten Schnitte. Wir ließen uns hierbei von der Voraussetzung leiten, daß das in Gegenstand und Durchführung gleich interessante historische Gemälde in dieser Zeit der Erinnerung an die Tage von Kanossa eine nicht unwillkommene Illustration zu dem trefflichen Scherr’schen Artikel abgeben dürfte.
Kleiner Briefkasten.
K. E. in L. Allerdings ist Louis Schubert in Dresden der Verfasser des in Nr. 52 vorigen Jahrgangs abgedruckten Artikels „Die Singtyrannen der Gegenwart“.
Lud. in W. Sie schreiben bei Uebersendung Ihrer Poesien: „Doch diese Qual preßt mir aus dem Herzen Lieder, die ich anbete und liebe!“ Sie werden auch der Einzige bleiben, der sie anbetet.
- ↑ Vorlage: habl
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Das Bild erschien bereits in: Die Gartenlaube, 1862, S. 245