Die Gartenlaube (1876)/Heft 48
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No. 48. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten. |
Waldemar erwiderte nichts. Ihm, dem Besonneneren, stieg sofort der Gedanke an die Gefahr auf, der sich Leo hier aussetzte; er wendete sich um, schloß die Thür des Nebenzimmers ab und kehrte dann wieder zurück.
„Nein,“ entgegnete er, die Frage erst jetzt beantwortend, „und auch die Mutter hat Dich schwerlich erwartet.“
„Ich wollte Dir Glück wünschen zu Deiner Heldenthat auf der Grenzförsterei, denn so wirst Du Deine Handlungsweise ja wohl nennen,“ fuhr der junge Fürst mit unverstelltem Hohne fort. „Du hast den Förster niedergeschossen und den Uebrigen allesammt die Spitze geboten. Die Feiglinge wagten es nicht, Dich anzurühren.“
„Sie gingen noch in derselben Nacht über die Grenze,“ sagte Waldemar. „Sind sie etwa zu Dir gestoßen?“
„Ja.“
„Das dachte ich mir. – Seit wann bist Du fort von Deinem Commando?“
„Willst Du etwa ein Verhör mit mir anstellen?“ fuhr Leo auf. „Ich bin gekommen, Dich zur Rechenschaft zu ziehen. Komm! Wir haben allein miteinander zu reden.“
„Ihr bleibt!“ gebot die Fürstin. „Ich lasse Euch nicht allein bei dieser Begegnung. Wenn sie denn doch einmal stattfinden muß, so sei es in meiner Gegenwart! Vielleicht vergeßt Ihr es dann nicht so ganz, daß Ihr Brüder seid.“
„Bruder oder nicht!“ rief Leo außer sich. „An mir hat er den schmählichsten Verrath geübt. Er wußte, daß Wanda meine Braut war, und er hat sich nicht gescheut, sie und ihre Liebe an sich zu reißen. So handelt nur ein Verräther, ein Ehr –“
Die Mutter wollte ihm wehren, aber umsonst - das Wort „Ehrloser“ fiel von seinen Lippen, und Waldemar zuckte zusammen, als habe ihn eine Kugel getroffen. Die Fürstin erbleichte. Es war nicht die bis zur Raserei gesteigerte Leidenschaft ihres jüngsten Sohnes, die sie so erschreckte, sondern der Ausdruck in dem Gesichte des ältesten, als dieser sich jetzt emporrichtete. Ihn riß sie zurück, ihn fürchtete sie, obgleich er waffenlos war, während Leo den Degen an der Seite trug, und mit der vollen Autorität der Mutter zwischen beide tretend, rief sie gebietend:
„Waldemar – Leo – Mäßigung! Ich befehle es Euch.“
Wenn die Fürstin Baratowska befahl, mit diesem Tone und dieser Haltung befahl, so hatte sie sich noch immer Gehör erzwungen. Auch ihre Söhne gehorchten unwillkürlich. Leo ließ die Hand sinken, die er schon am Degengriffe hatte, und Waldemar hielt inne. Er rang wieder furchtbar mit seinem Ungestüme, aber die Worte der Mutter hatten ihn zur Besinnung gebracht, und mehr bedurfte es jetzt nicht, um ihn sich selber zurückzugeben.
„Leo, jetzt ist es genug mit den Beleidigungen,“ sagte er rauh. „Noch ein Wort, ein einziges, und es bleibt uns wirklich keine andere Entscheidung, als die Waffe übrig. Wenn Du gestern noch das Recht hattest, mich anzuklagen, heute ist es verwirkt. Ich liebe Wanda mehr, als Du ahnst, denn Du hast nicht, wie ich, jahrelang im Kampfe mit dieser Leidenschaft gelegen, Dich nicht durch Haß und Trennung und Todesgefahr hindurchgerungen zum Bewußtsein, daß sie stärker ist als Du. Aber selbst um Wanda’s willen hätte ich nicht Pflicht und Ehre hingegeben. Ich wäre nicht von dem Posten gewichen, der mir übergeben ist, hätte nicht heimlich die mir anvertraute Schaar verlassen und den Eid gebrochen, mit dem ich meinem Führer Gehorsam zugeschworen. Das Alles hast Du gethan – die Mutter mag es entscheiden, wer von uns das schmachvolle Wort verdient, das Du mir zuschleuderst.“
„Was ist das, Leo?“ rief die Fürstin empor schreckend. „Du bist doch hier mit Wissen und Willen Deines Oheims? Du hattest doch ausdrückliche Erlaubniß von ihm, nach Wilicza zu gehen? Antworte!“
In dem bisher so bleichen Gesichte des jungen Fürsten schlug es jetzt wie eine Flamme auf; er wagte es nicht, dem Auge der Mutter zu begegnen, und wandte sich statt dessen mit jäh aufloderndem Trotze zu seinem Bruder.
„Was weißt Du von meinen Pflichten, was kümmern sie Dich? Du hältst es ja mit unseren Feinden. Ich habe meinen Platz im Kampfe so lange behauptet und werde zur Stelle sein, sobald es Noth thut. Aber eben deshalb eilt die Sache zwischen uns. Ich habe nicht viel Zeit, mit Dir abzurechnen; ich muß zurück zu den Meinigen, noch heute, schon in den nächsten Stunden.“
„Du kommst zu spät,“ sagte Waldemar kalt. „Du findest sie nicht mehr.“
Leo faßte augenscheinlich den Sinn dieser Worte nicht. Er sah den Bruder an, als rede dieser zu ihm in einer fremden Sprache.
„Seit wann hast Du Dein Commando verlassen?“ fragte Waldemar noch einmal, aber diesmal mit so furchtbarem Ernste, daß der Bruder ihm halb unwillkürlich Antwort gab.
[798] „Seit – gestern Abend.“
„Und in der Nacht hat der Ueberfall stattgefunden. Deine Schaar ist aufgelöst, vernichtet.“
Ein Aufschrei brach von den Lippen des jungen Fürsten. Er stürzte auf den Sprechenden zu. „Das ist nicht möglich; das kann nicht sein. Du lügst; Du willst mich nur schrecken mit der Nachricht, willst mich damit zur Entfernung zwingen.“
„Nein, es kann nicht sein,“ fiel jetzt auch die Fürstin mit bebenden Lippen ein. „Du kannst noch keine Nachrichten haben. Waldemar, von dem, was sich drüben während der Nacht ereignete; ich hätte sie früher als Du haben müssen. Du täuschest uns – greife nicht zu solchen Mitteln.“
Waldemar sah einige Secunden lang schweigend die Mutter an, die ihn eher der Lüge beschuldigte, ehe sie an ein Vergehen seines Bruders glaubte; vielleicht war es dies, was seine Stimme so eisig und mitleidslos machte, als er jetzt sagte:
„Dem Fürsten Baratowski war ein wichtiger Posten übergeben worden, mit dem strengsten Befehle, nicht davon zu weichen. Er deckte mit seiner Schaar seinem Oheim den Rücken. Fürst Baratowski fehlte auf diesem Posten, als der nächtliche Angriff erfolgte; der Führer fehlte, und die Uebrigen zeigten sich dem Ueberfalle nicht gewachsen. Sie setzten sich völlig planlos zur Wehre – es gab ein Blutbad. Einige zwanzig Mann retteten sich durch den Uebertritt auf unser Gebiet und fielen unsern Patrouillen in die Hände; drei der Flüchtlinge liegen schwer verwundet drüben im Gutshofe. Aus ihrem Munde erfuhr ich das Geschehene – der Rest ist zersprengt oder vernichtet.“
„Und mein Bruder?“ fragte die Fürstin anscheinend ruhig, aber es lag etwas Schreckliches in dieser Ruhe. „Und das Morynski’sche Corps? Was ist aus ihnen geworden?“
„Ich weiß es nicht,“ versetzte Waldemar. „Es heißt, die Sieger hätten die Richtung nach W. genommen. Was dort geschehen ist, darüber fehlen noch die Nachrichten.“
Er schwieg. Es folgte eine Pause furchtbarer Stille. Leo hatte das Gesicht in beide Hände verborgen; aus seiner Brust drang ein dumpfes Stöhnen hervor. Die Fürstin stand aufrecht, das Auge unverwandt auf ihn gerichtet – sie rang nach Athem.
„Laß uns allein, Waldemar!“ sagte sie endlich tonlos, aber mit der alten Festigkeit.
Er zögerte. Die Mutter war ihm stets kalt und oft genug feindselig erschienen. Hier, an dieser Stelle, hatte sie ihm als erbitterte Gegnerin gegenüber gestanden, als der Streit um die Herrschaft in Wilicza endlich zum Ausbruche kam, aber so hatte er sie doch noch nie gesehen wie in diesem Augenblicke, und ihn, den harten rücksichtslose Nordeck, ergriff es wie Angst und Mitleid, als er das Urtheil seines Bruders in jenen Zügen las.
„Mutter!“ sagte er leise.
„Geh’!“ wiederholte sie. „Ich habe mit dem Fürsten Baratowski zu reden. Da taugt kein Dritter zwischen uns. Laß uns allein!“
Waldemar gehorchte und verließ das Zimmer, aber es bäumte sich wieder heiß und schmerzlich in ihm auf, als er ging. Er wurde verbannt, wo die Mutter mit ihrem Sohne zu reden hatte. Wenn sie diesen auch jetzt ihren Zorn fühlen ließ, wie sie ihm so oft ihre Zärtlichkeit hatte zu erkennen gegeben, der Aeltere war und blieb ein Fremder dabei; ihn hieß man gehen – er „taugte“ nicht zwischen Mutter und Bruder, mochten sie sich nun in Liebe oder Haß begegnen. Ein tiefe Bitterkeit regte sich in Nordeck, und doch fühlte er, daß diese Stunde ihn an der Mutter gerächt hatte für die versagte Zärtlichkeit, daß sie jetzt in ihrem Lieblingssohne, in ihrem Abgotte auf’s Schwerste gestraft war.
Waldemar schloß die Portière hinter sich. Er blieb im Nebenzimmer, um auf alle Fälle den Eingang zu hüten, denn er kannte die Gefahr, der sich Leo aussetzte. Fürst Baratowski hatte zu offen und entscheidend an dem Aufstande Theil genommen, um nicht auch hier geächtet zu sein; auch hier drohte ihm Verurtheilung und Verhaftung. Er war, unvorsichtig genug, am hellen Morgen in das Schloß gekommen; noch befand sich die Escorte, welche die Verwundeten gebracht, im Dorfe, und jeden Augenblick konnten die Bedeckungsmannschaften mit den übrigen Flüchtlingen Wilicza passiren – es galt Vorsichtsmaßregeln zu treffen.
Waldemar stand am Fenster, so weit als möglich von der Thür entfernt. Er wollte nichts hören von der Unterredung, von der man ihn ausgeschlossen, und es war auch nicht möglich – die dicken Sammetfalten der Portière fingen jeden Laut auf. Aber die Zeit drängte. Mehr als eine halbe Stunde war verstrichen und die Unterredung da drinnen währte noch immer fort. Weder die Fürstin noch Leo schienen daran zu denken, daß mit jeder Minute die Gefahr des Letzteren wuchs. Waldemar entschloß sich endlich, sie zu unterbrechen. Er trat wieder in den Salon, blieb aber befremdet stehen, denn statt der erwarteten erregten Scene fand er das tiefste Schweigen.
Die Fürstin war verschwunden und die vorhin offen stehende Thür zu ihrem Arbeitscabinet fest geschlossen. Leo befand sich allein im Zimmer. Er lag in einem Sessel, den Kopf tief eingewühlt in die Kissen, ohne sich zu regen, ohne den Eintretenden zu bemerken, wie gebrochen und vernichtet. Waldemar trat zu ihm und nannte seinen Namen.
„Ermanne Dich!“ mahnte er leise und eindringlich. „Sorge für Deine Sicherheit! Wir haben jetzt hundertfache Beziehungen zu L.; ich kann das Schloß nicht vor Besuchen schützen, die Dir gefährlich sind. Ziehe Dich für’s Erste in Deine eigenen Zimmer zurück! Sie können ja nach wie vor als verschlossen gelten, und Pawlick ist zuverlässig. Komm!“
Langsam hob Leo das Gesicht empor; es war erdfahl – jeder Blutstropfen schien daraus gewichen zu sein. Er blickte den Bruder groß und starr an, ohne ihn zu verstehen. Sein Ohr fing nur mechanisch das letzte Wort auf.
„Wohin?“ fragte er.
„Vor allen Dingen nur fort aus diesen Hauptgemächern, die so Vielen zugänglich sind! Komm – ich bitte Dich.“
Leo erhob sich ebenso mechanisch, wie er vorhin zugehört. Er sah sich im Zimmer um, so fremd, als kenne er nicht die vertrauten Räume und müsse sich erst besinnen, wo er sei, nur als sein Auge auf die geschlossene Thür zum Gemach seiner Mutter fiel, zuckte er zusammen.
„Wo ist Wanda?“ fragte er endlich.
„In ihrem Zimmer. Willst Du sie sehen?“
Der junge Fürst machte eine abwehrende Bewegung: „Nein! Sie würde mich auch mit Abscheu, mit Verachtung zurückstoßen – ich habe genug an dem einen Male.“
Er stützte sich schwer auf den Sessel; die sonst so helle, jugendfrische Stimme klang matt und gebrochen. Man sah es, die Scene mit der Mutter war ihm an’s Leben gegangen.
„Leo,“ sagte Waldemar ernst, „hättest Du mich nicht so furchtbar gereizt, ich hätte Dir die Nachricht nicht so schonungslos mitgetheilt. Aber Du brachtest mich auf’s Aeußerste mit jenem verhängnißvollen Worte.“
„Sei ruhig! Die Mutter hat es mir zurückgegeben. Ich bin ihr jetzt der Verräther, der Ehrlose. Ich habe das anhören müssen und – schweigen.“
Es lag etwas Unheimliches in dieser starren, dumpfen Ruhe des sonst so leidenschaftlich aufbrausenden Jünglings; die eine halbe Stunde schien seine ganze Natur verändert zu haben.
„Folge mir!“ drängte Waldemar. „Du mußt doch für’s Erste noch im Schlosse bleiben.“
„Nein, ich will nach W. hinüber, sofort. Ich muß wissen, was aus meinem Oheim und den Seinigen geworden ist.“
„Um Gotteswillen!“ rief der Bruder entsetzt. „Du willst doch nicht den Wahnsinn begehen, jetzt am hellen Tage die Grenze zu passiren? Das wäre ja offenbarer Selbstmord.“
„Ich muß,“ beharrte Leo. „Ich kenne den Ort, wo der Uebergang noch möglich ist. Habe ich heute Morgen den Weg gefunden, so werde ich ihn auch zum zweiten Male finden.“
„Und ich sage Dir: Du kommst jetzt nicht hinüber. Seit heute Morgen ist die Bewachung verstärkt auch auf unserer Seite, und drüben steht eine dreifache Postenkette. Sie haben Befehl, Jeden niederzuschießen, der die Losung nicht kennt. Und Du kommst in jedem Falle zu spät. In W. ist die Entscheidung längst gefallen.“
„Gleichviel!“ brach Leo aus, plötzlich aus seiner Erstarrung in die wildeste Verzweiflung übergehend. „Irgend einen Kampf wird es da drüben doch noch geben, nur einen einzigen, und mehr brauche ich nicht. Wenn Du wüßtest, was die Mutter mir angethan hat mit ihren furchtbaren Worten! Sie weiß es ja, daß, wenn ich den Untergang der Meinigen verschuldete, ich [799] auch den ganzen Fluch, die ganze Höhe dieses Bewußtseins tragen muß; sie hätte barmherzig sein müssen, und sie hat mich – – O mein Gott, es ist doch meine Mutter, und ich bin so lange ihr Alles gewesen.“
Waldemar stand erschüttert da vor diesem Ausbruche des Schmerzes. „Ich will Wanda rufen,“ sagte er endlich. „Sie wird –“
„Sie wird das Gleiche thun. Du kennst nicht die Frauen unseres Volkes. Aber eben deshalb“ – es brach mitten durch die Verzweiflung des jungen Fürsten etwas wie ein düsterer Triumph –, „eben deshalb hoffe Du nichts von ihnen! Wanda wird Dir nie angehören, niemals, auch über meine Leiche hinweg nicht. Und wenn sie Dich liebt, und wenn sie stirbt an dieser Liebe – Du bist der Feind ihres Volkes; Du hilfst mit an seiner Unterdrückung; das spricht Dir bei ihr das Urtheil. Eine Polin wird nicht Dein Weib. Und es ist gut, daß es so ist,“ fuhr er, tief aufathmend, fort. „Ich hätte nicht ruhig sterben können, mit dem Gedanken, sie in Deinen Armen zu wissen; jetzt kann ich’s – sie ist Dir verloren wie mir.“
Er wollte forteilen, blieb aber plötzlich wie gebannt stehen. Einige Secunden lang schien er zu schwanken, dann ging er langsam, zögernd zu der Thür, die in das Arbeitscabinet der Fürstin führte.
„Mutter!“
Drinnen blieb Alles still – nichts regte sich.
„Ich wollte Dir Lebewohl sagen.“
Keine Antwort.
„Mutter!“ die Stimme des jungen Fürsten bebte in angstvollem, herzzerreißendem Flehen. „Laß’ mich nicht so von Dir gehen! Wenn ich Dich nicht sehen soll, so sage mir wenigstens ein Wort des Abschiedes, nur ein einziges! Es ist ja das letzte. Mutter, hörst Du mich nicht?“
Er lag auf den Knieen vor der verriegelten Thür und preßte die Stirn dagegen, als müsse sie sich ihm aufthun. Es war vergebens – die Thür blieb geschlossen, und von drinnen kam kein Laut. Die Mutter hatte kein Abschiedswort für ihren Sohn, wie die Fürstin Baratowska keine Verzeihung für sein Vergehen hatte.
Leo erhob sich von den Knieen. Sein Antlitz war wieder starr wie vorhin, nur um die Lippen zuckte ein Ausdruck von so wildem bitterem Weh, wie er es wohl noch niemals in seinem Leben empfunden. Er sprach kein Wort; er nahm schweigend den Mantel auf, den er vorhin abgeworfen, legte ihn um die Schultern und ging dann der Thür zu. Der Bruder versuchte vergebens ihn zurückzuhalten. Leo drängte ihn bei Seite.
„Laß mich! Sage Wanda – nein, sage ihr nichts! Sie liebt mich ja nicht; sie hat mich ja aufgegeben um Deinetwillen. Leb wohl!“
Er stürmte fort. Waldemar stand einige Minuten lang völlig rathlos. Endlich schien er einen Entschluß zu fassen und schritt rasch durch das Nebengemach bis in das Vorzimmer der Fürstin. Dort stand der Haushofmeister Pawlick mit verstörter Miene. Er war sogleich, als er von der Ankunft seiner verwundeten Landsleute hörte, zu ihnen geeilt und hatte noch vor dem Schloßherrn die Schreckensnachricht erfahren. Als er damit in das Schloß zurückkehrte, noch ungewiß, wie er sie seiner Gebieterin mittheilen solle, stand auf einmal am Eingange Fürst Baratowski selbst vor ihm. Aber er ließ dem erschrockenen alten Manne keine Zeit zu irgend einer Erklärung; er warf ihm nur im Vorbeieilen die hastige Frage nach seinem Bruder, nach der Gräfin Morynska zu und verschwand dann in den Gemächern seiner Mutter. Noch wußte Pawlick nicht, ob sein junger Gebieter bereits von dem Geschehenen unterrichtet sei, oder nicht; erst die Art, wie Leo jetzt bei der Rückkehr an ihm vorbeistürmte, zeigte ihm, daß er Alles wußte.
„Pawlick,“ sagte Waldemar herantretend. „Sie müssen dem Fürsten Baratowski folgen, auf der Stelle. Er steht im Begriff, eine Tollkühnheit zu begehen, die ihm das Leben kosten wird, wenn er sie ausführt. Er will jetzt, bei Tage, über die Grenze.“
„Gott im Himmel!“ rief der Haushofmeister entsetzt.
„Ich kann ihn nicht zurückhalten,“ fuhr Nordeck fort, „und ich darf mich nicht offen an seiner Seite zeigen, das würde ihn noch mehr gefährden, und doch muß er in seiner jetzigen Stimmung irgend Jemand zur Seite haben. Ich weiß, Sie reiten noch gut, trotz Ihrer Jahre, nehmen Sie ein Pferd! Der Fürst ist zu Fuß. Sie müssen ihn noch auf diesseitigem Gebiet erreichen, denn Sie kennen jedenfalls die Richtung, die er einschlägt, die Stelle, wo die geheime Verbindung mit den Insurgenten drüben noch besteht. Ich fürchte, sie ist in der Nähe der Grenzförsterei.“
Pawlick blieb die Antwort schuldig; er durfte nicht bejahen, aber es fehlte ihm in diesem Augenblick der Muth, die Wahrheit abzuleugnen. Waldemar verstand sein Schweigen.
„Und gerade dort ist die Bewachung jetzt am schärfsten,“ rief er heftig. „Ich erfuhr es durch unsere Officiere. Wie mein Bruder es heute Morgen möglich gemacht hat, hindurch zu kommen, weiß ich nicht; zum zweiten Mal gelingt es ihm nicht. Eilen Sie ihm nach, Pawlick! Er soll den Uebergang nicht dort versuchen, an jeder anderen Stelle, nur dort nicht. Er soll warten, sich verbergen bis zur Dunkelheit, wenn es nicht anders geht, in der Försterei selbst. Inspector Fellner ist jetzt dort; er hält zu mir, aber er verräth Leo auf keinen Fall. Eilen Sie!“
Er hatte nicht nöthig, anzutreiben. Die Todesangst um seinen jungen Gebieter stand deutlich genug auf dem Gesichte des alten Mannes.
„In zehn Minuten bin ich fertig,“ sagte er. „Ich reite, als gälte es mein eigenes Leben.“
Er hielt Wort. Kaum zehn Minuten später ritt er aus dem Schloßhofe. Waldemar, der oben am Fenster stand, athmete auf.
„Das war das Einzige, was noch übrig blieb. Vielleicht erreicht er ihn noch, und dann ist wenigstens das Schlimmste abgewendet.“ –
Vier, fünf Stunden waren vergangen und noch immer keine Nachricht eingetroffen. Sonst, wenn irgend etwas an der Grenze geschah, drängten sich die Botschafen. Alles, was von dort nach L. wollte, mußte Wilicza passiren und machte mit seiner Neuigkeit wenigstens auf einige Minuten unten im Dorfe Halt – heute war die Verbindung wie abgeschnitten. Unruhig ging Waldemar in seinem Zimmer auf und nieder; er bemühte sich, Pawlick’s Fernbleiben für ein gutes Zeichen zu nehmen. Jedenfalls hatte Dieser Leo erreicht und blieb nun an seiner Seite, so lange sich der junge Fürst noch auf diesseitigem Gebiete befand; vielleicht waren sie Beide in der Försterei geborgen. Da endlich – es war schon spät am Nachmittage – erschien der Administrator; er trat eilig, ohne jede vorherige Anmeldung, bei dem jungen Gutsherrn ein.
„Herr Nordeck, ich möchte Sie bitten, nach dem Gutshofe hinüber zu kommen,“ sagte er. „Ihre Anwesenheit dort ist dringend nothwendig.“
Waldemar sah auf. „Was giebt es? Ist irgend etwas mit den Verwundeten vorgefallen?“
„Das nicht!“ versetzte Frank ausweichend. „Aber ich möchte Sie doch ersuchen, selbst zu kommen. Wir haben Nachrichten von der Grenze erhalten. Drüben bei W. soll es nun wirklich zur Entscheidung gekommen sein; es ist heute Morgen dort eine förmliche Schlacht geliefert worden – gegen das Morynskische Corps.“
„Nun, und der Ausgang?“ fragte Nordeck in äußerster Spannung.
„Die Insurgenten haben eine furchtbare Niederlage erlitten. Es heißt, es sei dabei Verrath oder Ueberfall im Spiele gewesen. Sie haben sich gewehrt wie Verzweifelte, mußten aber doch schließlich der Uebermacht erliegen. Was von ihnen noch lebt, das ist zersprengt und nach allen Himmelsrichtungen geflohen.“
„Und der Führer? Graf Morynski?“
Der Administrator sah schweigend zu Boden.
„Ist er todt?“
„Nein, aber schwer verwundet in den Händen des Feindes.“
„Auch das noch!“ murmelte Waldemar. Er selbst hatte dem Oheim stets fern gestanden, aber Wanda! Er wußte, mit welcher glühenden leidenschaftlichen Zärtlichkeit sie an dem Vater hing. Wäre dieser im Kampfe gefallen, sie hätte es leichter ertragen, als ihn einem solchen Loose preisgegeben zu sehen und durch wen preisgegeben! Wer hatte die Niederlage jenes Corps verschuldet, das ungewarnt, ohne jede Deckung, einem Angriffe [800] ausgesetzt war, gegen den es sich durch die Vorhut des Fürsten Baratowski gesichert glaubte?
Waldemar raffte seine ganze Fassung zusammen. „Woher haben Sie die Nachrichten? Sind sie zuverlässig, nicht blos Gerüchte?“
„Der Haushofmeister Pawlick brachte sie mir,“ erklärte der Administrator. „Er ist drüben –“
„Bei Ihnen? Und Ihnen bringt er die Nachrichten, während er weiß, daß ich hier seit Stunden auf seine Rückkehr harre? Weshalb kommt er nicht in’s Schloß?“
Frank’s Auge suchte wieder den Boden. „Er wagte es nicht – die Frau Fürstin, die junge Gräfin hätten am Fenster sein können; sie müssen doch erst vorbereitet werden – Pawlick ist nicht allein, Herr Nordeck.“
„Was ist geschehen?“ brach Waldemar ahnend aus. „Mein Bruder –“
„Fürst Baratowski ist gefallen,“ sagte der Administrator leise. „Pawlick bringt die Leiche.“ –
Waldemar schwieg. Er legte nur einige Secunden lang die Hand über die Augen, dann raffte er sich gewaltsam auf und eilte hinüber nach dem Gutshofe, Frank ihm nach. Drüben im Hause des Letzteren trat ihnen Pawlick entgegen. Er blickte scheu zu seinem Herrn auf, den er, der treu ergebene Diener der Fürstin, als Feind zu betrachten gewohnt war, aber der Ausdruck Nordeck’s zeigte ihm, was ihm schon der heutige Morgen gezeigt hatte, daß es nur noch der Bruder seines jungen Gebieters sei, der jetzt vor ihm stand, und da brach die Fassung des alten Mannes zusammen.
„Unsere Fürstin!“ jammerte er, „sie wird es nicht überleben und Gräfin Wanda auch nicht.“
„Sie haben den Fürsten also nicht mehr erreicht?“ fragte Waldemar.
„Doch,“ berichtete Pawlick mit halb gebrochener Stimme. „Ich holte ihn noch rechtzeitig ein und überbrachte ihm die Warnung. Er wollte nicht darauf hören, wollte trotzalledem den Uebergang versuchen; er meinte, das Waldesdickicht werde ihn schützen. Ich bat; ich lag auf den Knieen vor ihm und fragte ihn, ob er sich denn von den Grenzposten niederschießen lassen wolle, wie ein gehetztes Wild. Das half endlich. Er willigte ein, zu warten bis zum Abende. Wir überlegten eben, ob wir die Einkehr in die Försterei wagen dürften, da begegnete uns –“
„Wer? Eine Patrouille?“
„Nein, der Pächter von Janowo. Von dem war kein Verrath zu besorgen; er hat von jeher zu uns gehalten. Er hatte Vorspanndienste bei den Truppen leisten müssen und kam nun zurück von der Grenze. Bei der Gelegenheit hatte er gehört, was man sich dort erzählte, drüben bei W. sei es heute zum Kampfe gekommen, und der sei noch jetzt nicht entschieden, das Morynski’sche Corps wehre sich verzweifelt gegen einen Ueberfall. Da war es aus mit der Vernunft und Besinnung unseres jungen Fürsten; er hatte nur den einen Gedanken noch, nach W. hinüber zu kommen und sich mit in den Kampf zu werfen. Wir konnten ihn nicht halten – er hörte auf Keinen mehr. Eine halbe Stunde war er fort, da hörten wir Schüsse fallen, erst zwei rasch hintereinander, dann ein halbes Dutzend auf einmal, und dann –“ der alte Mann konnte nicht weiter reden; die Stimme versagte ihm, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus seinen Augen.
„Ich habe die Leiche mitgebracht,“ sagte er nach einer Pause. „Der Herr Rittmeister, der gestern hier im Schlosse war, hat es mir ausgewirkt von denen da drüben. Mit dem Todten konnten sie ja doch nichts mehr anfangen. Aber ich wagte nicht, sogleich mit ihm in’s Schloß zu kommen. Wir haben ihn einstweilen dort niedergelegt.“
Er wies nach den gegenüberliegenden Zimmer. Waldemar gab ihm und dem Administrator einen Wink zurückzubleiben und trat allein in das bezeichnete Gemach. Grau und trübe fiel das schon im Schwinden begriffene Tageslicht herein und auf die leblos hingestreckte Gestalt des jungen Fürsten. Schweigend stand der Bruder an der Leiche. Das schöne Antlitz, das er so strahlend von Leben und Glück gesehen hatte, war jetzt starr und kalt; die flammenden dunklen Augen waren geschlossen, und die Brust, die so hoch aufschwoll von Freiheits- und Zukunftsträumen, trug jetzt die Todeswunde. Was das heiße, wilde Blut des Jünglings verbrochen, das hatte auch das Blut gesühnt, das aus der zerschossenen Brust quoll; es röthete in unheimlich dunklen Flecken die Kleidung. Noch vor wenig Stunden stürmten in dieser nun entseelten Hülle alle Leidenschaften der Jugend, Haß und Liebe, Eifersucht und Rachegedanken, Verzweiflung über die eigene nicht gewollte That mit ihren entsetzlichen Folgen – jetzt war das Alles vorbei, erstarrt in der eisigen Ruhe des Todes. Nur Eines stand noch auf dem stillen bleichen Antlitz, stand so fest darin ausgeprägt, als sei es eingegraben für ewig, jener Zug bitteren Schmerzes, der um die Lippen des Sohnes zuckte, als seine Mutter ihm das letzte Lebewohl verweigerte, als sie ihn ohne ein Wort der Verzeihung, des Abschiedes von ihrer verschlossenen Thür gehen ließ. Alles Andere sank mit dem Leben zusammen. Dieses Weh hatte der Fürst Baratowski mit hinübergenommen in den Todeskampf, in den letzten Schimmer des Bewußtseins – selbst der Schleier des Grabes vermochte es nicht zu decken.
Waldemar verließ das Gemach, stumm und düster, wie er es betreten hatte, aber als er den draußen Harrenden entgegentrat, sahen sie es doch, daß er den Bruder geliebt hatte.
„Bringt die Leiche hinüber in’s Schloß!“ befahl er. „Ich gehe voraus – zu meiner Mutter.“
Lange bevor in Deutschland die große Bewegung, welche wir heute unter dem Namen des Culturkampfes begreifen, zu einer Staatsangelegenheit wurde und gleichsam die längstersehnte Sanction durch die Regierung erhielt, hatte Wilhelm von Kaulbach mit seinem großen Tendenzbilde „Peter Arbues“ den alten, stets glimmenden Brand neu angefacht und damit zum ersten Male wieder von einer alten Gerechtsame der Kunst ausgiebigen Gebrauch gemacht. Sein zur historischen Satire hinneigender Sinn und seine aufgeklärte Weltanschauung ließen ihn auch ferner, nachdem er den großen Schlag geführt, nicht ruhen, und mit unermüdlicher Erbitterung hat er bis zu seines Lebens Ende ein fliegendes Blatt um das andere unter die Menschen geworfen, eine ganze Sammlung gezeichneter Kernsprüche von einschneidender Ironie, welche einmal einem späteren Geschichtsschreiber als die belehrendste Illustration zu der Bewegung unserer Tage erscheinen werden. Sie flogen wie Pfeile in das Lager der Feinde, und keiner verfehlte sein Ziel; die feindliche Stellung der Parteien zu einander wurde verschärft, und als endlich der Kampf offen losbrach, dessen allerdings nicht nahem Ende wir heute getrost entgegensehen, konnte sich Kaulbach sagen, daß er nicht unter den Letzten von Denen gewesen sei, welche diesen wohlthätigen, wenn auch schmerzhaften Proceß, der uns über kurz oder lang doch einmal bevorstand, hatten heraufbeschwören helfen.
Seit Kaulbach’s Vorgang klingt in der Production der deutscher Kunst da und dort, bald verhüllt, bald offen hervortretend, dieselbe Tendenz an, und auch das Sculpturwerk, welches wir heute den Lesern der „Gartenlaube“ vorführen, gehört, allerdings in erhöhter und idealer Fassung seiner Absicht, demselben Gebiete an. Dieser Faun mit dem Mephistophelesblicke hält sich die edle Maske des Zeus vor das eigene Schelmengesicht, auf daß die aufblickende Menschheit ihn für den gerechten und milden Weltenlenker selber halten möge. Die Anwendung auf die gegenwärtigen Verhältnisse liegt nahe genug und bedarf keiner Ausführung. Mit bitterer Deutlichkeit aber hatte sie der Bildhauer, Professor Christian Roth in München, in dem Entwurfe zu einem Monumentalwerke, dessen oberste Bekrönung diese Faunsgestalt bildete, nahegelegt.
Als die Bewohner der baierischen Hauptstadt eines schönen Tages in den Kunstverein kamen, fanden sie da den Entwurf zu einem Brunnen, der die eine Hälfte der Besucher höchlich ergötzte, die andere leidenschaftlich ärgerte, ob der aufgewendeten Kunst aber sich jedem Tadel entzog. Vor einem Wasserbecken erhob
[801][802] sich in stylvoller architektonischer Umrahmung die Fläche einer Gefängnißthür, aus deren Guckloche ein eingesperrter Würdenträger den verdrießlichen Kopf als Wasserspeier streckte. Rechts und links auf den Verstärkungen der Pilaster saßen zwei Kindergenien, deren einer in dummtrotzigem Ausdrucke die lichtfeindliche Putzscheere, der andere mit frömmelnd bittendem Blicke den geldheischenden Klingelbeutel handhabte. Ueber dem Ganzen dann thronte der Faun mit der Zeusmaske. Der architektonische Aufbau war trefflich, die Figuren sprechend im Ausdrucke und meisterlich behandelt, ja der Faun zuoberst ein ausgemachtes Kunstwerk, wie es nur ein bedeutender und origineller Meister erfinden und ausführen kann. Stadtklatsch und Zeitungskrieg folgten wie immer, wenn man der Gesellschaft „am wunden Zahne wackelt“, und dauerten an, bis irgend ein anderes Ereigniß den boshaften Faun ablöste.
Von Kunstwerken bleibt auf die Länge der Zeit nichts bestehen als die Kunst; jeder andere Reiz, mag er nun dem Formengeschmack oder dem Gedankengebiete angehören, schwindet mit der Erinnerung an die Zeit und Umstände seiner Entstehung. Wenn man nun bei Roth’s Faun von aller Deutung abstrahirt und ihn allein für sich auf seinen Kunstwerth hin ansieht, so verliert er nicht nur nichts, sondern die in ihm verkörperte plastische Idee kommt erst recht zur Wirksamkeit. Mit einem originellen schöpferischen Geiste verbindet Roth die größte Kenntniß des Nackten, wie man es von dem Verfasser des anatomischen Atlasses nicht anders erwarten kann. Es sind jetzt zwölf Jahre, daß Roth, unbefriedigt von den literarischen und instructiven Hülfsmitteln seiner Kunst zum Studium der Anatomie, den Entschluß faßte, selbst Hand anzulegen und auf dem Umwege durch die anatomische Anstalt in München eine höhere Stufe in seiner Kunst zu erklimmen und damit auch Anderen einen bequemeren Weg zu bahnen. Bei den Professoren der medicinischen Facultät fand er die lebhafteste Unterstützung, und nach den für ihn als Vorlage gearbeiteten Muskelpräparaten schuf er nun seine erste Lehrfigur, welche alsbald in den Besitz der Akademie überging. Mit gereifterem Können und Wissen ging er nach weiteren Studien an die Herstellung der Musterfigur eines Athleten im Acte des „Stemmens“, den er in zwei Exemplaren mit und ohne Epidermis (als Muskelpräparat) ausführte. Nach diesen Figuren wird gegenwärtig auf allen Akademien und Kunstschulen in Deutschland und England Anatomie gelehrt, und auch dem anatomischen Atlas (Stuttgart, Ebner und Seubert), den Roth später in zwei Theilen herausgab, sind sie in verschiedenen Positionen zu Grunde gelegt. Nach diesen didaktischen Werken kehrte der Künstler, der unterdessen den Titel eines Professors der Akademie erhalten hatte, zur Ausübung frei schaffender Kunst zurück und war zunächst im Genre- und Portraitfache thätig. In dieser Zeit entstanden die Büsten verschiedener Koryphäen der Universität, ausgezeichnet durch ihre wohlüberlegte stechend-scharfe Charakteristik bei sorgfältiger Ausführung und getragen von einer breiten, fast wuchtigen Auffassung. Der markige Kopf des Anatomen Bischoff mit seiner selten großartigen und ernsten Architectur der Gesichtsformen mag den Besuchern der Wiener Weltausstellung wohl erinnerlich sein. Die Büste wurde nebst der des Zoologen Siebold in der Münchener Anatomie aufgestellt.
Von den Genrescenen, die Roth mit größter Originalität zu erdenken und auszuführen weiß, möchte der „Kampf um das Frühstück“, gegenwärtig im Besitze des Herzogs Karl Theodor von Bayern, den Preis verdienen. Das Stück spielt sich ab zwischen einem nackten Knaben, einer unverschämten Gans und einem angebissenen Butterbrod und steht an Lebendigkeit der Erfindung, an wirklich plastischer Durchlebung des Motivs und geistreicher Behandlung der Oberfläche vermöge ausschließlicher Meißelarbeit über dem Meisten, was in dieser Gattung von deutschen Künstlern geschaffen wird. Aber manche Entwürfe, die im Laufe der Zeit bekannt geworden sind, zeigen, daß Roth’s eigentliche Aufgaben höher liegen, als das Gebiet des Genre, daß seine einzige Kenntniß der Anatomie, seine Fähigkeit zur Erfindung bewegter Gestalten ihn nach der monumentalen Sculptur hindrängen. Man muß sie sich häufig als Kolossalfiguren denken (z. B. den eben besprochenen Faun), wie sie eine Parkanlage oder sonst einen geschlossenen Landschaftsausschnitt beherrschen, wo dann die freie Natur und das Kunstwerk, wie in der besten Zeit des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts, sich gegenseitig zur hebenden Folie dienen müssen. Ganz besonders war des Künstlers „Wacht am Rhein“ in diesem Sinne gedacht. Es war das nicht die herkömmliche drapirte Frauengestalt mit Fahne, Schwert und Adler, sondern ein auf einer Felsspitze wie auf einem natürlichen Luginsland sitzender Hüne, das Bärenfell um Kopf und Schultern, die Keule auf den Knieen im sicheren Bewußtsein seiner Stärke ruhig hinausblickend in Feindesland. Kraft und Ruhe sprachen sich in jedem Muskel aus, und doch saß er da, sprungbereit, als ob er jeden Augenblick auffahren und seine Genossen zu den Waffen rufen könnte. Mit solchen Werken beschränkte sich der Künstler freilich gleich von vornherein die Zahl der Bewunderer; denn ein französischer Mäcen wird sich schwerlich die erwähnte Teutonengestalt, ein deutscher Kirchenfürst kaum den bedeutungsvollen Faun für seinen Park in’s Große übertragen lassen. – Roth’s letzte große Arbeit ist durch ihre äußere Bestimmung allerdings solchen Aufgaben verwandt. Es ist dies die Kolossalbüste des verstorbenen Prinzen Karl von Bayern, welche für den Park des Schlosses zu Tegernsee, wo der greise Prinz die letzten Jahre seines Lebens verbrachte, bestimmt ist. Sie ist sicher Roth’s Meisterstück im Portraitfache und sieht gegenwärtig in Carrara, wo der Künstler zu diesem Zwecke weilt, ihrer Vollendung entgegen.
Seit fünfunddreißig Jahren kämpfe ich in meiner Monographie über Karlsbad,[1] die bereits in zwölfter Auflage erschienen ist, gegen den genannten Feind, und – ich muß es mit einiger Genugthuung sagen – nicht ganz ohne Erfolg; denn die Reihen des Feindes sind schon bedeutend gelichtet. Aber demungeachtet cursiren noch immer in ziemlich weiten Kreisen, und zwar nicht blos unter Ungebildeten, sondern zum Theil sogar unter sonst hochgebildeten Besuchern unseres Curortes, ja – ich scheue mich nicht, es recht laut zu sagen – sogar noch bei einer nicht eben geringen Anzahl von Aerzten so große und zum Theile geradezu unbegreifliche Vorurtheile, daß es sich wohl der Mühe lohnt, einmal in einem vielgelesenen und in allen Schichten des Volks verbreiteten Blatte gegen den besagten Feind anzukämpfen, da medicinische Monographien relativ doch nur von Wenigen gelesen werden.
Das wichtigste dieser Vorurtheile ist aber das Vorurtheil in Betreff der vermeintlichen Gefährlichkeit der Mineralquellen von Karlsbad. Die Furcht vor Karlsbad ist hier und da so arg, daß man es für gerathen hält, sein Testament zu machen, bevor man die Reise in dieses höchst gefährliche Bad antritt, und man ist der Meinung, daß man es nur als letzten Zufluchtsort, wenn alle übrigen Mittel fehl geschlagen, in Anspruch nehmen dürfe. Man glaubt, daß man davon bei der geringsten Unachtsamkeit, zum Beispiel durch ein Schläfchen nach Tische, oder den Genuß der geringsten Menge Butter, ganz besonders aber roher Früchte, namentlich der Erdbeeren oder Kirschen oder wohl gar des leibhaftigen „Gottseibeiuns“, des – Salats nämlich, unfehlbar den Tod haben müsse, wobei man sich gewöhnlich das erbauliche Histörchen erzählt, daß ein Engländer – denn freilich kann ja nur ein Engländer ein solcher Wagehals sein – nach dem Genusse von blos drei Kirschen augenblicklich ein Kind des blassen Todes war, indem sich, wie das blöde Vorurtheil glaubt, die Kirschen, wenn der Karlsbader Curgast sie genießt, in das heftigste Gift verwandeln.
Was in aller Welt, fragen wir im Ernste, kann wohl in [803] diesem Mineralwasser gefährlich sein? Kennen wir etwa noch nicht die mineralischen Bestandtheile desselben? Sollte die Chemie in der That noch auf einem so niedrigen Standpunkte stehen, daß sie nicht im Stande wäre, bis jetzt uns den chemischen Charakter des Mineralwassers aufzuschließen? Ich könnte leider einen sehr namhaften belletristischen Schriftsteller nennen, der dieses in Wahrheit noch glaubt. Dabei kann man indeß nur mit den Achseln zucken, wenn das Vorzeigen der schon so oft gemachten chemischen Analysen nicht überzeugend wirkt. Den Belehrungsfähigen aber fragen wir: Welcher der in der Analyse aufgezählten chemischen Bestandtheile ist denn beim Einzelgenuß etwa gefährlich? Ist es das schwefelsaure Natron (Glaubersalz), das in größter Menge vorhanden? Ist es das kohlensaure Natron, welches der Menge nach die zweite Stelle einnimmt und bekanntlich den Hauptbestandtheil der Brausepulver bildet? Oder ist es etwa das Kochsalz, der der Menge nach dritte Bestandtheil? Oder der kohlensaure Kalk und die kohlensaure Magnesia, welche wir täglich mit jedem Trinkwasser in vielleicht ebenso großer Menge genießen? Oder einer der in nur äußerst geringen Mengen vorhandenen übrigen mineralischen Bestandtheile, als da sind: das Eisen, die Kieselerde, Thonerde, Strontian, Mangan? Oder endlich einer der in fast homöopathischer Verdünnung vorhandenen Stoffe, wie Iod, Brom, Lithion, Borsäure, Rubidium und Cäsium? Oder ist es etwa das darin vorhandene kohlensaure Gas, das uns im Champagner und den Sodawässern so trefflich mundet?
Möglich ist es ja, daß durch den übermäßigen Gebrauch einzelner der genannten mineralischen Bestandtheile, wie z. B. des kohlensauren Natrons, mit welchem in der That häufig Mißbrauch getrieben wird, nachtheilige Wirkungen entstehen können, aber diese genannten Bestandtheile werden nicht nur mit der täglich gewöhnlich getrunkenen Menge des Karlsbader Mineralwassers, sondern selbst für den Verlauf einer vierwöchentlichen Cur berechnet, in relativ so geringer Mengen genossen, daß sie dadurch unmöglich nachtheilig wirken können, abgesehen davon, daß ein großer Theil derselben, ohne in die Säftemasse aufgenommen worden zu sein, täglich mit den Excrementen wieder ausgeschieden wird. – Berechnen wir die Wassermenge, die ein Curgast täglich trinkt, zu acht Bechern (die meisten trinken jetzt sogar nur vier bis sechs Becher) und den Becher gleich sechs Unzen[2], so beträgt die Menge der in einem Tage consumirten festen Bestandtheile (d. i. drei Pfund Mineralwasser, wovon ein Pfund zweiundvierzig Gran feste Bestandtheile enthält) zwei Drachmen und sechs Gran, mithin in dreißig Tagen (d. i. die gewöhnliche Curzeit) sieben Unzen und sieben Drachmen. – Davon vertheilen sich die einzelnen Bestandtheile (in runder Zahl berechnet) nahezu in folgender Weise. Man consumirt
schwefels. Kali | in 1 Tag | 4½ Gr., | in 30 Tg. | – Unz. | 2 Dr. | 15 Gr. |
schwefels. Natron | „ 1 „ | 54 „ | „ 30 „ | 3 „ | 3 „ | – „ |
kohlens. Natron | „ 1 „ | 30 „ | „ 30 „ | 1 „ | 7 „ | – „ |
salzs. Natron | „ 1 „ | 24 „ | „ 30 „ | 1 „ | 4 „ | – „ |
kohlens. Kali | „ 1 „ | 7½ „ | „ 30 „ | – „ | 3 „ | 45 „ |
Kieselerde | „ 1 „ | 2¼ „ | „ 30 „ | – „ | 1 „ | 7½ „ |
kohlens. Magnesia | „ 1 „ | 1½ „ | „ 30 „ | – „ | – „ | 45 „ |
Eisenoydul | „ 1 „ | 3/40 „ | „ 30 „ | – „ | – „ | 2½ „ |
Der Rest von einer Drachme und sechs Gran vertheilt sich auf die übrigen minimalen Bestandtheile, wovon wieder der bei weitem größere Theil auf kohlensaures Strontian und Manganoxydul, phosphorsaure Thonerde und Kalk, Fluorkalium kommt; die übrigen noch entdeckten Bestandtheile: Iodkalium, Bromnatrium, Borsäure, Rubidium, Cäsium etc. sind nur in fast homöopathischer Menge vertheilt.
Jeder Unbefangene wird sonach wohl zugeben müssen, daß das Karlsbader Mineralwasser durch die Art und Menge seiner mineralischen Bestandtheile unmöglich gefährlich sein kann, und daß es nicht etwa gewisse, gewöhnlich beim Curgebrauche verbotene Speisen, wozu ganz besonders die berüchtigte Dreizahl: Butter, rohes Obst und Salat gehört, in gefährliche Gifte verwandelt.
Obwohl nun das Karlsbader Wasser durch seine mineralischen und flüchtigen Bestandtheile entschieden nicht gefährlich ist, und zwar unter keinen Umständen, so muß doch zugegeben werden, daß es durch eine seiner Eigenschaften bei unvorsichtigem Gebrauche gefährlich werden könnte, und diese Eigenschaft ist sein ziemlich hoher Wärmegrad. Aber diese Gefährlichkeit liegt wieder nicht in einer specifischen Eigenthümlichkeit dieser Wärme, sondern einzig und allein in dem unvorsichtigen Gebrauche.
Es kann daher wohl geschehen, daß, wenn Jemand mit leicht beweglichem Blutgefäßsysteme sechs bis acht Becher Sprudel in viertelstündigen Zwischenräumen trinkt, er dadurch Blutwallung, Blutandrang nach dem Kopfe, Herzklopfen mit Beängstigung und dergleichen bekommen kann, aber ganz dieselben Erscheinungen werden eintreten, wenn ein so beschaffener Kranker oder Gesunder eben so viele Becher ganz gewöhnliches Trinkwasser, bis zur Temperatur des Sprudels künstlich erwärmt, trinkt. So sagt schon Dr. Tralles (in seinem 1756 erschienenen Werke über Karlsbad, in welchem er in mehreren Capiteln zu beweisen sucht, daß „der Brudel kein stark wirkendes, sondern ein sehr gelindes Hülfsmittel sei“) sehr naiv und treffend: „Was die Hitze anbelangt, so getraue ich mich schier allen Menschen, wenn sie Lust haben, hinter einander eine eben so große Menge Theewassers in einem warmen Sommertage und in eben dem Grade der Wärme, als man den Brudel zu trinken gewohnt ist, zu sich zu nehmen, eben so viel Wärme zu verschaffen.“
Gewiß ist es, daß man Karlsbad wie jedes andere Heilmittel mit einer gewissen Vorsicht und streng methodisch gebrauchen muß, aber ebenso gewiß ist es, daß es dann nicht nur eines der mildesten und ein völlig unschädliches Mittel ist, sondern daß es sogar bei Neigung zu gefährlichen Kopfcongestionen, wenn diese in Unterleibsvollblütigkeit ihren Grund haben, mit bestem Erfolge gebraucht werden kann, und ist denn etwa ein kategorischer Imperativ vorhanden, bei jedem Kranken sogleich den Sprudel in Gebrauch zu ziehen? Giebt es denn hier nicht Quellen in fast allen Abstufungen der Temperatur, und zwar von 34 Grad R. (das ist die Karlsquelle) bis zu 59 Grad (das ist eben die Temperatur des Sprudels)? Ferner (und das muß ganz besonders betont werden, weil es noch viel zu wenig bekannt, ja selbst von Aerzten in Karlsbad noch nicht hinlänglich genug berücksichtigt wird), ferner also: kann denn das Karlsbader Mineralwasser bei Kranken, deren Blutgefäßsystem durch unsere selbst mindest warmen Quellen leicht in Aufregung gebracht wird, nicht ebenso gut bedeutend abgekühlt oder völlig bis zur Lufttemperatur erkaltet in Gebrauch gezogen werden? Dadurch geht dem Wasser ja gar nichts Anderes als eben nur die Wärme verloren, nicht einmal sein flüchtiger Bestandtheil, nämlich das kohlensaure Gas, denn bekanntlich bleibt dieses Gas um so fester und in um so größerer Menge an das Getränk gebunden, je kühler dieses ist, und das ist, nebenbei bemerkt, ja auch der Grund, warum man den Champagner in’s Eis setzt.
Um so weniger aber gehen die festen Bestandtheile verloren durch die Erkaltung, und das eigentlich Wirksame dieses Mineralwassers sind schließlich doch seine mineralischen Bestandtheile. Daraus geht aber nicht hervor, daß man das Karlsbader Mineralwasser stets nur ganz abgekühlt in Anwendung bringen sollte, denn auch dessen verschiedene Wärmegrade haben ihre wohlberechtigte Anzeige, und – was wohl zu bemerken –: die Karlsbader Mineralquellen sind nur durch den Wärmegrad, nicht aber durch die mineralischen Bestandtheile verschieden. Letztere sind in allen Quellen, von der Karlsquelle bis zum Sprudel, der Art und Menge nach ganz gleich. Daher ist es auch ganz gleichgültig, von welcher der kühleren Quellen man trinkt, wenn deren Wasser einmal ganz erkaltet ist. Ich sage ausdrücklich: der „kühleren“ Quellen und nicht auch des Sprudels, denn das Sprudelwasser ist so heiß, daß es allsobald beim Zutritte der atmosphärischer Luft nicht nur seine ganze sogenannte freie Kohlensäure verliert, sondern auch einen Theil der an die mineralischen Bestandtheile gebundenen Kohlensäure, sodaß diese (dem technischen Ausdrucke nach) zu anderthalbkohlensauren Salzen werden. Aus diesem Umstande aber ergeben sich mehrere wichtige Folgerungen. Für’s Erste liegt darin der Grund, warum das in einer Badewanne erkaltete Sprudelwasser an der Oberfläche ein schillerndes, fettig aussehendes Häutchen absetzt und eine feine weiße Erde zu Boden fallen läßt; es sind dies nämlich die der Kohlensäure beraubten mineralischen Bestandtheile, diese aber werden bekanntlich nur durch die Kohlensäure in aufgelöstem [804] Zustande erhalten, und zwar bedürfen sie dazu einer doppelt so großen Menge Kohlensäure, wie deren Volumen beträgt, daher man sie doppeltkohlensaure Salze nennt. Daher auch setzt das Sprudelwasser so reichlich den sogenannten Sprudelstein oder Sinter ab, was die kühleren Quellen nicht thun, deswegen nicht, weil diese die mineralischen Bestandtheile eben als doppelt-kohlensaure Salze und dazu noch einen Ueberschuß dieses Gases, das ist die sogenannte „freie“ Kohlensäure“ enthalten. Weil nun der Sprudel absetzt, die kühleren Quellen aber nicht, glauben viele Curgäste, die kühleren Quellen hätten weniger mineralische Bestandtheile. Im Vorangehenden ist das Irrige dieser Meinung hoffentlich klar auseinandergesetzt.
Ferner ergiebt sich aus dem oben angeführten Umstande, daß sich zur Versendung des Karlsbader Mineralwassers besser die kühleren Quellen und am besten der Schloßbrunn eignet, weil dieser am meisten „freie“ Kohlensäure besitzt. Wenn also Jemand als versendetes Karlsbader Wasser den „Sprudel“ trinken will oder auf Anordnung seines Arztes trinken soll, so muß er sich das natürliche Wasser vom Schloßbrunn aus der nächsten Mineralwasser-Niederlage, oder direct von der hiesigen „Karlsbader Mineralwasserversendung“ verschaffen und dieses bis zur Temperatur des Sprudels künstlich erwärmen.
Ferner sieht man es in Karlsbad häufig genug, daß Curgäste sich ihren Becher mit Sprudelwasser füllen lassen, diesen aber, bevor sie ihn trinken, zehn bis fünfzehn Minuten hinsetzen, in der Absicht, das Wasser abkühlen zu lassen, und sie glauben dennoch, dann Sprudelwasser zu trinken. Wie thöricht das ist, geht ebenfalls aus Obigem hervor; dies so getrunkene Wasser ist zwar immer noch ein Mineralwasser, aber ein zum Theil schon zersetztes. Wer Sprudel trinken will, muß ihn so heiß trinken, wie ihn die Quelle giebt, und dies geschieht am besten mittelst eines kleinen Glaslöffels, weil man eine so kleine Menge, wie ein solcher Löffel faßt, ganz gut hinunterschlucken kann.
Doch lassen wir als sichersten Beweis, daß Karlsbad kein gefährliches Heilmittel ist, die Zahlen sprechen. Karlsbad wurde in den letzten drei Jahren von 61,256 Personen besucht, welche mehr oder weniger krank waren. Viele unter ihnen waren sehr krank. Die Zahl der Todesfälle betrug in diesen drei Jahren hundertfünfzehn (nämlich zweiundvierzig im Jahre 1873, dreißig im Jahre 1874 und dreiundvierzig im Jahre 1875). Davon starben an Schlagfluß vierzehn Personen, also eine Person von 4375, an (meistens krebsartiger) Entartung der Unterleibsorgane (der Leber, Milz, des Magens, der Nieren etc.) neunundvierzig Personen, an Zuckerharnruhr sechs Personen, an Lungenlähmung und Lungeschwindsucht dreizehn, an Blutvergiftung vier, Urämie fünf, Herzbeutelentzündung vier, Gallensteinkolik und Leberentzündung je zwei, Wassersucht vier, die Uebrigen an Scharlach, Typhus, Blutsturz, Magen- und Darmkatarrh, Brightischer Nierenkrankheit. – Nun entsteht die Frage, ob irgendwo bei einer Bevölkerung von 61,256 Personen weniger Todesfälle, als die angegebenen vorkommen? Daß aber nur einer der angegebenen Todesfälle nach dem Satze: post hoc, ergo propter hoc stattgefunden hätte, könnte nur die Mißgunst oder Unwissenheit behaupten.
Karlsbad ist also in Wahrheit bei wahrhaft großer Heilkraft doch eines der mildesten, ja unschuldigsten Heilmittel, und kann in jedem Lebensalter, im zartesten, wie im höchsten, mit Erfolg und ohne die geringste Gefahr gebraucht werden. Ja, es muß hier entschieden betont werden, daß der günstige Erfolg von Karlsbad bei Kindern selbst im Alter von drei und zwei Jahren viel zu wenig bekannt ist.
Mit dem Vorurtheile der großen Gefährlichkeit zum Theile verbunden ist auch die Meinung, daß bei dem Gebrauche von Karlsbad, wie bereits oben erwähnt, der geringste Genuß sogenannter verbotener Speisen von größtem Nachtheile sei, und zwar deßwegen, weil sich gewisse Speisen mit diesem Wasser nicht vertragen. Nichts ist irriger als diese Meinung, und es muß daher hier mit allem Nachdrucke gesagt werden: daß nicht des Karlsbader Mineralwassers wegen gewisse Speisen verboten werden, sondern einzig und allein der Krankheitszustände wegen, gegen welche es als Heilmittel anempfohlen wird. Dennoch kann ein relativ Gesunder bei dem (vorausgesetzt nicht unmäßigen) Gebrauche oder Genusse dieses Mineralwassers selbst die vermeintlich verbotenen und gefährlichsten Dinge genießen, wie eben die bereits oben erwähnte Dreizahl: Butter, rohe Früchte und Salat – letzteren als schlimmste unter den so allgemein für verpönt gehaltenen Säuren – ohne dadurch krank zu werden. Experto crede Ruperto: der Schreiber dieser Zeilen hat es mehr als einmal gethan; er trinkt seit vielleicht zwanzig Jahren täglich, im Winter und Sommer einige Becher von einem der kühleren Brunnen, gewöhnlich Schloßbrunn, und er ißt dabei täglich Butterbrod, Erdbeeren, Aepfel, Birnen, wenn es solche giebt, und häufig genug Kartoffel-, Schnittbohnen- oder Kopfsalat, ohne davon bisher den geringsten Nachtheil gehabt zu haben, und erfreut sich, obwohl schon 1808 geboren, einer leidlichen Gesundheit. Ferner ließ er seine Kinder im zartesten Alter, wenn sie verstopft waren, zu jeder Tageszeit Schloßbrunn, jedoch gewöhnlich abgekühlt trinken, wobei außer Mäßigkeit keine Veränderung in dem Genusse der Nahrungsmittel stattfand.
Wenn mithin einem Fettleibigen, der vom eigenen Fett zehren kann, der Genuß von Butter und fetten Speisen verboten wird, so geschieht dies nicht des Mineralwassers wegen, sondern weil Fett wieder Fett erzeugt, der Genuß von Fett also wieder schlecht macht, was das Mineralwasser gut gemacht hat. Oder wenn Kranken mit schwacher Verdauung oder solchen, die zu Durchfall geneigt sind, der Genuß von Obst oder Salat verboten wird, so geschieht dies wieder nicht des Mineralwassers wegen, sondern weil ein solcher Kranker mit und ohne den Genuß des Mineralwassers dergleichen Speisen vermeiden soll etc. Es ist hier nicht der Ort, in ein weiteres Detail einzugehen. Der geneigte Leser findet dieses ausführlich auseinandergesetzt in meiner oben erwähnten Monographie über Karlsbad. Nur dessen sei hier noch erwähnt, daß auch die fast allgemein verbreitete Meinung: „Jeder Curgebrauchende müsse sich hier kasteien und bis zum Schwachwerden Hunger leiden“, eine durchaus irrige ist.
Der Verfasser prakticirt in Karlsbad bereits seit dem Jahre 1834, was hier blos deßwegen gesagt wird, um darzuthun, daß er wohl berechtigt ist, über diese Vorurtheile seine Stimme abzugeben.
Es muß ausdrücklich bemerkt werden, daß das Vorstehende durchaus nicht in der Absicht geschrieben wurde, um Reclame für Karlsbad zu machen – denn der Besuch von Karlsbad ist trotz der gerügten Vorurtheile, wie aus nachstehender Zahlenangabe hervorgeht, ein sehr starker und hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt: im Jahre 1865 betrug die Anzahl der Curparteien (Familien) 7,969, im Jahre 1875 dagegen 15,642 Parteien – sondern einzig und allein in der Absicht, das Gemüth der durch diese unbegreiflichen Vorurtheile ängstlich gemachten Kranken, welchen der Gebrauch der Karlsbader Mineralwässer anempfohlen wurde, zu beruhigen.
Es mag Sänger und Dichter, mag Lehrer und Gelehrte geben, welche, der edelsten Himmelsgabe, des Augenlichtes beraubt, gleichwohl in ihrem Berufe zu wirken fortfahren und in ihren Werken die Spuren ihres herben Geschickes nicht ahnen lassen. Lehrt doch die Erfahrung, daß der Verlust des äußeren leiblichen Auges meist sogar dazu beiträgt, das innere geistige Auge zu schärfen. Die Phantasie, ungehemmt durch die Eindrücke der sinnlichen Welt, gewinnt an Regsamkeit, das Gedächtniß an Kraft.
Eine Erscheinung dagegen einzig in ihrer Art dürfte sich in einem Schauspieler darbieten, der seinem künstlerischen Berufe, dessen Ausübung, wie man glauben sollte, durch den Besitz gerade der Sehkraft unerläßlich bedingt ist, nach seiner völligen Erblindung auch ferner erfolgreich gedient hat und gegenwärtig noch dient. Die deutsche Bühne besitzt eine solche Erscheinung in dem herzoglich meiningen’schen Hofschauspieler Joseph Weilenbeck.
Kurz vor Beginn des ersten Berliner Gastspiels der Gesellschaft [805] des meiningen’schen Hoftheaters kann mir über den Zustand Weilenbeck’s eine nur flüchtige und gelegentliche Bemerkung zu Ohren, auf die ich nicht sonderlich achtete. Als ich ihn darauf in der Rolle des „Papst Sixtus der Fünfte“ in Julius Minding’s gleichnamiger Tragödie sah, erinnerte ich mich jener Bemerkung, folgte der Darstellung mit gespanntester Aufmerksamkeit und gewann den Eindruck, daß der Künstler soviel Sehvermögen besitzen müsse, um die ihn umgebenden Gegenstände, wenn auch nur in undeutlichen Umrissen, erkennen zu können. Das Mienenspiel war gewandt und lebendig; die Augen selbst schienen eine beredte Sprache zu sprechen; die Bewegungen, zwar gemessen und spärlich, waren doch sicher und abgerundet. Auch in der Art des Stehens und Gehens verrieth sich kein anomaler Zustand. Auffallend, und auch dies wohl nur für den Eingeweihten, konnte es höchstens sein, daß der Künstler beim Betreten und Verlassen der Bühne selten allein erschien und, wenn dies nicht zu vermeiden war, von den auf der Bühne bereits befindlichen Personen geleitet wurde. Auch ließ sich bei schärferer Beobachtung wahrnehmen, daß die Mitspieler, namentlich wenn ihrer mehrere gleichzeitig mit dem Künstler zu agiren hatten, sich in ihren Bewegungen genau nach ihm richteten und dieser oder jener von ihnen während des Dialogs bisweilen durch eine plötzliche Wendung diejenige Stellung annahm, welche ihm Weilenbeck gegenüber angesichts der jeweiligen Situation die natürlichste sein mußte. Erst im näheren persönlichen Verkehre mit dem hartgeprüften Künstler lernte ich an die ganze Schwere seines Geschickes glauben, indem ich erfuhr und bestätigt fand, daß er in Wahrheit vollständig erblindet sei.
In Fiume am adriatischen Meere im Jahre 1820 geboren, der Sohn eines höheren österreichischen Staatsbeamten, widmete sich Joseph Weilenbeck in Graz dem Studium der Rechte. Im Alter von vierundzwanzig Jahren entsagte er der juristischen Laufbahn, um auf den weltbedeutenden Brettern sein Glück zu versuchen. An verschiedenen Bühnen, namentlich in Prag und Breslau, war er erfolgreich thätig.
In Prag war ihm das durch Friedrich Haase verwöhnte Publicum anfangs mit ausgesprochener Zurückhaltung begegnet, allmählich aber erwärmte es sich und erkor den Neuling zu einem seiner Lieblinge. Auch außerhalb der Bühne machte sich der junge Künstler überall durch Geist und Humor beliebt. Er gehörte einem Kreise von Prager Einwohnern an, die täglich in einem bestimmten Café der Geselligkeit pflogen. Zu ihnen zählten Palacky, der Advocat Pinkas, der berühmte Historiograph, der später eine Zeitlang die oberste Leitung des königlichen Landestheaters führte, Ladislaus Rieger, der eifrige Vertreter der czechischen Interessen, der geistvolle Kritiker Kuh, der damals vielgelesene Romanschriftsteller Julius Gundling und der Dichter des „Ziska“, der Apostel der böhmischen Freiheitsidee, Alfred Meißner, der nicht genug zu rühmen weiß, zu wie manchem gesunden Lachen Freund Weilenbeck der Gesellschaft verholfen habe.
„Da saßen wir,“ erzählt er, „rauchten und redigirten – um einen aus der Hegel’schen Zeit stammenden Ausdruck zu gebrauchen – die Vernunft der Ereignisse, was dasselbe besagt, wie das spätere ‚die Logik der Thatsachen construiren‘. Jeder suchte von seinem Standpunkte aus die Zeit zu begreifen, die allerdings eine schreckliche, infame und schwer begreifliche war. Nichts blieb unerörtert, was sich dazumal zwischen dem Polarkreise und dem Wendekreise des Steinbockes begeben. Wie viele Leitartikel wurden an diesem Tische gesprochen und wie viele nie zum Druck gelangte Feuilletons der Kunst, der Literatur, dem Theater und dem geselligen Leben geweiht!“
Weilenbeck vertrat das Charakterfach. Unter dem Namen Warbeck ging er zur Bühne. Die Feuerprobe des „ersten Versuchs“ bestand er als „Rudolph“ in Theodor Körner’s „Hedwig“ im kleinen Theater zu Wiener-Neustadt. Als erste bedeutende classische Rolle gab er in Posen den „König Philipp“. Hier lernte ihn Meister Döring kennen, mit dem er in einer Lear-Vorstellung zusammen wirkte und der den damaligen Director Voigt auf ihn als auf „einen ungewöhnlich begabten Mimen“ aufmerksam machte. Die Gastspieltouren der Posener Gesellschaft ließen ihn auch nach Bromberg gelangen, wo der am dortigen Gymnasium angestellte Professor Rötscher ihn auszeichnete und sich namentlich über seinen „Ossig“ in Raupach’s „Isidor und Olga“ lobend äußerte. Ueber Weilenbeck’s Leistungen zur Zeit seines Prager Engagements urtheilte Alfred Meißner aus eigener Anschauung: „Das eigentliche Revier seines Talents, in welchem er sich mit Behagen erging, war das der kalten Tyrannen à la Philipp oder Alba und der confiscirten Schurken à la Muley Hassan, Franz Moor, Jago. Doch auch im gemüthlichen Genre konnte er packen und rühren; sein Jude Schewa, sein Rabbi Akiba waren fürwahr lebende Gestalten, die man nicht vergißt. Bis in die Komik hinüber konnte er greifen und wußte insbesondere lederne Philister, vertrocknete Bureaukraten mit dem glücklichsten Humor zu zeichnen.“ Seit dem Jahre 1870 Mitglied des Hoftheaters zu Meiningen, ist er bei den sämmtlichen drei Berliner Gastspielen der Meiningen’schen Gesellschaft betheiligt gewesen. Außer der schon erwähnten Rolle des „Papst Sixtus der Fünfte“ gab er hier den „Argan“ in Molière’s „eingebildetem Kranken“, den „Shylock“, den „Andreas Doria“, den „Freiherrn von Attinghausen“, den „Kaiser“ in „Käthchen von Heilbronn“ und den „Holzhüter Weiler“ in Otto Ludwig’s „Erbförster“. Sein „Sixtus“ und „Shylock“ sind stilvolle Leistungen; sein „Argan“ ist in Auffassung und Charakteristik eine unübertreffliche Lustspielfigur.
Weilenbeck widmete sich seinem Berufe mit der wärmsten Begeisterung und dem unermüdlichsten Fleiße. Ein Zug seines Charakters ist die Energie, mit welcher er an die Lösung einer Aufgabe, die ihn gerade beschäftigt, all’ seine geistigen Kräfte zu setzen pflegt. Weilenbeck gehörte nicht zu denen, welche meinen, daß die natürliche Begabung ausreichend sei zu der Kunst der Menschendarstellung auf der Bühne und daß sie einer gründlicheren, wissenschaftlichen Bildung nicht bedürfe. Handelte es sich um eine hervorragende Rolle in einem historischen Stücke, so vertiefte er sich in die eingehendsten Studien über den darzustellenden Charakter und die Zeitverhältnisse, in deren Rahmen sich das Drama vollzog. Bücher über Bücher pflegte er dann zu durchforschen und Nächte hindurch der Arbeit nicht müde zu werden. Dieser Wissensdrang mag den ersten Keim zu seiner Erblindung gelegt haben. Nicht plötzlich, nicht in Folge einer besonderen äußeren Veranlassung brach sie über ihn herein, sondern langsam und allmählich sah er das Licht der Augen, des „Aermsten allgemeines Gut“, verloren gehen. Es war Ende 1869. Weilenbeck promenirte mit einem Freunde im den Straßen Breslaus. Da, mit einen Male, bleibt er stehen und wendet sich, zitternd vor Aufregung, an seinen Begleiter mit der Frage, was denn die Ursache einer so plötzlichen Verfinsterung sein könnte? Ehe noch der Freund sein Erstaunen über die seltsame Frage geäußert hatte, war der Zustand, der den Sehenden für wenige Augenblicke zum Blinden gemacht hatte, vorüber. Aber von jenem Tage an brannte ihm keine Studirlampe hell genug. Wenn er zu lesen anfing, schienen ihm die Buchstaben ineinander zu schwimmen, und erst, wenn er längere Zeit auf das Papier hingestarrt hatte, standen sie fest.
Der Arzt, den er zu Rathe zog, legte anfangs auf das Uebel kein großes Gewicht; er erklärte es als eine durch die zur Nachtzeit betriebenen Studien veranlaßte Nervenaffection. Beruhigt trat Weilenbeck sein neues Engagement in Meiningen an, wohin er durch Friedrich Bodenstedt nach einem einmaligen Gastspiel als „Marinelli“ berufen worden war. Allein der Zustand verschlimmerte sich. Während dem Künstler von mehreren Seiten ehrenvolle Engagementsanerbietungen zu Theil wurden, unter denen ihn am meisten die Aussicht lockte, in Stuttgart an Grunert’s Stelle zu treten, begab er sich nach Halle, um den dortigen Professor Alfred Gräfe, den Vetter des berühmten Berliner Augenarztes, zu consultiren.
Der Arzt, nachdem er den Zustand auf das Gründlichste untersucht hatte, erkannte in ihm eine Atrophie der Sehnerven. „Sind Sie stark genug, die Wahrheit zu hören?“
„Eben deshalb bin ich gekommen.“
„Die Wissenschaft kann Ihnen nicht helfen. Sie werden in kürzester Zeit erblinden.“
Mit dieser schrecklichen Gewißheit kehrte der Künstler nach Meiningen zurück, um hier bekümmerten Herzens seinen Pflichten zu genügen und zugleich die Vorbereitungen zu treffen, welche die Prophezeiung des Arztes ihm nahe legte. Noch am ersten Januar 1870 hatte er, ohne sein Schicksal zu ahnen, im Vollbesitz seiner geistigen Frische und körperlichen Kraft den [806] „Marc Anton“ gespielt. Im folgenden Mai reiste er nach Berlin, um seinen Zustand auch von dem berühmteren Gräfe, dessen frühzeitiges Hinscheiden im besten Mannesalter wenige Monate später beklagt wurde, prüfen zu lassen. Er erkundigte sich nach der geeigneten Zeit, zu welcher der vielbeschäftigte Mann in der eigenen Wohnung sich consultiren ließe. „Kommen Sie,“ hatte ihm der Diener gerathen, „um neun Uhr Abends hierher! Dann will ich versuchen, daß Sie vor Mitternacht vorgelassen werden.“
Punkt neun Uhr erscheint Weilenbeck in Gräfe’s Haus, vor dem sich eine stattliche Anzahl eleganter Equipagen angesammelt hat. Das Wartezimmer füllt sich mit Patienten. Es wird halb zehn Uhr, ehe der erste vorgelassen wird. Um elf Uhr ist die Reihe noch nicht an Weilenbeck gekommen. Da endlich wird er aufgerufen. Der Diener geleitet ihn aus dem Erdgeschoß in den ersten Stock, zu dem eine hellerleuchtete Marmortreppe führt.
Weilenbeck wird in ein großes, von einer Lampe matt erhelltes Zimmer geführt, in dessen Mitte an einem Tische, umgeben von Büchern und Instrumenten, eine Gestalt sichtbar wird, deren Gesichtszüge er erst, als er nahe herangetreten, erkennen konnte. Da saß ein junger Greis, der den Patienten fast leise mit den Worten anredete: „Was macht Sie so unglücklich, meine Hülfe zu suchen?“ Die Consultation war kurz. Weilenbeck schied ohne das Labsal empfangener Hoffnung. Um nun die Abnahme der Sehkraft wenigstens nach Möglichkeit zu verzögern, ließ er kein Mittel unversucht. Welche Reisen hat er unternommen, welchen Curen sich unterzogen! In der Schweiz am Gießbache und in Ungarn in der Büdös-Höhle an der Grenze Siebenbürgens suchte er Hülfe. Alle Bemühungen waren fruchtlos. Die Zeitungen durchlief zwar wiederholt die Nachricht, der Künstler befinde sich „auf dem Wege der Besserung“; einmal hieß es sogar, er habe durch den Gebrauch eines Heilwassers das Augenlicht wieder erlangt, aber statt dessen hatte in Wahrheit das Uebel sich nur verschlimmert, und bald konnte Weilenbeck die selbst in nächster Nähe ihn umgebenden Gegenstände nur noch als farblose und wie durch einen dichten Schleier erkennen.
Trotz dieses Zustandes, von dem der damals sonst kerngesunde Künstler betroffen wurde, blieb Weilenbeck seinem Berufe treu, und darin liegt das Problematische seiner Erscheinung. „Wüßte die Welt,“ schrieb er an mich, „welche Geisteskraft, welche Geduld, welche Selbstbeherrschung dazu gehört, dem furchtbaren Geschicke der Erblindung zu trotzen, und wie wunderbar es doch ist, welchen Fleiß, welchen Muth es erfordert, Andere das schauen zu lassen, von dem man selbst keine sinnliche Anschauung hat!“ Ein blinder Schauspieler! Nicht ein Rhetor, der von dem sichern Port des Katheders aus declamirt! Ein Schauspieler, der, obwohl es finstere Nacht um ihn her ist, der lebensvollen Darstellung verschiedenartigster Charaktere fähig bleibt! Man versuche einmal, nur wenige Minuten lang mit geschlossenen Augen in einem Zimmer frei zu agiren, und man wird die Schwierigkeit des Versuchs erkennen. Wie viel bedenklicher wird es für einen wirklich Blinden sein, sich auf die heißen Bretter der Bühne zu wagen, und wie viel schwieriger, vor einem großen Publicum, von dem er weiß, daß Aller Augen auf ihn gerichtet sind, sich ungezwungen und mit jener Sicherheit zu bewegen, die den Zuschauer seine Blindheit nicht erkennen läßt oder, falls er Kenntniß von ihr hat, nicht derart an sie erinnert, daß seine Illusion zerstört wird. Daß Weilenbeck den erforderlichen Grad jener Sicherheit besitzt, bezeugt der Umstand, daß bei dem ersten Berliner Gastspiele die sich im Publicum allmählich verbreitende Kunde seiner Blindheit ungläubig oder mindestens doch als ein stark übertriebenes Gerücht aufgenommen wurde.
Nach wie vor spielte Weilenbeck seine früheren Rollen, den Franz Moor, den Mephisto, den Selbitz, den Buttler, den Cromwell. Trotz der unsäglichen Anstrengungen ließ er sich nicht zurückhalten, auch neue Partien einzustudiren. Zu diesen neuen gehörten die des „Papst Sixtus“ und die „Karl’s des Neunten“ in Lindner’s „Bluthochzeit“. Dabei kam ihm die seltene Kraft seines Gedächtnisses zu Statten. Häufiges Vorlesen der Rollen genügte, um ihn des Memorirstoffes sicher werden zu lassen. Auf den Proben wurde jeder seiner Schritte auf das Genaueste berechnet. Aber trotz alledem wäre ein Weiterspielen nicht möglich gewesen ohne das bereitwilligste Entgegenkommen der Mitspielenden, das ihm denn auch im reichsten Maße zu Theil wurde. Nur durch ihre unausgesetzte Beobachtung seines Spiels läßt sich z. B. der Fall vermeiden, daß der Blinde während des Dialogs eine ungehörige Position einnimmt und wohl gar demjenigen den Rücken zuwendet, an den er gerade seine Worte zu richten hat. Auch erfreute sich Weilenbeck und erfreut sich noch der besonderen Gunst und warmen Theilnahme des Herzogs von Meiningen, mit welchem der Künstler, während er, um Heilung zu finden, in der Ferne weilte, eine lebhafte Correspondenz unterhielt und der ihn auch äußerlich durch Verleihung des sächsischen Hausordens ehrte, eines Schmucks von besonderem Werthe für einen Blinden, der ihn für Verdienste, in der Blindheit erworben, empfing.
Weilenbeck wird auch ferner seine Kunst üben. Er geht mit dem Plane um, in einer Anzahl von Stücken zu spielen, in welchen ein Blinder die Hauptrolle hat. Diesem Zwecke sollen zunächst eine Bearbeitung des alten guten französischen Volksstücks „Das Weib des Soldaten“ und eine Dramatisirung des Max Ring’schen Romans „John Milton“ entsprechen.
Als Künstler ein Charakterdarsteller, ist Weilenbeck auch als Mensch ein Charakter. Er trägt sein Schicksal mit Muth und Ergebung. Mancherlei Widriges, das ihn neuerdings heimgesucht, eine langwierige Krankheit seiner treuen Pflegerin, an die er seit sechs Jahren gewöhnt war, das ihn oft peinigende Bewußtsein des Alleinstehens in der Welt, die bange Sorge um die spätere Zukunft des durch äußere Glücksgüter nicht gesegneten Mannes, all’ das und manches Andere hat seinen alten Humor nicht zu brechen vermocht. Eine gewisse nervöse Erregbarkeit, die sich leicht seiner bemeistert, ist die Eigenschaft aller Erblindeten – um wieviel natürlicher ist sie bei einem erblindeten Schauspieler! Zu der Lebhaftigkeit seines Geistes, zu der Fülle seiner Kenntnisse, zu seiner reichen Erfahrung und seiner seltenen Erzählergabe, die ihn zu einem anregenden und liebenswürdigen Gesellschafter machen, gesellt sich die Bescheidenheit seines Wesens. Vielleicht sieht er sich selber später einmal veranlaßt, sein reich bewegtes Leben zu schildern; eine Biographie Joseph Weilenbeck’s, des blinden Veteranen der Schauspielkunst, würde in künstlerischer, wie in psychologischer Beziehung von Interesse sein. Was in diesen Zeilen aus seinem Leben mitgetheilt ist, mußte förmlich von ihm erobert werden. „Es dürfte,“ schrieb er, „eine Anforderung der Bescheidenheit sein, daß meine Person in den Hintergrund tritt; Hauptsache bleibt das Merkwürdige der Erscheinung, daß ein blinder Mann weiter spielt, nicht weil es ihm eine Befriedigung der Eitelkeit ist, sondern weil ihn ein höheres, unerklärbares Etwas dazu treibt und ihm auch die Kraft verleiht, das Seltene, man kann wohl sagen: das Unglaubliche zu vollführen.“ Max Remy.
Der Mann im Monde.
Wie von vielen anderen Dingen, so weiß das Volk auch von den Erscheinungen am Himmel mancherlei, was Leuten, die sich für gescheidter halten, unbekannt ist. Es weiß, z. B., daß, wo Sternschnuppen hinfallen, ein Schatz liegt, daß die Milchstraße die Leiter ist, auf der Jakob im Traume die Engel auf- und absteigen sah, und daß die drei aneinander gereihten Sterne, welche den Gürtel des Orion bilden, nichts Anderes sind, als der Wunderstab, mit dem Moses das rothe Meer theilte. Wohlbegründete Thatsachen sind ihm, daß die Sonne beim Aufgehen am Ostermorgen drei Freudensprünge thut, und daß sie, am Neujahrstag roth aufgehend, Krieg weissagt, und ebenso verbürgt ist ihm, daß der Regenbogen mit seinen beiden die Erde berührenden Enden stets über zwei Gewässern steht, aus denen er mit zwei goldenen Schüsseln schöpft.
Nun hat der nachdenkliche Sinn, der diese Wahrheiten heraus gefunden, natürlich auch über den Mond nachgesonnen, [807] der, als in stiller, einsamer Nacht scheinend, mehr als Anderes zu denken gab, und auch hier sind einige ganz anmuthige Entdeckungen gelungen, auf welche im Nachstehenden aufmerksam gemacht werden soll.
Betrachten wir den Vollmond, so wird er den Meisten wie ein pausbäckiges Gesicht vorkommen, das, je nach der Stunde, in welcher sie aus dem Wirthshause heimgehen, gerade oder schief steht. Die Sternkundigen halten die dunklen Flecken, welche auf diesem Gesichte Augen, Mund und Nase andeuten, für Berge oder Thäler des Erdtrabanten. Das Volk, das kein Fernrohr, aber ebenfalls Wissensdrang und zur Befriedigung desselben eine flinke und fruchtbare Phantasie hatte, nennt sie den Mann im Monde und weiß auch, wie der Mann in den Mond gekommen ist. Stimmen die Ansichten, die es in dieser Hinsicht hat, nicht in allen Stücken überein, so doch darin, daß er ein armer Verbannter ist, der einen dummen Streich begangen hat, und das wollen wir uns von den verschiedenen Sagensammlungen, da es zwar Zweifeln unterliegen möchte, aber sich ganz hübsch anhört, im Folgenden zunächst einmal erzählen lassen.
Zu Waltensburg in Graubünden erklärt man sich die Sache so: Ein Senne wurde von einer armen Frau um etwas Milch angegangen. Er schlug es ihr mit harten Worten ab, und darauf verwünschte sie ihn in den kältesten Ort auf der Welt. Durch diesen Fluch kam er in den Mond, wo es beiläufig auch nach der Meinung der Astronomen sehr kalt werden kann, und dort sieht man ihn bei Vollmond, noch immer in seinem Eimer herumrührend, sitzen.
In der Gegend von Derendingen in Schwaben erzählt man, wie Meier berichtet, den Kindern die Geschichte anders. Hier heißt es: Ein Weingärtner arbeitete des Sonntags in seinem „Wingert“, beschnitt die Reben, band, wie das Gebrauch, die abgeschnittenen Schößlinge in ein Bündel zusammen, legte es oben auf seine Butte und ging damit nach Hause. Nach Anderen stahl er dieses „Rebebüschele“ in einem fremden Weinberge. Als der Mann nun wegen seiner Entheiligung des Sonntags oder wegen seines Diebstahls zur Verantwortung gezogen wurde, leugnete er, verschwor sich hoch und theuer, daß er unschuldig sei, und sagte: „Haun ih’s dann, so komm i in Maun.“ (Hab’ ich’s gethan, so will ich in den Mond kommen.) Für diesen Frevel ist er denn auch richtig nach seinem Tode in den Mond gekommen, wo er zur Strafe geschmolzenes Eisen essen muß. Wenn daher Jemand am Sonntage „schafft“, so ruft man ihm zu: „Gieb Acht, sonst mußt Du auch noch einmal in den Mond.“ Die Mutter aber sagt zu ihrem Kinde, wenn der Vollmond aufgeht: „Guk au den Ma im Maun mit sell Rebebüschele!“ und warnt es dann mit der Geschichte des unglücklichen Winzers vor aller Sonntagsentheiligung.
In anderen schwäbischen Orten hat der Mann Sonntags im Walde Holz gestohlen und es in seiner „Kräbe“ (Tragkorb) nach Hause geschafft. Im Schwarzwalde endlich, in der Gegend von Calw und Liebenzell, schnitt er sich Sonntags, wo die Jäger und Feldhüter nicht im Walde sind, ein Büschel Besenreiser und trug es auf dem Rücken heim. Da begegnete ihm zwischen den Bäumen ein Mann; der war der liebe Gott; der stellte ihn zur Rede, fragte ihn, ob er nicht wisse, wie das dritte Gebot laute, und sagte, daß er ihn bestrafen müsse, doch solle er sich wählen dürfen, ob er lieber in den Mond oder in die Sonne verwünscht sein wolle. Darauf versetzte der Dieb: „Wenn es denn sein muß, so will ich lieber im Monde erfrieren als in der Sonne verbrennen,“ und so ist er denn, mit seinem Bündel Reisig auf dem Rücken, wie man deutlich erkennen kann, in den Mond versetzt worden. Nach Einigen war der liebe Gott aber noch milder, indem er dem „Besenmännle“, damit es bei der großen Kälte auf dem Monde nicht erfriere, das Bündel Holz auf dem Rücken anzündete, das heute noch brennt und niemals erlöschen wird.
Ein heidnischer Zug ist in derjenigen Form der Sage, wo der Mann nicht deshalb in den Mond verbannt wird, weil er am Sonntage, sondern weil er im Mondscheine gearbeitet hatte, und dies ist offenbar die ältere Gestalt aller Geschichten vom Mondmanne. Alles Arbeiten bei Mondschein ist zu meiden, namentlich darf man dann nicht spinnen; denn, wie man in der Oberpfalz meint, hält das auf diese Art gewonnene Garn nicht und eine schwäbische Sage bei Meier berichtet zur Warnung Folgendes:
Eine Frau in Brackenheim, die sich mit Spinnen ernährte, war so fleißig, daß sie oft Nächte lang vor der Kunkel saß, und so sparsam, daß sie bei Vollmond kein Licht ansteckte. Da trat aber einmal mit dem Schlage Zwölf ein Mann zu ihr in die Stube, der brachte ihr einen ganzen Arm voll Spindeln und sagte: „Wenn Du die nicht in dieser Nacht vollspinnst, so ist’s aus mit Dir; denn dann hol’ ich Dich.“ Da kriegte die Frau eine große Angst, aber schlau, wie die Weiber sind, kam sie auf den klugen Einfall, daß sie die Spindeln ja nur einmal zu überspinnen brauche, und so wurde sie mit ihrer Aufgabe noch vor Tagesanbruch fertig. Der Mann, welcher der Teufel war, kam wirklich wieder, fand die Spindeln voll, nahm sie stillschweigend und ging fort. Die Frau aber hat niemals wieder im Mondschein gesponnen.
Kehren wir zu unserem Mondmanne zurück, so begegnen wir ihm auch in norddeutschen Sagen häufig. Im Havellande erzählt man, wie Kuhn uns mittheilt: Es war einmal ein Mann, der bekam am Weihnachtsabend Appetit auf Grünkohl, und weil er selber keinen im Garten hatte, ging er auf das Beet seines Nachbarn und holte sich welchen. Da ritt, als er seinen Korb eben voll hatte, der heilige Christ auf seinem Schimmel vorbei; der sagte zu ihm: „Weil Du am heiligen Abend gestohlen hast, so sollst Du gleich mit Deinem Korbe voll Kohl im Monde sitzen.“ Auf der Stelle saß er darin und ist bis auf den heutigen Tag dort geblieben. Im Paderbornschen hat der Mondmann nicht gestohlen, wohl aber, wie Kuhn sich von einem dortigen Schäfer belehren ließ, am Ostertage den Leuten, die zur Kirche wollten mit einer „Gaffel“ Dornen den Weg durch sein Feldthor versperrt. In Ostendorf an der Lippe trägt er einen Wachholderbusch – weshalb, das sagt Kuhn, meine Quelle auch hier und im Nächstfolgenden, uns nicht. In der Gegend von Wittingen ist der Mann in den Mond verbannt, weil er am grünen Donnerstag Besen gebunden, in Deilinghofen, weil er am Sonntage gemäht hat.
Wieder anders wird die Sache in der Grafschaft Limburg und zu Hemer an Westphalen erzählt. Dort heißt es: „Der Mann im Monde ist Einer, der am Ostermorgen Holz gestohlen hat, weil er dachte, unser Herr Christus wäre nun gekreuzigt und todt. Zur Strafe muß er im Monde sein und Schleifholz tragen.“ In Hemer aber lautet die Geschichte: „Es war einmal ein Mann, der wollte am stillen Freitage sein Feld einzäunen und hatte einen Haufen Dorngesträuch an der Gabel; da kriegte ihn unser Herrgott zu fassen und setzte ihn so, wie er ging und stand, in den Mond.“
Alle diese Erklärungen des Mondmännchens laufen, wie man sieht, auf die Bestrafung der Entheiligung oder Störung von Feiertagen hinaus, tragen also einen christlichen Charakter. Heidnischen Ursprungs dagegen sind wieder die nachstehenden beiden, von denen die erste aus dem Siegenschen, die andere aus Schmallenberg in Westphalen stammt. Ein junger Mann hat einmal des Nachts zu seinem Mädchen in’s Fenster steigen wollen. Da hat aber der Mond so hell geschienen, daß der Bursche gedacht hat: Du willst ihn doch mit einer Dornwelle verfinstern. Wie er aber so gestopft hat, ist er zuletzt darin hängen geblieben. – Ein Säufer hat einmal dem Monde, als er betrunken aus dem Wirthshause auf die Straße trat – vermuthlich weil er ihm das schiefe Gesicht des seligen Herrn von Mühler machte – mit einer Dornwelle gedroht, und der Mond hat das übel genommen und den Mann mitsammt seiner Dornwelle zu sich hinaufgezogen, wo er noch immer sitzt.
Nach einigen Erzählungen hat der Mond nicht blos diesen einen Bewohner, sondern es befindet sich darin außer einem Manne, der Dornen an einer Gabel trägt, auch eine Frau, die an der „Kirne“ (Butterfaß) steht und buttert. „Das sind,“ erzählt man zu Hemer, „ein Paar Eheleute gewesen, die den Sonntag nicht heilig gehalten haben. Der Mann hat während der Kirche sein Feld mit Dornen umzäunt, die Frau aber hat Butter gekirnt. Da hat sie unser Herrgott damit bestraft, daß sie dies (ein Anklang an die Sage vom ewigen Juden, vom fliegenden Holländer und vom wilden Jäger) in alle Zukunft hin thun sollten, jedoch nach ihrer Wahl entweder in der Sonne oder im Monde. Sie haben aber – man vergleiche damit die verwandte schwäbische Geschichte vom Verbannten im Monde, die oben mitgetheilt wurde – bei sich gedacht, in der Sonne möchte [808] es ihnen gar zu heiß werden, und so haben sie sich in den Mond setzen lassen.
Die Rantumer auf der schleswigschen Insel Sylt sagen nach Müllenhoff: Der Mann im Monde ist ein Riese, der zur Zeit der Fluth gebückt steht, weil er dann Wasser schöpft und auf die Erde gießt. Zur Zeit der Ebbe aber steht er aufrecht und ruht von seiner Arbeit aus, sodaß sich das Wasser wieder verlaufen kann.
Ich knüpfe hieran einige andere Züge der Auffassung des Mondes durch das Volk. Viel verbreitet ist die Meinung, man dürfe nach dem Monde nicht mit dem Finger zeigen, denn dann bestrafe einen der liebe Gott. Wie man in den meisten Gegenden Deutschlands im Mondscheine nicht arbeiten darf, so verbietet, wie Schönwerth uns mittheilt, oberpfälzischer Aberglaube, irgend ein Ackergeräth oder einen Wagen im Mondlichte stehen zu lassen, weil er davon entzwei gehen würde. Aus demselben Grunde darf man die Wäsche nicht im Mondscheine hängen lassen, und wenn abergläubische Leute rathen, sich vor dem Schlafen im Mondlichte und vor dem Trinken aus einer Quelle oder einem Bache, in welchen der Mond scheint, zu hüten, so denken sie ebenfalls an schädliche Eigenschaften jenes Lichtes. Eine eigenthümliche Warnung ist die, daß man im Mondscheine nicht tanzen soll, „weil dann die Erddecke so dünn wie Spinngewebe ist und die Geister drunten durch das Tanzen heraufgelockt werden“. Frauen, die in anderen Umständen sind, dürfen nicht in den Mond sehen, weil das Kind sonst mondsüchtig oder blöde wird. Endlich soll der Mondschein den Teint schwärzen, die Fäulniß von Fleisch und Fischen befördern und sogar die Barbiermesser stumpf machen. Der Montag gilt vielfach für einen Unglückstag, am Rheine, weil die Mägde, die an ihm einen Dienst antreten, viel zerbrechen und bald wieder abziehen, im Altenburgischen, weil man das Glück für die Woche mit weggiebt, wenn man an ihm etwas verleiht oder verschenkt. Andere hierher gehörige Meinungen und Regeln führt Grässe an: nach der einen darf man am Montage bei Einkäufen nichts schuldig bleiben, nach einer andern sich beim Nachbar kein Feuer holen und ebenso keinem, der Feuer holen will, dasselbe verabfolgen, nach einer dritten in keine fremde Stubenthür hineinsehen, ohne in’s Zimmer zu treten, weil man sonst bewirkt, daß der Mann die Frau prügelt. Wer Montags zur Zeit der Sommernachtgleiche geboren wird, kann mit Geistern verkehren.
Zahlreich sind die Vorschriften, die der Aberglaube in Betreff der Zeiten oder Phasen des Mondes ertheilt. Die Haare muß man sich in Tirol bei abnehmendem, im ganzen übrigen Deutschland aber bei zunehmendem Monde verschneiden lassen. Eier, im ersten Viertel gelegt, sind gut zur Speise sowie zum Erzielen junger Brut; die aus dem letzten Viertel taugen nicht zur Zucht. Alles Schlachtvieh, desgleichen Krebse, Muscheln und Austern sollen im Vollmonde fetter sein. Kinder müssen in derselben Phase entwöhnt werden, da sie dann besonders gedeihen, ebenso soll man in dieser Zeit die Kälber absetzen. Kürbisse sollen, wie man Zingerle in Absam sagte, drei Tage vor dem vollen Monde gesteckt werden, weil sie dann eine besondere Größe erlangen. Roggen muß man nach ziemlich allgemein verbreitetem Glauben bei wachsendem Monde säen, bei abnehmendem dagegen Gerste, Erbsen und Buchweizen. Brachen soll der Landmann in Tirol, „wenn der Mond unter der Erde ist“, das heißt bei Neumond, der von einer Regel bei Grässe auch zum Säen empfohlen wird. Im Allgemeinen gilt, daß alle Arbeiten, die auf ein Gewinnen oder Behalten abzielen, bei zunehmendem, alle, welche darauf gerichtet sind, etwas los zu werden, bei schwindendem Monde vorzunehmen sind. Indeß giebt es von dieser Regel viele Ausnahmen. Bei Grässe heißt es: Alles, was während des Neumondes unternommen wird, gelingt; deshalb soll man sich während desselben trauen lassen, weil es dann eine glückliche Ehe giebt, und neue Wohnungen beziehen, weil dann „die Nahrung zunimmt“. Wer aber kein Geld im Beutel hat, der hüte sich, ihn bei Neumond zu besehen; denn dann hat er, so lange das Licht währt, kein Geld. Komisch klingt der von Montanus angeführte niederrheinische Aberglaube, daß in der Zeit des Neumondes Verstand und Vernunft, wo sie nicht recht fest stünden, zu wackeln anfingen. Im ersten Viertel muß man die Schafe scheeren, die Wiesen mähen, Dünger auf den Acker fahren und die zum Schlage bestimmten Waldstrecken fällen. Namentlich ist das Bauholz in dieser Periode zu schlagen. Wer sein Silber im Vollmonde zählt, sieht es oft zu Gold werden; auch ist der Vollmond ein guter Eheprocurator. Dagegen dauert eine Heirath, die bei abnehmendem Monde geschlossen wird, nicht lange, weshalb sich nach Wuttke in Ostpreußen, Pommern und Hessen nicht leicht Jemand im letzten Viertel trauen läßt. Dagegen soll man in dieser Zeit waschen, Brennholz hauen und Schweine schlachten, und ebenso empfiehlt sie sich (in Mecklenburg) zum Weißen der Stuben, die dann rasch trocken werden. Andererseits ist wieder Zuchtvieh, das während dieser Phase jung oder entwöhnt wird, nicht viel werth.
Im Folgenden werden wir sehen, daß der Mond auch unter den Arzneimitteln der Volksapotheke, bei Sympathiecuren u. dgl. eine bedeutende Rolle spielt, obwohl oder vielleicht gerade weil sein Schein für giftig gehalten wird. Sommersprossen wird man in Tirol los, wenn man sich des Nachts mit Wasser wäscht, in welches der Mond scheint. Kröpfe vertreibt man sich im Harz wie in Schlesien, wenn man sich bei zunehmendem Monde drei Abende hinter einander mit dem Gesichte gegen den Mond stellt, einen Stein aufhebt, den Halsauswuchs stillschweigend damit berührt und den Stein hierauf über die Schulter weg hinter sich wirft. Gegen Zahnschmerzen hilft nach Meier in Schwaben, wenn der Mond mit seiner Sichel zum ersten Male wieder erscheint, ihm das Gesicht zuzukehren und dreimal zu sagen: „Ich sehe den Mond mit zwei Spitzen; meine Zähne sollen mich weder stechen noch schmerzen, bis ich den Mond sehe mit drei Spitzen. Im Namen Gottes des Vaters etc.“ Gepulverte Todtengebeine sind in Tirol ein unfehlbares Mittel gegen die fallende Sucht, nur müssen sie bei abnehmendem Monde eingenommen werden. Eisenkraut, nach Aufgang des Hundssternes bei Neumond gepflückt, hilft gegen Kopfweh. Krebse, bei Vollmond gefangen, wenn die Sonne im Löwen steht, lebendig verbrannt und dann im Mörser zerstoßen, heilen die Hundswuth. Bruchschäden vergehen, wenn man bei Vollmond das an die Wand fallende Licht mit der hohlen Hand dreimal auf die Geschwulst schöpft und dazu die Formel: „im Namen Gottes des Vaters etc.“ spricht. In ähnlicher Weise werden im Mecklenburgischen Flechten und Warzen vertrieben, letztere auf folgende Methode. Man sieht scharf in den Vollmond und spricht: „Wat ik seh, dat steit; wat ik striek, dat geit – im Namen etc.“ Ein Zaubersegen endlich, der nach Wuttke in Lauenburg gegen die Gicht gebraucht wird, und bei abnehmendem Monde Dienstags und Freitags abgebetet werden muß, lautet: „Gicht, ich befehle Dir durch Gottes Macht, durch Gottes Kraft, Du sollst nicht mehr reißen, Du sollst nicht mehr schleißen, Du sollst nicht mehr rennen, Du sollst nicht mehr brennen, Du sollst nicht mehr brechen, Du sollst nicht mehr stechen. Der Du unter den Neunundneunzig und Siebenundsiebzig bist, sicherlich magst Du vergehen, wie die weiße Wand (das heißt wohl: wie der weiße Mondschein an der Wand), da unser Herr Jesus am Kreuze hang. Im Namen Gottes etc.“
Man vergleiche hiermit, daß in Mecklenburg auch die Sonne das Fieber vertreiben helfen muß. Der Kranke betet dreimal bei Aufgang der Sonne und gegen dieselbe gerichtet: „Liebe Sonne, komm bald herab und nimm mir die siebenundsiebzig Fieber ab! Im Namen etc.“
Selbstverständlich ist der Mond auch bei anderem Zauberwerke nothwendiger Helfer. So beim Gießen von Freikugeln, bei der Anfertigung von Wünschelruthen und beim Festbannen von Dieben. Eine ganz eigenthümliche Rolle aber nimmt er in folgendem von Kuhn aus Westphalen mitgetheilten Recept zur Herstellung eines magischen Prügels ein: „Merke, wenn der Mond an einem Dienstage neu wird, so gehe vor der Sonne Aufgang aus, tritt zu einem Stecken, den du dir zuvor ausersehen hast, stelle dich mit dem Gesicht gegen der Sonne Aufgang und sprich diese Worte: Steck, ich greife dich an im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Nimm dein Messer in die Hand und sprich: Steck, ich schneide dich im Namen etc., daß du sollst gehorsam sein, welchen ich prügeln will, wenn ich einen Namen antrete. Darauf schneide auf zwei Orten am Stecken etwas hinweg, damit du diese Worte darauf kannst schreiben, stechen oder schneiden: Abia. obia. sabia. Lege einen Kittel auf die Schwelle unter der Thür, nun schlage mit deinem Stecken auf den Kittel und nenne des Menschen Namen, welchen du prügeln willst, und schlage tapfer zu, so wirst du denselben
[809][810] ebenso hart treffen, als wenn er selbst vor dir läge, während er doch oft viele Meilen von dem Orte weg ist.“
Wo man das Original nicht haben kann, da thut es das Abbild. Der Mond ist, wie bemerkt, gegen Allerlei gut, gegen Gicht und Kopfschmerz, Sommersprossen und Warzen, Kröpfe und Zahnweh. Warum sollte er nicht auch gegen bösen Zauber, gegen Behexung und gegen den neidischen Blick schützen, der schon so viel Schaden angerichtet hat? Gewiß wird das so sein, sagten sich schon die alten Griechen, und da sie den Mond nicht immer sahen und ihn auch nicht bei sich tragen konnten, so machten sie sich kleine Mondchen von Metall, „Meniskoi“, die sie ihren Kindern umhingen, um sie gegen das Beschreien und namentlich gegen das „zauberhafte Auge“ zu sichern. Die Römer bedienten sich dieses Amulets ebenfalls, und zwar trugen, wie Otto Jahn berichtet, bei ihnen auch Frauen und Pferde diese „Lunulae“ an einer Schnur oder einem Bande um den Hals. Die Sitte aber ist in Italien und im Morgenlande noch heute nicht ausgestorben; denn noch jetzt glänzt der Talisman des Halbmondes auf den Minarets und den Feldzeichen der Türken, und noch vor wenigen Jahren trugen neapolitanische Damen silberne Mondchen am Arme, um gegen die Epilepsie geschützt zu sein, die allenthalben vom Volke als etwas „Angethanes“ angesehen wird.
Der letzte Blick dem liebsten Grab.
Der letzte Blick dem liebsten Grab!
Das ist mein schwerstes Scheiden.
Im Arme all mein Gut und Hab,
Im Herzen Lieb’ und Leiden,
Auf’s liebste Grab den letzten Blick.
Dort liegt mein Alles in der Welt,
Mein Leben und mein Lieben.
Ich hab’ kein Herz mehr, das mich hält;
Es weinet Niemand, daß ich geh’ –
Und doch thut mir das Scheiden weh’.
Dir bleibt mein Sehnen zugewandt,
Wo auch ich wandeln werde, –
Das mein ist auf der Erde!
Nimm’ hin, was ich für dich noch hab’:
Den letzten Blick dem liebsten Grab.
Ferienstudien am Seestrande.
Man kann kaum einen größeren Stein an dem Strande von Roscoff umwälzen, ohne auf seiner Unterfläche eine zahlreiche Bevölkerung seßhafter Wesen zu finden, unter welchen sich die Seescheiden (Ascidiae) vor allen auszeichnen.
Warum, aus welchem Grunde und zu welchem Zwecke die Natur, die nach der allgemeinen Anschauungsweise ein Bild der größten Zweckmäßigkeit bietet, die Seescheiden erschuf, ist mir bis jetzt nicht völlig klar geworden. Ich habe vergebens um Belehrung darüber in den Büchern nachgeforscht, und aus dem eigenen Gehirne einen vernünftigen Gedanken zur Beantwortung dieser Fragen herauszudestilliren, ist mir bis zur Stunde nicht gelungen. Welchen Zweck kann eine Bestie haben, die am Steine festsitzt, in einen Holzmantel gehüllt ist und in deren Inneres zwei Oeffnungen führen, durch deren eine Wasser hinein strömt, um durch die andere wieder ausgespritzt zu werden?
„Das soll ein Thier sein?“ fragt der Laie, dem man an der Unterseite eines Steines einen fleischrothen, knorpelharten Körper zeigt, der nicht die mindeste Bewegung gewahren läßt und zuweilen über und über mit kleinen Meerthieren aller Art besetzt ist, Polypen, Schnecken, Moosthieren, Wurmgehäusen und ähnlichem Zeuge, wie es auch auf dem Steine selbst angewachsen ist – „das soll ein Thier sein? Dann bin ich eine Pflanze oder ein Stein.“ „Gewiß ist es ein Thier,“ antworte ich, „und zwar die blutige Seescheide (Ascidia sanguinea). Sie sollen sofort sehen, daß ich Recht habe.“ Das Breitmesser wird hervorgeholt, zwischen den Körper und den Stein eingeschoben und mit raschem Stoße hart an dem Felsen hingeführt. Das glatte Ding ist losgelöst, ohne daß sich eine Regung gezeigt hätte, und wird in das Gefäß mit Seewasser geworfen. Wir sammeln etwa ein Dutzend, treten damit den Heimweg an, und zu Hause angekommen, werden die bewegungslosen Körper in ein flaches Aquarium gelegt, in welchem sie gerade vom Wasser bedeckt sind, das in lebhaftester Strömung erhalten wird.
Nach einigen Stunden treten wir zu dem Becken. Auf jedem der beinahe handlangen, drei Finger breiten Körper gähnen zwei Oeffnungen, die in einen tiefen Abgrund zu führen scheinen. Der Freund beugt sich darüber hin, um genauer in das Loch hinein zu schauen. In demselben Augenblicke berühre ich dasselbe mit einem Glasstabe. Der Körper zieht sich mit Energie zusammen; ein Wasserstrahl schießt, wie aus einer Spritze, heftig hervor und trifft den Freund in das Gesicht, der erschrocken zurücktaumelt. „Glauben Sie noch immer, es sei kein Thier?“ Er wischt sich die Augen, die vom prickelnden Seewasser thränen, und besteht darauf, daß ich ihm die Organisation der räthselhaften Bestie näher auseinandersetze. Wir nehmen einen der Spritzer heraus, führen ein Scheerenblatt in die vordere Oeffnung, trotz des lebhaften Widerstandes, mit welchem das Thier dieselbe zusammenkneift, und spalten den Körper der Länge nach auf.
Die äußere Hülle, der sogenannte Mantel, ist bei dieser Art knorpelhart, halb durchscheinend, röthlich gefärbt und von carminrothen Aederchen durchzogen. Zugleich mit dem Mantel, der aus einem der Holzsubstanz (Cellulose) ähnlichen Stoffe zusammengesetzt ist, habe ich durch den Schnitt, der von der Einführungsöffnung ausgeht, einen dem Mantel innen anliegenden, weiten häutigen Sack aufgeschlitzt, der eine gelbliche Farbe hat und von einem Gitterwerke durchzogen ist, das einem feinen, aus parallelen Fäden gebildeten Siebe ähnlich ist, welches hie und da durch stärkere Längsfäden und Falten gestützt wird. Es ist der Kiemensack – die Gitterspalten sind feine Oeffnungen, mit Flimmerhaaren besetzt, welche einen beständigen Wasserstrom unterhalten, der durch die Oeffnungen hindurch in einen zweiten Raum, den Cloakenraum, streicht und dann durch die zweite äußere Oeffnung, die Cloakenöffnung, nach außen befördert wird. Der Kiemensack nimmt wenigstens vier Fünftel des ganzen inneren Körperraumes ein – unter und hinter ihm sind die übrigen Eingeweide zusammengedrängt. Ich zeige dem Freunde den schlingenförmig gewundenen, braun gefärbten Darmcanal, der tief im Grunde des Kiemensackes mit einem schlitzförmigen Maule beginnt, sich zu einem mandelförmigen Magen erweitert und schließlich in die Cloakenhöhle öffnet; ich zeige ihm hinter und unter dem Darme das schlauchförmige Herz, das, mit farbloser Flüssigkeit gefüllt, seine wellenförmigen Zusammenziehungen bald von rechts nach links, bald, nach kürzerem Stillstande, von links nach rechts umtreibt; ich zeige ihm, um den Darm herum, den Knäuel, in welchem die Fortpflanzungsorgane mit der Leber zusammengewickelt sind, und führe ihm endlich unter dem Mikroskope die Eier vor, welche in dem Eileiter nach dem Cloakenraume geführt werden, um später als Larven mit beweglichen Schwimmschwänzen ausgestoßen zu werden.
[811] „So, lieber Freund,“ sage ich nach dieser kurzen Demonstration, „da haben Sie nun einen Häckel-Kowalewski’schen Urahnen der Wirbelthiere und somit auch des Menschen flüchtig kennen gelernt, welcher zugleich das nicht geringe Verdienst besitzt, der Dohrn’schen Ansicht vom allgemeinen Sündenfalle der Thierwelt sich anzupassen. Können Sie mir glauben, daß diese hartnäckige Bestie, wie alle ihre Verwandten, die Seescheiden im Allgemeinen, in ihrer Jugend die schönsten Ansätze zu höherer Vollendung in ihrem Schwanze trägt, dieselben aber mit diesem Schwanze später von sich wirft und in ihrer Verstocktheit sich philiströs festsetzt, um nur dem Ernährungs- und Fortpflanzungsgeschäfte sich hinzugeben, statt frei umherzuschweifen und, wenn auch unbewußt, als Anhänger der Hartmann’schen Philosophie Höheres anzustreben und weiterer Vervollkommnung sich anzupassen durch harten Kampf um das Dasein? Wie feige muß die Seele sein, welche diesen ungestalten, sackförmigen Körper bewohnt! Und doch muß diese Seele, als den Urahnen angehörig, ihr Theil Unsterblichkeit besitzen – denn wie hätte sonst die Seescheide auf ihre Nachkommen, die Menschen, diese Ur-Eigenschaft der menschlichen Seele vererben können?
Als Larve, kaum dem Ei entkrochen, hat das Thier, nach Kowalewski und Kupfer, eine Wirbelsaite, aus der sich Wirbel, Schädel, Gliedmaßen und wer weiß was Alles noch entwickeln könnten; als Larve hat es ein Nervensystem, aus dem Rückenmark und Gehirn sich entfalten könnten; als Larve hat es nur wenige Kiemenspalten, welche es zu Fischkiemen ausbilden könnte – und alle diese unendlichen Vorzüge vor anderen Würmern, die es erhalten hat, man weiß nicht wie, wirft es von sich, verhunzt sie in ärmlicher und zugleich grausamer Weise und zieht es vor, ein beschränktes Leben zu führen, gebannt an den Boden, auf welchem es sich festsetzte, verdammt zu ewiger, untergeordneter Stellung. Kein Ehrgeiz kann diesen weiten Kiemensack schwellen, kein Trieb nach Höherem dies ewig wechselnde Herz bestimmen, nur einem einzigen Ziele stufenweiser Vervollkommnung entgegenzuschlagen.
Vor der silurischen Urzeit freilich waren die uns zwar unbekannten, aber aus monistischer Weltanschauung zu construirenden Sprößlinge der Vorgänger unserer Seescheiden offenbar von edlem Wetteifer ergriffen; sie schwammen herum, bildeten ihre Wirbelsaite aus, entwickelten ihr Nervensystem, und die Nachkommen dieser strebenden Larven gelangten endlich nach hundert vielgestaltigen Entwickelungsphasen als Menschen in den Besitz einer unsterblichen Seele und zeichneten sich, wenn nicht durch Anderes, so doch, nach Quatrefages, durch Religiosität vor allen übrigen Thieren aus – aber schon seit der silurischen Epoche der Erdgeschichte haben die directen Nachkommen dieses strebenden Heldengeschlechtes die leuchtende Spur ihrer Ahnen verlassen, um, in niederträchtiger Beschaulichkeit festgebannt, nichts Anderes zu thun, als zu sitzen, zu leben und sich selbst ähnliche Kinder zu zeugen. O des schmachvollen Unterganges, der verhängnißvollen Rückbildung von Höherem zu Niederem! Nichts scheint ihnen wünschbar, diesen Epigonen – sie wollen keine Augen, um das Licht nicht sehen zu müssen; keine Glieder, um nicht schwimmen zu müssen – ja nicht einmal die einfache Quergliederung, die vielleicht doch, wider ihren Willen, zur Verwirbelung und zur Menschwerdung führen könnte, liegt in ihrem unbewußten Ziele. Sie sind und werden ewig bleiben, was sie sind.“
Ich würde noch lange in solchen Schmerzensschreien über verfehlte Bestimmung fortgefahren haben, wenn nicht mein Freund einige Querfragen gethan hätte. „Was sind denn die gelblichen, haselnußgroßen Klumpen,“ fragt er, „die da unten im Schleime und den Falten des Kiemensackes geborgen liegen? Es will mich fast dünken, als hätte ich eine Bewegung an ihnen bemerkt.“
Drei solcher Klümpchen werden hervorgezogen, mit einem Pinsel vom Schleime befreit und in ein Glasschälchen mit frischem Wasser gelegt. Nach einiger Zeit strecken sie links und rechts einige Beine hervor; zwei große Scheeren, die hart an den Vorderrand des Leibes angepreßt waren, entfernen sich nach vornen; zwischen ihnen werden Fühlhörner und zwei kleine, auf beweglichen Stielen sitzende, dunkelgrün glänzende Augen sichtbar – es sind kleine Krabben, Pinnotheres Ascidiarum, die gemächlich hin und her spazieren und offenbar ein neues Versteck suchen. Die tragen den deutschen Namen „Taschenkrebse“ mit vollem Rechte, denn sie sitzen in dem weiten Kiemensacke wie in einer Tasche und scheinen sich darin ganz wohl zu befinden. Sie sind dick und kugelrund – augenscheinlich wohlgenährt. Ob sie die Seescheide von innen ausfressen? Dieser Gedanke muß Jedem kommen, der die gefräßige Natur der Krabben kennt, dieser Aasgeier des Meeresbeckens, die sich um jede Leiche sammeln, sie abnagen bis auf die Knochen und auch das Kleinzeug nicht verschmähen, das ihnen keinen Widerstand zu leisten vermag. Aber wenn diese Vermuthung richtig wäre, so müßte doch die Seescheide innere Verletzungen zeigen, und davon ist auch nicht die Spur vorhanden. Sogar das feine Netzgewebe des Kiemensackes, das bei dem geringsten Zupfen mit der Pincette zerreißt, ist von den scharfen Fußkrallen und den Scheeren nicht im Mindesten beschädigt worden. So bleibt uns denn nichts Anderes übrig, als anzunehmen, daß die Krabben mit ihrem Wohnthiere fein säuberlich umgehen und daß sie zu der in der Thierwelt noch weiter als im ehemaligen Königreiche Neapel verbreiteten Gesellschaft der Camorra gehören, die sich an irgend einem gangbaren Orte festsetzt, wo reichliche Nahrung passirt, und von demjenigen, was die Seescheide mit dem Athemwasser einpumpt, ihren Theil vorweg einnimmt, bevor es in den schlitzförmigen Mund gelangt. Giebt es ja doch Verwandte unserer Krabbe, welche in Muscheln leben, die sogenannten Muschelwächter (Pinnotheres), die besonders gern in der großen Schinkenmuschel (Pinna) hausen und von denen schon die Alten erzählen, daß sie ihren Gastwirth durch sanftes Kneipen benachrichtigten, wenn eine Gefahr nahe, damit dieser geschwind die geöffneten Schalen schließe. Das lassen wir dahin gestellt, glauben aber immerhin, daß es sich um ein freundschaftliches Verhältniß handele, und dies um so mehr, als die Anwesenheit der Krabben in der Seescheide deshalb auffallend ist, weil sie zu groß scheinen, um durch die Oeffnung in den Kiemensack eindringen zu können.
Die Seescheide schließt aber die Oeffnung mit großer Gewalt, sobald ein fremder Körper sie nur berührt, wie viel mehr, wenn ein Feind sich bemüht, einzudringen. Wären die Krabben als Junge hereingekommen, als sie noch in fremdartiger Gestalt in dem Wasser umher schwammen – vielleicht von dem Strudel erfaßt und fortgerissen? Aber schon manche Beobachter vor uns haben Krabben in Seescheiden gefunden und, wie wir, niemals anders als in erwachsenem Zustande. Ja, ich habe erst ganz neuerdings beobachtet, daß die jungen Krabben wirklich aus den Seescheiden auswandern. Mein Freund Lacaze, der sich eifrig mit dem Studium der Seescheiden abgiebt, hielt einige Individuen schon seit mehreren Tagen in einem Aquarium. Kein anderes Thier war darin vorhanden. Plötzlich wimmelte das Wasser des Aquariums von jenen seltsamen Larven der Krabben, welche die Naturforscher unter dem Namen Zoëa kennen, und die, mit einem langen Stirnstachel, zwei Seitenstacheln, furchtbar großen Augen und sperrigen Schwimmfüßen ausgerüstet, zu den barockesten Gestalten des Thierreiches gehören. Die Jungen konnten nur von einer im Inneren der Seescheiden lebenden Krabbe abstammen. So bleibt denn nichts übrig, als die Annahme, daß diese letzteren von der Seescheide gastlich aufgenommen werden, von den Brosamen leben, die dem Tische ihres Hausherrn zugeführt werden, und sogar in ihrem Verstecke der Freuden des ehelichen Lebens nicht verlustig gehen.
Diese Annahme wird noch bestärkt durch das Auffinden anderer, freilich weit kleinerer Gäste, welche den Kiemensack bewohnen. Es sind ebenfalls Krebsthierchen, aber aus der Proletarierfamilie der Krebsflöhe (Copepoden), während die Krabben zu den höchsten Adelsgeschlechtern des Krebsstammes gehören – freilich sind diese Muschelwächter herabgekommene Krautjunker, denen nichts übrig geblieben ist, als Herrendienst und schlecht maskirte Hörigkeit, Wegelagerung und Wegschnappen der Nahrung ihres Dienstherrn.
Die kleinen Proletarier erscheinen dem bloßen Auge wie feine Sandkörnchen von schmutziger Farbe – erst wenn man sie genauer betrachtet, sieht man, daß diese Körnchen sich bewegen und langsam umher krabbeln. Wir finden in unseren blutigen Seescheiden von Roscoff zwei sehr verschiedene Arten, von welchen ich nur die eine in das Auge fassen will.
Kann man ein sonderbareres Wesen sehen, als das ausgewachsene Weibchen, welches unsere Figur 1 im Profil darstellt? Ein cylindrischer, etwas gebogener Leib, unter welchem [812] der mit einem einzigen kleinen, blutrothen Stirnauge geschmückte spitze Kopf aufgehängt scheint, wie der Kopf eines Schuljungen, den seine Cameraden an dem Rockkragen hinter die Thür aufgehängt haben, durch welche der Lehrer eintreten soll. Unter diesem Kopfe stehen die Fühler, die Freßspitzen kaum hervor; an der Bauchseite des Leibes sind vier Fußpaare, mit Schwimmborsten besetzt, angebracht; der aus vier Gliedern bestehende, mit doppelter Endkralle versehene Hinterleib verjüngt sich nach hinten und läßt ebenso den Darm durchscheinen, wie der Leib die doppelt in sich zurückgebogene Eierschnur, die bei weiterer Entwickelung des Eies den ganzen Leibesraum ausfüllen wird. Auf dem Rücken aber entfalten sich seltsame, flügelförmige Blattanhänge, die an ihren Rändern in lange, biegsame, am Ende abgestumpfte Anhänge auslaufen, im Nacken eine Kapuze mit drei Spitzen, dann zwei Paar seitlicher Flügelblätter, jedes mit zwei Spitzen, und hinten wieder ein Blatt, ähnlich dem Hinterleder der Bergleute. Papa Hesse in Brest, der das Thierchen entdeckt hat, und in Erfindung unaussprechlicher Namen eine ganz besondere Stärke besitzt, hat ihm den Gattungsnamen Notopterophorus (Rückenflügelträger) beigelegt. Aber das Thier fliegt weder, noch schwimmt es mit diesen Anhängen; es bewegt sie nur träge hin und her und kriecht äußerst langsam und bedächtig auf dem Boden des Glasgefäßes, in welches man es gebracht hat, ebenso bedächtig wie in dem Kiemensacke, in welchem es wohnt.
Man findet ganze Familien zusammen in dem Schlamme wimmelnd. Die jungen Weibchen (Fig. 2) habe noch keine Spur von den Rückenflügeln; ihre Gestalt ist wie ein Fiedelbogen gekrümmt, der Kopf noch nicht untergebogen, das Auge sehr groß, der Leib deutlich aus vier Ringeln zusammensetzt, der Schwanz aus dreien und seine Anhänge weit länger. In dieser Gestalt haben sie etwa eine halben Millimeter Länge und bis auf die Zahl der Ringel, welche bei dem Männchen bedeutender ist, gleicht ihnen dieses in Gestalt und Größe vollkommen. Beide Geschlechter besitzen also in dem Jugendzustande eine gemeinsame Grundgestalt, und während diese bei dem Männchen erhalten bleibt, artet sie gewissermaßen bei dem Weibchen mit dem zunehmenden Alter aus. Die Ringel heben sich in dem Nacken ab, stehen bald zipfelförmig hervor, und sobald diese Ausbildung begonnen und das Weibchen einen Millimeter Länge erreicht hat, schlüpft das Männchen mit seinem Kopfe unter den dritten Zipfel, hakt sich fest und läßt sich nun von dem Weibchen ruhig herumschleppen (Fig. 3). Bis zu diesem Zeitpunkte habe ich in dem freilich ziemlich undurchsichtigen Leibe des Weibchens keine Spur von Eierschnüren entdecken können; sie sind gewiß in der Anlage vorhanden, aber zu zart, um leicht sichtbar zu sein. Bald findet man die Geschlechter wieder getrennt, das Männchen unverändert, das Weibchen dagegen krümmt sich; das Auge wird kleiner; die Zipfel wachsen zu Flügeln aus, und die Eierschnüre füllen den Leib an, bis endlich in ganz erwachsenem Zustande, wo das Weibchen vier Millimeter lang geworden ist, die Eier gelegt werden.
Aus diesen aber schlüpft ein nicht minder seltsames Wesen (Fig. 4) aus – ein elliptischer Körper mit schwach angedeuteten Querringeln, einem ungeheuren, rothen, aus zwei Hälften zusammengesetzten Stirnauge; dahinter, auf der Bauchseite, eine gewaltige, dreilappige Oberlippe; der Leib erfüllt mit dunkelgrünen Dotterkugeln, die den geraden Darm verhüllen. An diesem Leibe sind drei Paar Schwimmfüße seitlich und vorn befestigt; das erste Paar einfach mit langer Endborste, die beide hinteren Paare mit doppelten Endgliedern und langen Schwimmborsten daran. Dieses Wesen entspricht der Grundform der Krebsthiere, welche der berühmte dänische Zoologe Otto Friedrich Müller „Nauplius“ genannt hat. Unser Nauplius schwimmt behende umher, während alle anderen beobachteten Formen nur langsam kriechen. Ohne Zweifel verläßt er die Seescheide mit dem von ihr ausgepreßten Wasserstrahle, tummelt sich eine Zeitlang in dem Wasser umher und schlüpft, wenn die Zeit seiner Verwandlung naht, in eine andere Seescheide ein, um dort alle jenen Phasen der Ausbildung zu durchlaufen, die man bei den Einsassen der Seescheide findet. Nur ein glücklicher Zufall wird die Zwischenformen zwischen diesen Nauplius und den jüngsten von mir beobachteten Männchen und Weibchen entdecken lassen – bis jetzt habe ich mich vergebens abgemüht, sie zu finden. Wahrscheinlich spielen sie sich theilweise im Freien ab. Wie aber in dem unendlichen Meere ein Wesen suchen, das mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist und durch kein noch so feines Netz in dem Aquarium zurückbehalten werden kann? Bei einer andern Gattung, welche dieselbe Seescheide bewohnt, habe ich Andeutungen der am Nauplius sprossenden Füße gesehen, aber nicht mehr.
Diese Gäste der Seescheiden sind schon lange bekannt. Thorell, ein schwedischer Naturforscher, hat eine vortreffliche Abhandlung darüber veröffentlicht; Hesse in Brest hat eine große Menge neuer Gattungen und Arten, nur in der Umgegend von Brest gesammelt, hinzugefügt, von welcher viele freilich nicht stichhaltig [813] sein mögen – ich zähle jetzt neunzig Arten in dreißig Gattungen vertheilt. Aber damit sind die Fragen, welche sich an sie knüpfen, nicht gelöst.
Ich sagte in der Ueberschrift: Gäste oder Schmarotzer? Gäste, welche Wohnung und Kost haben, welche sich zwar nicht, wie echte Schmarotzer, auf Kosten des Leibes ihres Wohnherrn nähren, die aber vielleicht auf dem besten Wege sind, es zu werden. Alle diese Gattungen und Arten zeigen eine stufenweise Rückbildung der Sinnesorgane und der Bewegungswerkzeuge. Die Jungen haben ausgebildete Schwimmfüße und große Augen – alle bis jetzt beobachteten Nauplius schwimmen lebhaft umher. Die Alten kriechen oder hüpfen höchstens – die Schwimmbeine, wenn auch zahlreicher und nach demselben Plane gebildet, taugen dennoch nur zum Kriechen und Krabbeln; bei dem Weibchen namentlich wird der Körper durch die Entwickelung der zahlreichen Eier zu schwer. Die Augen der Alten verschwinden zuweilen ganz; bei den meisten sind sie auffallend kleiner, als bei dem Nauplius. Dieses Schwinden der Bewegungs- und Sinnesorgane ist aber charakteristisch für festsitzende und schmarotzende Thiere, bei denen sie schließlich vollkommen zu Grunde gehen.
So stehen denn diese kleinen Krebsthiere mitten inne zwischen den beiden Endpolen der Bildung: hier Freiheit, dort Schmarotzerthum. Sie leben in der dunklen Eingangshöhle des Wirthes, wo sie weder viel zu sehen brauchen, noch große Bewegungen ausführen können, aber sie haben noch so viel Bewegungsfähigkeit, um in dem wechselnden Wasserstrome, der sie umspült, sich ihre mit eingespülte Nahrung verschaffen und sie der Seescheide vor dem Munde wegschnappen zu können. Gerade dieses Verhältniß aber, dieses Schwanken zwischen zwei Extremen verleiht dem Studium der seltsamen Sackbewohner einen erhöhten Reiz; denn es handelt sich jetzt nicht mehr darum, theoretische Gebäude auf einigen wenigen Thatsachen aufzurichten und mit einigen Schlagwörtern ganze Entwickelungsprocesse abzuthun, es handelt sich vielmehr darum, im Einzelnen die Wirkungen zu verfolgen, welche die Anpassung an gewisse Lebensbedingungen hervorgerufen hat. Hier hat man es mit Thieren zu thun, die eine bleibende Wohnstätte gefunden haben, welche sie nicht mehr verlassen, aber die Wohnstätte ist eine Dunkelkammer, von heftigen Wasserstrudeln durchströmt, welche ihnen zwar Nahrung zuführen, aber zugleich auch sie fortzureißen drohen. Das schwächere Männchen klammert sich an das stärkere Weibchen an – es ist auf dem besten Wege, dessen ewiger Beisasse zu werden, wie dies bei vielen anderen Schmarotzerkrebsen der Fall ist; die drei Schwimmfüße des Nauplius sind Fühlhörner, Klammerhaken und Kauwerkzeuge bei beiden Geschlechtern geworden; die später gesproßten vier Beinpaare gestatten nur humpelndes Kriechen und Festhalten; die Augen stehen auf dem Punkte zu verschwinden – alle diese im Zuge befindlichen Veränderungen können wir bei anderen Gattungen, die aus Insassen wirkliche Schmarotzer geworden sind, verwirklicht sehen.
Du reizende Maus!
Wie gefällt Dir’s hier im Haus
Hast Du schon den Jacob gesehn?
Gelt, die Mama ist wunderschön?
Habt wohl tüchtig fliegen müssen?
Hat Dich der Storch denn nicht gebissen? –
Guck’, die rothen Bäckchen und Ohren!
Hast unterwegs wohl arg gefroren,
In der Luft, auf der langen Reise,
Immerfort über Schnee und Eise!
Ach die Händchen! Du liebe Güte!
Damit hieltst Du die Zuckerdüte?
- ↑ Karlsbad in geschichtlicher, medicinischer und topographischer Beziehung. Von Med. Dr. Eduard Hlawacek. Karlsbad, 1876, Hans Feller, Mk. 4. 80.
- ↑ Da noch keine Analyse nach dem neuen Gewichte existirt, so müssen wir die Quantitätsverhältnisse noch nach dem alten Apothekergewichte (wonach 1 Pfund = 16 Unzen, 1 Unze = 8 Drachmen, 1 Drachme = 60 Gran ist) berechnen.
- ↑ Wir entnehmen dieses reizende kleine Bild mit Genehmigung des Verlegers der soeben bei Alphons Dürr in Leipzig unter dem Titel „Unser Hausgarten“ erschienenen neuen Sammlung von Zeichnungen von Oscar Pletsch, zu denen Victor Blüthgen die Reime verfaßt hat. Das ansprechende Bilderwerkchen möge allen unseren Lesern für den Weihnachtstisch warm empfohlen sein. D. Red.
Abermals eine Flotte im Eismeere verloren. Im Jahrgang 1871, Nr. 52 der „Gartenlaube“ brachten wir eine Schilderung der Katastrophe, welche die amerikanische Walfängerflotte im Eismeere, nördlich von der Beringstraße, betroffen hatte. Unter Hinweisung auf einen anderen, in Nr. 5 und 6 desselben Jahrganges enthaltenen Aufsatz: „Eine Fahrt in das Eismeer“, zeigten wir, wie jene Flotte im Jahre 1871 an der Nordwestküste von Alaska (Amerika), auf der Höhe von Wainwright Julet (zwischen Cap Lisburne und der Barrowspitze), vom Eise besetzt wurde und zum größten Theile verunglückte. Dreiunddreißig Fahrzeuge wurden damals, Anfang September, theils vom Eise zertrümmert, theils unrettbar eingeschlossen, theils auf das Land gedrängt.
In dem gegenwärtigen Jahre hat sich, wenn auch in geringerem Maße, dieselbe Katastrophe wiederholt, und zwar an derselben Küstenstrecke und unter gleichen Verhältnissen. Alljährlich, wenn das Eis in der Beringstraße und in dem nördlich davon liegenden Meerestheile des Polarbeckens aufgebrochen ist, gewöhnlich im Mai und Juni, segeln viele Walfänger dorthin, um den reiche Erträge sichernden nordischen Bartenwal zu jagen. Da derselbe sich vorzugsweise in der Nähe des Eises, auch zwischen den Feldern aufhält, weil diese ihm Schutz vor Verfolgern gewähren, haben ihn die Fahrzeuge dort aufzusuchen. Die Größe und Lage der Eisfelder ist aber vielen Schwankungen unterworfen. Die Härte des vorangegangenen Winters hat das alte, übriggebliebene Eis entsprechend vermehrt; Strömungen und Winde wirken auf dasselbe ein, sodaß seine Vertheilung fast in jedem Jahre eine andere ist.
Das Packeis im Norden der Beringstraße ist das schwerste, welches wir kennen. Es besteht freilich im Durchschnitt nur aus sechs bis zehn Meter dicken Schollen und Flächen, diese sind aber außerdem durch Aufstauungen und Hebungen beim Zusammenstoß der von Wind und Strömungen getriebenen Eismassen, durch mächtige, nur theilweise abschmelzende Schneeschichten, welche die alten als neue Eislagen verdicken, in einem unbeschreiblich wilden Durcheinander zu Hügeln und Stücken von viel bedeutenderer Höhe aufgethürmt. Die geschlossene uralte Hauptmasse dieses Packeises liegt jenseits der Beringstraße von ungefähr siebzig Grad nördlicher Breite an zwischen der Nordwestküste von Alaska und Wrangel’s Land und dehnt sich nordwärts in unbekannte Ferne. Dieses „Mittelfeld“ ist nicht segelbar, als Ganzes auch nur in geringem Maße beweglich und kann namentlich nicht durch die Beringstraße nach Süden treiben und in wärmeren Gegenden abschmelzen, da der Meerestheil zwischen ihm und der Straße zu flach ist für seinen bedeutenden Tiefgang. Nur die diese Hauptmasse umgebenden weniger schweren Felder sind ein freies Spiel der Strömungen und Winde und werden, wenn sie sich zwischen jenem „Mitteleis“ und dem Lande eingekeilt haben und jenes sich innerhalb seines Spielraumes bewegt, mit ungeheuerer Gewalt gedrängt, zu wüstem Haufwerk aufgethürmt, in flaches Wasser und sogar auf das Land selbst geschoben. In Folge einer solchen, durch anhaltende starke Westwinde verursachten Bewegung des Eises verunglückten, wie schon erwähnt, die dreiunddreißig Schiffe im Norden von Cap Lisburne.
Auch im eben vergangenen Sommer, also fünf Jahre nach jener Katastrophe von 1871, waren viele Walfänger am Cap Lisburne vorüber, in dem Streifen freien Wassers zwischen Küste und Packeis, welches letztere durch Strömungen und östliche Winde nach Westen abgedrängt war, bis zur Barrowspitze vorgedrungen. Anfang August befanden sich vierzehn Fahrzeuge in jener Gegend. Schon am 7. August ereignete sich der erste Unglücksfall. Die Bark „Arctic“ hatte sich zu weit zwischen die Felder gewagt. Ein Westwind setzte ein – sie wurde vom Eise umschlossen und zerdrückt. Die Mannschaft entkam glücklich über das Eis zu andern Schiffen, welche ebenfalls mehr oder weniger hart bedrängt waren.
Mitte August traten nördliche und nordöstliche Winde ein und zertheilten die Eisfelder; Wale erschienen und die Boote begaben sich auf [814] den Fang. Aber schon Mitte August sprang der Wind nach Westen um und nahm an Stärke zu; vor ihm her drängte das Pack wieder nach der Küste. Das Gefährliche ihrer Lage wohl erkennend, versuchten nun die Capitaine ihre Schiffe südwärts in Sicherheit zu bringen, wurden aber, ehe ihnen dies gelang, von dem Eise umschlossen. Nur zwei Schiffe, „Rainbow“ und „Three Brothers“, geschützt durch eine ausspringende Landzunge, ankerten noch sicher in der Nähe der Barrowspitze; einige andere, welche, genau wie im Jahre 1871, sich nicht so weit vorwärts gewagt hatten, befanden sich außerhalb der Gefahr am Eiscap. Zwölf Fahrzeuge waren am 24. August vom Eise besetzt, trifteten hülflos mit diesem hin und her und wurden vielfach beschädigt. Je nachdem das Pack sie gefaßt hatte, lagen sie von Wainwright’s Inlet nordwärts an verschiedenen Punkten nahe der Küste.
Um für alle Fälle zu sorgen, unternahmen es verschiedene Mannschaften, Proviant nach der unwirthlichen Küste zu bringen. Da aber gleichzeitig auch noch dichter Nebel eintrat, verirrten sich die abgesandten Leute auf ihrem gefahrvollen Wege; nur ein Theil fand sich zu den Schiffen zurück; verschiedene waren verunglückt oder durch die Kälte umgekommen. Ende August gerieth das Eis plötzlich in ein beharrliches Treiben und führte acht der Schiffe mit sich, ungefähr dreißig Seemeilen weit um die Barrowspitze nach Osten. Dort setzte das Pack sich fest und staute sich in gewaltigen Massen auf. Nach wenigen Tagen schon hatten sich die Capitaine überzeugt, daß ihre Lage hoffnungslos und auch nicht ein Fahrzeug zu retten war. Da die Jahreszeit schon weit vorgerückt war, man auch nicht Proviant genug hatte, um zu überwintern, wurde in einer allgemeinen Berathung beschlossen, die Schiffe schleunigst zu verlassen, der Küste folgend sich über das Eis nach Süden zu retten und dort Zuflucht auf einem vielleicht außerhalb der Felder kreuzenden Walfänger zu suchen. Ein Theil der Bemannung jedoch fürchtete die Gefahren und Anstrengungen eines in seinem Erfolge so ungewißen Zuges und etwa fünfzig Leute blieben auf den Schiffen zurück, um dort zu überwintern, während die übrigen, über zweihundert an der Zahl, am 5. Septbr. abmarschirten. Diese nahmen nur das Nothwendigste an Kleidung und Waffen, für drei Wochen Nahrungsmittel und natürlich auch die nöthigen Boote mit sich.
Da das Eis sehr uneben lag, war der Zug mit unendlichen Schwierigkeiten verknüpft; man mußte erst das Gepäck voraustragen, dann zurückkehren und die Boote ebenfalls so weit vorwärts schaffen; dann hatte man wieder Canäle und Flächen freien Wassers zu passiren, die Boote bald flott zu machen, bald wieder auf das Eis zu heben, das mitgeführte Gepäck aus- und einzuladen. Es bildete sich auch schon neues Eis, welches die Menschen nicht trug und für die Fahrt in den Booten erst zerschlagen werden mußte. Unter solchen Umständen kam man nur langsam vorwärts; verschiedene Leute wurden muthlos und kehrten wieder nach den Schiffen zurück. Am 9. September erreichte die abziehende Schaar nach großen Mühseligkeiten die Barrowspitze und die beiden unversehrt dort liegenden Schiffe. Deren Capitaine hofften sie aber noch zu retten, da sie nicht direct vom Eise besetzt, sondern nur umzingelt waren und meinten, daß eine günstige Brise freies Fahrwasser öffnen würde. Die von den verunglückten Schiffen kommenden Mannschaften wollten aber nicht warten; sie construirten Schlitten, setzten die Boote darauf und zogen quer über das Land nach der andern Seite der Barrowspitze. Dort trafen sie am 11. September statt freien Fahrwassers nur unabsehbares Eis und die Bark „Florence“ in diesem festsitzend. Nun wurde alle Hoffnung aufgegeben. Man beschloß, an der Barrowspitze zu überwintern und möglichst viele Wale zu fangen zur Ernährung so vieler Menschen während des Winters.
Da kam Rettung. Eine scharfe Brise setzte von Osten ein, trieb das Eis ab und zertheilte es. Die Bark „Florence“ wurde frei, nahm alle Schiffbrüchigen an Bord und segelte an der Küste entlang nach Süden. An Mainwright’s Inlet wartete man auf die etwa noch Nachkommenden. Am 18. August erschienen noch „Rainbow“ und „Three Brothers“; die Schiffbrüchigen wurden auf drei Fahrzeuge vertheilt und erreichten in ihnen nach wenigen Wochen Honolulu und San Francisco.
Zwölf Schiffe sind im Eise verunglückt. Auf denen im Nordosten der Barrowspitze sind etwa neunundfünfzig Menschen zurückgeblieben, welche einem langen traurigen Winter entgegensehen. Es ist möglich, daß trotz mangelnder Provisionen viele der Unglücklichen ihn überleben, da ja auch Eskimos an jenen unwirthlichen Küsten existiren, und daß sie im nächsten Sommer durch nordwärts kreuzende Walfänger wieder der Heimath zugeführt werden.Ein hübsches Weihnachtsgeschenk für die Kinderstube. In pädagogischen Kreisen haben die vom Lehrer Ad. Lehmann herausgegebenen „Thierbilder für den Anschauungsunterricht, in Buntdruck nach Aquarellen von H. Leutemann“, durch ihre Naturwahrheit, ihre schöne Ausführung und ihr großes Format – achtundachtzig Centimeter Länge und sechsundsechszig Centimeter Breite – so reiche Anerkennung gefunden, daß bereits eine zweite Auflage davon erschienen ist. Die ganze Sammlung besteht aus fünfzehn Blättern, deren jedes meist nur ein Thierstück bietet und in höchst praktischer Weise auf starkem Cartonpapier mit Leinwand-Schutzrand und Oesen zum Aufhängen für den sofortigen bequemen Gebrauch hergerichtet ist. Wir meinen, daß diese prächtigen Bilder nicht nur der Schule, sondern auch dem Hause recht erwünscht kommen und namentlich eine hübsche Zierde der Kinderstube bilden. Es sind so zum größten Theile die Lieblinge der Kinderwelt, die ihr hier in lebensvollen Bildern naturgetreu vorgeführt werden. Jedes Bild ist einzeln zu haben. Man wählt sich also diejenigen aus, welche man am hübschesten findet, und hängt sie daheim in der Kinderstube zur Freude und Belehrung der Kleinen an der Wand auf. Die Sammlung enthält folgende Bilder: Katze, Hase, Pferd, Karpfen, Maikäfer und Schmetterling (mit Verwandlung), Spinne und Krebs, Hund, Schaf, Storch. Ein vollständiges Exemplar kostet 20 Mark, ein einzelnes Bild 1 Mk. 50 Pf.
G. in M. Es ist richtig, daß eine Bewegung im Gange ist, durch welche in Bezug auf die neue Standesamtseinrichtung irrthümliche Vorstellungen erzeugt und die Begriffe der Bevölkerungen verwirrt werden sollen. Katholische wie protestantische Jesuiten betreiben diese offene oder versteckte Hetzerei gegen den klaren Geist und Sinn jenes unbedingt segensreichen Staats- und Reichsgesetzes mit so frevelhafter Planmäßigkeit, daß in der That ein gründliches und energisches Gegenwirken dringend nothwendig geworden ist. Aber es ist eben so gewiß, daß man die Angelegenheit nicht mehr berühren kann, ohne der neu entstandenen protestantischen Synoden zu gedenken, und daß verschiedene Berathungen und Beschlüsse dieser Synoden in den weitesten Kreisen der gebildeten bürgerlichen Welt eine sehr tiefgreifende Erbitterung und Entrüstung hervorgerufen haben.
Die Bestrebungen dieser Leute, d. h. der orthodoxen Partei in der Synode, gehen einfach dahin, die volle Kirchenzucht wieder einzuführen. Zu diesem Zwecke soll von jetzt ab eine Controle errichtet und sollen von der Kirche uns Wächter gesetzt werden, die unser kirchliches Wohlverhalten geschäftsmäßig zu beaufsichtigen haben. Vor den Briefen und Besuchen, den väterlichen Anfragen und Verwarnungen dieser modernen Inquisitoren und Executoren wiederhergestellter „Kirchenzucht“ wird also fortan nur das Haus desjenigen evangelischen Bürgers gesichert sein, der den Herren keinen Anlaß zu Einmischungen giebt, oder sie mit Anstand sich vom Leibe zu halten weiß. Neugierig darf man dabei nur sein, ob sich wirklich viele Bürger finden werden, die ihren Mitbürgern gegenüber die Rolle des Ermahners und Gewissensspürers zu übernehmen wagen. Es dürfte das in unseren Tagen doch häufig ein recht heikles Geschäft werden.
Aber sollte es wirklich in Deutschland noch Menschen geben, die mit offenen Augen nicht sehen, daß es sich bei diesem Kriege wider die Civilehe nicht um eine Frage des Gemeinwohls, der wahren Religion und Sittlichkeit handelt, sondern nur um eine Stellungs- und Interessenfrage priesterlichen Machtbedürfnisses und zelotischen Ehrgeizes? Viele nichtpietistische Geistliche bezeichnen den Kampf deshalb auch als einen Pfaffenkampf und halten sich demselben fern. Wer in aller Welt verliert denn auch, wer ist denn gestört oder verletzt durch den Umstand, daß kirchliche Gebräuche, wie Trauung, Taufe etc., nunmehr seiner freien Selbstbestimmung überlassen bleiben? Zeige man uns doch den Menschen, der fortan an der Uebung dieser frommen Acte gehindert würde. Sind sie denn etwa gar verboten oder abgeschafft worden, erhalten sie nicht vielmehr erst ihren Werth und ihre rechte Weihe durch die Freiwilligkeit des inneren Dranges?
Davon aber will bekanntlich der orthodoxe Geist nichts wissen, weil er weiß, daß er nicht die Fähigkeit besitzt, durch seine eigene Kraft eine Autorität zu gewinnen, wie sie ihm bis jetzt mit der bloßen geistlichen Amtsstellung so überaus bequem in den Schooß gefallen ist. Er bedarf für seine Existenz der kirchlichen Zwangsmittel, und wo diese seinen Händen entgleiten, da geht es in der That mit seiner Herrschaft zu Ende. Darum können es die Orthodoxen dem Staate nicht verzeihen, daß er ihnen den bisherigen Dienst nicht mehr leisten will, und darum sinnen sie grollend auf Maßregeln, wie trotz alledem der vom Staate in religiöser Hinsicht freigemachte Bürger auch fernerhin dem alten Zwange unterworfen bleiben soll. Die Berechnung, von der man dabei ausgeht, ist eine ziemlich schlaue. Das Ziel wäre erreicht, wenn es gelänge, an die Stelle des beseitigten staatlichen Zwanges den nicht minder tyrannischen Zwang der Sitte, eine Nöthigung durch den gesellschaftlichen Brauch zu setzen. Zu diesem Zwecke aber muß in den Augen des Volkes der Act der bürgerlichen Eheschließung herabgewürdigt, müssen bei den Unwissenden Zweifel an der vollen Gültigkeit dieses Actes erregt, muß er anrüchig gemacht und gleichsam mit einem sittlichen Makel behaftet, d. h. die nur vom Standesamt bewirkte Ehe als unrespectabel, gleichsam als Concubinat bezeichnet werden. Wer die Dinge kennt, der weiß, daß die betreffenden geistlichen Agitationen sämmtlich auf diese Absicht hinauslaufen. Das deutsche Volk aber hat sich bis jetzt redlich dieser Finsterlinge erwehrt; es wird sich auch in einem so hochwichtigen Punkte nicht von ihnen irre machen lassen und die frommen Intriguenschmiede an die betreffenden Aussprüche Luther’s erinnern, der u. A. einst wörtlich geschrieben hat: „Gott läßt oft in der Schrift bezeugen, er wolle keinen gezwungenen Dienst, und soll Niemand sein werden, er thue es denn aus Lust und Liebe. Hilf Gott, haben wir denn nicht Sinne und Ohren? Ich sage abermal: Gott will nicht gezwungenen Dienst haben; ich sage zum dritten Mal, ich sage hunderttausend mal: Gott will keinen gezwungenen Dienst haben.“ Ein solcher gezwungener Dienst aber würde jetzt die auf Betrieb jener Dunkelmänner wiederhergestellte äußere Nöthigung zu kirchlichen Handlungen sein.
O. in Rom. Welches Urtheil wir über das vielbesprochene Buch des Grafen A. Adelmann: „Aus Italien. Sieben Monate in Kunst und Natur“ fällen? Wir selbst – gar keins, denn wir kennen es kaum und haben es nicht gelesen. Ein lieber Freund, ein feingebildeter Kopf und vielgereister Mann, der selbst viele Monate in Italien lebte, schrieb uns aber ganz zufällig vor einigen Monaten darüber:
„Auch die Adelmann’schen Briefe über Italien habe ich theilweis gelesen, [815] theilweis durchblättert und sie haben mir in der angenehmsten Weise die mir so wohlbekannten Schätze Italiens in Kunst und Natur vor Augen geführt. Der Verfasser erzählt seine Reise nicht wie ein Gelehrter oder Künstler, sondern wie ein Mann, der mitten im Leben steht, die Kunst ansieht mit dem Auge eines gebildeten Laien und die Natur nicht mit den Augen, sondern durch die Augen mit dem Herzen. Seine durchaus natürlichen Landschaftsschilderungen drücken eine so warme Liebe für die Natur, ein so feines Verständniß für die tausendfach verschiedenen und wechselnden Schönheiten der südlichen Landschaft aus, daß Jeder, der ein warmes Herz für die Reize der Natur hat, nur mit Vergnügen dem ‚Maler mit Worten‘ folgen wird. Freilich fehlt dem Ganzen auf der andern Seite eine packende Originalität mit dem Hintergrunde gründlicher Kenntnisse auf dem Gebiete der Kunst und Kunstgeschichte, aber wer Italien noch nicht kennt oder als Tourist, ohne Ansprüche auf gründliche Kenntnisse, diese seligen Gefilde durchwandert hat, muß an den leichten gefälligen Schilderungen des Verfassers Gefallen finden.“ – So weit der Freund.
Das Vorwort des Buches haben Sie wohl überschlagen, sonst würden Sie nicht die Vermuthung ausgesprochen haben, daß Graf Adelmann ein junger Diplomat sei. Der Verfasser des Buches lebt als Cavallerie-Officier in Ludwigsburg.
B. in Wsd. Nicht doch, alter lieber Freund! Ihr Schmerz mag ein unsäglicher, Ihr Haß ein gerechter sein, aber Ihre Thränen wecken die Todte nicht und Ihr Haß macht das Herzeleid nicht ungeschehen. Mit August Hermann Hain[WS 1] rufen wir Ihnen zu:
Gehst du an einem Grab vorüber,
D’rin ruht ein Leben, dir einst lieb,
Das oftmals dich gekränkt, gequälet,
O, dann vergieb! O, dann vergieb!
Erscheint ein Herz, das dich verlassen,
Das tief in Dankes Schuld dir blieb,
Entblößt und arm vor deiner Pforte,
O, dann vergieb! O, dann vergieb!
Und naht ein Wesen dir in Thränen,
Zu dem dich deine Seele trieb,
Das kalt sich einst von dir gewendet,
O, dann vergieb! O, dann vergieb!
R. in Mg. Nicht von Ihnen allein wurde die Redaction der Gartenlaube in letzterer Zeit mit Anfragen bestürmt, aus welchem Grunde nicht wie früher eine Veröffentlichung der in Zeitungen angepriesenen Geheimmittel zu erfolgen pflege. Die Ursache des jetzigen Schweigens ist unschwer zu errathen. Jahrzehnte lang hat die Gartenlaube die Herkulesarbeit auf sich genommen, durch Beschreibung der Zusammensetzung der bekanntesten Geheimmittel ihren Lesern klar vor Augen zu führen, daß die betreffenden Mittel nie etwas Neues enthalten, sondern ausnahmslos aus bekannten Stoffen bestehen. Diese Danaidenarbeit war zwar für die Denkenden fruchtbringend, doch konnte dieser relativ kleine Theil der Bevölkerung unmöglich das Fortblühen der Wucherpflanze unterdrücken. Von dem Arzte wird es als selbstverständlich vorausgesetzt, daß er die Leiden seiner Kranken mildert, nimmt aber ein Laie ein medicinisches Buch zur Hand und besitzt er dabei hinreichende Körperstärke, um durch Kneten, Streichen und Drücken einen genügenden Heiligenschein um sich zu verbreiten, so ist der Wundermann fertig, dessen übernatürliche Kräfte bald kaum mehr der Anzahl der Hülfesuchenden gewachsen sind. Der gleiche Fall tritt ein, wo es sich um Geheimmittel handelt. Vor Allem betrogen wird der Theil des Publicums, welcher in Folge der Erziehung oder allzu einfacher Geistesanlagen unfähig ist, das Widersinnige der Anpreisungen zu durchschauen, sondern, noch von dem Grundsatze ausgehend, daß Gedrucktes und Wahrheit als identisch zu betrachten sind, oft seine letzten Groschen auf dem Altare dieser modernen Räuberei opfert. Wer aber nicht im Stande ist, selbstständig zu handeln, muß bevormundet werden, und allein dem Staate ist es möglich, in dieser wichtigen Sache das entscheidende Wort zu sprechen. Es kann dies leicht geschehen, wie das Beispiel eines Ländchens, des Cantons Luzern in der Schweiz, zeigt, welches durch ein einfaches Gesetz dem ganzen Geheimmittelschwindel die Spitze abgebrochen hat. Dieses Gesetz lautet:
„1) Jeder Fabrikant oder Verkäufer eines Geheimmittels, welcher die Erlaubniß zum Annonciren oder zum Verkaufe begehrt, ist gehaltenen zu übermitteln: a. die Annonce, wie er sie gehalten wissen möchte, nebst Angabe des Preises, wie das Mittel im Detail verkauft wird; b. das Recept; c. eine zum Versuche hinreichende Portion des Fabrikates.
2) Beides Letztere wird einem amtlich beeidigten Chemiker übergeben der nach vorgenommener Untersuchung schriftlich an die auftraggebende Behörde referirt.
3) Das Recept bleibt in Händen der Sanitätsbehörde. Die Geheimhaltung wird dem Antragsteller amtlich zugesichert.
4) Petent deponirt zum Voraus bei der Sanitätsbehörde eine von ihr in jedem speciellen Falle zu bestimmende Summe.
5) Bei Mittheilung der Erkenntnisse wird allfälliger Ueberschuß der deponirten Summe retournirt.“
Der Erfolg dieses Gesetzes trat bald zu Tage. Die Anzeigen von Geheimmitteln haben sich in den Cantonsblättern von Luzern nicht nur auffallend vermindert, sondern sind außerdem in einem so bescheidenen und anständigen Tone gehalten, daß sie kaum mehr einen großen Schaden anrichten können. Gerade das entgegengesetzte Verhältniß waltet in Deutschland ob, und es würde das neue Reichsgesundheitsamt dem deutschen Volke eine große Wohlthat erweisen, wenn es durch ein ähnliches Gesetz den gleichen glücklichen Zustand herbeiführte.K. in L. Ob der baden’sche Priester, dessen Proceß in Sachen der „gnadenvollen Erzbruderschaft“ damals in Karlsruhe oder Rastatt verhandelt wurde, nachträglich noch bestraft worden ist, können wir Ihnen heute nicht angeben, jedenfalls ist aber mit der damaligen Brandmarkung die Agitation der Schwarzen zum Beitritt in diese religiöse Gesellschaft nicht eingestellt und wird – namentlich in Frauenkreisen – noch mit aller Energie fortgesetzt. Wir sind zufällig in Besitz eines Aufnahmescheines gekommen und benutzen diese Gelegenheit zur Veröffentlichung desselben, zum Beweise dafür, welchen Blödsinn sich deutsche Landeskinder noch im neunzehnten Jahrhunderte bieten lassen. Das Decret (gedruckt und mit einem schönen Marienbilde aus der Kunst-Anstalt der Gebrüder Benziger in Einsiedeln geschmückt) lautet:
1) Müssen sie von einem dazu bevollmächtigten Priester nach der vorgeschriebenen Form persönlich angenommen werden.
2) Müssen sie einen geweihten schwarzledernen Gürtel um die Lenden tragen.
3) Müssen sie alle Tage dreizehn Vaterunser und Ave Maria und zum Schluß ein Salve Regina (oder statt desselben fünf Ave Maria) für die Wohlfahrt der heiligen Kirche und des päpstlichen Stuhles beten.
4) Sofern sie nicht rechtmäßig gehindert sind, sollen sie auch fleißig den Bruderschafts-Gottesdiensten und Processionen beiwohnen, an den Festen Mariä, St. Augustini etc. beichten und am Vorabend vor St. Augustini (27. August) Fasttag halten.
NB. Diese Regeln verbinden unter keiner Sünde.
Diese heilige Erzbruderschaft enthält einen so großen Schatz von Gnaden und namentlich von heiligen Ablässen, wie solche in dem Summario Seiner päpstlichen Heiligkeit Clemens X. vom 27. März 1675 und in unserm Bruderschaftsbüchlein weitläufig zu ersehen sind, daß Papst Gregorius XII. mit Recht dieser heiligen Erzbruderschaft den Titel der „ersten und vornehmsten Bruderschaft aus allen Bruderschaften“ beigelegt hat; denn:
1) Gewinnen die Brüder und Schwestern vollkommenen Ablaß am Tag der Einverleibung nach Beicht und Communion.
2) Werden Alle, sowohl im Leben als im Tode, theilhaftig aller guten Werke und heiligen Messen des ganzen Augustinerordens.
3) Können sie alle Ablässe aller heiligen Ordensstände und deren Bruderschaften etc. gewinnen, wie wenn sie persönliche Mitglieder derselben wären, wofern sie dasjenige verrichten, was jene Ablässe insbesondere vorschreiben.
4) Dreimal im Jahre können sie noch eigens den großen Portiunkulä-Ablaß gewinnen, als: am Sonntag nach Mariä Himmelfahrt, an Mariä Geburt und am nächsten Sonntag nach dem 10. September.
5) Sechsmal im Jahre können sie, und alle Christgläubigen, den päpstlichen Segen mit vollkommenem Ablaß in unserer Augustiner-Eremiten-Ordenskirche erlangen, nämlich: am heiligen Weihnachts-, Oster- und Pfingsttag; dann an Mariä Verkündigung, Mariä Himmelfahrt und am Titularfest (welches dahier am Schutzengelfest gehalten wird).
6) Wenn die Mitglieder auch Gutthäter der Bruderschaft sind, so werden sie überdies auch noch – lebendig und todt – auf ewig theilhaftig aller Wallfahrten und Stationen des gelobten Landes, zu Rom bei St. Peter und Paul etc., sowie aller Gebete und guten Werke, die in der gesammten Christenheit und von jedem einzelnen Christen insonderheit geschehen.
7) Auf dem Todbette erlangen sie die Generalabsolution und Erledigung von allen Sündenstrafen.
8) Wenn eines Mitgliedes Ableben durch diese zurückgeschickte Urkunde wird angezeigt werden, soll es am Titularfest auf öffentlicher Kanzel zum allgemeinen Gebete verkündet werden.
In diese Bruderschaft ist angenommen:
M ........ S ...... , Wittwe.
Hafenlohr, den 1. September 1872.
v. H. in G. Sollten bei etwas knapperer Benutzung Ihrer großen Einkünfte Ihre Magenleiden wirklich so oft eintreten? – Wir haben übrigens bereits früher auf das jetzt schon in dritter Auflage erschienene Buch: „Tisch für Magenkranke von Dr. J. Wiel“ hingewiesen und möchten doch bitten, da wir nicht noch einmal auf die Wiel’schen Theorien in ausführlicher Darstellung zurückkommen können, das Werk Ihrer Bibliothek einzuverleiben und zu studiren. Vielleicht thut dann der verteufelte Magen wieder seine Schuldigkeit.
J. C. R. in Gießen. Sie wünschen zu erfahren, ob die in einer Gesellschaft aufgestellte Behauptung, „daß in einer gewissen Tiefe des Meeres selbst centnerschwere Gegenstände nicht zu Boden sänken, weil das durch die obere Wassersäule zusammengepreßte Wasser dies unmöglich mache und daß in einer solchen Tiefe alles Leben aufhöre, gleichwie in den höheren Regionen der Luft“, begründet ist oder nicht.
Was nun den ersten Theil der Behauptung betrifft, so beruht er auf dem Irrthume, daß die Dichtigkeit des Wassers mit der Tiefe in einem ähnlichen Verhältnisse zunehmen müsse, wie die Luft. Diese Annahme trifft aber nicht zu, weil das Wasser und die Flüssigkeiten im Allgemeinen viel weniger zusammendrückbar sind, als die Gase. Selbst in der ungeheuren Tiefe von dreitausend Faden (zu sechs Fuß), unter einem [816] Wasserdrucke also von circa sechshundert Atmosphären, würde das Wasser nach W. F. Maury’s Berechnung nur um drei Maßprocente dichter sein als an der Oberfläche, das heißt: hundert Liter Wasser würden dort auf den Raum von siebenundneunzig Litern zusammengedrückt werden. In einem so wenig verdichteten Wasser sinkt noch jedes Sandkörnchen unter.
Interessanter ist der zweite Punkt Ihrer Frage. Wie oft haben Salon-Physiker ihr Publicum mit der Versicherung in Erstaunen gesetzt, daß jeder Mensch je nach seinem Körperumfang eine Atmosphärenlast von dreißig- bis vierzigtausend Pfund auszuhalten und beständig mit sich herumzuschleppen habe, aber weder Sie, noch Fräulein Taglioni werden jemals von dieser eingebildeten Last Beschwerden empfunden haben. Sie hebt sich, weil nach allen Seiten gleichmäßig drückend, von selbst auf und ist für das Wesen, welches darunter geboren ist, gleich Null. Und gerade so wenig, wie wir von unseren drei- bis vierhundert Centnern, werden die Tiefseethiere von einem mehrere hundert Mal größeren Drucke zu Brei gedrückt werden, ja denselben überhaupt nur spüren. Denn allerdings leben in Tiefen, die weit über tausend Faden hinausgehen, zahlreiche Thiere, wie dies die Tiefseeforschungen unserer Tage im Gegensatze zu früheren Annahmen gezeigt haben, und diese oft gallertartig weichen Bewohner des Meergrundes sterben im Gegentheil oftmals, wenn man sie in höhere Regionen hinaufbringt, ebenso wie der Mensch zu Grunde geht, wenn er sich im Luftballon über die Luftdichte, für die er organisirt ist, hinauswagt. Allerdings ist diese Gefahr für Wasserthiere wegen der geringeren Dichtigkeitsunterschiede kleiner als für die Luftthiere, doch giebt es einzelne in achtzig bis neunzig Faden Tiefe lebende Fische, die sogar mit einem Knalleffekt aus dem Leben scheiden, wenn man sie an einer langen Angelschnur plötzlich in die Höhe zieht. Die Luft in ihrer Schwimmblase ist nämlich bei dem in jenen Tiefen herrschenden Druck von fünfzehn bis sechszehn Atmosphären sehr stark zusammengepreßt und dehnt sich, wenn dieser Druck plötzlich hinweggenommen wird, bis zu einem explosionsartigen Zerspringen des Thieres aus, ebenso wie man die Schwimmblase eines in der Küche secirten Fisches unter der Luftpumpe zum freiwilligen Zerplatzen bringen kann.
V. Z. in K. Was wir von dem Geheimmittel eines Dr. Killisch, angeblich in Dresden-Neustadt, gegen die Epilepsie halten? Gar nichts! Es sollte nunmehr auch in der Laienwelt bekannt genug sein, daß die wissenschaftliche Heilkunde ein untrügliches Mittel gegen die Epilepsie überhaupt nicht kennt, ja daß große Autoritäten zu der Ueberzeugung gelangt sind, daß es ein solches nicht giebt. Ueber das Geheimmittel dieses „Dr. Killisch“, angeblich in Dresden-Neustadt, wo Kranke ihn jedoch vergeblich suchten und wo er gar kein Domicil haben soll, können wir Ihnen zufällig eine ebenfalls wissenschaftlich begründete Auskunft geben. Dem Untersuchungs-Büreau des pharmazeutischen Kreisvereins in Leipzig wurde von einem Kranken eine Flasche der von ihm gebrauchten Arznei übergeben, und dieses berichtet darüber wie folgt: „Das am 24. vorigen Monats übersandte Mittel gegen Epilepsie ist der Untersuchung zufolge weiter nichts, als eine Auflösung von fünf Gramm Bromkalium in zweihundert Gramm Wasser. Eine derartige Medicin würde, wenn vom Arzte verordnet, nach der sächsischen Arzneitaxe fünfundsechszig Pfennige kosten, das heißt zu diesem Preise wird sie von jeder sächsischen Apotheke angefertigt.“ Vergleichen Sie damit den Preis des Geheimmittels, so werden Sie sofort an Bock denken und von seinem berühmten Ausspruche sich warnen lassen.
R. in L. Außer dem „Globus“ existirt nur noch eine Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, die unter der bewährten Leitung des Professors Otto Delitsch in Leipzig erscheinende illustrirte Wochenschrift „Aus allen Welttheilen“. In allgemein verständlicher und ansprechender Weise und doch mit der nöthigen Gründlichkeit bringt das Delitsch’sche Blatt, das außerdem mit guten Illustrationen geziert ist, Belehrungen über allgemeine Erdkunde, Berichte über die neuesten Entdeckungen, längere Notizen über die Thätigkeit der geographischen Gesellschaften, Schilderungen aus Natur- und Völkerleben – genug Alles, was für Freunde der Länder- und Völkerkunde Interesse hat. Wir empfehlen es auch Ihnen.
J. v. K. Ein „Kloster, worin junge Mädchen eine streng-religiöse Erziehung erhalten“ kennt allerdings die Redaction der Gartenlaube nicht, aber selbst wenn sie Kenntniß von der Existenz eines solchen „Verziehungs-Instituts“ hätte, würde sie im Interesse Ihrer Tochter darüber schweigen. Ein fröhliches, lachendes Kind in düstern Klostermauern – das ist für uns ein undenkbarer Gedanke.
Ch. D. in L. Die allerdings vielfach verbreitete Ansicht, das Motiv zu dem freiwilligen Tode des Freiherrn Otto von Reinsberg sei in angeblichen Nahrungssorgen zu suchen, sind wir in der Lage als völlig unbegründet zu bezeichnen, da uns authentische Schriftstücke vorliegen, welche den Beweis liefern, daß die Finanzen des Schriftstellerpaares Reinsberg-Düringsfeld nicht nur durchaus geordnet, sondern auch auf längere Zeit hinaus gesichert waren. Der Entschluß Rheinsberg’s, seiner Gattin in den Tod zu folgen, ist vielmehr auf das seit dem Hingang der Letzteren ihn beherrschende Gefühl unerträglicher Vereinsamung zurückzuführen.
Abonnentin in Memel. Sie haben den scheinbaren Widerspruch in Carus Sterne’s „Werden und Vergehen“, daß die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde sich mit fortschreitender Zusammenziehung stetig beschleunigt haben und dennoch früher schon größer gewesen sein soll, als heute, ganz richtig gelöst. Die Geschwindigkeit nahm zu, bis die weitere Zusammenziehung der zu einer festen Masse erstarrten Dampflinse verschwindend klein wurde, und nahm von da an durch eine noch nicht völlig aufgeklärte Ursache, wahrscheinlich durch die entgegengesetzt wirkende Bewegung der Ebbe und Fluth, langsam ab. Ein kleiner, an einem Bindfaden festgeknüpfter Körper, den man, die Enden des Fadens in den beiden Händen haltend, erst im weiten Kreise, dann, den Faden anziehend, im engern Kreise schwingen läßt, zeigt sehr deutlich die Beschleunigung der Bewegung in Folge der Verkürzung des Drehungsdurchmessers und kann somit zur Versinnlichung eines wichtigen Vorganges der Weltbildung dienen.
Nr. 8998616. Wir haben diesen Blödsinn in den Orcus unseres Papierkorbes versenkt und würden Ihnen verbunden sein, wenn Sie uns mit weiteren Einsendungen derartiger Stilübungen verschonen wollten. Solche Freunde fehlen Wagner noch, um seinem an sich großartigen Wirken mehr und mehr den Stempel der Lächerlichkeit aufzudrücken.
Champs Elysées. Mit 12,000 Mark jährlicher Einkünfte können Mann, Frau und Kind in jeder deutschen Stadt sehr anständig und behaglich leben. Es fragt sich nur, welche Gegend, ob Süd- Mittel- oder Norddeutschland, Ihnen am meisten convenirt.
M. C. H. in Sch. Sie wünschen unsere Ansicht darüber zu hören, ob die Verwesung und Fäulniß der Blätter und sonstiger Pflanzentheile nicht zuweilen die Waldluft gegen die allgemeine Annahme geradezu ungesund machen könnte? Ihre Frage bezieht sich also wesentlich auf den herbstlichen Laubwald, und sofern es nur die lebenden Blätter sind, welche Kühlung, Frische und Lebensluft (Sauerstoff) ausathmen, hat der Laubwald im Spätherbste und Winter, nachdem die Blätter aufgehört haben zu athmen, jedenfalls keine Fähigkeit, bessere Luft zu bieten, als jeder andere mehr oder weniger geschützte Platz im Freien. Auch ist es zweifellos, daß die verwesenden Blätter der Luft Kohlensäure und einige andere Verwesungsgase zuführen wie denn der Waldluft an feuchten Herbsttagen ein entschieden dumpfiger Geruch eigen ist. Natürlich wird man also im Spätherbste den Nadelwald mit seiner spärlichen Streu als Luftcurort vorziehen. Eine bemerkenswerthe Schädlichkeit, die durch das verwesende Laub hervorgebracht würde, ist aber andererseits nicht zu befürchten, wie Sie ja auch an dem durchschnittlichen Wohlbefinden der Winter und Sommer im Walde hausenden Förster erkennen können. Das Laub giebt nämlich, ehe es fällt, die stickstoffreicheren Bestandtheile dem Baume zurück, und gerade diese sind es, welche bei der Verwesung die schädlichsten Gase erzeugen würden. Nachdem der erste Zersetzungsproceß schon im Wipfel erfolgt ist, geht die vollständige Verwesung am Boden so langsam vor sich, daß ihre Gase nicht merklich die Zusammensetzung der immerfort in den Tropenwäldern erfrischten und gerade in dieser Jahreszeit bei uns lebhaft bewegten Luft ändern können.
E. V. 21. Die Bühne ist in gewissem Sinne ein so unebener Boden, daß sehr oft Künstler mit gesunden Füßen darauf straucheln. Wir würden Ihnen daher trotz der schützenden Schleppkleider nicht rathen, sich mit Ihrem hinkenden Beine auf die weltbedeutenden Bretter zu wagen. – Manuscript unbrauchbar.
F. T. in Elberfeld. Nur viertausend Mark wünschen Sie von der „Gartenlaube“ für die weitere Ausbildung der jungen Künstlerin? Recht bescheiden! Aber vergessen Sie nicht, daß wir heute noch im November leben und Carnevalsscherze erst im Februar zur rechten Zeit kommen!
Stuttgart. Ueber den lange Zeit in Amerika vermißten und durch die „Gartenlaube“ gesuchten Gust. Hermann Blumhardt aus Stuttgart schreibt uns ein Herr Wanner in Walhalla. „Soeben kommt mir die ‚Gartenlaube‘ (Jahrgang 1875) in die Hände, und finde ich darin eine Liste von Vermißten, unter Andern auch Nr. 206: Gustav Hermann Blumhardt aus Stuttgart (Württemberg), welchen ich, wenn er der Sohn eines Hauptmann Blumhardt’s war, ganz gut kannte. Derselbe stand mit mir im Jahre 1874 in der Comp. D., 1. U. S. Cavalry-Regiment und fiel an meiner Seite von unzähligen Kugeln durchbohrt in „the battle of the Wilderness“ am 6. Mai 1874.“
L. N. in Birmingham. In London können Sie abonniren bei A. Duensing, 8 Little Newport-Street, Leicester Square oder bei August Siegle, 110 Leadenhall-Street oder bei Trübner u. Comp., 50 u. 59 Ludgate-Hill.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ August Hermann Hain (1848–1927), Vorlage: Hermann Hain