Die Gartenlaube (1876)/Heft 42
[699]
No. 42. | 1876. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Kein Herz.
„Im Sommer begleitete ich meine Mutter, wie alljährlich, nach Wiesbaden,“ fuhr Valentine in ihrer Erzählung fort, „dessen monatelanger Curgebrauch ihr den folgenden Winter zu überstehen helfen sollte. Mit Beginn der Ferien folgte uns mein Verlobter dorthin. Es waren selige Tage; jede Stunde war mit Glück erfüllt, dessen Bestätigung für alle Zukunft schon so nahe. Da erschien dort jene schöne Frau. Was soll ich Ihnen sagen? Sie lockte; er widerstand zu Anfang und war seiner selbst so sicher, daß seine Zuversicht auch mir die Gelassenheit erhielt oder vielmehr sie mir gab. Später kam es anders. Ich sah seine schöne Ruhe scheitern; ich sah, wie sie ihn Zug um Zug von Neuem an sich riß. Meine Mutter drang in mich, wir sollten abreisen, in der Ueberzeugung, daß ihn dies zur Besinnung bringen, daß er uns folgen würde. Ich widerstand. Ihre Cur plötzlich zu unterbrechen, war bedenklich; ein Erfolg solchen Schrittes erschien höchst zweifelhaft. Auch wollte ich mein Schicksal kennen. Es endete damit, daß ich ihn frei gab.“
„Vielleicht handelten Sie zu rasch,“ sagte Bernardin. „Ueber uns Männer geht zuweilen Unwiderstehliches hinweg, wie eine hohe Woge, aber jede Brandung sinkt, und hält uns eine liebe Hand in Treuen fest, so finden wir uns zum rettenden Ufer zurück.“
„Wäre ich schon sein Weib gewesen, dann hätten Sie Recht, tausendmal Recht. Aber eine Hand festhalten, die in der unserigen zuckt und sie als Fessel empfindet, erscheint mir unmöglich, wo Freiheit noch in Frage stehen kann. Ich fühle noch heute, daß ich gehandelt, wie ich mußte.“
„Und er?“ fragte Bernardin nach kurzer Pause.
„Er verließ Wiesbaden noch vor uns; ich hörte nichts mehr von ihm und über ihn. Meines Vaters Versetzung nach München traf mit unserer Heimkehr zusammen. Noch im Laufe desselben Jahres verlor ich meine Mutter. Es ist gut so, wie es ist. Meine Schwester hat sich sehr jung verheiratet; ich bin dem Vater nothwendig, wenn er es auch nicht Wort haben will. Mein Leben verzehrt sich nicht ohne Nutzen und Inhalt; mehr hat der Mensch nicht zu fordern.“
„Sie hätten also mit jedem eigenen Anspruch an das Geschick abgeschlossen, Valentine?“ fragte Bernardin. „Ohne Zweifel täuschen Sie sich. Man denkt zuweilen mit Allem fertig zu sein und hat doch erst ein farbensattes, aber nicht unverlöschliches Vorspiel seines wirklichen Schicksals erfahren. Sie nennen sich alt, weil Sie müde sind. Ich sehe Sie noch jung, voll Fähigkeit glücklich zu machen, und das heißt nichts Anderes, als das Anrecht, glücklich zu sein.“
„Ich habe sagen hören, man könnte mehr als einmal lieben,“ entgegnete Valentine nachdenklich. „Es muß wohl wahr sein, denn ich habe das auch öfters mit angesehen. Was mich selbst betrifft, so könnte ich es nicht. Jeder folgt seinem Wesen. Mir ist es innerstes Bedürfniß, wenigstens mir selbst treu zu bleiben, da ich mir keine Treue gewinnen konnte.“
Bernardin ergriff schweigend ihre Hand und behielt sie einen Augenblick in der seinen.
„Gute Nacht, mein Freund!“ sagte Valentine, als sich Beide im Vorwärtsschreiten wieder den Häusern genähert hatten. „Was ich Ihnen erzählt habe, sei vergessen! Und – halten Sie mich nicht für unglücklich, denn ich bin es nicht.“
„Das glaube ich in der That, Valentine. Schwache Charaktere überwinden schwer und vergessen leicht. Kraftvolle Naturen vergessen Nichts, aber sie überwinden. Ich sehe Sie morgen noch vor Ihrer Abfahrt. Lassen Sie mich Ihnen aber jetzt Lebewohl sagen! Gott sei mit Ihnen! Vergessen Sie nicht die Stunden, welche wir gemeinschaftlich verlebt haben!“
„Sie gehören nicht zu denen, die man vergißt. Auf Wiedersehen! Nicht nur morgen – hoffentlich auch an gleicher Stelle über’s Jahr!“
Vier Jahre sind vergangen. Um den Menschen wieder zu begegnen, welche wir auf der kleinen Insel des „baierischen Meeres“ verließen, müssen wir stille Thäler aufsuchen, die zur Zeit des Beginns unserer Erzählung weit einsamer und unbekannter waren, als jenes Eiland. Doch hatte die oft geschmähte Verderberin landschaftlicher Reize, die öfter noch gepriesene Schöpferin öffentlichen Verkehrs, die Locomotive, jener Thalstrecke während dieser letzten Jahre lebendige Spuren aufgedrückt. Seit eine noch kaum beendete, dem Betriebe erst theilweise übergebene Bahnlinie dieselbe fast ihrer ganzen Längenausdehnung nach durchzog, machte sich der namentlich für Dörfer und Marktflecken auch durch gleichzeitigen Bau neuer Poststraßen erschlossene Zusammenhang mit der Außenwelt durch vermehrten Wohlstand bemerklich.
Es war zu Anfang Juli 1870. Heiße Sonnengluth lag über dem Thale. Obgleich der Abend schon hereinbrach, brachte er doch keine Kühlung; man empfand, daß die Sonne ihre glühende Herrschaft seit manchem Tage ununterbrochen geübt und jeden frischeren Athemzug in sich gesogen hatte. Dennoch prangte die anmuthigste Landschaft im üppigsten Grün; der [700] lebendige Bergstrom, welcher sie durchschneidet, schien der ganzen Umgebung seine eigene Frische mitzutheilen. An beiden Ufern desselben dehnte sich, durch eine steinerne Brücke verbunden, eine freundliche Ortschaft in der Thalerweiterung hin. Es begann schon zu dunkeln, als eine junge Frau, den gefüllten Henkelkorb am Arme, flinken Fußes die Brücke überschritt und sich der am rechten Ufer gelegenen Häuserreihe zuwandte, welche der Bahnlinie entgegenführte. Als sie eben im Begriffe war, an der letzten, einzeln gelegenen und dürftigen Behausung vorbeizuschreiten, rief ihr von drinnen eine Stimme durch das Fenster zu: „Huberin! Warte Sie nur einen Augenblick, Huberin!“
Der angstvolle Ton, womit Monika gerufen wurde, hemmte ihren eiligen Schritt. Sie wandte den Kopf verwundert, nach dem Hause zurück, unter dessen schiefer Thür ein ärmlich gekleidetes Weib erschien, das hagere Gesicht in Thränen gebadet, die Hände winkend und bittend erhoben. „Um Jesu willen, komm’ Sie herein! Ich muß mit Ihr reden – jetzt gleich, noch heut’ muß es sein. Die heilige Muttergottes selbst schickt Sie des Weges, daß ich mit Ihr allein reden kann. Sie muß uns helfen in unserem Elende.“
„Was ist denn passirt?“ fragte die junge Frau gutherzig, indem sie das niedrige, von einem dunstigen Oellämpchen schwach erhellte Zimmer betrat, wohin sie die Andere an den Rockfalten zog. Auch dort angelangt, hielt die Andere sie noch fest, als besorgte sie ihr Entrinnen. „Ist eines von den Kindern krank? Oder hat’s sonst ein Unglück gegeben?“
„O Du mein blutiger Heiland! Freilich hat es ein Unglück gegeben. Hat Ihr denn Ihr Mann nicht gesagt, was mein alter Tolpatsch wieder angestellt hat?“
„Nichts weiß ich, gar nichts,“ sagte Monika. „Ich habe meinen Mann seit Mittag nur eine Minute gesehen; er war draußen bis zur Ablösung, und als er heimkam, hab’ ich nur gefragt, ob er jetzt zu Haus bei dem Kinde bleiben könnte, weil ich nothwendig in den Ort mußte, um einzukaufen, und hab’ mich dann getummelt, fortzukommen. Uebrigens redet mein Mann überhaupt nicht viel, von Dienstsachen schon gar nicht. Was giebt es denn eigentlich?“
„Mein Alter wird fortgejagt, und dann können wir Alle am Hungertuche nagen,“ jammerte das Weib. „Wenn der Bahnwärter auch nicht viel redet, so wird Sie doch schon von ihm erfahren haben, daß der Bahnmeister Meinem nicht grün ist und daß es schon mehr als einmal Verdruß gesetzt hat. Freilich war immer Ursach’! Mein Alter ist der Bravste und Fleißigste, den es giebt, hat er aber einen Tropfen über den Durst getrunken, dann macht er Dummheiten. Seit ihm so scharf auf den Dienst gepaßt wird, ist er ganz ordentlich gewesen, nun denke Sie aber, was heut’ passiren muß! In der Früh’ ist der Wochenlohn ausgezahlt worden – da geht er hin und versäuft ein paar Batzen. Und Nachmittags läßt er im Dusel sein Geräth am Geleise liegen, und wie ihn der Bahnwärter deswegen hernimmt, wird er grob. Dafür soll er aus der Rotte fort, und geschieht das, dann sind wir geschlagene Leute. Wovon sollen wir leben mit den fünf Würmern, wenn der Müller die Arbeit auf der Bahn einbüßt? Erbarmt Sie sich nicht, Huberin, dann geh’ ich in’s Wasser, wo es am tiefsten ist.“
„Ja, was kann ich da helfen?“ sagte Monika mitleidig. „Sie dauert mich bis in die Seele hinein, aber ich seh’ nicht, was da zu machen wär’.“
„Fürbitten kann Sie. Ein gutes Wort kann Sie für uns einlegen, daß der Bahnwärter meinen Alten nicht anzeigt. Meiner hat sich hoch und theuer verschworen, daß kein unrechter Tropfen mehr in seine Kehle soll. Laßt uns nicht im Stiche, Frau! Die Mutter Gottes wird’s vergelten.“
Monika schüttelte betrübt den Kopf. „Das kann nichts nützen, Müllerin; mein Mann ist gut, in solchen Sachen nimmt er aber keine Einreden an.“
„Müssen wir elend umkommen, weil mein Alter eine Unglücksstunde gehabt hat? Frau, Frau, denke Sie an Ihren kleinen Buben und erbarme sich meiner armen Würmer! Sie hat ja allzeit ein gutes Herz für uns gehabt, ist mir noch neulich in dem harten Kindbette beigesprungen. Auf Sie hab’ ich meine letzte Hoffnung gesetzt, nächst den lieben Heiligen. Sie fiel schluchzend auf die Kniee und drückte ihr Gesicht in Monika’s Gewand.
„Um Gotteswillen, seid still!“ sagte die junge Frau, tief athmend; „ich will’s probiren; vielleicht glückt es doch. Steh’ Sie nur vom Boden auf! Ich versprech’, daß ich meinem Manne aus allen Kräften zureden will. Und jetzt laßt mich heim! Es wird finstere Nacht. Morgen früh geh’ ich in die Kirche, dann sag’ ich Ihr, was ich ausgerichtet hab’.“
„Gott vergelt’s!“ sagte das Weib getröstet, und ihr kummervolles Auge hing fest an der Gestalt der jungen Frau, während sie ihr hinausleuchtete. Als sich Monika unter der Thür mit einem letzten Nicken zurückwandte, fiel der Lampenschein hell auf ihr Gesicht; es war länglicher geworden, seit uns die glückliche Braut aus den Augen verschwand; dem Ausdrucke der Züge hatte sich eine Veränderung aufgeprägt, die übrigens schwer zu bezeichnen wäre, denn heute wie damals blühte die schönste Jugendlichkeit daraus hervor. Vielleicht war es nur ihre Mütterlichkeit, welche den schalkhaften Blick zum sinnenden verwandelt hatte.
Sie eilte raschen Schrittes den Weg entlang, der Bahnlinie entgegen, deren im Abenddunkel verschwindende Spur durch das in einiger Entfernung von der Ortschaft gelegene Wohnhaus des Bahnwärters um so deutlicher bezeichnet wurde, als dasselbe von innen hell beleuchtet war.
Schon im Begriffe, die eben erreichte Hausthür aufzuklinken wandte sich Monika mit rascher Biegung seitwärts nach dem erhellten Fenster zur Linken des Eingangs und drückte ihr Gesicht gegen die Scheiben. Wer zugleich mit ihr hineingeschaut hätte, würde es begreiflich gefunden haben, daß sie den Platz minutenlang nicht verließ; das Innere des kleinen Wohngemaches, welches sie überschaute, bot das freundlichste Bild.
Die schlichten Möbel, welche den hellgetünchten Wänden entlang standen, das auf ein paar Regalen geordnete Hausgeräth blitzten von Sauberkeit. Neben dem weißgescheuerten Tische, der die Lampe trug, saß der Hausvater, welcher ein etwa dreijähriges Kind auf seinen Knieen reiten ließ. Wilhelm Huber’s Gesicht war ebenso lachend wie das des kleinen Buben, der in hellem Jauchzen bald die beiden Aermchen in die Luft warf, bald die kleinen Hände in den dichten Vollbart des Vaters wühlte. Während Wilhelm’s Knie auf und nieder segelte, pfiff er die Melodie eines Marsches; sein linker Arm hielt das rundliche Kind umfaßt, dessen Seidenhärchen den stets in Bewegung erhaltenen Kopf umflatterten. Beide waren so erfüllt von ihrem Spiele, daß sie kein Auge voneinander wandten, bis der Finger der Lauscherin lebhaft gegen die Scheiben trommelte. Das Blondköpfchen fuhr herum wie ein Blitz, und die strahlenden Augen trafen ihr eigenes Spiegelbild.
„Mutterle! Mutterle!“ Der Jubellaut war noch kaum verklungen, als der lebhafte Kleine schon vom Schooße des Vaters niedergeklettert war, um dem Fenster und von dort der Thür zuzulaufen, auf deren Schwelle die junge Frau im nächsten Augenblicke kauerte und dem Lieblinge beide Arme entgegenstreckte. Das Kind war der Mutter wie aus den Augen geschnitten. Sie fing es auf, hob es in die Höhe, tänzelte mit ihm durch das Zimmer, Wange an Wange geschmiegt, und ließ es dann wieder auf den Boden gleiten, um zu ihrem Armkorbe zu laufen und sich dem zappelnden, jauchzenden Buben leuchtenden Auges zuzuwenden, in der einen Hand einen Johannisbeerzweig voll rother Früchte und grüner Blätter, in der andern ein mürbes Brödchen, zwischen den Lippen ein schrillendes Pfeifchen – ganz und gar, bis in jedes Haar ihrer Augenwimpern die alte Monika! Der Kleine reckte beide Arme nach den mitgebrachten Schätzen, begegnete aber nur lachendem Kopfschütteln. „Erst aufsagen! Kannst Du’s noch, Fritzel?“
Ein verdutzter Ausdruck huschte über das glückselige Kindergesicht; die dunkeln Wimpern flatterten einen Moment auf und nieder, dann theilte sich das kirschrothe Mündchen so weit, daß der ganze Vorrath kleiner Milchzähne zum Vorscheine kam. Fritzel ballte seine dicken Fäustchen, stellte sich stramm auf die Beine und ließ sich vernehmen:
„I bin a kleiner Pumpernickel;
I bin a kleiner Bär,
Und wie mi Gott erschaffen hat,
So trampl’ i halt daher.“
„Er kann’s wirklich noch. O Du Herzensschatz! Jetzt kriegst Du auch Alles, was ich Dir mitgebracht hab’.“ Sie hob das [701] Kind auf ihren Schooß, während sie sich Wilhelm gegenübersetzte, dessen heiteres Auge die Beiden keinen Augenblick verließ, obgleich er sich schweigend verhielt. „War er brav?“
„Ganz brav, Mutter! Deswegen hab’ ich ihn auch noch aufbleiben lassen, trotz Deinem strengen Geheiß, daß er um sieben Uhr in’s Nest müßte. Er hat gemeint, ich könnte ihn nicht so schön niederlegen, wie sein Mutterl, und wie mir’s vorkommt, bist Du gerade nicht bös darüber, daß er noch munter ist.“
„Ja so!“ sagte die junge Frau. „Ich habe gar nicht mehr an die Zeit gedacht. Jetzt ist’s aber auch aus, Fritzel; geschwind iß Dein Brödchen auf und marschir’ in Dein Bett! Tausend noch einmal, wenn die kleinen Buben so lange wach bleiben, kommt zuletzt der Sandmann und streut ihnen so viel goldigen Staub in die Augen, daß sie in der Frühe gar nicht mehr aufhören können zu schlafen.“
Während des Plauderns entkleidete sie das Kind und hielt es dann dem Vater zum Gutenachtkuß entgegen. Der entzückte Mutterblick, womit dies geschah, war berechtigt; das aus den leichten Hüllen geschälte glänzende Kind, von dessen Schultern das blühweiße Hemd niederglitt, das frische, lächelnde Gesicht glich einem freudigen Engelsgebilde.
Sobald der Kleine unter die Decke geschlüpft war, glitt Monika neben seinem Bettchen nieder und faltete die Hände, was Fritzel sofort nachahmte. Nichts Holderes auf Erden, als ein kleines Kind, das auf seinem Lager kniet und seinen Abendsegen spricht! Von Vertrauen nimmt es den Gott, von dem es noch nichts begreift, von der Mutter hin und schlägt die klaren Augen so gläubig zur Höhe, als könnte es damit bis in den Himmel dringen.
Fritzel’s frommer Spruch war derselbe, den auch Monika als Kind im Fischerhäuschen am See aufgesagt hatte; einer jener Reime, die in ihrer warmen Einfachheit nur von einer Mutter erdacht werden konnten, und sich, gleich dem echten Volksliede, von Mund zu Mund, von Haus zu Haus spinnen, bis Keiner mehr nach ihrem Ursprung fragt, weil sie Tausenden zu eigen geworden sind, wie ein Naturlaut:
„Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe meine Augen zu.
Lieber Gott, die Augen Dein
Laß auf meinem Bettchen sein!
Alle, die mir sind verwandt,
Gott, laß ruhn in Deiner Hand!
Alle Menschen, groß und klein
Sollen Dir befohlen sein!
Hab’ ich Unrecht heut’ gethan –“
„Fritzel! Fritzel!“ unterbrach Monika hier die langsam und ernsthaft betonten Worte; „Du denkst wieder nicht an das, was Du betest. Du weißt doch, daß man den letzten Reim nur sagt, wenn man nicht brav war. Heut’ brauchst Du den lieben Gott nicht um Verzeihung zu bitten. Du hast schön gefolgt, und der Vater hat ja auch gesagt, Du wärest brav gewesen.“
Fritzel wurde dunkelroth. „Ich muß doch so beten wegen dem Esel.“
„Wegen was für einem Esel?“
Das rothe Mündchen verzog sich wie zum Weinen. „Ja, wie Du fort warst, Mutterl, da hab’ ich mir aus der Schachtel das Dorf aufgebaut auf dem Boden, und da ist der Vater durch’s Zimmer ’gangen, und der hat mit seinem Fuß an die Häuser gestoßen, daß sie alle umgefallen sind, und da hab’ ich ganz leis gesagt: „Du Esel.“
Um Monika’s Auge und Lippen zuckte verhaltenes Lachen, doch sagte sie ernsthaft: „Dann müssen wir freilich weiter beten.“
„Hab’ ich Unrecht heut’ gethan,
Sieh es, lieber Gott, nicht an!
Nimmer will ich’s wieder thun –
Laß in Deiner Huld mich ruhn!“
Dicke Thränen rollten dem reuigen kleinen Sünder über die Bäckchen, während er den Reim stockend aufsagte. Als er aber die Lippen der Mutter auf seinen Augen fühlte und sie seinen Kopf in die Kissen drückte und ihn liebkosend in das Deckchen hüllte, wie gewohnt, ward er wieder getrost und schloß die Augen.
Monika betrachtete ihn noch einen Moment bei der schwachen Helle, die vom Wohnzimmer aus in die Kammer fiel, und kehrte dann, die Thür leise anlehnend, zu ihrem Manne zurück. Ihr ganzes Gesicht strahlte. „Hast Du zugehört?“ sagte sie halblaut.
„Freilich!“ lachte Wilhelm. „Der schöne Ehrentitel, den ich mir heute bei meinem eigenen Fleisch und Blut verdient habe, ist mir deutlich zu Ohren gekommen. Ein Wetterjunge!“
„Wie gescheit er ist!“ sagte Monika stolz; „wie schön er auswendig lernt und Alles im Kopf behält, und ist doch erst drei Jahre alt.“
„Ja, aus dem wird einmal ein ganzer Kerl,“ nickte Wilhelm, „hoffentlich mehr, als bis heut’ aus seinem Vater geworden ist.“
Die junge Frau, welche, ab- und zugehend, ihre Marktkorb entleerte und Zurüstungen zum Abendbrod traf, wandte bei dieser Aeußerung plötzlich den Kopf und blickte nach ihrem Manne um, der mit aufgestütztem Arm am Tische sitzen geblieben war und ernsthaft dreinschaute. Sie nahm ein Deckelglas vom Regal und stellte es nebst dem mitgebrachten Bierkruge vor ihm hin. „Wozu machst Du Dir wieder Gedanken, Wilhelm?! Es ist ja nicht Deine Schuld, daß Du für den Augenblick diesen geringen Posten hast annehmen müssen; wird schon wieder bessere Zeit kommen.“
Der Ton, in welchem sie sprach, klang weniger frisch, als die Worte. Ein halber Seufzer war hindurch zu vernehmen.
Er antwortete nicht.
„Freilich wären wir besser daran, wenn Du auf mich hättest hören mögen,“ fuhr Monika zaudernd fort. „Noch heut’ bin ich der Meinung, daß Dir der Herr General einen Vorschuß nicht abgeschlagen hätte, wenn Du ihn darum angegangen wärest, nachdem uns Haus und Scheuer niedergebrannt sind. Der Herr war Dir allezeit so gewogen; das Fräulein hätte mir zu Liebe auch ihr Fürwort eingelegt, und wir könnten wieder im Eigenen sitzen.“
„Und wenn mir dann etwas Menschliches zustieße, wer sollte wohl die Schuld heimzahlen?“ sagte Wilhelm lebhafter, als sonst seine Art war. „Daß Du das nie begreifen wolltest!“
„Wer wird gleich an’s Sterben denken, wenn man jung ist und gesund wie Du! Und käme wirklich einmal das Schlimmste zum Schlimmen – was würde es den reichen Leuten schaden, ein paar hundert Thaler einzubüßen? Frau und Kind sind Dir näher.“
„Ist mir leid, Monika, daß wir da nicht gleicher Meinung sind. Freilich ist’s hart, wenn man in seinem Hausstande herunter kommt, statt vorwärts, und es wurmt mich genug, daß ich unsere Sach’ nicht in die Assecuranz habe einschreiben lassen, womit uns geholfen wäre. Aber was nützt alles Lamentiren, jetzt, wo nichts mehr zu ändern ist! Meinst Du, es wäre mir einerlei? Das heißt, mir selber läge im Grunde nicht so viel daran, aber Du dauerst mich. Wenn ich bedenke, wie vergnügt Du auf unserm kleinen Anwesen herumgewirthschaftet hast, und wie Du Dich jetzt behelfen mußt – es ist nun einmal so! Borgen und Betteln geht mir wider die Natur. Der Mann muß auf eigenen Füßen stehen – das ist seine Pflicht und Schuldigkeit. Ich habe keinen Anstand genommen, den Herrn General darum anzugehen, daß er mir zu irgend einem Posten verhilft. So was bricht sich aber nicht über’s Knie, wenn’s etwas für die Dauer sein soll, und in der Zwischenzeit dürfen wir froh sein, daß sich hier Dach und Fach und ehrlich verdientes Brod gefunden hat. Für ein erstes Unterkommen reicht das aus, und ewig wird es nicht dauern. Einstweilen muß man sich zufrieden geben.
Monika bedurfte nicht erst des Blickes auf seine gefurchte Stirn; sie wußte längst, daß ihr Mann nicht in guter Stimmung war, wenn er sich auf Auseinandersetzungen einließ. „Sei nicht bös! sagte sie, indem sie die dampfende Schüssel auftrug, „ich gebe mich ja zufrieden. Es thut mir nur alle Tage leid, daß Du, der etwas Besseres vermag, auf dem geringen Posten aushalten mußt, wo es noch dazu alle Augenblicke Verdruß giebt und Du ohne Dein Verschulden in Ungelegenheiten kommen kannst.“
„Was meinst Du?“
„Nun, die Müllerin hat mir vorhin erzählt, was heute mit ihrem Manne vorgekommen ist. Hättest Du übersehen, daß Der sein Arbeitsgerät auf dem Geleis hat liegen lassen, so wärst Du doch gewiß in große Ungelegenheiten gekommen?“
„Warum nicht gar!“ sagte Wilhelm.
„Nun, um so besser, wenn es nicht so arg war! Weißt [702] Du, Wilhelm, ich habe der armen Seele versprochen, daß ich bei Dir ein gutes Wort einlegen will. Sie war ganz auseinander, weil sie meint, Du würdest ihren Mann anzeigen. Du weißt ja selber, was für ein kümmerliches Ding sie ist, ewig krank – das Haus voll Kinder. Was sollte aus den Leuten werden, wenn sie vom Brode kommen! Nicht wahr, Du bist still? Er wird sich in Zukunft gewiß und wahrhaftig zusammennehmen.“
„Nein,“ sagte Wilhelm nachdrücklich, „davon kann keine Rede sein. Es ist nun schon das dritte Mal, daß sich der Müller grobe Fahrlässigkeit zu Schulden kommen läßt. Hier auf der Bahn handelt es sich nicht um einen Pappenstiel; wird etwas versehen, so kann es heilloses Unglück geben. Der Mann muß fort. Es ist mir leid um die Frau, läßt sich aber nicht ändern. Wäre der Bahnmeister nicht gerade außerhalb gewesen, dann hätte ich es gleich gesagt; der Kerl war noch dazu ganz unverschämt.“
„Wilhelm,“ bat die junge Frau im schmeichelnden Tone, „sei nicht so hart! Schau, die Müllerin hat mir gesagt, ich soll an unser Büble denken und deswegen für ihre Kinder bitten – das Nämliche sag’ ich Dir jetzt. Gieb nach, thu es mir zu lieb! Das arme Weib ist auf den Knieen vor mir herumgerutscht – ich hab’s gar nicht mit ansehen können vor Herzweh. Fort können die Leute nicht; das baufällige Häusle ist ihr Ein’ und Alles, und am Orte bekommt der Mann keine Arbeit.“
„Weil er ein Grobian und ein Säufer ist. Eine Zeitlang hatte er sich ordentlich angelassen; jetzt treibt er es wie zuvor, und das thut kein gut. Basta! Plage mich nicht – so etwas hingehen zu lassen, wäre gegen meine Pflicht und Schuldigkeit.“
„Das Wort ist Dein Morgen- und Abendsegen,“ rief Monika mit flammendem Gesicht. „So oft mir etwas recht am Herzen liegt, redest Du mir von Deiner Schuldigkeit. Daß Du brav sein mußt, versteht sich von selbst, aber Du übertreibst die Sachen. Man kann die Bravheit selber sein und deswegen doch ein gutes Herz haben.“
Wilhelm sah ernsthaft zu seiner Frau hinüber. „Meinst Du, ich hätte keins?“
Sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Was redest Du da!“ sagte sie in weniger lebhaftem Tone. „Du bist gut – das weiß ich. Aber siehst Du, manchmal möcht’ es mir das Herz abdrücken, daß ich so gar nichts über Dich vermag und daß Du bei Allem und Jedem immer nur an Deine Schuldigkeit denkst, wie Du sie meinst. Gott soll mich behüten, daß ich, für mein Theil, jemals etwas Unrechtes thun oder verlangen möchte – aber mein Mann und mein Bube kommen für mich zuerst, und dann kommt erst alles Uebrige, was es sonst in der Welt giebt. Und so bist Du nicht.“
„Wie ich bin, kann ich Dir nicht sagen, wenn Du es nicht selber weißt,“ entgegnete Wilhelm nach einer kleinen Weile. „Gott ist mein Zeuge, daß ich Frau und Kind lieb habe, wie Einer.“
Monika sah mit flüchtigem Blicke zu ihm hinüber; dann erhob sie sich in ihrer raschen Weise und gab ihm einen Kuß. Die Freudigkeit, welche dem Kinde gegenüber ihr Gesicht durchleuchtet hatte, kehrte aber im Verlaufe des Abends nicht wieder bei ihr ein. Jetzt hätte, wer sie einst gekannt, die Veränderung, welche in ihren Zügen fühlbar wurde, bestimmter bezeichnen können – jene Art von Lachen, welche das junge Mädchen im Grunde ihrer Augen getragen, war aus dem Blicke der jungen Frau verschwunden.
Ein heller Morgen tagte. Die Glocken der Ortschaft läuteten zur Frühkirche; der Klang zitterte weithin durch die weiche, schon jetzt heiße Luft. Monika stand im dunkeln Kleide, das kleine Gebetbuch in der Hand, zum Ausgehen gerüstet, zögerte aber noch auf der Schwelle.
„Du nimmst Fritzel also gern mit?“ sagte sie zu ihrem Manne, der, obgleich gestiefelt und mit bedecktem Kopfe, noch im Zimmer verweilte. „Er könnte wohl mit mir gehen; nur langweilt sich das Kind in der Kirche, auch ist es schon ein bischen spät; ich muß rasch vorwärts, denn heut’, am Sterbetage meiner seligen Mutter, möcht’ ich die heilige Messe nicht versäumen; ich hab’ noch alle Jahre für die liebe Seele gebetet. Gelt, Du giebst gut auf ihn Acht?“
„Ohne Sorge!“ sagte Wilhelm. „So lang’ ich auf dem Posten sein muß, bleibt er in der Bude. Die übrige Zeit kann er in der Kiesgrube mit Steinchen spielen – das ist sein Hauptvergnügen. Er war ja schon oft mit.“
„Bring’ Dir auch Steinchen heim! Ein’n ganzen Sack voll schön blaue Steinchen, Mutterl!“ nickte der Kleine und klatschte fröhlich in die Hände.
Monika lief noch einmal zurück, das Kind zu herzen, gab ihrem Manne einen Kuß und eilte dann raschen Schrittes querfeldein, der Ortschaft entgegen. Wenige Augenblicke nachher verließen auch Vater und Kind das Haus. Während Beide den Schienenweg entlang gingen, beugte sich Wilhelm’s stattliche Gestalt alle Augenblicke zu dem plaudernden Söhnchen nieder und ließ ihn nicht von der Hand, obgleich Fritzel, dessen lebhafter Blick jedes Blümchen am nahen Rain erfaßte, oft genug loszustreben versuchte. Das unbewußte Behagen, welches uns Alle, am vollsten aber das Kind, an einem schönen Tage im Freien überkommt, sprach sich in jeder Bewegung des Kleinen aus, dem überhaupt jene besondere Süßigkeit des Lächelns, jenes reizende Geberdenspiel eigen war, das man Engelsmanieren nennen dürfte.
Noch war die neu erbaute Bahn dem Verkehre erst theilweise übergeben, und die linienhafte Regelmäßigkeit, welche fertiggestellten Bahnen eigen ist, erfuhr vorerst manche Beeinträchtigung. So befand sich hier in nächster Nähe der kleinen, zur Aufnahme der gebräuchlichen Werkzeuge und zum Unterkommen des Wärters errichteten Bude jenes tiefer liegende Kiesfeld, auf dessen Steinchen Fritzel sich schon zu Hause gefreut hatte; ein kurzes Geleisstück verband diese Grube mit den Bahnschienen, um sie während der Zwischenzeit, die keinen fahrplanmäßigen Zug brachte, den Arbeitszügen zugänglich zu machen. Zu diesem Behufe war neben der Wärterbude, hier in das durchgehende Geleise, provisorisch eine Weiche eingelegt, deren Bedienung Wilhelm Huber oblag. Er hatte dieselbe bereits für den zunächst zu erwartenden Personenzug richtig gestellt, ehe er die freie Zwischenzeit nach Eintreffen des letzten Arbeitszuges benutzt hatte, Fritzel daheim abzuholen. Nun war sein erster Gang, sich zu überzeugen, ob sich dort noch Alles in Ordnung befand; dann gab er dem Bitten und Schmeicheln des Kindes nach, sogleich mit ihm hinab in die Kiesgrube zu gehen, welche von Menschen und Wagen leer war, und gönnte es sich, dem fröhlichen Spiel Fritzel’s zuzuschauen, der mit Wonne im sonnendurchglühten Sande herumwühlte, sich aus Steinen und Holzspähnchen Häuser baute und aus seiner freudigen Kinderphantasie eine Welt erschuf.
Der in der Richtung thalauswärts erwartete Zug wurde signalisirt.
„Komm, Fritzel!“ sagte der Vater; „ich muß jetzt hinauf. Du gehst mit und guckst zum Fester hinaus.“
„Laß mich doch da, Vaterle!“ schmeichelte Fritzel und schlug die strahlenden Blauaugen bittend auf, ohne sein Spiel zu verlassen. „Das Gepfiff ist so arg, und die Wagen fahren so geschwind; ich bleib’ lieber da, als daß ich zum Fester hinausgucke. Gelt, Vaterl, Du läßt mich?“
Wilhelm warf einen raschen Blick um sich. Das Kiesfeld war um diese Zeit verlassen, der Spielplatz für das Kind so sicher, als wäre er im Gärtchen des eigenen Hauses gewesen. Von seinem Posten aus konnte der Vater den Kleinen sehen, ihm zurufen. Er nickte freundlich Gewährung, strich mit der Hand liebkosend über die blonden Löckchen und begab sich auf seinen Posten.
Noch war der nahende Zug von der unterhalb gelegenen Haltestelle aus nicht signalisirt, als ein von der entgegengesetzten Seite des Schienenweges vernehmbares Rollen den Wärter jäh herumfahren ließ. Bei dem ersten Blicke dorthin wurde Wilhelm weiß, wie ein Todtengesicht. In der Richtung von der thalaufwärts in ziemlicher Entfernung befindlichen Station sauste ein einzelner, schwerbeladener Arbeitswagen auf dem Geleise bergab. In vollem Schusse begriffen, mußte er unaufhaltsam die kurze, nahe Station durchjagen und jenseits derselben mit dem unterwegs befindlichen Zuge zusammenprallen.
Eine Secunde lang ging es über Wilhelm’s Auge hin, wie eine Wolke. Er sah nichts mehr, weder das heranrollende Verhängniß, noch sein spielendes Kind. In der nächsten Secunde zuckte es durch sein Gehirn, scharf und jäh. Ohne Besinnen
[703]
legte er den Wechsel um. Der belastete Wagen schoß aus dem Hauptgeleise in das Nebengeleise und niederwärts in das Kiesfeld. Wilhelm sank schlotternd in die Kniee und stellte mit eiskalten Händen die Weiche wieder richtig. Kaum hatte er dies zu Stande gebracht, als der Zug von drunten signalisirt wurde und die Station passirte, ohne dort anzuhalten. Brausend fuhr die Wagenreihe an dem wie ein Bild von Stein auf seinem Posten Ausharrenden vorüber. Dann stürmte Wilhelm hinab in die Grube.
[704] Da lag sein Glück, sein Stolz, sein einziges Kind. Die Brust war zerschmettert, die weichen Glieder zermalmt, das süße Gesichtchen aber unverletzt. Noch zögerte darauf ein lächelnder Ausdruck; die göttliche Zuversicht der Kinderseele war von Gefahr und Angst unberührt geblieben. Wilhelm streckte beide Arme aus, als wollte er an sich raffen, was er nicht hatte behüten können, doch erstarrten ihm die Glieder in der Bewegung; ein rauher, gebrochener Ton rang sich aus seiner Kehle, dann stürzte der starke Mann neben dem Kinde nieder. Die Sinne vergingen ihm.
So fand man die Beiden, als Arbeiter aus der Nähe hinzuliefen. Doch währte die Bewußtlosigkeit des Unglücklichen nicht lange. Starr und eisig, als gehörte er nicht mehr den Lebenden an, gab er auf Aeußerung der Theilnahme und der Bewunderung seiner Pflichttreue weder Wort noch Zeichen. Der einzige Laut, der über seine Lippen kam, war die Forderung eines Tuches. Dahinein hüllte er, was ihm übrig geblieben, und trug sein entseeltes Kind auf seinen Armen nach Hause. Er bettete es dort auf dem Kissen, das, bei der Eile, womit heute die Hausfrau ihre Morgengeschäfte beschickt hatte, noch den Eindruck des Köpfchens trug, welches so lebensfrisch erwacht war. Er umhüllte die zerschmetterten Glieder sorgfältig mit den Decken, und saß dann neben dem kleinen Bette. Er wartete auf die Heimkunft seiner Frau. –
Monika hatte ihre Andacht vollendet, war auf dem Rückwege bei den Müller’s eingetreten und verließ die Hütte, worin sie ungetrösteter Jammer empfangen hatte, mit unbehaglichem Gefühl, dem sich eine leise persönliche Bitterkeit beimischte. So in Gedanken ging sie vor sich hin, ohne nach rechts oder links zu schauen. Bei einem flüchtigen Blick auf ein paar Leute der Ortschaft, die ihr, vom Felde kommend, begegneten, fiel ihr aber die sonderbare Art auf, womit sie angeschaut und begrüßt wurde. Während sie mit der ihr angeborenen Freundlichkeit ihr heimathliches: „Grüß Gott!“ sprach, unterschied ihr Ohr im Vorübergehen ein Gemurmel, das ihr befremdend vorkam. Wie es mitunter geschieht, daß man, von eigenen Gedanken zerstreut, ein Wort auffängt, welches im ersten Moment nicht viel anders hingenommen wird, als ein Schall, und sich erst nachher auf dessen Inhalt besinnt, war sie schon einige Schritte vorwärts gelangt, bis ihr deutlich zum Bewußtsein kam, daß gesagt worden: „Sie weiß noch nichts.“ Plötzlich wandte sie sich um und sah die Leute auf demselben Flecke, wo sie ihnen begegnet war, stille stehen und ihr in einer Weise nachstarren, die ihr das Blut in den Adern stocken machte. Mit einem Sprunge stand sie dicht vor ihnen und athmete hastig: „Was weiß ich nicht? – was ist passirt?!“
Die ihr kaum bekannte Bauernfrau, deren Arm sie bei dieser Frage erfaßt hatte, wandte sich ab und fing an zu schluchzen. Der Mann schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte, indem er nach der Bahn zu deutete: „Geht heim, Huberin! Ihr werdet’s zeitig genug erfahren. Es hat ein Unglück gegeben – nehmt’s christlich und tröstet Euch damit, daß Ihr einen Mann habt, der braver ist, als irgend Wer auf der Welt!“
Monika that keine Frage mehr. Ihre Augen spannten sich und wurden weit. Sie stand einen Augenblick wie eine Säule. Dann flog sie wie ein gehetztes Wild den Weg entlang, ihrem Hause zu. Als sie die Thür aufklinkte und das sonndurchhellte Wohngemach in gewohnter Ordnung und leer sah, fuhr ihr helles Roth wie ein Schimmer über das Gesicht. Im nächsten Augenblick sah sie durch die offen stehende Thür Wilhelm neben Fritzel’s Bette sitzen. Zugleich sah sie das weiße, stille Gesichtchen.
Mit einem Schrei, als wollte sich die eigene Seele gewaltsam dem Körper entreißen, war die Mutter neben ihrem Kinde. Sie tastete die weiche, kalte Wange an, schlug dann die Decke mit jäher Bewegung zurück und hatte mit einem einzigen Blicke Alles begriffen. Dann wandte sie den Kopf und sah ihren Mann an – nur eine Secunde lang, aber ihr Auge drang erstarrend in sein Herz. Ohne ein Wort zu sprechen, stand er auf und trat zurück, als wollte er der Mutter Raum geben. Sein heißes, trockenes Auge, das zuvor unverwandt auf dem Kinde gehaftet hatte, hing jetzt gleich unablässig an Monika. Mit einer halb mechanischen Bewegung streckte er den Arm aus, aber es schien nicht mit der Absicht zu geschehen, seine Frau an sich zu ziehen, sondern mit der, sie zu stützen, wenn es nöthig sei. – Es war nicht nöthig. Monika brach nicht zusammen angesichts des namenlosen Schicksals, das sie betroffen; das Bewußtsein verließ sie nicht einen Augenblick. Sie hing über dem Bettchen, streichelte an ihrem todten Liebling herum und murmelte unverständliche Worte.
Wilhelm trug es nicht mehr. Die glühenden Thränen, welche sich ihm bis zu diesem Augenblicke versagt, stürzten ihm aus der Seele in die Augen; er breitete seine beiden Arme aus und rief mit einem Tone, wie ein Ertrinkender um Hülfe ruft: „Monika!“
Sie richtete sich auf und wandte den Kopf nach ihm. Als seine Arme sie berührten, fuhr sie zurück: „Rühr’ mich nicht an!“
Der Besuch des Kaisers Wilhelm in der Landgemeinde Ober-Seebach im Unter-Elsaß und der sympathische Empfang, welcher ihm da bereitet wurde, hat eine gewisse historische Bedeutung, weil dies die erste elsässische Gemeinde ist, welche auch mit ihrer Gesinnung zu Kaiser und Reich zurückkehrt. Dieser Umstand mag es rechtfertigen, wenn ich eines persönlichen Zusammentreffens mit Seebacher Bauern bei Gelegenheit eines Volksfestes im Jahre 1848 gedenke, welches gewissermaßen wie ein Juwel in meiner Erinnerung aufbewahrt war und namentlich seit der Wiedergewinnung der Reichslande nicht selten darin auftauchte. Die Scene spielte in Weißenburg, und um sogleich zu erklären, welches Band mich nach dieser Stadt zog, will ich bemerken, daß ich drei meiner lateinischen Schuljahre dort zugebracht, und zwar zufällig in einer Classe mit dem Dichter Oskar Redwitz, dessen Vater als Zolldirector an der benachbarten bairischen Grenze wohnte. Während nämlich damals mein Vater seine Bestrebungen für die politische Nationalreform Deutschlands, welche jetzt zum glorreichen Ende geführt ist, mit vierjähriger Gefängnißhaft, worunter zwei Jahre mit Sträflingsarbeit, büßen mußte, sah sich meine Mutter auf seinen Wunsch veranlaßt, sich mit mir und meinen beiden Geschwistern einer zeitweisen freiwilligen Verbannung zu unterziehen, weil meinem Vater die vertrauliche Mittheilung geworden war, daß meine Mutter verhaftet und nebst ihren Kindern in einer Stadt Altbaierns polizeilich internirt werden würde, wie sie denn auch richtig unter den Proscribirten des schwarzen Buches der Mainzer Bundestags-Commission aufgeführt ist. Der eigenthümliche Zusammenhang, welcher zwischen den Vorfällen jener Zeit und den gegenwärtigen Errungenschaften und Bestrebungen besteht, mag es rechtfertigen, wenn ich die Ursache dieser ungewöhnlichen Verfolgung erwähne.
Mein Vater war nach dem Hambacher Fest verhaftet worden und hatte im Gefängniß zu Zweibrücken eine Denkschrift verfaßt, in der er seine bis dahin nur zerstreut und abgerissen in der „Deutschen Tribüne“ erschienenen Gedanken über die politische und sociale Reform Deutschlands im Zusammenhang darstellte und in der Forderung gipfelte, daß Kaiser und Reich auf der Basis verfassungsmäßiger Zustände wieder aufgerichtet werden müssen. Mir wurde damals (1833) als zehnjährigem Knaben die Ehre zu Theil, das Manuscript auf meinem Leibe aus dem Gefängniß zu schmuggeln und zum Druck zu befördern, in dem es unter dem Titel „Die politische Reform Deutschlands“ erschien und dann mit als Hauptanklagepunkt gegen meinen Vater vor den Assisen zu Landau diente. Meine Mutter hatte eigenhändig die Versendung dieser Druckschrift besorgt, wobei sie gegenüber einer polizeilichen Haussuchung den Rest des Vorrathes mit großer Geistesgegenwart durch Zudecken mit einem Haufen kleingespaltenen Holzes rettete, an welcher Arbeit wir Kinder einen eifrigen Antheil nahmen. Wegen Verbreitung dieser Schrift, welche nichts verlangte, als [705] was heute zu Recht besteht, sollte die Frau ebenfalls in Untersuchungshaft genommen werden, der sie sich, wie gesagt, durch die von meinem Vater angeordnete Flucht entzog, nachdem dieser von den Landauer Assisen zwar freigesprochen, aber wegen anderer geringerer Anklagen doch nachträglich zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt worden war.
Jenes Schwurgericht aber verdient von dem künftigen Geschichtsschreiber weit aufmerksamer beachtet zu werden, als es bisher geschehen ist.
Wie vom Frühling, dieser bevorzugten Zeit der Dichter, ist nicht selten auch vom Völkerleben behauptet worden, daß die ersten Blüthen, welche der Volksgeist treibe, weit beglückender seien als die noch so reichen Früchte, welche das Volk in reifen staatlichen Zuständen einheimse. Wenn in dieser Hinsicht die Bewegung des Jahres 1848 in dem größeren Theil von Europa als ein solcher Völkerfrühling bezeichnet worden ist, weil dieses denkwürdige Jahr in der That weniger Früchte als Blüthen – zuweilen darunter auch taube – gebracht hat, so ist doch für einen beschränkteren Kreis noch viel mehr die Bewegung der dreißiger Jahre als ein solcher Vorfrühling zu betrachten, in welchem die Jugend der Völker sich dem ganzen Fluge ihrer Phantasie hingab und mitten in der finsteren Nacht des Despotismus sich die Zukunft wie ein goldenes Eden dachte. Vor vier Jahren ist das vierzigjährige Jubiläum des am 27. Mai 1832 abgehaltenen Hambacher Festes gefeiert worden, und es mag als ein Zeichen des ungeheuren Umschwungs der Dinge betrachtet werden, daß das Jubiläum jener von dreißigtausend Menschen besuchten ersten deutschen Volksversammlung, welches damals als der Gipfelpunkt der revolutionären Bewegungen angesehen wurde, mit der Genehmigung des Enkels jenes oft als deutscher Patriot gefeierten Königs abgehalten wurde, auf dessen Befehl einst die Führer jener Kundgebung in den Kerker geworfen wurden. Das Hambacher Fest hatte auch seine Geschichtsschreiber gefunden. Das Gleiche läßt sich aber nicht von den Landauer Assisen sagen, auf welchen die Führer der Bewegung gerichtet und freigesprochen wurden.
Außer einem durch die Censur verstümmelten stenographischen Bericht der Verhandlungen dieses Schwurgerichts und dem in mehr als sieben Auflagen erschienenen Abdruck der Vertheidigungsrede des Hauptangeklagten Dr. J. G. August Wirth ist meines Wissens bis jetzt nirgends eine eingehende Schilderung jener denkwürdigen Tage erschienen. Und doch waren sie für die politische Entwickelung des deutschen Volkes weit bedeutungsvoller als das Hambacher Fest, weil durch volle drei Wochen hindurch vor Gericht Zeugniß für die Berechtigung der Forderungen des Volkes abgelegt und das Zukunftsprogramm der nationalen Freiheitspartei niedergelegt wurde. Deshalb ist dieses Schwurgericht häufig in seiner Bedeutung mit dem Reichstage zu Worms verglichen worden. Es war im Juli 1833. Das übrige Deutschland war still wie das Grab, aber dort am äußersten südwestlichsten Winkel war eine Rednerbühne errichtet, von der drei Wochen lang die Flammen der Begeisterung unter das Volk geschleudert wurden.
Jene denkwürdigen Gerichtstage haben nur deswegen nicht die Berühmtheit erlangt, wie die Unabhängigkeitserklärung in den Vereinigten Staaten und die Erklärung der Menschenrechte in Paris, weil sie zufälliger Weise auf einen kleineren Kreis sich beschränkten und wegen der damals herrschenden Censur die Berichte nur verstümmelt zur öffentlichen Kunde kamen. Der Eindruck beschränkte sich daher auf die achthundert Zuhörer, welche der in einem Gasthofe neu hergerichtete Saal faßte, denn der eigentliche Sitz des Schwurgerichtes war Zweibrücken, und es war nur ausnahmsweise für diesen Fall aus Furcht vor einem Volksaufstande in die Festung Landau verlegt worden. Alle jene Zuhörer aber haben einen bleibenden Eindruck mit davon getragen und ihr Leben lang der Volkssache als Apostel gedient. Wie vor einem feierlichen Volks-Thing wurden damals die Schicksalsbücher der deutschen Nation aufgerollt und ihr wahres historisches Recht in feierlicher Erklärung gewahrt. Namentlich wurde nachgewiesen, daß der Untergang des deutschen Reiches und der deutschen Volksfreiheit nur durch innere und äußere Gewalt und nicht durch einen staatsrechtlichen vollgültigen Nationalact vollzogen worden sei, daß die aus dem Landesverrathe der Rheinbundfürsten und der Gewalt des fremden Eroberers hervorgegangenen Zustände keine innere Berechtigung haben. Es wurde hervorgehoben, wie übel die Opfer, welche das deutsche Volk zur Abschüttelung der napoleonischen Herrschaft brachte, belohnt, wie wenig die in der Proclamation von Kalisch gegebenen Versprechungen gehalten wurden und wie das deutsche Volk das volle Recht besitze, zu seiner vollen Freiheit und zu seiner Reichseinheit zurückzugreifen. Gleichzeitig wurde dabei der Bedingungen der inneren volkswirthschaftlichen Entwickelung in einer Weise gedacht und ein sociales Fortschrittsprogramm aufgestellt, welches auch noch künftigen Geschlechtern als Leuchte dienen kann.
Das Elsaß war um die Mitte der 1830er Jahre noch lange nicht so französisirt wie gegenwärtig. Namentlich das protestantische Unter-Elsaß hatte sich, wenigstens in sprachlicher Beziehung, als gänzlich halsstarrig erwiesen. Die Umgangssprache war im Unter-Elsaß durchweg deutsch, und nur die Gebildeten fingen an, ein Französisch mit sehr schlechtem Accent zu sprechen, welches sie unter sich dann in ganz eigenthümlicher Weise mit dem Deutschen vermengten, nicht so, daß sie einzelne Ausdrücke aus dieser oder jener Sprache entlehnten, sondern die eine Hälfte des Satzes deutsch, die andere Hälfte französisch sprachen und, wenn sie den einen Satz französisch angefangen und deutsch geendigt, den nächsten deutsch anfingen und französisch endigten. Der eigentliche Bürgerstand, die Bauern und die Kinder auf der Straße blieben im Unter-Elsaß aber hartnäckig bei ihrem Deutsch. Im Gymnasium (collége) war es zwar verboten, dem Lehrer in deutscher Sprache zu antworten, in der Regel geschah es aber doch, trotz der jedesmaligen vorschriftsmäßigen Mahnung des Professors.
Einen Hauptstützpunkt fand das deutsche Element auch in der protestantischen Geistlichkeit, welche nothwendiger Weise deutsch predigen mußte und in der theologischen Facultät und dem damit verknüpften philologischen Seminar zu Straßburg ihren geistigen Brennpunkt und ihre Nahrung fand. Während nämlich die Straßburger Akademie, das heißt Universität, ganz nach französischem Muster eingerichtet war und nur französische Vorlesungen zuließ, hatten die oben genannten mit einander verknüpften Anstalten, kraft ihres Stiftungsvermögens, eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren gewußt und in der Hauptsache ihre deutsche Methode beibehalten, sowie auch viele Collegien, namentlich in der philologischen Abtheilung, noch in deutscher Sprache vorgetragen wurden. Ich genoß den Vortheil, dieselben ein Jahr lang (1839) zu besuchen, und erinnere mich heute noch mit Vergnügen der geistreichen und zugleich gediegenen deutschen Art, mit welcher ein Lachmayer und ein Hasselmann uns die griechischen und lateinischen Classiker vortrugen und erklärten. Einer der internen Seminaristen war damals auch Neffzer, der spätere Gründer des Pariser „Temps“, der schon damals als ein junger Mann von hervorragendem Geist betrachtet wurde und dessen zu frühzeitigen Tod wir heute beklagen. Aus Neugierde ging man dann auch zuweilen in eine Vorlesung der Akademie (das heißt der eigentlichen Universität), namentlich um die glänzende Rhetorik der französischen Professoren kennen zu lernen, und bei einer solchen Gelegenheit war es, daß ich gerade der Disputation um den Doctorhut von Edgar Quinet beiwohnen konnte, welcher erst nach seiner Rückkehr aus dem Orient, ein hoher Dreißiger, promovirte.
In den Ferien wurden dann zuweilen den Freunden, welche meistens Söhne von Pfarrern waren, an ihrem heimischen Herde Besuche abgestattet, und ich muß sagen, daß das unterelsässische Pfarrhaus noch nichts von der Traulichkeit eingebüßt hatte, durch welche es unter dem Meistergriffel Goethe’s eine solche Berühmtheit erlangt hat. Das patriarchalisch ehrbare und doch gemüthvolle Leben dieser meist zahlreichen Familien ist mir noch heute, nach über dreißig Jahren, in frischer und angenehmer Erinnerung. Einmal saßen wir an einer langen Tafelrunde zu Tisch. Mein Freund, der älteste Sohn des Hauses, hatte eben sein theologisches Examen mit Glanz bestanden, und es war ihm von seinen Eltern die Ueberraschung bereitet worden, daß der Gegenstand seiner Sehnsucht am seinem Geburtstage erschien. Als der ehrwürdige Pfarrherr nach dem Braten das Glas erhob, um die künftige Tochter willkommen zu heißen, da durfte mein erglühender Freund ihr über den Tisch hinüber den Brautkuß ertheilen. Wer Ramberg’s reizendes Bild kennt, welches einen jungen Mann in der Lieblingstracht der Sturm- und Drangperiode, dem Wertherfracke und den Stulpstiefeln, darstellt, wie er [706] einem jungen Mädchen am Rande eines Wassers im Parke vorliest, der hat fast die Portraits der beiden Liebenden gesehen.
Doch nun zur Sache! Ich war zehn Jahre später der Einladung eines Freundes gefolgt, um, der Weißenburger Feier des großen Nationalfestes beizuwohnen, welches im Mai 1848 in ganz Frankreich zur Verherrlichung der Errungenschaften der Februarrevolution begangen wurde. Die Feierlichkeit war ganz im französischen Stil organisirt, das heißt nach Art jener großen Volksfeste, wie sie während der ersten Revolution zu Paris veranstaltet worden sind. Es fand ein feierlicher Umzug statt, an dem Alle Theil nahmen, welche das Recht hatten Uniform zu tragen, Militär, Polizei, Gensd’armerie, bis zu den Schülern der lateinischen Schule herab, welche in Frankreich Uniformen wie unsere Cadetten trugen. Musik ging dem ungeheuren Zuge voraus, der von Zeit zu Zeit an öffentlichen Gebäuden oder auf freien Plätzen, wo mit frischen Zweigen und Fahnen bekränzte Tribünen und zuletzt sogar ein Altar errichtet war, Halt machen mußte, um die officiellen Begrüßungen, die begeisterten Freiheitsreden und die Segenssprüche der Geistlichkeit der beiden Confessionen entgegen zu nehmen.
Trotz des großen Pompes, der schmetternden Klänge der Musik und der frohen Stimmung, welche damals vor der Juni-Schlacht in Paris jene glänzenden Hoffnungen auf die anbrechende Herrschaft einer glorreichen Aera der Freiheit, des Wohlstandes, der Bildung und der Nationalwürde der Völker Europas noch nicht hatte knicken sehen – wollte der Jubel des Volkes doch nicht recht aus dem Grunde des Herzens kommen. Man sah daher reichlich mit Wein nachhelfen und bald mehr Betrunkene, als ich in Paris oder in Deutschland bei ähnlichen Gelegenheiten bemerkt. Die Ursache war sehr einfach. Das Volk verstand die Redner nicht, weil sie sämmtlich französisch sprachen und den Gebrauch der französischen Sprache von damals an als einen Act des Patriotismus anzusehen begannen.
Bei Gelegenheit einer jener Stauungen, wo gerade ein Geistlicher eine Fahne gesegnet hatte, gewahrte ich abseits stehend eine Gruppe von hochragenden kräftigen Bauernburschen in ihrer Tracht unter der Führung eines älteren Mannes, die gekommen waren, um das Fest anzusehen, und unter sich ihre Glossen darüber machten. Ich muß vorausschicken, daß damals die Elsässer im Allgemeinen bereits nicht wenig stolz waren auf ihre politische Zugehörigkeit zu Frankreich und gern eine gewisse Verachtung gegen deutsche Zustände und gegen Deutsche zur Schau trugen, welche sie durch die Bank „Schwaben“ nannten, obgleich dies mit weit mehr Recht ihr eigener Erbtitel ist, als derjenige der meisten Deutschen, auf welche sie ihn anwendeten. Persönlich und social aber herrschte eine noch viel größere Abneigung gegen die eigentlichen Franzosen, mit welchen die Elsässer in Gesellschaft zusammentrafen, und umgekehrt. Franzosen, die in’s Elsaß kamen und denen sogleich die von ihnen ganz verschiedene Art auffiel, welche in Sprache, Sitten, Gebräuchen, in der häuslichen Einrichtung und der Kost sich zeigte, wußten sich namentlich, wenn sie den weniger gebildete Ständen angehörten, nicht zu mäßigen in ihren Ausdrücken der Verachtung über „cette maudite Allemagne – ces têtes-carrées d’Allemands“. (Dieses verfluchte Deutschland – diese deutschen Querköpfe!) Die Elsässer gaben es ihnen zurück, indem sie unter sich die Nationalfranzosen oder sogenannte Stockfranzosen nie anders als die „wälschen Kaibe“[1] nannten.
Aehnliche Redensarten hörte ich natürlich auch in der Gruppe der Bauern fallen, von denen der kleinste sechs Schuh hoch in seinen Schuhen stand. Die Hünengestalten, welche sich seit der germanischen Occupation unvermischt fortgepflanzt zu haben schienen, sowie die trotzigen Redensarten über die „wälschen Kaibe“, veranlaßten mich, ihre Wortführer nach ihrer Herkunft zu fragen und mich mit denselben in ein Gespräch einzulassen. Ich hörte, daß sie aus Seebach und hergekommen seien, um das Fest mitzumachen, dem sie aber keinen großen Geschmack abgewinnen könnten, weil sie nichts von dem „Gewälsch“ verstünden und die Stadtleute überhaupt immer mehr „verwälschten“. In der That erfuhr ich aus dem weitern Gespräche, daß sie von den Zwecken und Zielen sowohl der Februarrevolution wie des Festes vor ihren Augen nur eine sehr unklare Vorstellung hatten, obgleich sonst aus ihren Reden ein überaus klarer, unabhängiger gesunder Menschenverstand hervorleuchtete. Ich suchte ihnen nun die Ursachen und Ziele der damaligen Bewegung in schlichten Worten zu erklären und wies besonders darauf hin, daß die Revolution in Paris den Anstoß zu einer Reformbewegung in ganz Europa gegeben habe und daß namentlich in einem großen Theile von Deutschland, zu dem man damals noch Oesterreich rechnete, der Bauernstand erst die Freiheit erringen müsse, welche der elsässische Bauer schon von der Zeit der ersten Revolution genieße. Als ich nun weiter erzählte, daß man in Deutschland jetzt auch mit der politischen Reform Ernst mache und einen ebenso mächtigen Staat herstellen werde, wie Frankreich ist, da sagte der älteste der Seebacher in seinem treuherzigen Dialekte, den ich nicht wiedergeben kann:
„Ja, wenn wir nur zu Euch gehörten, dann würden wir doch wieder verstehen, was man mit uns vorhat. Die wälschen Kaibe verstehen wir nicht.“
Ich war Gast auf gastlicher Erde, und obwohl ich von Jugend auf den Verlust des Elsasses von meinem Vater hatte beklagen hören, so glaubte ich mich doch nicht zur Rolle eines politischen Emissärs berufen, ganz abgesehen davon, daß eine solche Idee in der damaligen Zeit an Tollheit gegrenzt hätte.
Ich fühlte mich daher verpflichtet auf diesen Gedanken des alten Seebachers nicht einzugehen, sondern ihm und seinen Begleitern, die allmählich einen dichten Kreis um mich gebildet hatten, so deutlich wie möglich zu erklären, „daß in Folge der Eisenbahnen und des innigen geistigen und geschäftlichen Verkehrs der Völker unter einander dieselben nach Vermehrung des Wohlstandes und der Bildung einmüthig zu streben hätten, daß man ferner dieselben Interessen und Ziele habe, daß man sich bemühen müsse, den Frieden in Europa aufrecht zu erhalten und die Nachbarvölker auf freundschaftlichen Fuß mit einander zu bringen. Bis dahin sei der Fehler in Frankreich gewesen, daß die politischen Bewegungen von Paris ausgegangen seien; darum habe man sich um das Landvolk wenig bekümmert; in Zukunft würde dies besser werden und auch der Bauer sich mehr an den öffentlichen Angelegenheiten betheiligen können, wie es ja überhaupt in freieren Ländern auf die Sprache weniger ankomme, so daß z. B. in der Schweiz Deutsche mit Franzosen, in Amerika Deutsche neben Engländern ein einträchtiges und glückliches Leben führen, wie überhaupt die internationale Eintracht und das kosmopolitische Zusammenwirken der Völker für die Erringung der höchsten Güter das Ziel der Menschheit sei.“ Diese Worte, wie ich sie hier gebe, sind natürlich zu abstract für ein Bauernohr. In welche Form ich meine Gedanken und Empfindungen kleidete? Ich kann mich nicht mehr darauf besinnen. Ich weiß nur, daß ich den richtigen Ton gefunden haben mußte, um verstanden zu werden, denn obgleich ich kein begabter Redner bin, schienen meine Worte doch so zu Kopf und Herzen der Hörer zu gehen, daß die Augen der schlichte Landleute anfingen aufzuleuchten, feucht zu werden und daß mir der alte Landmann zuletzt die Hände zerdrückte und mich mit Thränen in den Augen umarmte.
„Ja, wenn man so zu uns spräche, ja, wenn man in unserer Sprache zu uns redete, dann wollten wir’s loben.“
Diese Worte waren alles, was sie zuerst unter ihren handgreiflichen Freundschaftsbezeigungen hervorbrachten. Die hünischen Bauern luden mich zu Gast und wollten mich gleich mitnehmen, und ich konnte mich nur mit Mühe losreißen und von ihnen Abschied nehmen unter dem Versprechen, sie eines Tages zu Seebach zu besuchen. Ich habe mein Versprechen nicht gehalten, obwohl ich es oft gewünscht. Das großstädtische Leben und die Alpen sind eben noch stärkere Anziehungspunkte. Seitdem sind alle diese Jünglinge reife Männer geworden. Ihr Führer ist wohl schon in’s Grab gesunken. Ob sich wohl Einer von ihnen noch, wie ich es that, jener Scene vor einem Menschenalter erinnert haben wird, als er dem deutschen Kaiser seinen Jubelruf zujauchzte?
[707]Zur Geschichte der geheimen Gesellschaften.
Der Hang des Menschen zum Geheimnißvollen, zum Räthselhaften und Unerklärlichen ist so alt wie die Welt, liegt er doch tief in unserer Natur begründet. In den Cultusformen aller Völker und aller Zeiten sehen wir darum auch dem Mystischen eine Hauptrolle zugewiesen, ja die Macht der meisten Religionen beruht wesentlich auf dem Mystischen, mit dem man die Geschichte ihres Ursprungs und ihre Lehren und Gebräuche zu umhüllen pflegt. Merkwürdiger Weise aber ist diese uns angeborene Neigung zum Geheimnißvollen und Uebernatürlichen kaum jemals stärker hervorgetreten, als in einer Periode, deren specifisches Gepräge der große Kampf des Fortschrittes wider träges oder selbstsüchtiges Beharren, das Ringen nach Aufklärung, nach der Erlösung aus den Banden geistiger Unfreiheit, aus Aber- und Wahnglauben bildet, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Neben dem Hoch und Niedrig erfüllenden Drange, überall Licht zu schaffen, wo bisher Dunkel und Finsterniß waren, ging als Charakterzug durch die damalige Welt die jener lichtfreundlichen diametral entgegengesetzte Tendenz nach Geheimbünden und mystisch ausgeschmückten Ordensgesellschaften, nach eidlich gebundenen Verbrüderungen mit seltsam verschnörkelten Gelöbnissen und Feierlichkeiten. Diese Tendenz aber entsprang theils aus der noch immer nicht überwundenen alchymistisch-theosophischen Richtung, theils stand sie im engsten Zusammenhange mit der die Zeit beherrschenden Gefühls- und Rührseligkeit, die selbst auf die klarsten Köpfe nicht ohne Einfluß blieb. Und dazu kam als vielleicht wichtigster Factor noch ein Drittes: es war die Epoche jener aufgeklärten Despoten, an deren Spitze wir Friedrich den Großen erblicken, jener von der Strömung der Zeit ergriffenen Monarchen, die wohl viel für, nichts aber durch das Volk in’s Werk zu richten geneigt waren. So ist das Spiel mit Geheimbünden und Ordensförmlichkeiten das gemeinsame Product ganz widerstrebender Tendenzen, ein Kind der aufklärenden Forschung und der mystischen Schwärmerei, der Humanität und des Absolutismus, alle diese verschiedenartigen Richtungen aber mischen und durchdringen sich in den geheimen Gesellschaften dergestalt, daß man in der Regel nicht zu entscheiden vermag, welche derselben die eigentlich kennzeichnende und maßgebende ist.
Die Anzahl der im achtzehnten Jahrhunderte bestehenden geheimen Gesellschaften ist zweifelsohne eine sehr beträchtliche, läßt sich jedoch schwerlich genau feststellen, da manche dem größeren Publicum nur ganz oberflächlich, mehrere wohl gar nicht bekannt geworden sind und somit ihren Namen bis zur heutigen Stunde mit vollem Rechte führen. Viele dieser Orden waren nichts als leere Modetändelei, willkommene Abwechselung bringende Zerstreuung für eine müßige und blasirte Welt; anderen lagen in der That bestimmte Absichten und Ziele zu Grunde, religiöser oder humanitärer, politischer oder socialer Natur; noch andere waren ein reiner Humbug, der die Zeitströmung, die Neugier und Leichtgläubigkeit der Menschen zum Vortheile einzelner Persönlichkeiten auszubeuten suchte, ohne irgend sonst welchen erlaubten oder unerlaubten Zwecken zu dienen. Die kurze Schilderung eines der allerwundersamsten Orden der letzterwähnten Kategorie, von dem der größere Theil unserer Leser wohl noch niemals vernommen, möge einen kleinen Cyclus von Aufsätzen einleiten, in denen nach und nach von einer Reihe der eigenthümlichsten geheimen Gesellschaften nicht blos des letzten Jahrhunderts, sondern auch früherer Zeiten berichtet werden soll.
Einem von Friedrich’s des Großen Obersten, der ein zu Wesel stehendes Infanterieregiment befehligte, einem erlauchten Herrn, dem Reichsgrafen Franz Karl Ludwig von Wied-Neuwied, mochte es zu Herzen gehen, daß er bisher nichts für die Unsterblichkeit gethan hatte; denn von seinen kriegerischen Lorbeeren meldet die Geschichte nichts, und so verfiel er auf den in jenen Tagen höchst zeitgemäßen und Erfolg verheißenden Gedanken, die Welt mit einem neuen geheimen Orden zu beglücken. Solches geschah im Octobermonat des Jahres 1746, noch mitten in den Stürmen des österreichischen Erbfolgekrieges, in welchem der junge preußische Aar das alte politische System Europas über den Haufen zu werfen begann.
Der Plan des neuen Ordens war der einfachste, der sich nur ersinnen läßt; bestand er doch in nichts Anderem, als in dem Bestreben, die größtmögliche Menge von Ducaten zusammenzubringen, weshalb die Vereinigung, der ihr Stifter den harmlosen Titel der „Löblichen 1746er Societät“ beigelegt, auch kurzweg die Ducatensocietät oder der Ducatenorden geheißen wurde. Als letzterer ist ihr Andenken auf die Nachwelt gekommen. Daß kein Schwindel und Unsinn in der Welt zu toll und zu plump ist, um Gläubige und Anhänger zu finden, sehen wir aus den Erfolgen, deren sich die abgeschmacktesten der sogenannten Wunder- und Geheimmittel noch fort und fort zu erfreuen haben, Unsinnigeres ist aber wohl kaum jemals auf das Tapet gebracht worden, als des hochmögenden Herrn von Wied-Neuwied Ducatensocietät. Sie bezeichnet unstreitig den Gipfelpunkt der zur Zeitkrankheit gewordenen Ordensbündelei und Geheimnißkrämerei. Fanden sich doch binnen Kurzem Hunderte sonst keineswegs unzurechnungsfähiger Menschen, die darauf „hineinfielen“, allmonatlich ihren Ducaten einzuschicken und ihrerseits neue Ducatenspender anzuwerben; denn, wie gesagt, das war der ganze Witz der Sache, und der Stifter des sonderbaren Bundes sprach dies auch, im directen Gegensatze zu anderen Gründern von dergleichen geheimen Gesellschaften, mit einer wahrhaft naiven Offenherzigkeit aus. Trotzdem aber nahm die Sucht, seine Ducaten los zu werden, bald dermaßen überhand, daß landesherrliche Erlasse dagegen einschreiten und der frechen Gaunerei – das war ja des Pudels Kern – ein Ziel stecken mußten.
Ueber sein Wesen, seine Organisation und seine Absichten hat der Orden selbst für seine Mitglieder eine eigene Schrift veröffentlicht, die uns ein Zufall in die Hände gespielt hat. Nach diesem jetzt äußerst selten gewordenen Documente, dessen vollständiger Titel lautet: „Kurtze und zuverlässige Nachrichten von dem Ursprung, itzigen Beschaffenheit und Endzweck der in Anno 1746 errichteten Societät. Herausgegeben durch G. Matth. von Gudenus, Hochgräfl. Wied-Runkelischen Hofrath, der Löbl. Societät Senior und Correspondenten. Neuwied, gedr. bei Joh. Balth. Haupt, Hochgräfl. Wiedischen Hof- wie auch der Löbl. Societät Buchdrucker. 1747,“ haben wir uns Gestalt und Wirksamkeit der reichsgräflichen „1746er Societät“ folgendermaßen zu denken.
Kaum hatte der vornehme Stifter seine sinnreiche Idee ausgebrütet, so gewann er auch schon Jünger derselben. Die ersten Mitglieder, Edelleute, höhere Officiere und Staatsdiener, empfing die Gesellschaft schon im Monate ihres Entstehens. Jedem der Neuaufgenommenen wurde eine in schwülstigem und mystischem Kauderwelsch abgefaßte Bescheinigung ertheilt: „daß sein Name in den Societäts-Gegenbüchern richtig eingetragen worden sei und daß er fortan der Societätsprivilegien zu genießen habe.“ Wogegen er eine schriftliche Erklärung abgeben mußte, nach welcher er sich zur Zahlung eines Ducatens pro Monat verpflichtete, auch anheischig machte, die Ducaten der von ihm für die Gesellschaft gewonnenen Personen beizutreiben und dem Cassirer des Vereins allmonatlich einzuhändigen. Das Ordenszeichen war ein in Silber gefaßter Kremnitzer Ducaten, den die „simplen“ Mitglieder an einem himmelblauen Bande im Knopfloche, die „Officiere“ der Societät am Halse, die „unbekannten Oberen“ in Gestalt eines von Strahlen umgebenen Sternes auf der linken Brustseite zu tragen hatten, wenn sie in den von Zeit zu Zeit auszuschreibenden Versammlungen der Gesellschaft erschienen.
Allerdings bemüht sich das Actenstück oder vielmehr der Stifter des „Hochlöblichen“ Ordens, dem Kinde ein anständiges Mäntelchen umzuhängen, das heißt in pomphaften Worten die Motive anzuführen, die männiglich, Vornehm und Gering, zum Eintritte in eine so ersprießliche Gesellschaft bestimmen müssen. Zunächst werden die allgemeinen Beweggründe gar weit herbeigeholt. „Der Mensch ist zur Geselligkeit geboren,“ so lautet der sicher nicht anzufechtende Ausspruch des ersten Paragraphen des Statuts. „In Folge dieses seines Berufes“ – fährt Paragraph 2 fort – „heißt das erste und Grundgesetz des Naturrechts: ‚Socialiter vive!‘“ (Lebe gesellig!), ein Satz, der nun höchst umständlich durch eine Menge von Beispielen aus der Urgeschichte der Menschheit bis auf die jüngsten Zeiten herab zu beweisen [708] versucht wird. „Die ersten Bewohner des Erdballs bereits und zwar die bösen sowohl wie die guten“ – lesen wir in Paragraph 5 – „fanden es besser, sich in zahlreiche Gesellschaften zusammenzuthun, als einzeln zu leben, und die Nachkömmlinge sind dem Exempel ihrer Vorfahren gefolgt.“ Um aber das Verdienstvolle und Würdige des neuen Ordens, seine erhabenen und lauteren Tendenzen gehörig an’s Licht zu stellen, wirft sich Paragraph 8 zum strengen Sittenrichter und Tugendhelden auf, indem er über den „Mißbrauch“ klagt, „so in den jetzigen Zeiten eingerissen sei, durch ein läppisches Spielwerk, durch nichtswürdige Gaukelpossen und ein ausdecorirtes Nichts neugierige und leichtgläubige Gemüther unter der Larve eines Ordens zu betrügen,“ während der menschenfreundliche Urheber der Ducatensocietät, wie Paragraph 16 besagt, „eine Stiftung ausgedacht habe, die nicht allein dem gemeinen Wesen überhaupt, sondern auch gewissen einzelnen Personen zu wesentlichem Nutzen gereichen könnte.“
Diese philosophischen Betrachtungen hätten indeß begreiflicher Weise nicht den Speck geliefert, dessen man zu dem reichlichen Mäusefange bedurfte, den man erstrebte. Da mußten noch andere näherliegende und praktischere Motive zu Hülfe genommen werden, um den verlockenden Köder in ausgiebigem Umfange auswerfen zu können, und schlau genug wußte der erlauchte Graf des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und königlich preußischer Oberst dasjenige auszuwählen, welches in alten und neuen Tagen unter den packendsten und bestimmendsten obenan gestanden hat und bis in die fernste Zukunft wahrscheinlich auch stehen wird – er speculirte auf die menschliche Habgier. „Da derjenige allmonatlich gern einen Ducaten zur Societätscasse zahlen wird, der billig hoffen kann, nicht nur dieser Zahlung bald entledigt zu werden, sondern im Gegentheile monatlich viele Ducaten ohne jedwede persönliche Obliegenheit zu empfangen: so wird er selbst für den Ersten, so er für die Societät engagirt hat, von der Zahlung befreit,“ heißt es in der gedachten Urkunde weiter. „Der Zweite, den er engagirt, zahlet gleichfalls zur Societätscasse, für den Dritten aber empfängt er monatlich einen Ducaten für sich; der Vierte zahlet ebenmäßig zur Casse, hingegen empfängt er wiederum für den Fünften einen Ducaten monatlich für sich. Dergleichen auch für den Siebenten, Neunten, Elften, Dreizehnten und sofort für jede ungerade Zahl monatlich seinen Ducaten. Wer also die Gelegenheit hat, ein halb Hundert Mitglieder zu dieser Societät zu engagiren, der macht sich monatlich eine Revenüe von vierundzwanzig Ducaten.“
Vortrefflich auscalculirt, und wie billig verfährt der Orden bei solcher Theilung! Selbstverständlich behält er freilich immer den ersten Theil für sich und streicht seine Ducaten ein, auch wenn es seinen Mitgliedern mit dem Apostelthum für die Societät nicht in’s Größere glücken will und manches derselben wohl nicht eine schöne Seele findet, welcher der Ueberfluß an Ducaten Kopfschmerzen verursacht. Die Ducatenspedition war mithin die Hauptsache des Bundes. Wer keine Lust verspürte, mehr als einen von seinen Ducaten zu opfern, der brauchte ja nur einen seiner Freunde für die Gesellschaft zu gewinnen, was jedenfalls keine absonderliche Mühe kostete, und dieser setzte dann das vorzügliche Goldwanderungsgeschäftchen fort, und so mit Grazie in infinitum. Zu welchem Zwecke diese ganze Ducatenjagd im Grunde in Scene gesetzt worden war, davon mögen nur Wenige sich Rechenschaft gegeben haben. Sah man sich doch als Mitglied eines geheimen Ordens am Ziele vielleicht lange sehnsüchtigst genährter Wünsche; denn „geheim“ war die Gesellschaft, mußte doch Jeder geloben, nur denen die Statuten derselben zu offenbaren, die bereits versichert hatten, dem Orden beitreten zu wollen. Auch drohte dem Verräther „schauerliche“ Strafe, eine geheime Vehme mit allen möglichen grausigen Schrecken und Bußen, Haft in finsteren Verließen und nervenerschütternde Ceremonien. Gerade dieser – auf dem Papiere stehende – Schauerapparat, die erregte Neugier und das so angenehme Gruseln thaten, wie bei anderen ähnlichen Vereinen auch, das Ihrige, zur Mitgliedschaft des Bundes anzureizen.
„Kaum“ – so steht ferner in der Ordensschrift zu lesen, der wir in unserer Darstellung folgen – „kaum hatten die Ordensstatuten (die in drei Sprachen, der deutschen, der französischen und der holländischen, gedruckt sind) durch die Mitglieder eine gewisse Verbreitung zu finden begonnen, als sich gleich Viele meldeten, so Lust bezeigten, in die Löbliche Societät zu treten; welches um so mehr zu bewundern ist, je weniger anfänglich weder von dem Aufenthalte noch auch von den Stiftern und der eigentlichen Beschaffenheit dieser neuen Societät icht was zu erfahren war, inmassen man der Neugierigkeit des Publici hierinnenfalls mit Fleiß nicht ehender ein Genügen leisten wollen.“ Dieser „Bewunderung“ des Wied-Runkelischen Hofrathes und Ordensseniors möchten wir unsererseits uns indessen nicht anschließen; wir sind vielmehr davon überzeugt, daß der größte Reiz, den der Orden auf die Gemüther der Menschen ausübte, im Gegentheile darin bestand, daß man so wenig oder nichts von der Beschaffenheit und den Zwecken der Gesellschaft wußte; die Lockung des Geheimnißvollen ist ja schier unwiderstehlich. Das hatte der erlauchte Stifter gar wohl bedacht. Ein anderer seiner Kunstgriffe war der, daß die Aufnahme-Certificate durch die Unterschrift eines hochgräflichen Buchhalters ein besonderes Relief erhielten, das von der Societät selbst eine hohe Meinung einflößte. Ein Orden, hinter dem man Personen sehr vornehmen Standes vermuthete, durfte von vornherein darauf zählen, daß sich das Publicum nach dem Glücke drängte, in seine Reihen aufgenommen zu werden, selbst dann noch, wenn der Bund schon als der abgeschmackteste Humbug enthüllt war. Der Ducatenorden unterschied sich von der Mehrzahl der geheimen Gesellschaften, die sich entweder blos aus männlichen oder nur aus weiblichen Mitgliedern zusammensetzten, dadurch, daß er beide Geschlechter aufnahm. Auch die religiösen Anschauungen des Vereins ruhten auf breitesten Grundlagen, wie das die Eingangs der Schrift ausgesprochene Naturrechtsphilosophie nicht anders erwarten läßt. „Religionsvorurtheile können unmöglich bei einer Einrichtung einen verhaßten Einfluß haben, welche sich auf die richtigen Sätze der Tugend und Geselligkeit gründet und die wahre Menschenliebe zu ihrem Wegweiser hat,“ heißt es sehr schön und hochsinnig auf Seite 21 unserer merkwürdigen Urkunde. Und schon das erste Mitgliederverzeichniß hat einen Israeliten aufzuführen, der bereits sechs Wochen nach der Stiftung der Societät um Aufnahme in einen Bund ersuchte, dessen Name einen so verführerischen Klang hatte.
Ehe noch das Jahr 1746 abgelaufen, besaß der Orden schon neunundvierzig Ritter und Ritterinnen, zu Ende Juli 1747 aber bezifferten sich seine Mitglieder auf die erkleckliche Menge von vierhundertundsechszehn. Der Orden war nun vollkommen constituirt. Er hatte seinen jetzt öffentlich bekannten Stifter und Director, einen Protector (den regierenden Monarchen von Neuwied), sieben Senioren, einen Schatzmeister, einen Secretär und einen Archivar. Die ersten Mitglieder waren, wie erwähnt, in Wesel stationirte Officiere und Beamte, auch mehrere Bewohner von Neuwied, unter ihnen das gesammte hochgräfliche Haus. Auch Damen traten schon in den ersten Monaten der Gesellschaft bei, und bald kommen Gräfinnen und Edelfräulein, Pastorinnen und Bürgerfrauen, sich ihrer Ducaten zu entledigen. Selbst kleine Handwerker konnten die Lust nicht bezähmen, einem so vornehmen Orden anzugehören. Ueber Deutschland hinaus scheint sich die löbliche Societät jedoch nicht verbreitet zu haben, trotz ihrer dreisprachigen Statuten, innerhalb Deutschlands aber sind fast alle größeren Städte unter der Mitgliederzahl vertreten, vorzugsweise Dresden und Berlin. Von geschichtlichen Namen finden wir darunter nur den Gleim’s, der, nachdem er seine Stelle als Secretär des alten Dessauers niedergelegt, damals in der preußischen Hauptstadt privatisirte.
Die erste Versammlung des Ordens, oder doch seiner ältesten Mitglieder, ward im April 1747 zu Wesel abgehalten. Es hatte sich nämlich inzwischen die Kritik geregt und den Vorstand der Gesellschaft mit allerhand naseweisen Anfragen belästigt; sind ja die vortrefflichsten und weisesten Einrichtungen nicht vor dergleichen Vorwitz geschützt. Da galt es denn zu beruhigen und noch unliebsameren Forschungen vorzubauen, die am Ende das ganze hochpreisliche Institut in Frage stellten. Zugleich waren mancherlei andere Bedenken zu erledigen, um für kommende Eventualitäten Vorsehung zu treffen. Herr von Gudenius berichtet über die Versammlung und alle diese Punkte und Anliegen. Um der Menschheit aber gewissermaßen plastisch und handgreiflich vor Augen zu führen, welches Glück es sei, sich Ritter vom Ducatenorden nennen zu dürfen, fügt der Verfasser seiner Schrift eine bildliche Darstellung bei, die uns zeigt, „welchen [709] schönen Anblick es gewährt“, Vater von drei, Großvater von neun und Aeltervater von siebenundzwanzig „Societätsrekruten“ zu sein.
Dennoch – traurig, aber wahr! – gab es mehr als ein Mitglied der Gesellschaft, das „gar keinen Rekruten zu seiner eigenen Befreiung anzuwerben im Stande war“, und es erhob sich die andere Anfrage, ob sothanes von Mißgeschick verfolgtes Mitglied verbunden sei, bis an das Ende aller Dinge, das heißt Zeit seines Lebens, allmonatlich seinen Ducaten beizusteuern? Der hohe Orden fühlte ein menschliches Rühren; er entschied: „wer ein ganzes Jahr sich vergeblich bemühet, einen Rekruten auf seinen Namen zu engagiren, der soll nach Erlegung des zwölften und letzten Ducatens von allen Abgaben frei sein und nichtsdestoweniger aller Ehren und Vortheile der löblichen Societät genießen.“
Noch waren aber mancherlei fernere Bedenken zu entkräften. So wollte ein vorlautes Mitglied aus Frankfurt, vielleicht jener obengedachte Jude, ohne Umstände erfahren: Wie denn die einlaufenden Gelder zum Nutzen der Mitglieder eigentlich verwandt werden sollten? Allein auch zur Begegnung so frecher Neugier waren die hohen Oberen gerüstet. Sie hatten ein ganzes Register schöner und fördersamer Dinge und Unternehmungen in Bereitschaft, mit denen der Orden nicht säumen werde, die Welt zu segnen. So sollte eine große Lotterie in’s Leben gerufen werden mit höchst „considerablen“ Gewinnsten, doch wollte man die Capitalsumme selbst nicht den Gewinnern auszahlen, sondern nur zeitlebens pro Jahr mit fünf Procent verzinsen. Außerdem wurde „Unterstützung mit convenabler Tafel, Kleidung und Wohnung für solche Ordensmitglieder“ beabsichtigt, „welche in fatale Umstände verfallen sind, wofern die Noth dieses erfordert, als worüber der Aelteste der Societät (der erlauchte Reichsgraf von Wied-Neuwied) zu erkennen hat.“ Endlich trug man sich mit dem verdienstlichen Plane, „wohleingerichtete Freischulen zum Besten der Jugend beiderlei Geschlechtes und aller Religionen zu gründen.“
Was konnte man von dem Orden mehr noch verlangen? Schade nur, daß diesem zur Verwirklichung seiner menschenfreundlichen Projecte keine Zeit vergönnt war. Bereits gingen seine Tage zur Neige. Das Ducatensammeln und Ducatenverschicken war mittlerweile zu einer derartigen Ausdehnung gediehen, daß es den Staatsregierungen nicht verborgen bleiben konnte, die diese Steuer „zum Besten der hohen Oberen“ nicht länger gestatten wollten. Und so mußte die so sinnreich erdachte und wohlthätige Ducatengenossenschaft des Reichsgrafen Franz Karl Ludwig von Wied-Neuwied schon Anfangs des Jahres 1748 ihr junges Leben beschließen. Unter Anderem hatte das königlich preußische Hof- und Kammergericht zu Berlin am 8. December 1747 das nachstehende Rescript gegen die Gesellschaft erlassen:
„Nachdem Seine königliche Majestät in Preußen etc. etc. durch eine allergnädigste Cabinetsordre vom Ersten des Monats geordnet: daß die im Reiche entstandene sogenannte Ducatensocietät, durch welche und deren Einrichtung das Publicum unter dem Scheine eines zu hoffenden considerablen Profites sehr dupirt und hinter das Licht geführt worden, in deren Landen nachdrücklichst verboten werden solle, damit Niemand bei solcher sich einlassen, oder einigen Theil daran nehmen möge: Als wird hierdurch nicht nur das Publicum in Seiner Majestät Landen vor dieser gefährlichen Societät gewarnt, sondern auch männiglichen bei namhafter und arbitrairer Geldstrafe untersaget, an mehrerwähnter Societät den geringsten Theil, er sei direct oder indirect, zu nehmen, bei solcher etwas einzusetzen, oder selbige auf einige Weise zu favorisiren; allermaßen auch dem Officio Fisci aufgegeben worden, darauf genau zu vigiliren und bei vorkommenden Contraventionsfällen sein Amt zu beobachten.“
Daß einer seiner eigenen Officiere der geniale Erfinder des tollen Schwindels gewesen, hat Friedrich der Große offenbar nicht gewußt, sonst würde das Kammergericht schwerlich behaupten, daß die in der gutpreußischen Stadt und Festung Wesel geborne Gaunerei „im Reiche“ aufgekommen sei. Auch finden wir keine Spur davon, daß die Urheberschaft seiner Löblichen Ducatensocietät dem Grafen in seiner militärischen Laufbahn geschadet habe. Derselbe starb 1765 als königlich preußischer Generallieutenant, jedenfalls im unbehelligten Genusse der goldenen Früchte einer Speculation, die in der Gründer-Aera unserer Tage Figur gemacht haben würde.
Vineta.
setzungsrecht vorbehalten.
„Und ich würde das auch nun und nimmermehr dulden,“ brauste Leo auf. „Wenn das der Grund war, so bleibt Wanda in Rakowicz und setzt keinen Fuß nach Wilicza. Ich habe geglaubt, Waldemar’s einstige Neigung sei längst begraben und vergessen; ist sie es nicht – und sie kann es nicht sein, sonst wäre der Plan nicht gefaßt worden – so lasse ich Dich auch nicht einen Tag in seiner Nähe.“
„Sei ruhig!“ sagte Wanda, aber ihre eigene Stimme klang nichts weniger als ruhig. „Ich lasse mich nicht wieder als bloßes Werkzeug gebrauchen, wie damals in C. Einmal habe ich mit diesem Manne und seiner Liebe gespielt; zum zweiten Male thue ich es nicht. Er hat mich seine Verachtung fühlen lassen – ich weiß wie das lastet, und doch handelte es sich damals nur um die Laune eines unbesonnenen Kindes. Wenn er jetzt einen Plan, eine Berechnung entdeckte und ich müßte das eines Tages in seinen Augen lesen – eher sterben als das ertragen!“
Sie hatte sich von ihrer Heftigkeit so weit fortreißen lassen, daß sie ihre ganze Umgebung darüber vergaß. Hochaufgerichtet, mit glühenden Wangen und flammenden Augen schleuderte sie den Protest so leidenschaftlich heraus, daß der Graf sie befremdet und die Fürstin bestürzt anblickte. Leo dagegen, der dicht an ihrer Seite stand, wich zurück; er war bleich geworden, und in seinen Augen, die starr und fragend auf ihrem Antlitz hafteten, stand mehr als bloße Befremdung oder Bestürzung.
„Eher sterben!“ wiederholte er. „Liegt Dir so viel an Waldemar’s Achtung? Verstehst Du es so gut, in seinen Augen zu lesen? Das ist doch seltsam.“
Eine heiße Röthe ergoß sich urplötzlich über Wanda’s Gesicht, sie mochte es wohl selbst nicht wissen, denn sie warf dem jungen Fürsten einen Blick ungekünstelter Entrüstung zu und wollte ihm antworten, als ihr Vater dazwischen trat.
„Nur jetzt keine von Deinen Eifersuchtsscenen, Leo!“ sagte er ernst. „Willst Du uns den Abschied stören und Wanda noch in der letzten Minute beleidigen? Da Du jetzt auch darauf bestehst, so mag sie in Rakowicz bleiben; meine Schwester wird Euch in diesem Punkte nachgeben, aber nun kränke Wanda nicht länger mit einem solchen Verdachte! Die Zeit drängt – wir müssen Lebewohl sagen.“
Er zog die Tochter an sich, und jetzt im Augenblicke der Trennung brach wieder die ganze Zärtlichkeit des so ernsten, düsteren Mannes für sein einziges Kind hervor, das er mit tiefer schmerzlicher Bewegung in die Arme schloß. Die Fürstin dagegen wartete umsonst auf die Annäherung ihres Sohnes; er stand noch immer mit tiefverfinstertem Gesichte da, das Auge am Boden, und biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten.
„Nun, Leo,“ mahnte die Mutter endlich, „willst Du mir nicht Lebewohl sagen?“
Er schreckte aus seinem Brüten empor. „Noch nicht, Mama! Ich folge dem Onkel erst später; er braucht mich für’s Erste nicht. Ich will noch einige Tage hier bleiben.“
„Leo!“ rief der Graf zürnend, während Wanda sich mit dem gleichen Ausdrucke aus seinen Armen emporrichtete, aber das schien den jungen Fürsten in seinem Trotze nur noch zu bestärken.
„Ich bleibe,“ beharrte er, „auf zwei oder drei Tage kann es unmöglich ankommen. Erst will ich Wanda selbst nach Rakowicz zurückgeleiten und die Gewißheit haben, daß sie dort bleibt, vor allen Dingen aber will ich Waldemar’s Ankunft abwarten und mir auf dem kürzesten Wege Klarheit verschaffen. Ich werde ihn [710] über seine Gefühle für meine Braut zur Rede stellen; ich werde –“
„Fürst Leo Baratowski wird thun, was seine Pflicht ihm befiehlt, und nichts Anderes,“ unterbrach ihn die Fürstin. Ihre kalte, klare Stimme stand im schärfsten Gegensatze zu dem wild erregten Tone des Sohnes. „Er wird seinem Oheim folgen, wie es bestimmt ist, und nicht eine Minute von seiner Seite weichen.“
„Ich kann nicht,“ rief Leo ungestüm. „Ich kann nicht fort mit diesem Argwohne im Herzen. Ihr habt mir Wanda’s Hand zugesagt, und doch durfte ich nie ein Recht auf sie geltend machen; sie selbst hat darin immer kalt und unerbittlich auf Eurer Seite gestanden; sie wollte immer nur der Preis des Kampfes sein, in den wir gehen. Jetzt aber fordere ich, daß sie vorher öffentlich und feierlich sich zu meiner Braut erklärt, hier, in Waldemar’s Gegenwart, vor seinen Augen. Dann will ich gehen, aber eher weiche ich nicht aus dem Schlosse. Waldemar hat sich ja in einer so überraschenden Weise zum Herrn und Gebieter proclamirt, was ihm Niemand zutraute; er könnte sich einmal eben so plötzlich in einen glühenden Anbeter verwandeln.“
„Nein Leo,“ sagte Wanda mit zorniger Verachtung, „aber Dein Bruder würde sich beim Beginne eines Kampfes sicher nicht weigern, seiner Pflicht zu folgen, und sollte es ihm auch Glück und Liebe kosten.“
Das war das Schlimmste, was sie überhaupt hätte aussprechen können, denn das raubte dem jungen Fürsten vollends die Fassung; er lachte bitter auf.
„O, ihm nicht! Aber mir könnte es leicht Beides kosten, wenn ich jetzt ginge und Dich Deiner schrankenlosen Bewunderung für ihn und sein Pflichtgefühl überließe. – Onkel, ich verlange Aufschub für meine Abreise, nur um drei Tage, und wenn Du mir das versagst, so nehme ich ihn mir. Ich weiß, daß in der ersten Zeit noch nichts Entscheidendes geschieht, und zu den Vorbereitungen komme ich noch immer früh genug.“
Die Fürstin wollte einschreiten, aber der Graf hielt sie zurück. Mit seiner vollen Autorität trat er vor den Neffen hin.
„Darüber habe ich zu entscheiden und nicht Du. Ich habe unsere Abreise für heute festgesetzt; ich halte sie für nothwendig, und dabei bleibt es. Wenn ich jeden meiner Befehle erst Deiner Prüfung unterbreiten oder ihn von Deinen Eifersuchtslaunen abhängig machen soll, so ist es besser, Du gehst überhaupt nicht mit mir. Ich fordere jetzt den Gehorsam, den Du Deinem Führer zugesagt hast. Entweder Du folgst mir noch in dieser Stunde, oder – mein Wort darauf! – ich schließe Dich von Allem aus, worüber ich zu gebieten habe – Du hast die Wahl.“
„Er wird folgen, Bronislaw,“ sagte die Fürstin mit finsterem Ernste, „oder er wäre mein Sohn nicht mehr. Entscheide, Leo! Dein Oheim hält Wort.“
Leo stand im heftigsten Kampfe da. Die Worte des Oheims, der gebietende Blick der Mutter wären vielleicht machtlos geblieben gegen seine furchtbar aufgereizte Eifersucht, aber er sah, daß auch Wanda sich von ihm abwendete – er wußte, daß sein Bleiben ihm ihre Verachtung eintragen würde, und das entschied. Er stürzte zu ihr und faßte wieder ihre Hand.
„Ich – gehe,“ stieß er hervor, „aber Du giebst mir das Versprechen, während meiner Abwesenheit Wilicza zu meiden und meine Mutter nur in Rakowicz zu sehen, vor allem aber Waldemar fern zu bleiben.“
„Das wäre ohnedies geschehen,“ entgegnete Wanda in milderem Ton. „Du vergißt, daß nur meine Weigerung, in Wilicza zu bleiben, Deine ganze grundlose Eifersucht verschuldet hat.“
Leo athmete bei dieser Erinnerung auf. Ja freilich, sie hatte sich mit vollster Heftigkeit geweigert, die Nähe seines Bruders zu ertragen.
„Du hättest mich besser überzeugen sollen,“ versetzte er ruhiger. „Vielleicht bitte ich Dir einst die Kränkung ab, jetzt kann ich’s noch nicht, Wanda.“ Er preßte ihre Hand krampfhaft in der seinigen. „Ich glaube es ja nicht, daß Du jemals den Verrath an Dir und an uns begehen könntest, diesen Waldemar zu lieben, unseren Feind, unseren Unterdrücker. Aber Du sollst auch keine Regung der Achtung, der Bewunderung für ihn haben; es ist schon schlimm genug, daß er Dich liebt, und daß ich Dich in seiner Nähe wissen muß.“
„Du wirst Deine Noth haben mit diesem Feuerkopf,“ sagte die Fürstin halblaut zu ihrem Bruder. „Er kann nun einmal das Wort ‚Disciplin‘ nicht begreifen.“
„Er wird es lernen,“ erwiderte der Graf mit ruhiger Festigkeit. „Und nun leb’ wohl, Jadwiga! Wir müssen fort.“
Der Abschied war kurz und weniger herzlich, als er sonst wohl unter diesen Verhältnissen gewesen wäre.
Der tiefe Mißklang, den die vorangehende Scene wachgerufen, ging selbst durch den Trennungsaugenblick. Wanda duldete es schweigend, daß Leo sie in die Arme schloß, aber sie erwiderte die Umarmung nicht, während sie sich doch gleich darauf mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit nochmals an die Brust ihres Vaters warf. Auch in den Abschied zwischen Mutter und Sohn drängte sich jener Mißklang. Es war eine Ermahnung, eine Warnung, welche die Fürstin Leo zuflüsterte, und sie klang so ernst, daß er sich rascher als sonst aus ihren Armen wand. Dann reichte der Graf seiner Schwester noch einmal die Hand und ging in Begleitung seines Neffen; sie nahmen draußen im Vorzimmer die Mäntel um und stiegen in den harrenden Wagen. Noch ein Gruß zu den Fenstern hinauf und von dort hernieder, dann zogen die Pferde an, und bald verklang das Rollen der Räder in der Ferne.
Die beiden Frauen waren allein. Wanda hatte sich in das Sopha geworfen und das Gesicht in die Kissen vergraben; die Fürstin stand noch am Fenster und sah lange dem Wagen nach, der ihren Liebling davontrug, dem Kampfe, der Gefahr entgegen; als sie endlich in das Zimmer zurücktrat, sah man es doch, was der Abschied ihr gekostet hatte – sie behauptete nur mit Mühe die gewohnte äußere Ruhe.
„Es war unverzeihlich von Dir, Wanda, gerade in einer solchen Stunde an Leo’s Eifersucht zu appelliren, um mit seiner Hülfe Deinen Willen durchzusetzen,“ sagte sie mit bitterm Vorwurfe. „Du kennst ihn doch hinlänglich in diesem Punkte.“
Die junge Gräfin hob den Kopf. Ihre Wangen zeigten noch die Spuren der eben vergossenen Thränen.
„Du selbst zwangst mich dazu, Tante. Mir blieb kein anderes Mittel, und überdies konnte ich nicht ahnen, daß Leo’s Eifersucht auch mir gelten, daß er auch mich mit einem solchen Verdachte beleidigen würde.“
Die Fürstin stand vor ihr und sah sie durchbohrend an. „Beleidigte er Dich wirklich damit? Nun, ich will es hoffen.“
„Was meinst Du damit?“ rief Wanda emporschreckend.
„Mein Kind,“ entgegnete die Fürstin in eisigem Tone, „Du weißt, ich habe niemals Leo’s Partei genommen, wenn er Dich mit seiner Eifersucht quälte – heute nehme ich sie, wenn ich es ihm gegenüber auch nicht zugab, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Der Ton, mit dem Du dieses ‚Eher sterben!‘ herausschleudertest, brachte auch mein Blut in Wallung, und Deine Furcht vor Waldemar’s Verachtung war sehr verfänglich, so verfänglich, daß ich jetzt freiwillig auf Deine Anwesenheit in Wilicza Verzicht leiste. Als ich den Plan entwarf, glaubte ich Deiner unbedingt sicher zu sein; jetzt könnte ich ihn wirklich nicht mehr vor Leo verantworten und stimme Dir vollkommen bei, wenn Du – die Probe nicht wagen willst.“
Wanda hatte sich erhoben. Todtenbleich, keines Wortes fähig, starrte sie die Sprechende an; sie hatte das Gefühl, als öffne sich auf einmal ein Abgrund vor ihren Füßen, und wie vom Schwindel ergriffen lehnte sie sich an das Sopha.
„Du täuschest Dich,“ brachte sie endlich mühsam heraus, „oder Du willst mich täuschen. Das habe ich nicht verdient.“
Die Fürstin ließ das Auge nicht von dem Gesichte ihrer Nichte. „Ich weiß, daß Du noch keine Ahnung davon hast, und eben deshalb gebe ich sie Dir. Nachtwandler muß man wecken, ehe sie die gefahrdrohende Höhe erreichen. Wenn das Erwachen plötzlich kommt, ist der Sturz unausbleiblich. Dir ist von jeher die Energie, die eiserne Willenskraft am Manne das Höchste gewesen; das allein zwingt Dich zur Bewunderung. Ich weiß leider, daß Leo dieses Eine trotz all seiner glänzenden Eigenschaften nicht besitzt, und ich leugne auch nicht mehr, daß Waldemar es hat; also nimm Dich in Acht mit Deinem – Haß gegen ihn! Er könnte sich Dir eines Tages als etwas Anderes enthüllen. Ich öffne Dir jetzt die Augen, wo es noch Zeit ist, und ich denke, Du wirst mir dankbar dafür sein.“
„Ja,“ entgegnete Wanda mit fast erloschener Stimme. „Ich danke Dir.“
[711]
„So wollen wir die Sache ruhen lassen; noch hat sie hoffentlich keine Gefahr, und morgen bringe ich Dich selbst nach Rakowicz zurück. – Jetzt aber muß ich dafür sorgen, daß auch heute Abend hier die nöthige Vorsicht beobachtet wird, damit uns nicht noch am letzten Tage irgend ein Unheil trifft. Ich werde Pawlik meine Befehle geben und das Ganze persönlich überwachen.“
Damit verließ die Fürstin das Zimmer, fest überzeugt, daß sie nur ihre Pflicht gethan und einem künftigen Unheil vorgebeugt habe, indem sie energisch und schonungslos wie immer den Schleier zerriß, welcher der jungen Gräfin noch das eigene Herz verhüllte. Hätte sie gesehen, wie Wanda nach ihrer Entfernung wie vernichtet zusammensank, es wäre ihr doch vielleicht klar geworden, daß hier die gefahrdrohende Höhe bereits erreicht war, wo der Anruf tödtlich werden konnte. Er vermochte nicht mehr zu warnen oder zu retten. Das Erwachen kam zu spät.
[712]
Der Winter war mit seiner vollen Strenge hereingebrochen. Die dichte Schneehülle deckte Wald und Feld; eine schwere Eisdecke hemmte den Lauf des Flusses, und über die erstarrte Erde brausten die Winterstürme mit eisigem Hauch.
Sie hatten diesmal noch einen anderen Sturm wachgerufen, der schlimmer tobte, als die Elemente. Jenseits der Grenze war der lang gefürchtete Aufstand endlich losgebrochen. Das ganze Nachbarland loderte in voller Empörung, und jeder Tag brachte neue Schreckensnachrichten von drüben her. Auf diesseitigem Gebiete war noch alles ruhig, und es hatte auch den Anschein, als ob diese Ruhe aufrecht erhalten bleiben sollte, aber friedlich war die Stimmung in den Grenzdistricten dennoch keineswegs, wo tausend Beziehungen und Verbindungen hinüber und herüber gingen, wo kaum eine polnische Familie lebte, die nicht wenigstens einen Angehörigen drüben in den Reihen der Kämpfenden hatte.
Am schwersten hatte Wilicza unter dieser Stimmung zu leiden; schon seine Lage machte es zu einem der wichtigsten, aber auch gefährlichsten Vorposten der ganzen Provinz. Es spielte nicht umsonst eine so wichtige Rolle in den Plänen der Morynski und Baratowski. Die Nordeck’schen Güter bildeten die bequemste Verbindung mit dem Aufstande und den sichersten Rückhalt für etwaige Kämpfe dicht an der Grenze; die tiefen Waldungen machten es trotz Posten und Patrouillen unmöglich, die angeordnete strenge Bewachung in ihrem ganzen Umfange aufrecht zu erhalten. Es hatte sich freilich vieles geändert, seit der junge Gutsherr sich damals, kurz vor der Abreise Morynski’s und Leo’s, so entschieden auf die Seite seiner Landsleute gestellt hatte, aber mit jener Stunde begann auch der stumme erbitterte Kampf zwischen ihm und seiner Mutter, der noch heute nicht zu Ende war. Die Fürstin hielt Wort. Sie wich ihm nicht auf dem Boden, auf den sie gleichfalls ein Recht zu haben glaubte, und Waldemar sah jetzt erst wirklich ein, was es hieß, seine Güter jahrelang in ihren Händen gelassen zu haben. Wenn seine einstige Vernachlässigung und Gleichgültigkeit dagegen gebüßt werden sollten, so büßte er sie jetzt.
Er hatte es erzwungen, daß sein Schloß nicht länger der Sitz von Parteibestrebungen war; für sein Gebiet konnte er das Gleiche nicht erzwingen, denn das war ihm systematisch entfremdet worden. Die unumschränkte Herrschaft, welche die Fürstin so lange ausgeübt, die vollständige Verdrängung des deutschen Elementes aus der Verwaltung, die Besetzung jedes nur irgendwie bedeutsamen Beamtenpostens mit polnischen Vertretern – das Alles trug nun seine Früchte. Nordeck stand in der That wie verrathen und verkauft auf seinem eigenen Grund und Boden. Ihm gab man den Namen des Herrn, und seine Mutter sah man als die eigentliche Herrin an. Wenn sie sich auch hütete, offen als solche aufzutreten, ihre Befehle gelangten doch in die Hände der Untergebenen und wurden unverzüglich befolgt, gegen die Waldemar’s aber stand ganz Wilicza in geheimer, aber fest geschlossener Opposition. Was nur möglich war an Intriguen und Ausflüchten, das wurde gegen ihn in’s Werk gesetzt; was nur geschehen konne, um seine Befehle zu durchkreuzen, seine Maßnahmen zu verwirren, das geschah, aber stets in einer Weise, welche die Verantwortung wie die Strafe ausschloß. Niemand verweigerte ihm direct den Gehorsam, und doch wußte er, daß Kampf und Ungehorsam die Parole war, die täglich gegen ihn ausgegeben wurde. Wo er sich an der einen Stelle Unterwerfung erzwang, da hob die Widersetzlichkeit an zehn anderen ihr Haupt empor, und wenn er heute seinem Willen Geltung verschaffte, so trat ihm morgen schon ein neues Hinderniß entgegen. Mit Entlassungen konnte er nicht vorgehen – sie hätten dem ganzen Beamtenpersonale gelten müssen, und theils banden ihn ihre Contracte in dieser Hinsicht; theils fehle ihm jeder Ersatz. In einer solchen Zeit konnte überhaupt jeder Gewaltact verhängnißvoll werden.
So wurde der junge Gutsherr in eine Stellung gedrängt, die für eine Natur wie die seinge die schwerste war, weil sie der Thatkraft keinen Raum gönnte, weil sie nur ruhiges besonnenes Ausharren erforderte, und gerade darauf hatte die Fürstin ihren Plan gebaut. Waldemar sollte allmählich in dem Kampfe ermatten, den er ihr angeboten; er sollte erkennen lernen, daß er schließlich doch nichts in einer Sache vermochte, in der ganz Wilicza zu ihr und gegen ihn stand; er sollte in seinem Unmuthe darüber die Zügel wieder fahren lassen die er ihr so gewaltsam aus der Hand genommen. Geduld war ja niemals seine Sache gewesen. Aber sie täuschte sich auch diesmal in ihrem Sohne, wie sie sich von jeher in ihm getäuscht hatte – er zeigte ihr jetzt die zähe Energie, den unbeugsamen Willen, den sie gewohnt war als ihre ausschließliche Charaktereigenschaft in Anspruch zu nehmen. Nicht einen Schritt wich er all den Hindernissen und Widerwärtigkeiten, die sich vor ihm aufthürmten; eine nach der anderen warf er sie zu Boden. Sein Auge und seine Hand waren überall, und wo man es wirklich einmal wagte, ihm den Gehorsam zu versagen, da ließ er den Gebieter in einer Weise fühlen, daß die ersten Versuche auch die letzten blieben. Das trug ihm freilich die Zuneigung seiner Untergebenen nicht ein; wenn man früher nur den Deutschen in ihm gehaßt hatte, so haßte man jetzt Waldemar Nordeck persönlich, aber man war bereits dahin gelangt, ihn zu fürchten, und bequemte sich auch allmählich, ihm zu gehorchen; unter diesen Umständen war die Furcht das Einzige, was noch den Gehorsam erzwang.
Das Verhältniß zwischen Mutter und Sohn wurde auf diese Weise immer unhaltbarer, wenn es sich auch äußerlich noch auf dem Fuße höflicher Kälte behauptete. Jene erste Erklärung zwischen ihnen war auch die einzige geblieben. Sie waren Beide keine Freunde von unnützen Worten und fühlten, daß von keiner Versöhnung und Verständigung die Rede sein konnte, wo sich die Charaktere und Principien so schroff gegenüber standen wie hier. Waldemar versuchte es nie, die Fürstin zur Rede zu stellen; er wußte, daß sie ihm auch nicht das Geringste von dem zugeben würde, was doch unleugbar von ihr ausging, und sie ihrerseits that nie eine Frage in dieser Hinsicht. So blieb das Zusammenleben wenigstens möglich und nach außen hin leidlich; was es für Stacheln in sich barg, das freilich wußten nur die Beiden allein. Waldemar zog sich in eine noch größere Abgeschlossenheit zurück als früher. Er sah die Mutter höchstens bei Tische, oft auch da nicht einmal, die Fürstin dagegen war sehr oft in Rakowicz bei ihrer Nichte und blieb meist längere Zeit dort. Wanda hatte Wort gehalten und Wilicza nicht wieder betreten, während Waldemar auf seinen Ausflügen sogar das Gebiet von Rakowicz vermied.
Mehr als drei Monate waren seit der Abreise des Grafen Morynski und seines Neffen vergangen. Man wußte allgemein, daß sie sich inmitten des Aufstandes befanden, bei welchem der Graf eine bedeutende Rolle spielte, während der junge Fürst Baratowski unter dem Oberbefehl seines Oheims ein Commando führte. Trotz der Entfernung und der Hindernisse standen Beide in ununterbrochenem Verkehr mit den Ihrigen. Die Fürstin sowohl wie Wanda hatten stets genaue und ausführliche Nachricht von Allem, was drüben geschah, und sandten ebenso häufig ihre Botschaften hinüber. Die Bereitwilligkeit, mit der sich in den Grenzdistricten Jedermann zu Botendiensten hergab, spottete aller Schwierigkeiten.
Es war um die Mittagsstunde eines ziemlich kalten Tages, als Assessor Hubert und Doctor Fabian vom Dorfe herkamen, wo sie einander begegnet waren. Der Herr Assessor steckte in dreifacher Umhüllung; er wußte noch von Janowo her, was eine Erkältung bedeutete. Auch der Doctor hatte der Mantelkragen schützend in die Höhe geschlagen. Das strenge Klima schien ihm nicht zuzusagen; er sah bleicher als sonst und angegriffen aus. Hubert dagegen schaute äußerst wohlgemuth darein. Die augenblicklichen Verhältnisse an der Grenze führten ihn sehr oft nach Wilicza oder in dessen Umgegend, auch jetzt hatte er wieder eine Untersuchung zu führen die ihn einige Tage in der Nähe festhielt. Er hatte sich wie gewöhnlich im Hause des Administrators einquartirt, und sein vergnügtes Aussehen zeigte, daß er sich sehr wohl dabei befand.
„Es ist großartig,“ sagte er in seinem feierlichen Amtstone. „Unbedingt großartig ist es, wie Herr Nordeck sich jetzt benimmt. Wir von der Regierung wissen das am besten zu schätzen. Der Präsident meint, dieses verwünschte Wilicza hätte auch hier bei uns schon längst das Beispiel zur Revolte gegeben wenn sich sein Herr nicht wie ein Wall und eine Mauer dagegen stemmte. Man bewundert ihn in ganz L., und dies um so mehr, als man nie ahnte, daß er sich jemals von dieser Seite zeigen werden.“
Doctor Fabian seufzte. „Ich wollte, er verdiente diese Bewunderung weniger. Gerade seine Energie zieht ihm hier täglich einen größeren Haß zu. Ich zittere jedesmal, wenn Waldemar [713] allein ausreitet, und er ist nie zu bewegen, auch nur die geringste Vorsichtsmaßregel zu beobachten.“
„Ja freilich,“ meinte der Assessor bedenklich. „Dem Volk in Wilicza ist Alles zuzutrauen, sogar ein Schuß aus den Hinterhalt. Ich glaube, das Einzige, was Herrn Nordeck bisher noch geschützt hat, ist der Umstand, daß er trotz alledem der Sohn der Fürstin Baratowska ist, aber wer weiß, wie lange der nationale Fanatismus das noch respectirt. Was muß das jetzt überhaupt für ein Leben bei Ihnen im Schlosse sein! Niemand begreift es, daß die Fürstin noch bleibt – man weiß es ja, daß sie mit Leib und Seele Polin ist. Es hat wohl schon furchtbare Scenen zwischen ihr und dem Sohne gegeben – nicht wahr?“
„Bitte, Herr Assessor – das sind Familienangelegenheiten,“ lehnte Fabian ab.
Für Mütter. Auf dem kürzlich in Dresden von Leitern der Blindenanstalten abgehaltenen zweiten Congreß ergab sich bei Besprechung der Augenentzündung der Neugeborenen das traurige Resultat, daß nach Erfahrungen der letzten zehn Jahre von je hundert den Anstalten Deutschlands und Oesterreichs zugeführten Kranken dreißig bis dreiunddreißig durch diese Entzündung ihr Augenlicht verloren hatten. Ein um so bedauernswertheres Ergebniß, als gerade bei dieser Erkrankung der Wissenschaft sichere Mittel zur Heilung und Milderung des sonst beinahe immer ungünstigen Verlaufes zu Gebote stehen, sobald zeitig genug der verderbliche Feind bekämpft wird. Solches kann auf die leichteste Art geschehen, denn der ganze Entzündungsvorgang spielt sich so unbemittelbar vor den Augen der Eltern ab, daß ihnen schon in den ersten Tagen der veränderte Zustand ihres Neugeborenen auffallen muß. Besteht die Entstehungsursache wie gewöhnlich in dem Eindringen von eitrigen Stoffen in das Auge während der Geburt, so kommt die Entzündung am dritten bis siebenten Tage zum Ausbruch; doch können noch in den nächsten drei Wochen, weil gerade in dieser Zeit das Auge durch seine sich vollendende Ausbildung einen großen Blutgehalt besitzt, mannigfache andere Reize, vor Allem nicht gehörige Sauberkeit von Seiten der Mutter die Gefahr heraufbeschwören. Der erste Beginn entgeht in der Mehrzahl der Fälle leider der Beachtung. Das Kind wird lichtscheuer als in den ersten Tagen. Es öffnet nur ungern die Augen, schließt dieselben sofort wieder, blinzelt rascher als vorher. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß die Augenlider, vorzüglich des rechten Auges, gerötheter sind und sich an dem oberen Lide bereits eine geringe Anschwellung bemerkbar macht; fast immer tritt jetzt eine vermehrte Thränenabsonderung hinzu. Die Structur des äußeren Auges ist wohl keinem unserer Leser unbekannt. Der schwarze Kreis im Inneren ist die Pupille, durch welche die Lichtstrahlen auf die dahinter liegende Linse fallen; um die Pupille zieht sich die bei den verschiedenen Menschen auf das Mannigfachste gefärbte Regenbogenhaut. Hierauf folgt unmittelbar der bläulich-weiße Augapfel. Die Regenbogenhaut und Pupille werden wie von einer Glasglocke durch die glashelle Hornhaut überwölbt. Ueber die Hornhaut, den sichtbaren Theil des Augapfels und die innere Fläche der Augenlider zieht sich ein dünnes, durchsichtiges Häutchen, die Bindehaut, in welcher hauptsächlich unsere Entzündung zu Tage tritt. Zieht man die Augenlider auseinander und das untere Lid z. B. so weit nach unten, daß die innere Schleimhaut und das Weiße des Auges zum Vorschein kommt, so ist anfänglich nur die intensivere Röthung und geringe Schwellung auffallend; höchstens verlaufen sich einige ausgedehnte Blutgefäße als rothe Streifen über den weißen Augapfel nach der Hornhaut. Diese geringen Anzeichen sollten im Anschluß an die schon genannten Symptome keiner Wärterin und Hebamme entgehen, denn schnell folgt die Weiterentwickelung des Processes.
An die vermehrte Thränenabsonderung schließt sich nunmehr eine gesteigerte Schleimausscheidung an; nicht nur zwischen den Augenlidern, sondern auch auf der Hornhaut sammeln sich überall schleimige Flocken und verleihen dem Auge ein verschleiertes, fast gebrochenes Ansehen. Die sonst so dünne Bindehaut über dem Augapfel beginnt immer mehr zu schwellen; erst umgiebt sie als gerötheter Wall die Regenbogen- und Hornhaut; zuletzt kann sie sogar als rother Wulst aus der Lidspalte hervorragen. Parallel mit dieser Anschwellung geht eine überaus reichliche eitrige oder eitrig blutige Absonderung, so daß fast fortdauernd röthliche oder gelbweiße Flüssigkeit dem armen Kleinen über die Backen herabrinnt. Jetzt erst beginnt durch Betheiligung der glashellen Hornhaut die Gefahr für später. Die Hornhaut trübt sich, neugebildete kleinste Blutgefäße tauchen in ihr auf, die ganzen Zellen werden durchfeuchtet und lösen sich sogar lamellenweise ab. Es entstehen so entweder Geschwüre, welche zuletzt zur Durchlöcherung des Häutchens führen und die dahinterliegenden Gebilde durchtreten lassen, oder die Hornhaut bleibt erhalten, verliert aber nach Ablauf der Entzündung ihre Durchsichtigkeit; eine weiße glänzende Narbe kommt zum Vorschein, durch welche kein Licht hindurchzudringen vermag. Aber auch auf das Allgemeinbefinden muß dieser Zustand bald schädlich einwirken. Die starke eiterige Absonderung, der Schmerz etc. rufen Fieber, allgemeine Unruhe, Appetitlosigkeit hervor, so daß gerade in den Tagen, in welchen der wachsende Körper der Nahrungszufuhr mit am meisten bedarf, er dieselbe nicht nur in ungenügender Menge erhält, sondern sogar noch durch das Fieber und die Entzündung zu einem erhöhten Stoffumsatz veranlaßt wird – Folgeerscheinungen, welche auf die spätere Entwickelung sicherlich ihren nachtheiligen Einfluß ausüben müssen. Glücklicherweise ist es in die Hand der Eltern gelegt, diesen traurigen Ausgang zu vermeiden, wenn sie selbst energisch eingreifen und zeitig genug ärztliche Hülfe in Anspruch nehmen. Die Verhütung der ganzen Entzündung ist Grundbedingung.
Sobald der kleine Weltbürger genügend zur Besinnung gekommen ist, betrachte man mit Aufmerksamkeit seine Augen, reinige dieselben erst geschlossen und streiche darauf über die Lidränder weg. Dieses geschehe nie, auch später nicht, durch das gewöhnliche Badewasser, sondern man benutze stets ein weißes leinenes Läppchen, eingetaucht in reines abgesondertes laues Wasser. Der Kopf des Kindes blicke im Bettchen nicht gegen das Fenster; den Korb überspanne man in dem oberen Drittel durch ein auf Reifen oder Rohr gelegtes Stück dunkles Zeug. Dabei herrsche die gewissenhafteste Reinlichkeit, und ohne Nachtheil kann das Zimmer, wenn kein Gegenzug vorhanden, täglich gelüftet werden. Auf das Genaueste aber beachte man in den ersten drei Wochen die Augen, um sofort, wenn außergewöhnliche Symptome sich zeigen, einzugreifen. Gegen den Anfang der Entzündung, welcher, wie schon gesagt, in Lichtscheu, vermehrter Thränenabsonderung, stärkerer Röthung und geringer Schwellung der Augenlider besteht, kann nur ein Mittel mit Erfolg angewendet werden, die Kälte. Man lege Leinwandstückchen mehrfach zusammen, sodaß sie ungefähr vier Centimeter im Quadrat bilden, kühle sie durch und durch auf Eis und bedecke damit die erkrankten Augen! Andere Läppchen schiebe man unterdessen zwischen die Eisstückchen, denn schon nach einigen Minuten muß der Wechsel vorgenommen werden, da ein längeres Liegenlassen die Zeugstückchen erwärmt und die Wärme hier das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung hervorbringt. Ein warmer Umschlag befördert die Eiterung und wirkt daher als Gift bei dieser Entzündung. Es ist auch besser, von Zeit zu Zeit zu pausiren, um dann desto energischer die Eisumschläge zu erneuern.
Die Augen wasche man fleißig nach der obigen Methode aus und entferne den Schleim durch Auspinseln mittelst eines feinen in laues Wasser getauchten neuen Haarpinsels. Diese Schleim- und später Eiterabsonderung vermag eben äußerst leicht die Entzündung weiter zu übertragen, entweder, wenn nur ein Auge anfänglich erkrankt, auf das zweite, oder sogar auf andere unvorsichtig mit dem kleinen Patienten in Berührung kommende Kinder. Man verbanne daher Letztere gänzlich aus dem Krankenzimmer und reinige fortdauernd genau die zum Auswaschen gebrauchten Utensilien. Die im Anschluß an die Krankheit oft eintretende Verstopfung beseitige man durch Seifenzäpfchen oder Lauwasserklystiere. Kommt die Entzündung hierdurch nicht zum Stillstande, so ist sofortige ärztliche Hülfe in Anspruch zu nehmen, bis dahin aber befolge man das beschriebene Verfahren. Die im Eingange citirte ungünstige Statistik macht es aber vor Allem mehr als wünschenswerth, daß die Hebammen, welche sich in ihrem Selbstbewußtsein nie dazu entschließen können, einen Arzt rechtzeitig herbeizurufen, obwohl sie sofort von der Größe der Gefahr unterrichtet sind, gesetzlich zur Anzeige verpflichtet werden, wie es bei vielen ihrer Verrichtungen der Fall ist. Die segensreiche Wirkung dieser Verordnung würde binnen Kurzem zu Tage treten und mancher Unglückliche, welcher sonst erblindet sein freudenloses Dasein dahinschleppt, könnte der menschlichen Gesellschaft als thätiges Mitglied erhalten bleiben.Neue Beleuchtungsvorrichtungen für Straßen, Plätze, Schiffsräume, Fabriksäle, Theater und Zimmer. Der Ersatz des Gaslichtes durch elektrisches Licht überall da, wo man weitere Räume zu erleuchten hat, erscheint nur noch als eine Frage der Zeit. Bisher war das elektrische Licht mit seinem blendenden Glanze doch immer noch zu kostspielig, um es anders als für besonders festliche Gelegenheiten, bei Illuminationen, im Theater oder auf Leuchtthürmen anzuwenden. Seitdem aber der Pariser Ingenieur Gramme und der Berliner Physiker von Hefner-Alteneck elektromagnetische Maschinen erbaut haben, durch deren Betrieb eine beliebige mechanische Kraft in elektrisches Licht verwandelt wird, kann seine Anwendung zur Beleuchtung unter Umständen geradezu ökonomisch werden, billiger als Gas oder Petroleum. Derartige Apparate sind neuerdings an Hafenplätzen verwendet worden, um das Ausladen und Befrachten der Schiffe Tag und Nacht fortsetzen zu können, und mehrere russische Schiffe (die kaiserliche Yacht „Livadia“ und das Panzerboot „Peter der Große“) benutzen dasselbe zur tageshellen Beleuchtung des ganzen Verdeckes. Eine Reihe von Fabriken haben dasselbe eingeführt, um ihre Arbeitssäle zu erleuchten. In der Fabrik von Heilmann, Ducommun und Steinlehre in Mühlhausen im Elsaß sind bereits über Jahr und Tag vier Gramme’sche Maschinen in Thätigkeit, um vier elektrische Lampen zu speisen, die einen sechszig Meter langen und dreißig Meter breiten Arbeitssaal erleuchten. Jede dieser Maschinen kostet freilich 1500 Franken, dafür liefert die von ihr versorgte Lampe aber auch eine Helligkeit, die derjenigen von 100 Carcellbrennern gleichkommt, wobei die Betriebskosten für jede Lampe nur einen Franken in der Stunde betragen.
Indessen ist dieses Licht so grell, daß es, unverhüllt gelassen, Augenkrankheiten erzeugen würde, und daher hat man in einer mechanischen Weberei zu l’Ile Dieu, die dem ehemaligen französischen Finanzminister Pouyer-Quertier gehört, die sinnreiche Einrichtung getroffen, welche Richard Wagner seinem Orchester gegeben; man sieht nämlich die dort angewendeten acht elektrischen Lampen überhaupt nicht, sondern läßt ihr sonnenartiges Licht gegen die weiße Decke des Fabriksaales strömen, von wo es gemildert, wie Himmelslicht, herabkommt und die hundertvierzig in diesem Raume aufgestellten Webstühle tageshell beleuchtet. Hier, wo [714] bei Ueberschuß von Wasserkraft die Betriebskosten der elektrischen Maschinen nicht in Betracht kommen, betragen die gesammten laufenden Kosten für diese brillante und außerdem jede Feuergefahr ausschließende Beleuchtung weniger als zehn Pfennige in der Stunde. Letztere Kosten werden lediglich durch die Abnützung der Kohlenstiftchen hervorgerufen, deren durch den elektrischen Strom verursachtes Glühen eben das elektrische Licht darstellt. Diese letztere Abnützung will übrigens ein französischer Physiker Ladiguine in der Folge gänzlich vermeiden, indem er den ununterbrochenen, glühenden Kohlenstift in einem sauerstofffreien Glasbehälter luftdicht eingeschlossen hält, sodaß man künftig bei disponibler Wasserkraft die herrlichste Beleuchtung umsonst haben kann.
Auch im Gasbeleuchtungswesen begegnet man wundersamen Wandlungen. So hat das vor nicht langer Zeit eröffnete neue Pariser Opernhaus eine Rampe erhalten, deren einhundertundzwanzig Gasflammen nicht wie andere rechtschaffene Flammen nach oben brennen, sondern wie diejenigen der verkehrten Welt abwärts züngeln. Sie sind nämlich allesammt in luftdichte Glascylinder eingeschlossen, in denen ein, wie das Gas selber, von oben eintretender scharfer Luftstrom die Flamme mit sich nach unten reißt. Da hierbei die Flammen vollkommen nach außen abgesperrt sind, so entweicht nicht nur kein Dunst und keine Hitze in den Saal, sondern die Tänzerinnen und Sängerinnen dürfen sich auch ohne Gefahr für ihre Kleider und ihr Leben der Rampe nähern, besonders da zugleich die Einrichtung getroffen worden ist, daß jeder springende Cylinder in demselben Augenblicke das Gas selbst absperrt. Diese unterwärts brennende Flammenlinie hat außerdem die Einrichtung, nach oben über die Bühne steigen zu können und dann ihre Vorzüge noch mehr geltend zu machen, da sie nach unten fast keinen Schatten wirft. Aber auch die Zimmerbeleuchtung ist von den modernen Erfindern nicht vernachlässigt worden. Auf der Philadelphia-Industrie-Ausstellung erwirbt sich Berford’s Gas-Sonnenlicht-Apparat, das „beste Licht von der Welt“, viele Bewunderer. Es ist eine sehr einfache Idee, die ihm zu Grunde liegt; man könnte sie als die „Schusterkugel im Salon“ bezeichnen. Aber es ist vielmehr nur eine Halbkugel, eine oben offene halbkugelige Glasschale, die, mit Wasser gefüllt, unmittelbar unter dem wagerecht brennenden Schwalbenschwanzbrenner angebracht wird. Dadurch wird nicht nur, ohne dem Zimmer die Beleuchtung zu entziehen, der Hauptlichtstrom auf den darunter befindlichen Arbeitstisch (für Künstler, Graveure, Juweliere, Uhrmacher, Lithographen, für Lesen und Schreiben) verdichtet, sondern den Lichtstrahlen auch der gelbröthliche Antheil und die Hitze, welche das Wasser verschluckt, genommen, sodaß ein kühles, angenehmes und doch kräftiges Licht auf die Handarbeit fällt. Will man das Licht (z. B. für Krankenzimmer) dämpfen, so braucht man nur gefärbtes Wasser anzuwenden. Den gleichen Zweck der Absperrung der Wärmestrahlen erreicht man, nebenbei bemerkt, nach Landsberg’s älterem Vorschlage durch Glimmerplatten.„Zweitausend Jahre deutschen Lebens.“ So lautet die culturgeschichtliche Aufgabe, welche unser Johannes Scherr sich für ein nationales Prachtwerk „Germania“ gestellt hat. Wie haben unsere Altvordern gelebt, daheim und draußen, in Haus und Familie, in Werkstatt und Feld, in Frieden und Krieg? Wie stand es um Kleidung und Nahrung, um Nothdurft und Luxus, um Vergnügen und Leidwesen vom ersten urkundlichen Deutschen bis zur Gegenwart? Welcher Wandel auf Herd und Tisch, auf Straße und Strom, auf Markt und Meer war nöthig – welche Reihe von Erfindungen vom ersten Glase, vom ersten Messer, vom ersten Hemde, um die Menschen bis zu den Verkehrs- und Verheerswundern unserer Tage vorwärts zubringen? Die Beantwortung dieser und vieler anderer Fragen soll in Wort und Bild belehrend und schmückend zugleich geschehen, und zwar so, daß die politische Geschichte Deutschlands und der deutschen Länder mit ihren Haupt- und Staatsactionen, Soldaten- und Diplomatenverrichtungen stets nur den Hintergrund zu den Bildern liefert, welche den gleichzeitigen Culturstandpunkt im Leben des Einzelnen, durch alle Stände von der Bauernhütte bis in das Kaiserschloß und von den Alpen bis zu den nordischen Meeren hinauf darzustellen haben. Der Schwerpunkt des Ganzen soll in der Schilderung des häuslichen Lebens beruhen, das zu allen Zeiten der beste Spiegel der Bildung eines Volkes war. – Daß Johannes Scherr vor dieser Aufgabe steht, sichert dem Werke seinen Werth. Wir freuen uns, aus den ersten uns vorliegenden Druckbogen zu erkennen, daß der alte Kämpfer in seiner Darstellung ungewöhnliche Ruhe mit Wärme und Klarheit vereint und so auch innerlich die Würde eines „nationalen Prachtwerkes“ wahrt. Was die Illustration desselben verspricht, dafür lassen wir die Abbildung zeugen, welche auf Seite 703 uns vor ein Patrizierhaus des 16. Jahrh. führt. Die Verlagshandlung (W. Spemann in Stuttgart) scheut sichtlich keine Opfer, um diese „Germania“ zu einem ebenso reichen, wie stattlichen Schatze der Belehrung über den interessantesten Theil unserer Vergangenheit zu machen. –
Zum Kleist-Jubiläum (10. October) sind zwei neue Ausgaben von Bühnendichtungen dieses bedeutendsten unter den Vertretern der romantischen Schule erschienen, welche wir als einen Beweis für das ungeschwächt fortlebende Interesse an dem genialen Dichter freudig begrüßen – Hermann Riotte’s Bearbeitung der „Penthesilea“ und Karl Siegen’s Ausgabe des „Zerbrochenen Krugs.“
Unter den Repräsentanten jener bedeutsamen Periode unserer Literatur, welche den Uebergang des Schiller-Goethe’schen Classicismus zur Romantik bezeichnet und deren leuchtendster Stern unser Heinrich von Kleist ist, hat wohl Keiner in weitesten Kreisen eine so liefgehende Sympathie gefunden wie gerade er. Nicht sowohl seine hervorragenden dichterischen Thaten, als vielmehr die wahrhaft erschütternden Schicksale seines persönlichen Lebens, welche gewissermaßen den unheimlich düsteren Hintergrund bilden, von dem sein poetisches Schaffen sich um so wirkungsvoller abhebt, haben sein melancholisches Haupt mit dem Glorienschein umgeben. Heinrich von Kleist, der Dichter sowohl wie der Mensch, ist im Bewußtsein seiner Nation längst zu einer romantischen Gestalt geworden, romantisch, wie seine Dichtungen selbst. Aber über den Schöpfer hat man die Geschöpfe vergessen. Abgesehen von „Käthchen von Heilbronn“ und allenfalls vom „Prinzen von Homburg“, sind Heinrich von Kleist’s Dramen nur einem kleinen Theile der Nation bekannt geworden. Wer kennt heutzutage „Die Familie Schroffenstein“, wer die „Hermann-Schlacht“ und die anderen dramatischen Schöpfungen unseres Dichters? Nur eine kleine Gemeinde. Um so verdienstvoller ist das Erscheinen der beiden oben genannten fleißigen und einsichtsvollen Bearbeitungen Kleist’scher Dichtungen. Sie kamen zur Jubiläumsfeier unseres Romantikers gerade rechtzeitig, um die deutsche Literatur- und Bühnenwelt auf den großen Namen eines Dichters auf’s Neue hinzuweisen, der gleich ausgezeichnet ist durch die Kraft und Kühnheit seiner dramatischen Gestaltungsgabe, wie durch die Größe und Eigenart seines excentrischen Naturells, der zugleich über echte Weihe des Gedankens und hinreißende Leidenschaft des Gefühls verfügt und, was die realistische Kraft seines dramatischen Schaffens und Bildens betrifft, den Ehrentitel eines deutschen Shakespeare nicht unwürdig trägt.
Es ist nicht gut, allein zu sein.
Auf welchen Pfaden man auch wand’re,
Der Augenblick stellt doch sich ein,
Wo eine Hand wohl braucht die and’re.
Ob Lebenspfad’ ob Wandelgänge,
Ob hoch im Fels, ob tief im Hain,
Es thut nicht gut so auf die Länge,
Es ist nicht gut, allein zu sein.
Auf eb’nem Weg mit jungem Muth
Ist’s leicht: „Selbst ist das Weib!“ zu sagen.
Doch gilt’s, durch Berg- und Schicksalsfluth
Den Sprung von Fels zu Fels zu wagen,
Willkommen ist in Scherz und Harme
Die treue, starke Stütze dann.
Die liebe Anmuth fest im Arme
Frohlockt sein Herz: „Selbst ist der Mann!“
Es giebt gar manchen Uebergang,
Der ist nicht lächelnd zu beschreiten.
Oft wär’ dem Einen angst und bang,
Hielt’ Hand und Herz nicht fest am Zweiten.
Und ist das Schwere überstanden,
Wie stimmen da so froh mit ein
Die Zwei, die sich zusammen fanden:
Es ist nicht gut, allein zu sein.
E. W. in R. Bitte, „belästigen“ Sie nur ferner so fort! Ihre Sendungen sind stets willkommen.
M. in G. Wenn der Herr Dr. med. in K. den Unsinn, von dem Sie berichten, wirklich vom Stapel gelassen hat, stecken Sie ihn sofort in ein Irrenhaus!
Dr. E. W. Nicht geeignet! Wohin haben wir das Manuscript zu dirigiren?
Zur Nachricht, daß der Schluß des Artikels: „Bilder und Skizzen aus Potsdam“ in nächster Nummer erscheint.
- ↑ Kaib, allemannisches Synonym von Aas oder Luder.