Die Gartenlaube (1875)/Heft 52
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No. 52. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
„Wenn der zukünftige Machthaber nur Einer ist,“ bemerkte der Oberförster, „der uns in Frieden einen ordentlichen Tabak rauchen läßt. Dieses Continentalsystem ist nicht mehr zu ertragen, und dem Schläfrigsten reist dabei die Geduld.“
„Es hat auch die längste Zeit gedauert,“ sagte Herr Fäustelmann mit dem Tone ruhiger Ueberzeugung.
„Hoffen wir’s!“ entgegnete der Oberförster mit einem Seufzer.
„Sie, Fäustelmann, haben ja die Preußen schon durchmarschiren sehen,“ bemerkte hier die gnädige Frau, „und so braucht auch kein Zweifel mehr daran zu sein.“
„Nein!“ sagte der Rentmeister, still für sich hinnickend.
„Sie werden dann sehen müssen, Fäustelmann,“ fuhr Herr von Mansdorf fort, „wie Sie mit dem neuen Herrn fertig werden. Es wird mit der Veränderung in allen Dingen wieder eine hübsche Menge Scherereien verbunden sein.“
„Werde schon damit fertig werden,“ entgegnete Herr Fäustelmann, „habe ja auch zu meiner Unterstützung mit Rath und That einen so scharfen Kopf wie den Herrn Justitiar zur Hand.“
„Gewiß,“ fiel der Justitiar mit einem forschenden Seitenblicke auf Herrn von Uffeln ein, „Sie werden mich nicht säumig finden, wenn ich mit meinem Kopfe nützen kann. Doch will mich bedünken, Herr Fäustelmann, wenn Sie so gewiß – mit jener absonderlichen Gabe, die Sie vor uns anderen Menschenkindern voraus haben – den Umschwung der Dinge und das Einrücken der Preußen hier voraussehen, so handeln Sie wider Ihr eigenes Interesse, indem Sie so zuversichtlich sagen: ‚Ich werde schon damit fertig werden.‘ Etwas mehr Scheu vor der großen Verantwortlichkeit, welche Sie übernehmen wollen, etwas mehr Voraussicht, in welche Verlegenheiten die Verwaltung eines Gutes in solchen unruhigen Zeiten kommen kann, würde ich in Ihrer Stelle doch an den Tag legen, in der Hoffnung, daß sich unsere gnädige Gutsherrschaft dann nicht ganz und insgesammt fortbegäbe, daß uns mindestens Herr von Uffeln hier bliebe, um nach seinem Eigenthume zu sehen.“
„Herr von Uffeln will aber nicht allein daheim bleiben,“ versetzte Fäustelmann, „und wenn ich nun einmal keine Scheu vor meiner Verantwortlichkeit empfinde, sondern überzeugt bin, daß ich während der Abwesenheit unserer gnädigen Herrschaft Alles zu deren Zufriedenheit ausrichten und besorgen werde, so werden Sie mir nicht zumuthen, daß ich eine solche Scheu heucheln soll. Hab’ ich doch Wilstorp schon viele Jahre lang verwaltet, lange schon, ehe Herr von Mansdorf kam, um es in Besitz zu nehmen.“
„Auch gehen wir,“ nahm Frau von Mansdorf das Wort, „ohne deshalb in der geringsten Sorge zu sein – danken nur Gott, daß wir überhaupt gehen und, was ja so lange unser Wunsch war, den Winter mit Adelheid am Genfersee zubringen können. Und was Ihre Idee angeht, Plümer, daß Herr von Uffeln hier bleiben solle, so kann davon deshalb keine Rede sein, weil Herr von Uffeln nicht jetzt, wo er eben verlobt ist, seine Braut verlassen will.“
„Seine Braut?“ rief der Oberförster im Tone der Ueberraschung, und der Justitiar rief ebenfalls, nur mehr im Tone einer unwilligen Betroffenheit:
„Seine Braut?“
„So ist es,“ entgegnete Frau von Mansdorf, auf ihre Tochter und Herrn von Uffeln mit einem Lächeln wie von nachsichtigster Güte blickend, „es ist das eine Thatsache, welche ich mich freue, jetzt den Herren kund geben zu können, und bei der uns Ihre freudige Theilnahme nicht fehlen wird. Herr von Mansdorf und ich haben unsere Einwilligung zu dem Verlöbnisse der jungen Leute gegeben, und wenn wir uns früher zu dem Eintritte des Herrn von Uffeln in unseren Lebenskreis nur Glück wünschen konnten, so können wir jetzt die Hoffnung hegen, daß sein Eintritt in unsere Familie zu einem noch größeren und dauernden Glücke führen wird.“
Während Frau von Mansdorf diese Worte sprach, hatte sie, um die Feierlichkeit des Augenblicks zu erhöhen, worin sie der Welt dieses Ereigniß kund machte und damit Adelheids Schicksal besiegelte, ihr Strickzeug auf den Tisch gelegt und ihre linke Hand darauf, mit der andern jedoch die Hand ihrer neben ihr sitzenden Tochter auf ihren Schooß gezogen und diese mit warmem Drucke umspannt gehalten. Adelheid saß still und blickte vor sich nieder, ohne sich zu regen; da sie im Schatten ihrer Mutter saß und das Abendlicht in den Hintergrund des Plätzchens zwischen den Thürmen nur noch sehr gebrochen eindrang, entging wohl Allen, wie tief sie erblaßt war, wie bleich ihre Lippe geworden und wie diese Lippe jenes leise Zucken verrieth, welches einem Thränenausbruche vorherzugehen pflegt. Doch mußte wohl in dem Händedrucke der Mutter etwas wie eine geheimnißvolle magnetische Kraft liegen, welche diesen Ausbruch verhinderte. Obendrein hatte sie ja am heutigen Morgen ihrer [862] Mutter zugesagt, sich ohne weiteres Sträuben in Alles fügen und ihr Schicksal als unabwendbar hinnehmen zu wollen, die Mutter hatte ja auch in Allem, was sie gesagt, Recht gehabt; das hatte sie einräumen müssen, wenn es auch schrecklich war, daß sie Recht hatte. „Uffeln hat nun einmal sein Herz an Dich verloren und wirbt um Deine Hand,“ hatte die Mutter gesagt, „und wenn Du ihn abweisest, so wird ein ganz unerträgliches Verhältniß zwischen ihm und uns entstehen. Durch unsern gemeinsamen Besitz sind wir nun einmal in die engste Beziehung zu Uffeln gerathen, die uns sofort, wenn Zwiespalt und übler Wille an die Stelle der Freundschaft und des Vertrauens treten, das Leben zur Hölle machen muß. Uffeln wird, wenn Du ihm einen Korb giebst, unser Haus verlassen und vielleicht zum Rentmeister Fäustelmann drüben ziehen; der Rentmeister, der nicht zwei Herren dienen kann, wird sich auf die Seite des Einen schlagen, und ich traue Fäustelmann wohl zu, daß er sich nicht auf unsere, sondern auf die Uffeln’s schlägt, weil dieser in allen Dingen noch mehr auf ihn hören wird, wie – oft vielleicht zu viel – Dein Vater schon thut. Denke Dir doch das für immer verbitterte Leben, welches Du Deinen Eltern bereitest, wenn Du Uffeln von der Hand weisest – gar nicht davon zu reden, daß von unserem Reisen dann keine Rede sein kann. Uffeln ist so großmüthig gewesen, das Geld, das für ihn aufbewahrt ist und baar für ihn daliegt, dazu zur Disposition zu stellen. Können wir es anders annehmen, als wenn Du seine Braut bist? Und wenn nicht, was soll aus Deiner Gesundheit werden, was aus Deinem beschäftigungslos hier im Hause umhergehenden Vater, mit der bösen Neigung, die diese Beschäftigungslosigkeit in ihm geweckt hat und immer mehr nährt? Ich denke, das Alles mußt Du doch selbst einsehen und wirst mir nicht mehr mit Einwürfen kommen, die kindisch und albern sind, mit einer Neigung für diesen Günther, der ein recht herzlich schlechter Mensch wäre, wenn er nicht längst alle Hoffnungen auf Dich hätte fahren lassen; er kennt ja unsere Verhältnisse, und wenn er hier wäre, würde er Dir selbst sagen: ‚Ihre Mutter hat Recht. Es giebt nur einen Weg, den Sie um Ihrer selbst und um Ihrer Eltern willen gehen können.‘“
Mit solchen wuchtigen Keulenschlägen der Vernunft und der Logik hatte Frau von Mansdorf heute den letzten Widerstand ihrer Tochter gebrochen, und Adelheid war verstummt. Sie hatte sich darein ergeben, das Opfer der Verhältnisse zu werden, aber mit dem bestimmten Vorgefühl, daß es sich um ein noch größere Opfer, als das ihrer Neigung, daß es sich um das ihres Lebens handle, daß sie sterben werde, ehe sie das Weib Uffeln’s geworden, und mit dem Gefühl, daß darin ihre Rettung vor etwas ganz Schrecklichem liege, war ihr der Wunsch gekommen, diese Rettung sei schon da, und der Tod habe sie erlöst.
So saß sie jetzt in namenlosen Jammer versunken schweigend neben ihrer Mutter; sie kämpfte gegen den Ausbruch ihrer Thränen an, und um diese zu bemeistern, rief sie alle ihre Willenskraft auf; sie wollte nun einmal vor den fremden Menschen nicht zeigen, wie unglücklich sie sei, und ihr Vater sollte es nicht sehen – er sollte es niemals ahnen, wie es ihr das Herz abstieß, und wenn sie daran gestorben war, dann sollte er wenigstens nicht an ihrem Grabe stehen und sich Vorwürfe machen und durch Kummer und Reue seine letzten Lebenstage verbittert fühlen; das sollte er nun und nimmermehr, und ihr fest darauf gerichteter Wille hielt sie jetzt aufrecht.
Der Frau von Mansdorf Ankündigung aber rief bei Allen natürlich die lebhaftesten Glückwünsche hervor.
„Das ist eine vortreffliche Kunde, die Sie uns da geben, gnädige Frau,“ rief der Oberförster aus, „und gewiß ist wohl seit Jahren kein Paar zusammen gekommen, welches so sich zu einander geschickt und für einander gepaßt hätte.“
„Sie haben Recht, Oberförster,“ sagte jetzt Herr von Mansdorf, „es ist eine Verlobung, die schon deshalb die Eltern erfreuen muß, weil sie ihnen das seltene Glück gewährt, ihre Tochter, ihr theueres, ihnen an’s Herz gewachsenes Kind nicht aus dem Vaterhause fortziehen zu sehen, es nicht fortgeben zu müssen an eine ihnen fremde Welt.“
„Das ist in der That das Beste bei diesem Verlöbniß,“ sagte mit einer großen Kaltblütigkeit der Justitiar Plümer. Er nahm dabei den wehmuthsvollen Blick nicht wahr, den ihm mit langsamem Augenaufschlag Adelheid zuwarf. Daß er, Adolf’s nächster Verwandter, ihre Verlobung auch so trocken und kaltblütig billigen konnte, kam ihr wie ein Verrath vor, und es war ihr, als sei sie nun von Allen auf der Welt verlassen.
„Trinken wir denn,“ bemerkte jetzt Herr Fäustelmann, sein Glas ergreifend, – Herr von Uffeln, der sich während des Abends schweigend und stille gehalten, hatte in weiser Voraussicht eben die Gläser neu gefüllt – „trinken wir denn die Gesundheit des jungen Brautpaares und unserer gnädigen Herrschaft!“
Die Männer erhoben sich auf diesen Vorschlag Fäustelmann’s und erfaßten die Gläser, und der Oberförster rief mit seiner sonoren und vollen Baßstimme laut aus:
„Also es lebe das Brautpaar! Herrn von Uffeln und Fräulein Adelheid ein Hoch! Möge Beider Glück so groß und ungetrübt sein, wie es in diesem irdischen von so viel Wechselfällen bedrohten Leben möglich ist, so dauernd, wie wir Alle es ihnen aus voller Seele wünschen!“
„Das walte Gott!“ sprach mit vor Rührung zitternder Stimme Herr von Mansdorf, dem leicht bei solchen auf sein Gemüth wirkenden Anlässen die Thränen in die Augen traten und der mit dem Taschentuche über die Augen fahren mußte, bevor er sein gefülltes Glas mit dem Glase seines künftigen Eidams zusammenklingen lassen konnte, „das walte Gott!“
„Meine Herren,“ entgegnete, nachdem Alle mit ihm angestoßen hatten, Herr von Uffeln, „um auf so herzliche Wünsche zu antworten und auszudrücken, wie dankbar sie mich Ihnen machen, bin ich leider ein zu schlechter Redner. Ich …“
„Halten Sie einen Augenblick ein!“ unterbrach ihn hier Frau von Mansdorf, indem sie die Hand ausstreckte und leicht auf seinen Arm legte, „es kommt Jemand.“
Uffeln schwieg und blickte auf. Auch die Blicke der Uebrigen wandten sich der fremden Erscheinung zu, die so gerade im unrechten Augenblicke eben von dem Thore her über den Kiespfad rasch herangeschritten kam und geraden Weges auf die Gesellschaft im Thurmwinkel zuging.
„Wer ist das?“ fragte Herr von Mansdorf geärgert, „wer – aber Herr von Uffeln, was haben Sie – kennen Sie ihn?“
Dieser Ausruf wurde durch den Umstand veranlaßt, daß das gefüllte Glas des Herrn von Uffeln sich so plötzlich schwankend senkte, daß der Wein auf den Tisch überfloß. Ebenso plötzlich überzog eine fahle Todtenblässe sein Gesicht, während der Fremde herantrat, eine leichte Verbeugung machte und dann mit einem eigenthümlichen Blicke, unter breiten halbgeschlossenen Lidern her, wie prüfend die Gesellschaft überschaute. Diese starrte wieder auf die fremde Erscheinung, die so imponirend, wie mit einem hochmüthigen Lächeln auf den Lippen vor dem Epheubogen des Thurmwinkels dastand, von dem letzten auf den Vorgebäuden liegenden Sonnenreflexe hell beschienen. Nur Frau von Mansdorf hatte, durch ihres Mannes Ausrufe abgelenkt, ihre Augen auf Uffeln gerichtet und sah erschrocken, daß dieser wie einer Ohnmacht nahe auf seinem Sessel zusammengebrochen war und starrte, als ob er eine Vision sähe.
„Uffeln, wird Ihnen unwohl? Was ist, was haben Sie, Uffeln?“ rief sie laut aus.
Die Antwort gab der Fremde. Mit einer merkwürdigen Ruhe im Klang der Stimme sagte er:
„Was Herr von Uffeln hat? Er sieht seinen Doppelgänger.“
Prinzessin Elisabeth stand am andern Tage in der Nähe des Schlosses vor einem kleinen im Parke angelegten Rehgehege und fütterte die drei zierlichen Thiere, welche darin gehalten wurden und für deren Pflege zu sorgen sie übernommen hatte. Heute reichte sie ihnen die Kohlblätter, welche sie ihnen mitgebracht hatte, lässig hin und schaute, zerstreut in die braunen glänzenden Augen, welche die Thiere, sich zuthulich an sie schmiegend, auf sie richteten; zerstreut fuhr sie mit der weißen Hand über ihre Rücken, schob sie dann plötzlich heftig von sich und verließ sie, ohne ihnen weiter einen Blick zu gönnen. Sie ging jetzt nachdenklich unter der Platanengruppe, die in der Nähe stand, auf und ab und machte sich ein Spiel daraus, jedesmal auf eines der gelben Blätter, die bereits ziemlich zahlreich und doch noch vereinzelt am Boden lagen, zu treten. Und [863] doch waren ihre Gedanken weit ab von diesem mechanischen Spiele. In einem eigenthümlichen Kampfe waren diese Gedanken mit sich selber, in einem Streit des Herzens mit dem Kopfe, der, weil bei dem klugen Fürstenkinde beide, das Herz wie der Kopf, von seltener Stärke waren, das eine warm, der andere klar, mit einer ganz besonderen dialektischen Schärfe durchgefochten wurde.
Denn mit ihrem hellen Verstande und starken Bewußtsein hatte Elisabeth sich nicht mehr verbergen können, daß sie diesen wunderlichen, träumerischen, in einer Atmosphäre von ganz absonderlichen Vorstellungen und Gedanken lebenden Menschen liebte, diese räthselhafte Gestalt des einsamen Mannes, den nirgendwo feste Verbindungen an eine bestimmte reale Welt anzuknüpfen schienen und der durch die grünen Wälder des Jochmaringhofes schritt, so losgelöst von allen menschlichen Banden, wie nur der Stoßfalke war, der über ihren Wipfeln kreiste. Von solch einem Manne, der ja noch obendrein Dinge und Erlebnisse von sich erzählte, die man gar nicht glauben konnte, alle Gedanken und alle Empfindungen des Herzens gefangen nehmen lassen, das war ja – Prinzeß Elisabeth stand nicht an, sich selber das sehr derb und rund heraus vor den Kopf zu sagen – es war ja eine ganz entsetzliche und wahnsinnige Thorheit; es war ja von einem vernünftigen, an Selbstbeherrschung und Gefühl ihrer Würde gewöhnten Mädchen etwas Aberwitziges und Monströses, aber was half das – ihr Herz lag und blieb nun einmal wie im Banne der Erscheinung dieses Mannes.
Das einzige Gute bei der Sache war, daß sie ihm hatte klar machen können, daß er gehen müsse – daß er jetzt aus ihrem Lebenskreise verschwunden sei und dann sicherlich nie wieder in demselben auftauchen werde. Darin lag die beste Gewähr ihrer Genesung von der Wunde, die sie in sich trug, die dann, wenn sie nichts mehr von ihm hörte noch sah, doch bald sich schließen mußte, die aber heute in der Vorstellung, daß er vielleicht in diesem Augenblicke gerade sein stilles Asyl verlasse, um nie zurückzukehren, ganz schmerzlich blutete. –
Wenn sie sich noch darüber hätte täuschen können, daß Er ihr gegenüber nichts von dem tiefbestrickenden Einflusse empfunden, den seine Erscheinung für sie gehabt, aber er hatte ihr ja so offen und unbefangen und rundheraus gestanden, daß er sie liebe … und das war mit einer so unumwundenen Natürlichkeit, einem solchen arglosen, freien, großartig einfachen Wesen geschehen, daß sie an der innersten Wahrheit und Aufrichtigkeit seiner Worte gar nicht zweifeln konnte. Und diese Gegenseitigkeit der Gefühle bildete nur eine Verdoppelung des Bandes, an dem sie sich gefangen fühlte, daß sie laut hätte weinen mögen bei dem Gedanken an die furchtbare Schwere der Aufgabe, vor die sie gestellt war und die das Schicksal mit unerbittlicher Grausamkeit von ihr forderte – der Aufgabe, diesen Mann zu vergessen.
Sie ging auf und ab unter der Platanengruppe und vergaß alle die kleinen Obliegenheiten, die der Morgen ihr brachte: sie vergaß den Geflügelhof, wo sie am Vormittage zu erscheinen pflegte, um sich Bericht über die neuesten Vorkommnisse geben zu lassen, und vergaß die kranke Dogge zu besuchen, die sie sonst auf ihren Gängen begleitete und jetzt alterssiech in ihrem Häuschen lag. Mehrere Male blieb sie stehen und schaute gedankenverloren in die Parkgründe ringsumher, auf die Gehölzpartieen, die Rasenstücke, die Blumenbeete; das Alles war für sie heute so anders als sonst, so wie von Farblosigkeit überschleiert, so todt und öde; es war als ob diese ganze Welt sie nichts mehr anginge, als ob es eine richtige lebendige Welt gar nicht mehr wäre, sondern ein Spiegelbild, ein Nebelgebilde, ein gleichgültiger Traum, den sie schauen mußte und der hätte verschwinden können, ohne daß sie ihm nachgeblickt hätte.
Wie lange sie so zwecklos die Zeit an sich hatte vorüberrinnen lassen – sie wußte es nicht, als sie nicht fern von sich ihren Vater, den Fürsten, von seinem Morgenspaziergange im Parke zurückkehrend, erblickte. Wie schuldbewußt wandte sie sich. Er sollte nicht gewahren, daß sie aus dem gewohnten Gleichmaße ihrer Tagesordnung gerathen, und so ging sie dem Schlosse zu, um durch eine kleine Bogenthür in einen der Eckthürme hineinzukommen, da sie annahm, daß ihr Vater über die große Terrasse in’s Schloß treten würde. Aber sie hatte sich geirrt. Er hatte sie gesehen und war ihr gefolgt, und nach kurzer Zeit hörte sie seinen Ruf hinter sich:
„Elisabeth!“
Sie wandte sich und ging ihm entgegen.
„Schon zurück, lieber Vater? Du pflegst sonst Deine Spaziergänge länger auszudehnen.“
„Länger? Ich denke, es ist spät. Du siehst bleich aus, Elisabeth – hast Du eine schlechte Nacht gehabt? Denk’ Dir, wir haben ein kleines Ereigniß in der Gegend gehabt.“
„Ah – und was ist das?“
„Du erräthst es nicht – ein politisches Ereigniß. Du sagtest mir, daß Du wüßtest, in der alten Kropp habe man Waffen geborgen.“
„Nun ja … und daß im Stillen gearbeitet werde, um – aber was ist mit den Waffen?“
„Sie sind den Franzosen verrathen.“
„Verrathen?“
„So ist es – das Depôt ist gefunden. Ich stieß vorhin auf den Gensd’armerie-Sergeant Duplessis, der an der Parkecke an mir vorüberritt; er war sehr in Anspruch genommen durch die Sache und rief mir über die Verzäunung herüber die Nachricht zu. Es ist gestern Abend dem Brigadier die Anzeige zugekommen; in der Nacht ist die Erhebung vorgenommen worden, und dann ist auch bereits der Emissär in ihren Händen, der –“
„Der Emissär?“ fiel ihm Prinzessin Elisabeth mit einem Aufschrei des Schreckens in’s Wort.
„Ja, der Emissär – ein ehemaliger französischer Officier, der in Spanien gedient hat, ein Mensch, der sich hier frecher Weise den Namen ‚von Uffeln‘ beigelegt hat, aber gar nicht so heißt; er heißt – wenn ich den Gensd’armen recht verstanden habe – Falstner oder Falsner; man hat ihn nach M. transportirt, den armen Teufel, und wird da wahrscheinlich – aber ich bitte Dich, Elisabeth, was ist Dir? was hast Du?“
Elisabeth stand todesbleich, am ganzen Körper zitternd – so starrte sie ihren Vater an, dann wankte sie und griff mit einer Heftigkeit mit beiden Händen nach seinem Arm, daß der Fürst sie rasch umschlang, weil sie offenbar im Begriff war, zusammenzusinken.
„Elisabeth!“ rief er tief erschrocken noch einmal aus.
„O mein Gott, Vater – Vater – das überleb’ ich nicht – sie werden ihn erschießen, und das überleb’ ich nicht.“
„Du kennst ihn? Es ist der Fremde, von dem Du mir gesprochen hast? Dacht’ ich’s doch!“
„Derselbe, Vater, derselbe,“, rief sie aus, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend, „und wenn sie ihn jetzt tödten, ihn erschießen, so sterb’ ich.“
Der Fürst, ein hochgewachsener starker Mann mit ein wenig ausdrucklosen, aber äußerst gutmüthigen Zügen, sah höchst betroffen auf seine Tochter nieder, die, auf seinen Arm gestützt, die furchtbarste Erschütterung durch das krampfhafte Ringen ihres Busens nach Athem verrieth.
„O Vater, Vater,“ rief sie dann aus, „warum hast Du mir das gethan, warum hast Du mir das gesagt – das ist mein Tod, mein Tod!“
„Dein Tod? – Aber, Elisabeth, was – –“
„O, Du magst Alles wissen, Alles hören – ich kenn’ ihn ja nicht allein, ich lieb’ ihn ja auch, diesen Mann, und wenn sie ihm das Schrecklichste anthun …“
„Du liebst ihn? – Elisabeth!“
Der Fürst rief das wie vom Donner gerührt. „Elisabeth! Du redest irre.“
Sie erhob sich aus seinem Arm. Sie stand gesenkten Kopfes, die Hände zusammenfaltend und nach Athem, nach Fassung ringend.
„Vater,“ sagte sie dann ruhiger und ohne aufzublicken, „ich weiß sehr wohl, was ich Dir, was ich unserem Namen schuldig bin. – Ich liebe ihn, ja, ja, ja,“ brach sie heftig aus, „ich liebe ihn und wie sehr, das fühle ich jetzt und daran ist nichts, gar nichts zu ändern. „Aber,“ fügte sie wieder gefaßter hinzu, „daß es eine Thorheit ist, eine Raserei, das seh’ ich ja ein, das weiß ich ja; ich verbinde auch keine Wünsche, keine Auflehnung gegen die Vernunft, keinen Ungehorsam gegen Dich mit dieser Liebe. Ich will ihn vergessen, vergessen für [864] immer. Nur sollen sie ihn nicht tödten, nur das nicht, denn wenn sie ihn tödten …“
Sie unterbrach sich und die Hand auf ihres Vaters Arm legend sagte sie, nach Athem ringend:
„Komm, führ’ mich zu jener Bank dort! Ich halte mich nicht mehr aufrecht; dort will ich Dir Alles sagen.“
Der Fürst führte sie zu der nächsten unter einer der Platanen angebrachten Gartenbank. So niederschmetternd, so all sein innerstes Gefühl empörend auch das Geständniß seines Kindes auf ihn gewirkt haben mußte – er sah doch in diesem Augenblicke wie ein gutmüthiger Mann nichts als das tiefe Leid des Weibes, wie ein bekümmerter Vater nichts als die Verzweiflung eines Kindes – und so führte er sie, zärtlich ihre Gestalt umschlingend, und ohne ein Wort weiteren Vorwurfes zu sprechen.
Als sie sich gesetzt hatten, legte Elisabeth, sich vornüberbeugend, ihre beiden Arme auf das Knie ihres Vaters, und die Hände zusammengefaltet auf den Boden niederblickend, sagte sie:
„Vater, Du wirst mich begreifen, Du wirst mit mir fühlen können. Man darf diesen Mann nicht ermorden, oder ich bin unselig für immer. Wenn man ihn rettet, wenn er verschwindet, wenn er dann wie versunken und verschollen für mich ist in der mir fernen fremden Welt, dann werde ich ihn vergessen; ich werde es über mich gewinnen, Tag für Tag weniger an ihn zu denken, ich werde mir mit jedem Tage klarer und lauter sagen, welche Thörin ich war, mich von dem eigenthümlichen Zauber umgarnen zu lassen, den dieser fremde Mensch mit seinen wunderlichen Reden auf mich ausübte, ich werde genesen von solch einer Leidenschaft – ich werde es. Obwohl mein Herz mir zuschreit: ‚nein, nein, Du wirst es niemals, niemals,‘ so bin ich doch überzeugt, daß meine Vernunft mir beistehen und daß sie siegen wird – meine Vernunft und mein Wille, den ich doch auch habe.“
Der Fürst legte sanft seine Hand auf ihren Scheitel.
„Ich glaube es Dir, Elisabeth,“ sagte er seufzend. „Denn Deinen Willen – ja, den hast Du.“
„Aber, Vater,“ fuhr sie nun heftig und ihre Hände krampfhaft zusammenballend auf, „wenn sie ihn erschießen - wenn ich das erleben muß, wenn ich im Geiste sehen muß, wie er vor den Gewehren knieet, wie er in seinem Blute daliegt, wie er - o, mein Gott, mein Gott, das überwind’ ich nicht, das Bild werde ich nie aus meiner Seele los, über dem Bilde werde ich wahnsinnig, und wenn Du mich retten willst, so rette ihn!“
„Ich ihn retten? Aber um’s Himmelswillen, wie denkst Du Dir das? Wie kann ich ihn retten?“
„Wir müssen nach M. Nach M., sagst Du, hat man ihn geführt? Wir müssen dahin! Du mußt mit dem Präfecten oder in wessen Hand sein Schicksal liegt, reden; Du mußt für ihn zeugen, ihn losbitten auf irgend eine Art. Der Präfect ist kein Unmensch. Hat er doch auf Dein persönliches Einschreiten einmal den Meyer Jochmaring freigegeben, als sie diesen eingezogen hatten, weil sein Anerbe sich nicht zur Conscription gestellt.“
„Aber, mein Gott, was könnte ich dem Präfecten denn sagen?“
„Daß er gar kein Emissär sei, daß Du Dich mit Deinem fürstlichen Worte dafür verbürgtest.“
„Aber er ist es ja doch ohne allen Zweifel.“
„Es ist wahr, er ist es, o, wie fürchterlich ist es, lügen zu müssen – diesen Menschen gegenüber – aber, Vater, Vater, wenn Du Deine Tochter vom Untergange, und einen Menschen vom Tode retten kannst durch eine Lüge – wirst Du sie nicht sprechen?“
Der Fürst fuhr mit der Hand über seine Stirn.
„Das ist eine schreckliche Lage,“ sagte er. „Mag man noch so alt werden, es giebt Verhältnisse, in denen man sich hülflos wie ein Kind fühlt und einen Vater, einen Bruder fragen möchte. Ich wollte, ich könnte meinen Vater fragen, ob ich lügen darf.“
„O, um meinetwillen, Vater, um meinetwillen, um Deines verzweifelnden Kindes willen!“ jammerte Elisabeth.
„Höre, Elisabeth,“ versetzte nach einer Pause der Fürst, „ich will Dir nachgeben, in so fern, als ich mit Dir nach M. fahre. Wir wollen mit dem Präfecten reden. Wir wollen sehen, was bei ihm auszurichten ist. Der Himmel wird uns die richtigen Worte auf die Zunge legen. Geradezu eine Unwahrheit mit meinem fürstlichen Worte bekräftigen – nein, das werde ich nicht können. Aber während wir fahren und rathschlagen, werden uns andere Gedanken kommen, andere Hülfsmittel einfallen.“
„O, ich danke, ich danke Dir,“ rief die Prinzessin aufspringend aus, „und nun laß’ uns eilen! Eile thut sicherlich noth. Laß’ uns in diesem Augenblicke fahren!“
„Ich bin’s zufrieden,“ entgegnete der Fürst und erhob sich nun auch; Elisabeth hing sich an seinen Arm, und Beide schritten eilig dem Schlosse zu.
Die Zurüstungen zu der Fahrt waren bald gemacht. Eine Viertelstunde später fuhren der Fürst und Elisabeth in einer etwas schwerfälligen, mit vier Pferden bespannten Reisekalesche aus dem Schloßhofe ab und in der Richtung nach der Präfecturstadt dahin.
- ↑ Zum ersten Male seit dem dreiundzwanzigjährigen Bestehen der Gartenlaube sehen wir uns in der unangenehmen Lage, eine Novelle nicht in dem Jahrgange, in dem sie begonnen, zum Abschlusse bringen zu können. Wir müssen leider die letzten Capitel der obigen Erzählung in den neuen Jahrgang hinüberlaufen lassen. Das kommende Quartal wird mithin in den Januar-Nummern zwei Erzählungen bringen, den ersten Abschnitt von Marlitt’s „Im Hause des Commerzienraths“ und Fortsetzung und Schluß von Levin Schücking’s „Der Doppelgänger“.
Die Redaction.
Spätherbst 1855 war es und ein stürmischer Herbsttag.
Im Hafen von Triest tanzten die hohen Wogen der blauen
Adria um die geankerten Kauffahrer; ein rauher West spielte
um die Masten und in den aufgehißten Flaggen der mancherlei
Nationen, deren Hab und Gut da vor Anker lag. Weit und
breit war vom Molo aus kein Fahrzeug zu entdecken, das hinausgefahren
war, den Kampf mit dem Elemente aufzunehmen.
Erst weit draußen, ungefähr eine Meile von Triest, außerhalb
der schönen Rhede, suchte ein kühner Segler die Bahn des
Meeres. Ein kleines, schmuckes Schiff war’s, nach Art der
Fischerboote von Chiosa gebaut, mit gelbem Segel, das der
Wind mit vollen Backen anblies, und fünf Männer standen
muthig darauf. Der eine von ihnen, eine junge, schlanke Gestalt
in der Blüthe der Jugend, in einen blautuchenen Oberrock
gehüllt, der an den Aermeln breite Goldborten hatte, die runde
Marinekappe tief in die Stirne gedrückt, stand abseits von den
Anderen und schaute in die vor ihm ausgebreitete Unendlichkeit
des Meeres hinaus.
„Hoheit, es ist Zeit Unterkunft zu suchen; wir haben schlechten Wind!“ mahnte nun ein Mann, der an den jungen Träumer ehrerbietigst herantrat.
„So?“ meinte dieser etwas erstaunt, „flüchten wir uns, wenn Sie meinen! Und wohin, lieber Graf?“
„Probiren wir es, drüben zu landen, in der Punta Grignagno, Hoheit!“
„Gut, darauf los, darauf los!“ sagte der junge Träumer, der nun wieder ganz der Gegenwart gewonnen war.
Eine halbe Stunde darauf landete die Gesellschaft nach nicht geringen Mühen in der kleinen, von Felsen umgebenen Bucht, die da, tief unter dem Dorfe Conlovello gelegen, Punta Grignagno heißt. Es war nur ein einsames Fleckchen Erde, das die vorspringende Landspitze darbot, kahl und von geringer
[865][866] flächlicher Ausdehnung, etwa 30' über dem Meeresspiegel sich erhebend, aber ein entzückend schöner Blick ward den Besuchern von dem kleinen Plateau aus, das direct dem Meere zugekehrt war und auf dem ein schwarzgelbes Häuschen die Macht der sorgsamen Finanz-Landes-Behörde, die Feindin aller Schmuggler, zu bedeuten hatte. Welch’ schöner Friede war über dieses Stückchen Land ausgebreitet! Die ganze Nachbarschaft des hierher eingesiedelten „Finanzwächters“ bestand aus einer Unzahl von Nachtigallen, die hier, ob es auch vom Meer her unablässig tobte und stöhnte, ihre lieblichen, idyllischen Concerte abhielten.
Als der junge Träumer im blauen Marinerock den Fuß zum ersten Mal auf dieses friedliche Stückchen Erde setzte, war sein Auge voll der Bewunderung des lieblichen Bildes dieser Einsamkeit hart am Meere. Gen Osten hatte er die interessante Stadt, die unter seinem Scepter lebte, das malerische Triest; im Süden der Punta dehnte sich die blaue See hin, immer sein Liebling, ob sie nun, wie jetzt gerade, wüthet, oder das glänzende, große Auge gegen den Himmel aufschlägt; im Westen Weinberge und Olivenwäldchen und weit hinten die romantische kleine Veste am Meere: Duino. Mit vollen Zügen genoß er das einzig schöne Bild und, wie immer in solchen Momenten, kam kein Wort über seine Lippen, und erst nach Verlauf einer halben Stunde hörte man ihn rufen, rufen im Tone tiefster Erregung, im Tone tiefster Herzenssehnsucht:
„Ah, hier möcht’ ich Hütten bauen.“
Ob wohl damals auch nur Einer aus der Umgebung des jungen Seefahrers – er hieß Prinz Ferdinand Max von Habsburg und war österreichischer Flottencommandant – diesen Sehnsuchtsruf für Ernst gehalten haben mag? Ich glaube nicht. Und doch war es mehr als eine poetische Redensart, was aus dem Munde des Prinzen an jenem Herbsttage kam.
Die Liebe zum Meere – sie war längst eine aufrichtige, ja eine heiße bei dem Erzherzoge zu nennen. Das Meer – in den verschiedensten Formen und Weisen hat es Maximilian gefeiert; seine Gedichte, seine Reisebilder, seine Sprüche und Tagebuchblätter, Alles, was uns von seiner Feder überkommen und was seiner Zeit unter dem Titel „Aus meinem Leben“ (Leipzig, Duncker u. Humblot, 1867) erschienen, zeugt für diese seemännische Leidenschaft. Und eine Stelle, welche dieser Leidenschaft mehr entgegen kommt als diese Punta Grignagno, er mochte sie kaum finden. Als Prinz Ferdinand Max an jenem Spätherbsttage Abends nach Triest zurückkehrte, beschloß er, das schöne Fleckchen Erde käuflich an sich zu bringen. Für’s Erste wollte er Nichts, als daß das kleine Plateau ihm gehöre. Und andern Tags schon ließ er durch einen seiner Hausofficianten die Punta und zwei Joch Boden hinter derselben ankaufen. Ein kleines eisernes Haus, wie solche die Amerikaner damals in Mode brachten, sollte dort aufgerichtet werden, ihn zu beherbergen wenn es ihn hinauslockte zur Meeresbraut, und die westlich gelegene Bucht sollte zu einem kleinen Hafen gestaltet werden, um dem erzherzoglichen Segler bequemen Eingang zu verschaffen. Gewiß kein großes Project, fern von allem Luxus, von allem königlichen Pompe! Ein Gärtner von der Villa „Maxing“ (nahe der bekannten Villeggiatura der Wiener Finanzwelt, Hietzing) wurde zur Herstellung eines Gärtchens nach Triest gerufen; Wege wurden gebahnt und ein eisernes Haus in Birmingham bestellt.
Aber diese einfache Einquartierungsweise am Strande der Adria sollte nicht zu Stande kommen. Ein Baumeister der Hafenstadt, der eine schreiend häßliche Umfriedungsmauer für schweres Geld hergestellt hatte, verdarb zuerst den Appetit des Prinzen. Einige Wochen darauf ging das Schiff, welches das eiserne Prinzenhäuschen als Fracht über den Canal zu tragen hatte, mit Sack und Pack zu Grunde – und mit ihm war der ganze einfache Plan des Erzherzogs in’s Meer gesunken, und an seine Stelle trat nun das Project, als dessen glänzende Ausführung sich heute das schöne „Schloß am Meere“ darstellt, dessen Schönheit nur leider von dem blutigen Schatten des kaiserlichen Opfers von Queretaro düster umschwebt wird und das sein Herr in den Tagen des Glücks und der Jugend, da er es schaffen half, „Mira mar“ nannte, als wollte er schon mit dem bloßen Namen, den einfachen zwei spanischen Worten, Jedwedem, der es in Sicht bekommt, Hochachtung, Bewunderung vor dem Elemente abzwingen, das sein Liebling war und blieb von der Stunde an, da er es 1855 zum ersten Male erblickte, bis zu dem unheilvollen Tage, wo er 1867 zum letzten Male von Santa Cruz den Sonnenball in seine ewigen Tiefen verschwinden sah. –
Einmal von dem neuen Gedanken erfaßt, in jenem Winkel der Adria ein Fürstenschloß aufzuführen, war der Prinz rüstig und rasch bei der Ausführung, und die alten Einfachheitsideen waren verflogen, um Luxus und Pracht Platz zu machen.
Nun ward Alles, was die neue Besitzung anging, groß gedacht. Immer weitere Ankäufe von Hinterlandstrichen der Punta Grignagno wurden gemacht, der Park sollte großartig, ein großer Molo in dem Hafen angelegt und als Krönung mitten im Garten eine herrliche Villa aufgeführt werden. Der erste Plan hierzu, von dem Wiener Ringstraßen–Architekten Romano ausgeführt, hatte nicht die Billigung des schwer zu befriedigenden Bauherrn. Damals nun lernte der Prinz den Erbauer der Triester Aurisina-Wasserleitung, Karl Junker, in der Hafenstadt kennen. Der junge frische Ingenieur mit dem resoluten Freimuth des echten Wiener Kindes mochte dem Prinzen, der die Scharwenzler nicht leiden mochte, sehr gefallen haben. Er übergab ihm vorerst die Ausführung des Molo, und fleißige Unterredungen, die er mit Junker dieser Arbeit wegen hatte, führten auch auf das Thema des Villenbaues. Und da fand es sich bald, daß Ingenieur und Prinz gleiche architektonische Geschmacksneigungen hatten. Der Prinz beschloß, die Leitung des Schloßbaues Karl Junker zu übergeben. Tag für Tag tauschten Bauherr und Baumeister ihre Constructionsgedanken aus.
Wie groß ist des Prinzen Freude, als er nach den vielerlei Sorgen, die ihm die Erstlingsarbeiten, die Gewinnung des dem Meere abzuringenden Bodens, die Urbarmachung des felsigen Parkterrains, die Anlagen der Straße, die Fundirung der Schloßmauern etc. bereiteten, endlich die Mauern stolz sich erheben sieht, und die zum Plateau führende Monumentaltreppe das erste Mal emporsteigen kann! Wie sucht er die Arbeiter alle, die er seine „lieben Mitarbeiter“ nennt, von dem Architekten bis zum Maurerpolier hinab, für den Fortschritt zu begeistern wie liebenswürdig fördert er das Werk seiner Liebe, wie oft ißt er sein einfaches Mittagsbrod, das der mitgenommene Koch im Freien improvisirt, mitten unter der rastenden Arbeitercolonie! Im Herbste 1858 läßt er den eben fertig gewordenen Gartenpavillon, westlich vom Schlosse, in aller Eile zu seinem Heim einrichten und wartet nicht erst die Zeit ab, wo er auf ganz Miramar Herr werden soll. Am 28. September schon bezieht er diesen Pavillon mitten im übrigen Chaos mit seiner jungen, liebreizenden, ihm eben angetrauten Gemahlin Charlotte und hält dort von jetzt an wochenlange Siesta. Einige kleine Salons in der ersten Etage, ein Schlaf- und Arbeitszimmer im Parterre und eine offene Terrasse sind Alles, was der Gartenpavillon bietet, aber das junge Pärchen ist höchlichst zufrieden und bringt da die vielen Monate, die vom Ausbruch des Krieges mit Italien bis zur Fertigstellung des großen Schlosses verlaufen, im einfachsten Stillleben zu.
Und Prinzessin Charlotte ist nicht weniger von Miramar entzückt, als ihr Gemahl. Im August 1857 schon, als sie nach ihrer Vermählung zum ersten Male den Fuß auf die Punta Grignagno gesetzt, schwärmt sie für die Schönheiten dieses Besitzthums am Meere. Ein kleines Fest in dem theilweise fertigen Garten, von den Arbeitern improvisirt, macht ihr unsägliche Freude, die sie in liebenswürdige Worte zu kleiden weiß. Nach einem in schönster Mondlandschaft eingenommenen Souper verschwinden um neun Uhr die Glücklichen, das Gefolge zurücklassend. Es wird zehn Uhr; es wird elf Uhr, und noch ist keine Spur von dem hohen Paare. Auf elf Uhr ist die Rückfahrt angesetzt – die Yacht wartet draußen im Hafen, aber den Glücklichen schlägt eben keine Stunde. Es wird Mitternacht, wird ein Uhr – Maximilian und Charlotte wandeln noch immer unter den jungen Pinien und Oliven des Gartens und schauen auf die mondbeglänzte Zaubersee hinaus. Keiner der Männer des Hofes wagt es, auf Rückkehr zu deuten. Alle langweilen sie sich und begreifen diese Passion des Erzherzogs nicht, wie sie auch andere seiner Passionen nicht begreifen. Erst um halb zwei Uhr denkt das beglückte Paar an die Heimkehr und an die Herren der Suite, und es wird die Rückfahrt nach Triest angetreten.
Am 27. Juli 1859 wurde das Schloß von dem obersten Leiter des Baues, Herrn Junker, dem Prinzen fertig übergeben. [867] Die Kanonen donnerten zum ersten Male vom Molo von Miramar; die erzherzogliche Flagge ward aufgehißt, und der Prinz sammelte alle Arbeiter um sich und dankte ihnen in freundlichen Worten, die von seiner freudigen Erregtheit zeugten.
Ein volles Jahr nahm dann noch die innere Instandsetzung der Schloßräume in Anspruch. Der Triester Decorateur Hoffmann und sein mit Stylgefühl in außerordentlicher Weise ausgerüsteter Sohn besorgten dieselbe. Wenn es einmal galt, sich prachtliebend zu zeigen, so stellte Maximilian nicht weniger seinen Mann, als wenn es ihm gefiel, einfach bis zum Aeußersten zu sein. War er einmal dabei, Pomp zu entwickeln, so that er dies aus dem Vollen. In Mailand beispielsweise, wo es 1857 bis 1859 galt, Volksunzufriedenheit zu vergolden, trat er im Geschmacke Louis’ des Vierzehnten auf, gab Feste mit Aufgebot kostbarster Licht- und Farbeneffecte, fuhr in goldstrotzenden Carossen, hielt gepuderte Dienerschaft und machte das nahe Monza zu einem Königsschlosse echtesten alten Bourbonenstils. Unnöthiger Flitter aber ward nicht viel in Miramar verschwendet; die Säle entwickeln einen gediegenen Luxus; Reichthum, mit gutem Geschmacke gepaart, findet sich überall, oben und unten, an den Wänden, Decken und Böden der Gemächer. Die vielen Besucher von heute finden sie noch alle im Zustande von 1864, und gewiß giebt es Niemanden unter ihnen, der nicht von der in Miramar entwickelten Schönheit angemuthet würde. Prinz Maximilian hielt es bezüglich des Glanzes ganz mit der Natur; er hielt mit Gaben des Reichthums nicht zurück. Sagt er doch selbst einmal in seinen „Aphorismen“: „Geiz ist bei Prinzen ein Verbrechen. Prinzen sollen Goldcirculationsmaschinen sein – man weiß ihnen Dank dafür,“ und er handelte auch nach dieser Maxime.
Für seine Sammlungen von Antiquitäten, die einen großen Saal der oberen Etage des Schlosses füllten (und die sammt der Bildergalerie nach den Tagen von Queretaro verkauft worden, um mannigfache Deficite zu decken), trug er noch in Mexico Sorge und schickte von dort aus fortwährend neue Kostbarkeiten nach Miramar. Pflanzengattungen seltenster Art wurden von entferntesten Orten für den erzherzoglichen Park von Miramar herbeigeschafft, und man wandelte in ihm in der That wie in einem der Gärten Andalusiens oder Siciliens; er entfaltet tropische Schönheiten in prachtvollen Gewächshäusern, ist voll von Pinien, Lorbeer- und Myrthenbäumen, von Aloe und Magnolien; hier spenden Citronenwäldchen ihren Duft; dort erheben Cactus und Palme ihre riesigen Häupter, und überall umplätschern Fontainen diese liebliche Gartenidylle in lauschigen, stillen Winkeln.
Eine vorzügliche Bewässerung – Herr Junker zweigte seine Aurisina-Wasserleitung nach Miramar ab – macht es den vielerlei exotischen Pflanzen da sehr wohl. Die Sonne und das wonnige Klima – Miramar ist vollständig gegen die Bora geschützt – thun das Uebrige.
Ein schattiger Laubengang – er war das Lieblingsplätzchen Maximilian’s, wenn er seinen Gedanken nachhängen wollte, oder wenn sich ihm die Muse nahte – führt uns direct vom herrlichen Parke in’s Schloß hinauf. Im Hochparterre liegen die Gemächer, in denen das glückliche Paar (glücklich, so lange ihnen nicht der bonapartistische Versucher die Krone der Azteken brachte) am liebsten weilte. Da ist vor Allem das Arbeitszimmer des Prinzen, das in seinem ganzen Arrangement die seemännische Passion Maximilian’s am meisten zum Ausdruck bringt. In diesem Arbeitsraume wollte er, da er am Bord der „Elisabeth“, 15. November 1859, die Verse schrieb:
„Hinaus, hinaus in’s blaue Meer,
Hinaus, wo Himmel nur und Welle,
Wo nie das Herz mir bang und schwer –
Zu Schiff, zu Schiff ist meine Stelle!“ –
am kleinen Mahagonitischchen arbeitend, sich auf dem Schiffe dünken können. Und einer wirklichen Cajüte, elegant und doch einfach, gleicht dieses Arbeitszimmer Maximilian’s, einer Schiffscajüte mit Hängematte und kleinen zerlegbaren Stühlen, kleinen Fenstern, die hinaus auf’s Meer führen. Der Tisch ist mit Karten, Bussolen, Compassen bedeckt; in den Wandschränken befinden sich allerhand Reisewerke, geographische Handbücher, Atlasse und Marineinstrumente.
Seitwärts von diesem Cajütenzimmer liegt das prächtige Bibliothekzimmer, in welchem jetzt die reiche Sammlung von Werken ethnographischen, geschichtlichen und schön-wissenschaftlichen Inhaltes umsonst ihres gewohnten fleißigen Lesers harrt. Maximilian liebte nach dem Meere und seinem Weibe nichts so sehr als – Bücher. Geschichte war sein Hauptstudium, und die Schränke aus Luxushölzern zeigten auch fast Alles, was deutscher, französischer, englischer Forschergeist bis in die neueste Zeit hinein gezeitigt hat. Daß auch die Poeten, die ersten und die zweiten Ranges, in dieser Bibliothek nicht fehlen, versteht sich von selbst. Grillparzer, Lenau und der Wüstenmaler Freiligrath, seine Lieblinge aus der Epigonenzeit, haben da ihre Ehrenplätze. Als Bücher, die Maximilian in den letzten Tagen seines Aufenthaltes in Miramar, Sommer 1864, gelesen, werden die „Geschichte der Stadt Rom“ von Gregorovius und eine Lebensgeschichte des Hohenstaufen „Manfred“ bezeichnet.
Die Bücherleidenschaft unterstützte Maximilian, nebenbei bemerkt, auch bei Anderen gern. So erkundigte er sich nicht selten in den Buchhandlungen Triests nach den Contos der Marineofficiere und – zahlte sie. Es waren dies die einzigen Officiersschulden, mit denen er Nachsicht hatte. –
Aus der Bibliothek heraus führt eine Thür direct auf die breite Terrasse, die das Belvedere von Miramar genannt werden darf. Herrlicher als auf dieser Terrasse, die, wie das ganze Schloß, aus marmorartigen Steinen gemauert worden, ist es wohl nirgends auf dem mit so vielen schönen Punkten gesegneten Miramar. Sie ist der Stolz ihres Errichters und war der Stolz ihres fürstlichen Besitzers, Hier glauben wir den gebieterischen Ruf des Meeres: „Mira!“ (Bewundere!) laut und vernehmlich zu hören; gern und willig sind wir auf dieser Terrasse bereit, dem Meere den Tribut zu zahlen, den schon der Name des Schlosses uns abverlangt.
Halten wir uns jetzt rechts von der Bibliothek, so gelangen wir zu den Salons der Erzherzogin Charlotte, den luxuriösesten des Schlosses. Charlotte von Belgien war, was den mannigfaltigen Tand des Lebens anbelangt, nicht stärker als manches andere hochgestellte Erdenkind weiblichen Geschlechts. Die Prinzessin liebte es vorzüglich, Reichthum der Toiletten entfalten zu können; sie schmückte ihre imponirende, königliche Gestalt gar zu gern, wenn sie auch sonst in Gespräch und Umgang sich einfach und liebenswürdig, rein menschlich möchte man sagen, zu geben wußte. Wer das Zusammenleben Maximilian’s und Charlotte’s Jahre hindurch mit anschaute, weiß nichts davon zu erzählen, daß Charlotte „stolz“ und „herrschsüchtig“, wie man sie vielfach seit den Tagen von Queretaro darzustellen beliebte, gewesen, nichts namentlich davon, daß sie ihre „Herrschsucht“ auch über ihren Mann ausgedehnt. Es soll im Gegentheile etwas Kindlich-Liebliches über dem Wesen der Schloßfrau von Miramar ausgebreitet gewesen, der „gemüthliche“ Ton des „Wiener Kindes Maximilian“ bald auf Charlotte übergegangen sein. Eine Freude ist es gewesen, ihren innigen, schmucklosen Verkehr mit dem fürstlichen Manne und mit Allen, mit denen sie im Laufe der sechs Jahre des Stilllebens auf Miramar zu thun hatte, mit anzusehen. Haben Mexico und die Aztekenkrone die Seeleneinfalt und den bescheidenen, natürlichen Sinn der Königstochter verwirrt? Vielleicht.
Auf Miramar und in Triest ist das Andenken der hohen unglücklichen Frau ein ungetrübt schönes, herzliches. Aus den Brüsseler Kindestagen freilich sagt man der Prinzessin manchen eigenthümlichen Zug von Herrschsucht nach. Konnte sie ja vor der Schloßwache in Laeken nicht oft genug des Tages vorübergehen, um vor sich „in’s Gewehr“ rufen zu hören, und erst recht oft immer zu der Zeit, wenn gerade ihr Bruder, der damalige Herzog von Brabant und heute König von Belgien, die Wache commandirte. Und als es dem jungen Bruder eines Tages zu viel ward, vor dem Fräulein Schwester die Mannschaft immer wieder „in’s Gewehr“ rufen zu lassen, da lief Charlotte zum König, machte eine Scene und ruhte nicht, bis Bruder Brabant zwei Tage Arrest bekam. Diese kleinen Eitelkeiten aber zeigten sich während der Miramär-Periode der Prinzessin durchaus nicht fortgebildet, und es ist vielleicht nur als ein Rückfall in die Launen der Kindheit zu betrachten, wenn es wahr ist, daß die Charlotte, die heute sinnverwirrt im Schlosse von Tervueren umherwandelt, dergleichen Charakterzüge entwickelt.
Im Erdgeschosse des Schlosses von Miramar befinden [868] sich, außer den bereits genannten Salons auf der östlichen Seite, auch noch das Schlafzimmer Maximilian’s und seiner Gemahlin, der gewöhnliche Speisesaal und die kleine Hauscapelle. In der ersten Etage fällt dem Blicke des Besuchers vor Allem der imposante, zwei Stockwerke hinaufreichende, pompöse Ceremoniensaal mit seinen kostbaren Stuccaturen und Marmortäfelungen, seinen großen venetianischen Lustres und kunst- und geschmackvollen Bronzearbeiten auf. Hier fand an jenem Sommertage des Jahres 1864, der die jämmerliche Kaisertragödie von Mexico einleitete, die Abdankung Maximilian’s als kaiserlich österreichischer Thronfolge-Berechtigter statt, nachdem vorher in einem der anstoßenden Empfangssalons sich eine heftige Scene zwischen den erwachsen Brüdern Franz Joseph und Maximilian, abgespielt hatte. Viele große Feste hat der herrliche Saal in den ersten vier Jahren seiner Existenz nicht gesehen. Zählte sich doch Maximilian selbst halb und halb zu jener kleinen Zahl von Menschen, „die sich einsam fühlt in der Unterhaltung und die sich unterhält in der Einsamkeit.“
Er liebte das Beisammensein mit einigen guten Freunden des Hauses; das ceremonienvolle Courabhalten war seine Liebhaberei nicht, und wo es also nicht mit auf dem Programme des politischen Erfolges stand, wie z. B. in Mailand und Venedig anno 1857 und 1858, da wollte er auch nichts davon wissen. Im kleinen Kreise saß er gerne mit seinen Marinelieblingen, mit seinen Adjutanten (Graf Hadik und Freiherr von Bruck nahmen die Stellen der am liebsten Gesehenen beim Prinzen ein), mit einigen Celebritäten der Admiralität und der Landarmee, die durch Triest kamen, zusammen, und da gab es oft der Scherze gar viele, die sich für die Tafel der „kaiserlichen Hoheit“, wie sie sich etwa ein eingefleischter Ceremonienmeister zu denken gewohnt ist, freilich nicht recht schicken mochten. Derlei heitere kleinere Kreise sah der Speisesalon im Erdgeschosse nicht selten. Da wurden auch oft gelehrte, schöngeistige Männer (z. B. Frh. v. Littrow) mit herangezogen und wurde auch mancher Schabernack gegen diese und jene militärische Landratte ausgedacht und ausgeführt. Hatte die gute Laune länger angehalten, was bei dem raschen Stimmungswechsel, dem Maximilian oft anheimgegeben war, nicht jedesmal der Fall gewesen, so wurde die reizende Yacht „Phantasie“ geheizt und die Gesellschaft schwamm dann mit ihr die Adria hinaus. Was war diese „Phantasie“ auch für ein liebliches Schiffsgebilde! Leicht, schmuck, elegant, ein echtes Kind jener englischen Rheder, die solche Luxusschiffe erzeugen. Und wie lieb war sie dem Prinzen! Hatte ihn doch ihre erste um zwei Tage verspätete Ankunft im Hafen von Triest im Jahre 1856 beinahe krankhaft erregt, eine Erregtheit die dem Befehlshaber der Yacht, dem armen Grafen Michielli, seine Stellung in der Marine und bald darauf den Verstand gekostet hat. Auf der „Phantasie“ ward auch so manche Wonnenacht an der Seite Charlottens verträumt, so manche der Nachtfahrten, die der Erzherzog im stimmungsvollen Liede besungen. Däuchte ihm doch in solchen Stunden ihr „leicht Gebäude“ eine ganze Welt:
„Voll Frohsinn, Frieden, Lebensfreude,
Die all sein Um und Auf enthält.“ –
Wohin wir auch immer sehen mögen, in den Laubgang oder in die verschlungenen Parkgänge, in das niedliche Gartenhäuschen, auf die Terrasse oder in das Cajütenzimmer, in den Ceremonien- oder kleinen Speisesaal, in das Thurmwartzimmer oder in die schöne Bibliothek, überall in Miramar hat in den vielen Tagen, die von 1857 bis zum Juli 1864 in’s Küstenland gegangen, das Glück gewohnt, bis es des Corsen gleißnerische Locksprache von dannen gescheucht, bis Charlotte und Maximilian den mexicanischen Argonautenzug an jenem unheilvollen Sommertage angetreten, da ein kleiner Kreis Theilnehmender das glückliche Paar zum letzten Male die Stufen der zum Hafen führenden Treppe von Miramar hinabsteigen gesehen, Alle voller Theilnahme für den Erzherzog und die Erzherzogin, Niemand für den Kaiser und die Kaiserin von Mexico.
Was ist heute von all’ dem Glück noch übrig? Der eine Theil desselben liegt mit durchlöcherter Brust in der Kapuzinergruft zu Wien, der andere aber gehört nur noch scheinbar dem Leben an und irrt sinnverwirrt in den Sälen des belgischen Schlosses Tervueren umher, alltäglich einen Speisezettel schreibend, auf dem als seltener Braten consequent „Maréchal Bazaine à la sauce blanche (!!)“ figurirt.
Wie lautet doch eines der „Aphorismen“ Maximilians?
„Jeder Mensch hat seinen Privatwahnsinn, und der ihn nicht hätte, trüge nicht als Motor zur Weltbewegung bei.“ Scheint es nicht, als habe Maximilian wie in der Vorahnung des Privatwahnsinns „Mexicanisches Kaiserreich“ dies niedergeschrieben?
Nr. 6. Die Conservatoristin.
An einem stürmischen Decemberabende des Jahres 187* hatte mich wiederum einmal die Reihe getroffen, als Wachhabender der vierten Abtheilung eine Nacht im alten berühmten und berüchtigten Gebäude am Molkenmarkte zu verleben. Schon ging es stark auf zehn Uhr, und ich legte die letzte der vorliegenden Arbeiten als erledigt bei Seite; da ich für einige Augenblicke frei war, so packte ich mein frugales Abendbrod, zwei belegte „Schrippen“, aus, wozu mir mein alter, langjähriger Untergebener, der Criminalschutzmann G., eine „kleine Weiße“ vom Restaurateur gegenüber, dem Lieferanten sämmtlicher Beamten des Polizeipräsidiums, besorgen sollte. Im Begriffe, dem im Vorzimmer wartenden G. einen dahin gehenden Auftrag zu ertheilen, öffnete sich die Thür, und er selbst trat mit Papieren in der Hand bei mir ein.
G., bereits fünfzig Jahre im Dienste und das Urbild eines rüstigen, echten, mit Spreewasser getauften „Berliner Kindes“ der alten Zeit, war ein Original durch und durch.
Da auch ich beinahe eine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit hinter mir hatte, so bestand zwischen uns ein sehr gutes Verhältniß, ja eine gewisse Vertraulichkeit, die G. indessen nie in Gegenwart von Fremden durchblicken ließ. Vielmehr beobachtete er dann stets ein „strammes“ dienstliches Benehmen, „so wie es einem Untergebenen seinem Vorgesetzten gegenüber zukommt,“ meinte er nach alter Soldatenweise.
„Entschuldigen Sie, Herr Commissar,“ begann G., als er mich mit der „Schrippe“ in der Hand erblickte, „wenn ick Ihnen jrade wieder bei det Essen störe, aber et is mit dem ‚jrünen Aujust‘“ (so nennt nämlich der Berliner Volkswitz die grün angestrichenen Wagen, in welchen die auf den Wachen der verschiedenen Polizeireviere Eingelieferten zur Untersuchung oder zum Gewahrsam nach dem Molkenmarkte gefahren werden) „noch soeben eene ‚Dame‘ anjekommen, die von det zweite Revier wejen Diebstahls einjeliefert wird. Sie sitzt draußen uff de Bank, wie die reene Unschuld, aber wir kennen des schon, uns streut keene mehr Sand in die Oogen. Hier is noch der Bericht von ’n Herrn Revierleutnant; ick werde ihn uff Ihren Platz lejen, Herr Commissar; essen Sie man jetrost erst Ihre ‚Schrippen‘. Ick kann Ihnen wohl noch ’ne ‚kleene Weiße‘ dazu holen? Die da draußen hat ja noch ’n Bisken Zeit un sitzt sich keene Hühneroogen nich.“
So plaudernd verließ der Alte das Zimmer, während ich, den Rest meines Mahles für später bei Seite packend, den Bericht zur Hand nahm; er lautete: „Frau von S., Oberin des adeligen Fräuleinstiftes in der C.-Straße, hat zu Protocoll erklärt: Bereits heute vor acht Tagen bemerkte ich in den Abendstunden, daß aus meinem Portemonnaie, welches ich auf der Kommode in dem von mir allein bewohnten Zimmer im ersten Stockwerke meines Hauses hatte liegen lassen, zwei Fünfundzwanzig-Thalerscheine fehlten. Ich selbst war in der Nebenstube beschäftigt gewesen, und Niemand hatte inzwischen mein Wohnzimmer betreten, außer der französischen Lehrerin Alice R. und deren Freundin Margot B., welche die Erstere zu einem Spaziergange abholte. Fräulein R. kam zu mir in’s Nebenzimmer, um mir von dem beabsichtigten Spaziergange Mittheilung [869] zu machen, während die andere junge Dame wenige Minuten allein blieb.
Fräulein R. ist seit sechs Jahren als französische Lehrerin in unserem Stifte thätig, und schenkte ich derselben mein volles Vertrauen. Ich schwieg von der Sache, vergaß sie indessen nicht, sondern zeichnete mir einen anderen Fünfundzwanzig-Thalerschein ganz genau und trug denselben während der verflossenen Woche mit mir im Portemonnaie herum.
Am heutigen Nachmittage erschien Fräulein B. wiederum, um Alice zu verschiedenen Besorgungen in der Stadt abzuholen. Ich war in meinem Zimmer am Schreibtische mit Ordnen von Rechnungen beschäftigt, während mein Schlüsselkorb mit dem Portemonnaie im Salon, welchen Jedermann durchschreiten muß, um zu mir zu gelangen, auf dem Claviere stand. Fräulein R. trat in mein Zimmer, um mir anzuzeigen, daß sie ihre Freundin auf einige Stunden begleiten werde, während Fräulein B. im Salon verblieb. Ich trat an’s Fenster, und als die Damen das Haus verlassen, eilte ich in den Salon, öffnete mein Portemonnaie – der gezeichnete Schein fehlte!!
Schnell entschlossen, zog ich die Glocke und schickte den eintretenden Diener eilig dem Fräulein R. nach. Ich ließ sie bitten mit ihrer Gefährtin auf einige Minuten zurückzukehren. Bald erschienen beide Damen bei mir, und ich theilte ihnen mit, daß mir seit acht Tagen fünfundsiebenzig Thaler, in drei Fünfundzwanzig-Thalerscheinen entwendet seien, und zwar jedesmal, wenn Fräulein B. Fräulein R. besucht hätte, und daß ich mich gezwungen sehe, der Polizei die Anzeige zu machen und Fräulein B. verhaften zu lassen, da ich nur sie in Verdacht habe.
Alice war vor Schreck halb wahnsinnig über das Verbrechen ihrer Freundin, während Fräulein B., die Angeklagte selbst, mit der größten Ruhe und Dreistigkeit bestritt, jemals aus meinem Zimmer etwas entwendet zu haben. Leider muß ich die Sache der Polizei zur weiteren Untersuchung übergeben, und hat der Schutzmann P. Fräulein B. von meinem Hause abgeholt und zur Wache des 2. Polizei-Reviers abgeführt.
Berlin, den 6. December 187..
Der Schutzmann erklärt zu Protokoll:
Heute Nachmittag vier Uhr rief man mich zu der Frau Oberin von S., woselbst ich die Angeklagte Fräulein B. vorfand, welche mir als des Diebstahls eines Fünfundzwanzig-Thalerscheins dringend verdächtig bezeichnet wurde. Fräulein B. leugnete hartnäckig, den Schein entwendet zu haben, und betheuerte fortwährend ihre Unschuld, da aber alle Indicien gegen sie waren, so sah ich mich genöthigt, sie zur Wache des 2. Polizei-Reviers zu sistiren. Auf dem Wege dorthin zeigte mir Fräulein B. ihr Portemonaie, in welchem sie ungefähr zehn Thaler in Silber und Papier bei sich führte, jedoch keinen Fünfundzwanzig-Thalerschein. Auch bat sie mich, hinter ihr zu gehen, damit ich bemerken könne, ob sie irgend etwas von sich werfe. Dies that ich auch, habe aber nicht gesehen, daß die Angeklagte sich irgend eines Gegenstandes entledigte. Weiter habe ich nichts anzuführen.
Berlin, den 6. December 187..
Der Bericht schloß mit den gewöhnliche Formen, und fand ich, Alles in Allem erwägend, daß die Sache allerdings nicht sehr günstig für Fräulein B. lag.
Mein alter G. hatte mir inzwischen die „kleine Weiße“ in’s Zimmer gebracht, leise auftretend, da er mich im Lesen vertieft fand, und nachdem ich meinen trockenen Gaumen durch den kühlen Trank erfrischt, klingelte ich und ließ die Angeklagte vorführen.
Bleich wie der Tod, trat mit gesenkten Blicken ein schlankes Mädchen von angenehmen Formen und in gewählter, aber prunkloser Kleidung in mein Zimmer, der mein criminalistisch geübtes Auge sofort ansah, daß, wenn sie den Diebstahl wirklich begangen habe, er jedenfalls ihr erster Schritt auf der Verbrecherlaufbahn sei.
Mit großem Ernst, doch ohne Härte redete ich sie an und ermahnte sie eindringlich, nicht durch hartnäckiges Leugnen ihre Sache zu verschlimmern, sondern offen und wahr einzugestehen, daß und auf welche Weise sie der Frau von S. das Geld entwendet habe. Fräulein B. blickte auf, und ich sah in zwei tief dunkle Augen von großer Schönheit, die mit traurigem Ausdruck auf mir ruhten. Hoch erröthend stand sie da, als ich sie scharf und forschend fixirte.
Mit angenehmer sonorer Stimme erwiderte sie endlich, indem zwei große Thränen langsam die wieder bleich gewordenen Wangen herabrollten: „Auch Ihnen, Herr Commissarius, kann ich nichts anderes eingestehen, als was ich bereits seit dem schrecklichen Augenblicke gesagt habe, wo mir dieses Verbrechen zur Last gelegt wurde – ich bin unschuldig an demselben. Offen und wahr will ich Ihnen von mir und meiner heutigen Lage im Hause der Frau von S. erzählen. Vielleicht finden Sie darin etwas, was Licht in diese dunkle Sache bringt und die Schande von einer Unschuldigen abwälzt. Ich heiße Margot B. und bin die Tochter eines begüterten Grundbesitzers in der Nähe von Genf. Seit einem Jahre halte ich mich hier in Berlin auf, um Musik zu studiren, und wohne im Damen-Pensionat der verwittweten Majorin A. in der K.-Straße. Seit drei Monaten bin ich, unter Zustimmung meiner Eltern mit dem Musikdirector F. verlobt. Fräulein R. kenne ich aus einem Genfer Institut, in welchem sie Lehrerin, ich Schülerin war.
Als ich nach Berlin kam, suchte ich sie in dem adligen Fräuleinstift der Frau von S. auf, woselbst sie seit sechs Jahren Lehrerin ist, wurde auch freundlich von ihr aufgenommen und der Oberin vorgestellt. Wir verkehren seit diesem Tage, soweit ihre und meine Zeit es erlaubt.
Heute vor acht Tagen kam ich zu ihr, um sie zu einem Spaziergange abzuholen, wozu sie auch bereit war. Sie kleidete sich an, und wir gingen in’s Wohnzimmer der Oberin, welcher Fräulein R. jedes Mal Mittheilung machen muß, wenn sie das Stift verläßt. Wir fanden Frau von S. nicht in ihrem Zimmer, hörten sie aber in der Nebenstube mit den Stühlen rücken. Ich blieb in ersterem, während Fräulein R. zu ihr hinein ging. Wir hatten bereits den Salon verlassen, nachdem meine Freundin zu mir zurückgekehrt war, als Letztere plötzlich ausrief: ‚O, ich habe etwas vergessen; warten Sie, bitte, einen Augenblick!‘ Dann lief sie schnell durch den Salon in das Wohnzimmer der Oberin zurück, während ich im Corridor wartete, woselbst sie mich nach wenigen Secunden wieder traf. Wir machten darauf einen weiten Spaziergang durch den Thiergarten und kehrten Jede in ihre Wohnung zurück.
Im Laufe der Woche kam Fräulein R. eines Abends in unser Pensionat, um der Inhaberin, Majorin A., von der sie sich im October fünfzig Thaler geliehen hatte, dreißig davon zurückzubringen, und machte mir dabei den Vorschlag, am heutigen Tage mit ihr kleine Einkäufe zur Weihnachtsbescheerung zu besorgen, was ich auch zu thun versprach.
Zu diesem Zwecke begab ich mich heute Nachmittag zwischen drei und vier Uhr zu ihr. Ich fand sie in ihrem Zimmer, meiner harrend, und wir gingen wie gewöhnlich zu der Oberin hinüber. Dieselbe war in ihrem Wohnzimmer am Schreibtisch beschäftigt; ich machte ihr nur mein Compliment und trat in den Salon zurück und dann auf den Corridor hinaus, da Fräulein R. noch einige Minuten mit der Dame sprach. Alsdann trat sie etwas eilig zu mir heraus, die ich bereits die Treppe erreicht hatte.
Als wir ungefähr zwanzig Schritte vom Hause entfernt waren, kam uns ein Diener athemlos nachgelaufen, mit der Aufforderung, zurückzukehren; wir folgten, und beim Eintritt in das Zimmer der Oberin wurde mir von derselben der furchtbare Vorwurf gemacht: ‚ich habe sie bestohlen‘.“
Hier schlug das junge Mädchen schluchzend beide Hände vor’s Gesicht, und nachdem sie wieder etwas ruhiger geworden war, setzte sie hinzu. „Ich habe Ihnen nun Alles der Wahrheit gemäß erzählt, Herr Commissarius, und will nur noch die Bitte hinzufügen, nehmen Sie sich meiner an, daß meine Unschuld an’s Tageslicht kommt, denn ich bin gewiß keine – Diebin.“
Ich mußte mir eingestehen, daß ich vom ersten Augenblicke an, da ich sie sah, ein ungewöhnliches Interesse für die junge Dame gefühlt hatte, doch ich war bereits im Dienste alt geworden und meinem Grundsatze treu geblieben, mich nie vom äußeren Scheine bestechen zu lassen.
Ich verriet der Angeklagten daher auch nicht, daß ich wohl zu ihren Gunsten gestimmt sei, sondern ermahnte sie nochmals eindringlich, die Wahrheit zu gestehen, um ihre Strafe [870] nicht durch Leugnen noch zu erhöhen, sie aber blieb dabei. „Ich bin vollkommen unschuldig.“
„Wenn Sie gar nichts einräumen wollen, mein Fräulein, so ist es meine Pflicht, Sie untersuchen zu lassen, ob Sie das Geld irgendwo bei sich am Körper versteckt haben,“ sagte ich ihr darauf.
„Auch dazu bin ich bereit, überhaupt zu Allem, was diesen schrecklichen Verdacht von mir nehmen kann,“ erwiderte sie ruhig.
Ich ließ die Angeklagte in das Zimmer führen, wo eine Frau die des Diebstahls verdächtigen weiblichen Gefangenen vollständig entkleiden muß, um zu untersuchen, ob dieselben irgend etwas versteckt am Körper bei sich tragen. Nach einer Viertelstunde brachte der alte G. das Fräulein zurück mit der Meldung: „Nich det Jeringste nich jefunden.“
Trotzdem durfte ich die Angeklagte noch nicht entlassen und beauftragte den G., sie zur Isolirhaft nach der Hausvogtei hinüber zu führen, was auch seinerseits geschah.
Inzwischen war die Zeit schnell dahingegangen, und ich beschloß, die noch übrigen Nachtstunden auf meinem Ruhebette zu verbringen, doch ging mir die Sache fortwährend im Kopfe herum, und ich dachte hin und her, ob nicht doch ein Anderer diesen Diebstahl begangen haben könnte, da ja eine Menge Dienstboten etc. im Stifte wohnten. Endlich senkte sich ein kurzer Schlummer auf meine müden Lider, in dessen unruhige Träume mir das soeben Erlebte folgte; ich sah die großen dunklen Augensterne der unglücklichen Margot immerfort bittend auf mich gerichtet. –
Am nächsten Morgen meldete mir mein alter G. die Frau Majorin A. und führte gleich darauf eine höchst respectabel aussehende Dame in den fünfziger Jahren in mein Zimmer.
„Um Gottes willen, Herr Commissarius, was ist aus dem armen Mädchen geworden?“ rief die Dame nach den üblichen Begrüßungen in größter Aufregung aus. „Es ist ganz unmöglich, daß sie eine Diebin ist. Die Frau von S. hat mir die Sachlage brieflich noch gestern Abend mitgetheilt, und nur meine häuslichen Angelegenheiten und die einbrechende Nacht hielten mich ab, hierher zu eilen, um mich als Bürgin dafür zu stellen, daß das Fräulein B. vollständig unschuldig ist, und jedenfalls nur ein falscher Verdacht die Unglückliche belastet. Eine Diebin, sie, deren Angelegenheiten so wohl geordnet sind und die von den Eltern so reichlich mit Geld versehen wird!“
Schweigend zuckte ich die Achseln.
„Herr Commissarius, Sie glauben doch nicht, die arme Margot habe diesen Diebstahl wirklich begangen?“ rief die Dame entsetzt aus.
„Frau Majorin, wir Leute von der Polizei sind genöthigt, die mit einem Verdachte Belasteten so lange für schuldig zu halten, bis der wahre Thäter entdeckt ist,“ entgegnete ich.
„Das arme unglückliche Kind!“ flüsterte die Majorin, während sich ihre Augen mit Thränen füllten.
Ich verhielt mich allen diesem Exclamationen gegenüber als ruhiger Beobachter. Plötzlich fuhr die Dame von ihrem Sitze auf, trat zu mir heran und sagte mit Energie:
„Wissen Sie auch, mein Herr, daß sich mein Verdacht auf eine ganz andere Person richtet?“
„Welche Person wäre dies und welche Anhaltspunkte haben Sie für Ihren Verdacht?“
„Das französische Fräulein im Internat der Frau von S. ist stets mit ihren Geldverhältnissen in Unordnung, und auf sie richtet sich mein Argwohn. Ihre sehr elegante Toilette kostet ihr viel, auch weiß ich bestimmt, daß sie einem Vetter, der ein Verschwender ist, den sie aber liebt, häufig Unterstützungen nach Genf schickt. Ich selbst habe ihr auf ihre Bitten im October fünfzig Thaler geliehen, von denen sie mir in der vergangenen Woche plötzlich dreißig zurückbrachte, ohne daß sie irgend welche Einnahme hat haben können, da das Gehalt der Lehrerinnen im Stift nur vierteljährlich bezahlt wird. Das verschwundene Geld dürfte eher bei ihr zu suchen sein als bei Margot, und ich bitte Sie dringend, Herr Commissarius, thun Sie augenblicklich Schritte, dieses Verbrechen aufzuklären, die wahre Schuldige zu ergreifen, Margot zu befreien! Jeder Augenblick, den sie in der Haft schmachtet, erscheint mir als ein Verbrechen gegen die Unschuldige.“
Aufmerksam war ich der langen Rede gefolgt, und gestand der Frau Majorin jetzt ein, daß ich selbst bereits Verdacht geschöpft habe, die Französin sei die wirkliche Diebin. Die Inhaftirung Unschuldiger kommt leider ja so oft vor, und noch ist kein Mittel gefunden, diese wunde Stelle im Strafverfahren zu heilen. Sofort erließ ich eine Depesche an das 2. Revier, mir die Französin R. zur vierten Abtheilung zu sistiren. Das arme, vielleicht unschuldige Mädchen wurde sofort aus der Haft befreiet. Das Wiedersehen der Majorin und Margots war ein sehr bewegtes, ich sprach ihnen Trost zu und die Hoffnung aus, daß sich Alles bald aufklären werde. Binnen einer Stunde wurde die Französin in mein Zimmer geführt, während der sie begleitende Beamte mir noch einige Worte zuflüsterte. Es war eine kleine untersetzte Person von ungemeiner Lebendigkeit, mit unruhig blickenden, brennenden schwarzen Augen. Sie stürzte sich sofort mit offenen Armen auf die Gefangene und sagte in einem Gemisch von schlechtem Deutsch und ihrer Muttersprache: „O, Himmel, meine arme Kind, ma pauvre Margot!“ Fräulein B. wies sie indessen mit ernsten Blicken von sich und zog sich in den Hintergrund des Zimmers zurück.
Jetzt trat ich vor und ersuchte die Französin, mir den Hergang der gestrigen Affaire im Stift der Frau von S. ganz genau zu schildern was sie auch ziemlich übereinstimmend mit dem von der Angeklagten bereits Gesagten that.
Darauf fragte ich: „Sie leben in guten Geldverhältnissen, mein Fräulein?“
„Oh, oui, monsieur, ick ’aben pour l’année fünfhundert Thaler.“
„Und können Sie alle Ihre Ausgaben davon bestreiten?“
„Ah, sickerlich!“ rief sie lebhaft aus.
„Also fehlt Ihnen niemals Geld?“
„Non, jamais.“
„Und dennoch behauptet die hier anwesende Frau Majorin A., Ihnen im October dieses Jahres fünfzig Thaler geliehen zu haben. Ist es so?“
„Madame A.? gewiß – ah, c’est vrai – gewiß, darauf ’aben ick ganz vergessen,“ sagte sie nach einigem Nachdenken mit erzwungenem Lachen.
„Sie brachten der Dame in der letzten Woche davon dreißig Thaler zurück?“
„Oui – gewiß, trente écus,“ erwiderte sie etwas kleinlaut.
„Hatten Sie inzwischen denn besondere Einnahmen gehabt, so daß Sie im Stande waren, Ihre Schuld zu tilgen, noch bevor Sie das Vierteljahrs-Gehalt bekamen?“
„Ah, sickerlich! Ick ’aben erhalten ein présent von hondert écus von eine Freundin.“
„Und wo befindet sich diese Freundin?“ forschte ich weiter.
„Meine Freundin? ah oui – gewiß, diese Dame ist – à Cassel;“ versetzte sie in einiger Verlegenheit.
„In Cassel also; nun, da sind Sie wohl so gut, die genaue Adresse Ihrer Freundin anzugeben?“ sagte ich, ein Blatt Papier zurechtlegend, mit der Feder in der Hand.
„Mais à quoi? – aber warum, monsieur?“ forschte sie, ängstlich auf mich zu tretend.
„Nun, damit ich sogleich telegraphisch bei der Dame anfragen kann, ob sich die Sache auch so verhält,“ antwortete ich kühl.
Entsetzt starrte sie mich an und stotterte: „L’adresse – oh, mon dieu! Ick nicht weiß gewiß, ob diese Dame sich befinden noch à Cassel …“
„Wenn aber Ihre Freundin Ihnen ein so reiches Geldgeschenk sendet, so werden Sie ihr doch gewiß dafür brieflich Dank sagen und müssen die Adresse wissen,“ warf ich ein, sie scharf fixirend.
„Oh, mon dieu – mon dieu, quel malheur!“ rief sie aus, die Hände vor’s Gesicht schlagend.
Ich trat hart an sie heran und sagte strenge: „Mein Fräulein, ich sehe kein so großes Unglück für Sie darin, mir die Adresse Ihrer Freundin zu sagen; wenn dieselbe irgendwo existirt, so würden Sie durch eine Anfrage bei derselben vielleicht bald dieses peinlichen Verhöres ledig; indessen,“ fügte ich mit erhobener Stimme hinzu, „fürchte ich, diese Freundin existirt überhaupt – nicht, und es regt sich der Verdacht in mir, als haben Sie das Geld von Niemand zum Geschenk erhalten, [871] sondern haben es Jemand – entwendet. Wahrscheinlich ist nicht Fräulein B. die Diebin, sondern Sie …“
Jedes meiner Worte traf die Französin wie ein Keulenschlag; sie fiel auf einen Stuhl und krümmte und wand sich, wie in großen Schmerzen, dabei ausrufend: „Oh non, non, ick ’aben nichts – oh mon dieu, mon dieu, sauvez-moi, retten mick, retten mick!“
Ich war jetzt vollständig überzeugt, daß nur sie die Diebin war, glaubte sogar, daß sie das Geld noch bei sich führte, zumal mir der sie begleitende Beamte zugeflüstert, daß sie unterwegs in ein Haus getreten sei, vorgeblich um ein Band fester zu schürzen. So ließ ich sie denn ohne Säumen, trotz ihres hysterischen Schluchzens, von G. zur Untersuchung abführen, und nach Verlauf einer halben Stunde brachte mir derselbe triumphirend den gezeichneten Fünfundzwanzigthalerschein der Frau von S., welchen die Französin im Strumpf bei sich versteckt hatte; das alte Original flüsterte mir mit schmunzelndem Lächeln zu: „Von die hat de Müller’n noch jenug Schererei schabt, Herr Comm’ssar. Det scheint mich ’ne ‚Feine‘ zu sein.“
Somit war die Französin vollständig des Diebstahls überführt, den sie denn auch offen eingestand. Sie sagte zu ihrer Entschuldigung, daß sie durch die fortgesetzten beträchtlichen Unterstützungen an ihren verschwenderischen, doch glühend von ihr geliebten Vetter in Genf fast vollständig von allen Mitteln entblößt und auf den wahnsinnigen Gedanken gekommen sei, sich durch einen Griff in die Casse der Oberin zu helfen, welche That ihr dadurch erleichtert sei, daß die Dame einige Male größere Summen im Portemonnaie bei sich geführt.
Ehe die Französin zur Haft gebracht wurde, machte sie den Versuch, Fräulein B. um Verzeihung zu bitten; doch diese wies sie mit den Worten ernst von sich: „Ich werde mich bemühen, Sie und die bitteren Stunden, die Sie mir bereitet, zu vergessen.“ Die Augen mit den Händen bedeckend, verließ die R., vollständig gebrochen, das Zimmer.
Wer aber nahm von der unschuldigen Margot das beschämende Gefühl, für eine Diebin gegolten zu haben? Wer entschädigte sie für die Qualen, die sie gelitten? Wer löschte die bittere Erinnerung aus ihrem jungen Herzen: „Du hast eine Nacht im Gefängniß gesessen“? Niemand.
Während der letzten Vorgänge war die Oberin von S. angelangt, welche, durch die Verhaftung ihrer Lehrerin sehr erschreckt, in großer Aufregung deren Entfernung zur Haft beiwohnte. Die alte Dame war ganz außer sich über das Geschehene, schalt sich selbst ob ihres falschen Verdachtes und bat Fräulein B. herzlich um Vergebung. Das tief gekränkte Mädchen vermochte indessen nicht viel zu sprechen und sagte nur mit sanfter Stimme:
„Ich zürne Ihnen nicht, Frau Oberin. Sie konnten nicht anders handeln. In der Ferne werde ich das Erlebte vergessen lernen.“
„So leben Sie wohl!“ erwiderte Frau von S., ihr die Hand reichend, „und verzeihen Sie mir, wenn Sie können! Der Schein trügt ja so oft. Habe ich doch auch noch die traurige Erfahrung gemacht, von derjenigen betrogen zu sein, der ich mein ganzes Vertrauen schenkte.“
Margot lächelte schwach mit stummen Lippen, und die alte Dame empfahl sich still und betrübt.
An der Thüröffnung aber erschien jetzt eine hohe, kräftige Männergestalt und begrüßte die Angeklagte mit den Worten: „Meine arme unschuldige Margot!“ Sie stürzte sich laut schluchzend in die Arme, die sich ihr entgegenstreckten. Ich aber wußte nun, welche Macht die geschlagenen Wunden heilen werde – die der Liebe.
Es war eine stille, heilige Minute für die drei Menschen. Ich alter Knabe, der ich in den langen Jahren einer düstern Thätigkeit doch bereits den ergreifendsten und haarsträubendsten Scenen beigewohnt hatte und daher nicht leicht zu rühren bin, mußte eine Thräne im Auge zerdrücken, als ich das arme bleiche Mädchenbild anschaute.
Die guten Menschen beeilten sich, mir für die Freundlichkeit gegen die unschuldig Angeklagte zu danken, und kehrten dem traurigen Orte den Rücken, um draußen in der Freiheit aufzuathmen.
Als mein alter G. die Leute hinausgeleitet hatte; steckte er noch einmal seinen weißen Kopf durch die Thürspalte und sagte: „Ja, ja, Herr Comm’ssar, so kann Eener sich noch uff seine ollen Dage irren. Wie der Schein oft trügt! Nu jammert mir det junge Ding, dat des so unschuldig ’ne Nacht in solch olles Ratzenloch hat zubringen müssen. Aber den andern schwarzäugigen Satan wollen wir det schonst besorjen. Na, der Herr Staatsanwalt fackelt ja nich … sonst mit die muß sich Eener in Acht nehmen, denn det scheint mich, wie jesagt, ’ne ‚Feine‘ zu sind. – Na, weiter befehlen der Herr Comm’ssar woll für’n Ogenblick nichts?!“ – –
Unter den täglich wechselnden neuen Ereignissen kam mir das kleine Erlebniß mit der schönen Margot bald aus dem Sinne, und ich wurde erst wieder lebhaft daran erinnert, als mir am ersten Tage des neuen Jahres ein zierliches Briefchen mit dem Poststempel „Genf“ überbracht wurde, in welchem mir die vormalige Angeklagte nochmals ihren Dank aussprach und mir zugleich mittheilte, daß sie nach ihrer Entlassung sofort zu ihren Eltern gereist, wohin ihr der Bräutigam nach kurzer Frist gefolgt sei, nachdem er in Berlin seine Verbindlichkeiten gelöst habe. – Weiter las ich, daß der erste Weihnachtstag sie zur glücklichen Frau gemacht und sie sich jetzt auf dem Wege nach London befinde, woselbst ihr Gatte eine glänzende Stellung erhalten habe.
So prophezeite ich damals richtig, daß die Liebe der Balsam für Margot’s Wunden sein werde.
Die beklagenswerthe Französin büßte ihren Leichtsinn durch eine neunmonatliche Haft; sie fühlt ihr Unglück noch viel härter, seit sie weiß, daß der verschwenderische Vetter, für den sie zur Verbrecherin wurde, mit der leichtfertigen Frau eines reichen Banquiers aus Genf entflohen ist und sich nach Amerika eingeschifft hat, nachdem er sich in einem Briefe gänzlich von der früheren Geliebten losgesagt.
Von Schmidt-Weißenfels.
Bekannt ist die starke Neigung des schwäbischen Volksstammes zum Pietismus. Neben der Landeskirche bildet er eine sehr zahlreiche Gemeinschaft in Württemberg, und aus ihm heraus hat sich eine Anzahl eigener Secten gestaltet, deren Anhänger über das ganze Land und darüber hinaus verbreitet sind. Als vor nunmehr vierzig Jahren durch David Strauß’ Kritik des Lebens Jesu eine tiefgreifende Bewegung in der gebildeten und religiösen Welt hervorgerufen worden, wurde namentlich auch der württembergische Pietismus davon in Mitleidenschaft gezogen. War doch Strauß selber ein Württemberger, und ging seine die Wunder der Bibel verwerfende Lehre doch von der württembergischen Hochschule über die Christenheit! Ein Zetergeschrei erhob sich gegen den Verwegenen, eine neue Erregung kam in die pietistischen Kreise, und mit erhöhtem Eifer suchte man in ihnen nach einer befriedigenden Gestaltung eines glaubenskräftigen Lebens.
Es war damals, daß in Ludwigsburg, der Geburtsstadt von Strauß, ein Mann auftrat, welcher mit Begeisterung sich die Erneuerung der erlahmten pietistischen Partei als Aufgabe seines Wirkens stellte. Dieser Agitator hieß Christoph Hoffmann und war der Sohn des Gründers der nahe bei Ludwigsburg gelegenen pietistischen Gemeinde Kornthal. Mit zwei Gesinnungsgenossen, Beide Namens Paulus, gab er zunächst seit 1845 ein Wochenblatt „Die süddeutsche Warte“ heraus, welches den aufgeweckteren Theil der Pietisten und Kirchlichgesinnten sammeln und organisiren sollte. Wie bedeutend der Anhang und das Ansehen dieses Mannes in der Bürgerschaft war, zeigte sich im Jahre 1848, als die Wahlen zum deutschen [872] Parlamente stattfanden. Hoffmann wurde Strauß in Ludwigsburg gegenüber gestellt und siegte in der heißen Wahlschlacht über ihn. Er saß als einziger Vertreter des Pietismus in der Paulskirche zu Frankfurt. Seine lebhafte Phantasie erfaßte den hohen, schöpfungslustigen Freiheitsgeist jener Tage, der über die Menschheit gekommen war, und träumte von einer religiösen Wiedergeburt der deutschen Nation, unbeschadet ihrer politischen Auferstehung. Als er sich darin getäuscht sah, als dann auch die politischen Hoffnungen in frühen Herbst traten und entblätterten, da rettete sich die Entwickelungskraft Hoffmann’s in ein Eden, wo die Menschheit sich erneuern und zur wahren Glückseligkeit auf Erden gelangen könne. Er war der Ueberzeugung, daß dies nur möglich sei, wenn die Prophezeiungen der Bibel zur alleinigen Richtschnur des Lebens genommen würden und die christliche Gemeinschaft durch Rückkehr zu der Einfalt und Gläubigkeit der Apostel des verheißenen tausendjährigen Reiches sich würdig erweise.
Mit Schrift und Wort warb er nun für seine Meinung. Alles bestehende Christenthum erschien ihm entartet, der Pietismus verworren, alle socialen Mißstände führte er auf diese geistige Zerrüttung zurück. Was einzig retten könne, sei der Aufbau eines Tempels, das heißt die Bildung einer unabhängig von den Kirchen, auf rein christlicher Grundlage organisirten Gesellschaft, ähnlich der ersten Christengemeinde, mit einer äußeren Lebensordnung nach dem Vorbilde des Volkes Israel in seiner besten Zeit und mit der festen Glaubenskraft desselben. Da die heilige Schrift Jerusalem und das umliegende Land als den Ort der Erde bezeichnet, von wo diese rein biblische Lebensordnung ihren Ausgang nehmen müsse, so richtete er auch seine Blicke auf Palästina. Dort sollte das erste Christenthum durch ihn in lebendiger Gestaltung neu erstehen.
In der That fand schon 1849 diese Idee ihre Anhänger in Ludwigsburg und wurde fortan mit Erfolg weiter in pietistische Kreise getragen. Die Zeitschrift „Süddeutsche Warte“ erklärte sich im Juli 1853 sogar als besonderes „Organ für die Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem“, und ein Jahr später war die Anhängerzahl so groß, daß sie sich als Gemeinde constituiren konnte und Hoffmann mit einem der Paulus, mit Hardegg und dem bald darauf verstorbenen Höhn als freiwilliger Ausschuß derselben zusammentrat.
Ihrem Plane gemäß richtete die Gesellschaft des „Neuen Tempels“, wie sie sich nannte, 1854 eine mit vierhundertneununddreißig Unterschriften versehene Bittschrift an den Bundestag, daß dieser sich bei der türkischen Regierung dafür verwende, der Gesellschaft zu ihrer Uebersiedelung in’s gelobte Land Ackergebiet um billigen Preis zu verkaufen und ihr Schutz zu gewähren. Der Bundestag lehnte das Gesuch ab. Zeigte sich nun auch die Ausführung der Hauptidee schwierig, so verzichtete man doch keineswegs darauf. Man gelobte sich Treue der gläubigen Ueberzeugung und faßte sich in Geduld. Um aber einen Anfang mit der äußeren Lebenseinrichtung nach biblischen Vorschriften machen zu können, die Idee überhaupt erst in die Wirklichkeit zu übertragen, legte ein Theil der Secte unter Hoffmann im Jahre 1856 eine Niederlassung auf dem um vierzigtausend Gulden erworbenen Kirschenhardthof bei Marbach am Neckar, Schiller ’s Heimath, an. Sie bildete fortan gleichsam die Vorbereitungsschule für die eigentliche Bestimmung der Mitglieder des „Neuen Tempels“, die in der Ansiedelung in Palästina erblühen sollte.
Denn darauf hielt man den Blick sehnsuchtsvoll gerichtet. Schon 1858 waren so viele Mittel gesammelt, daß drei Männer als Kundschafter nach Palästina gesandt werden konnten, die mehrere Monate lang das Land durchforschten, um zu erklären, „in wiefern es für die in der Weissagung ihm bestimmte Aufgabe tauge, der Anfangspunkt des Reiches Gottes auf Erden zu werden“. Der Bericht war wenigstens soweit aufmunternd, daß er eine Ansiedelung daselbst „nur von einer für die großen Zwecke der Weissagung organisirten Gesellschaft“ als erfolgreich hinstellte. Als solche betrachtete sich aber die Secte entschieden, und um es zu bekräftigen, faßte sie in einer Versammlung auf dem Kirschenhardthofe im Juni 1861 den Beschluß, aus der württembergischen Landeskirche auszutreten, sich auch von dem sie befehdenden Pietismus loszusagen und als selbstständige religiöse Gesellschaft unter dem Namen „Deutscher Tempel“ ihre Zwecke zu verfolgen. Es waren damals an dreitausend Seelen, die sich dazu in Württemberg vereinigten; abgesehen von einzelnen Gesinnungsgenossen in den übrigen deutschen Ländern, in der Schweiz, in Südrußland und Nordamerika, zumeist dort hingewanderte schwäbische Verwandte, die in anderen Secten die gesuchte religiöse Befriedigung nicht gefunden haben mochten. Die „Süddeutsche Warte“ unterhielt die geistige Verbindung mit diesen entfernteren Mitgliedern, die sich auch wohl Freunde Jerusalems nannten.
Auf dem Kirschenhardthofe rüstete man sich unterdessen ernstlich, den Zug in’s gelobte Land zu unternehmen und dort eine neue, beglückende Heimath zur Vorbereitung des einst zu erwartenden Paradieses zu gründen. In einer besonderen Schule wurden junge Männer zu Evangelisten ausgebildet, deren Aufgabe in der Ausbreitung der Ideen des „Tempels“ bestand. Vier derselben gingen nach Palästina vorauf, um die arabische Sprache zu lernen und sich mit den Verhältnissen des Landes so vertraut zu machen, daß sie ihren nachfolgenden Genossen mit Rath und That zu Hülfe kommen konnten. Von einer Rettung der christlichen Gesellschaft in Europa hoffte man Nichts; man gab sie verloren. Doch destomehr wuchs das Verlangen, sich auch von dem politischen und gesellschaftlichen Verband mit ihr möglichst loszulösen. Mit Ausbruch des Krieges von 1866 sah man in diesem Kreise die schlimmsten Befürchtungen sich erfüllen, ein unheilvolleres Elend über Deutschland hereinbrechen. Wie in einer Flucht davor brachen mehrere schwäbische Familien ihre Hausstände ab und wanderten nach Palästina aus. Kaum aber, daß sie in der Ebene Jesreel es zum Anfang einer Ackerbau-Colonie gebracht hatten, als die meisten der Ansiedler den Einflüssen des Klima’s und den ungewohnten Anstrengungen erlagen.
Diese traurige Erfahrung erschütterte gleichwohl die Zuversicht der Gesellschaft nicht. Nach wie vor belebte sie der Gedanke einer Uebersiedlung nach Palästina. In einer Versammlung der Aeltesten und Leiter, im März 1868, kam es denn zu dem Beschlusse, daß zwei der Vorsteher nach dem gelobten Lande ziehen sollten, um Quartier für eine lebensfähige Colonie zu machen. Es waren Hoffmann und Hardegg, die diese Reise unternahmen, der Eine, um einen Missionsposten in Palästina zu errichten, der Andere, um die materiellen Angelegenheiten zu besorgen. Ihre Familien nahmen sie mit sich. Es schreckte sie nicht ab, daß ihr Vorhaben nichts weniger als freundlich von den türkischen Behörden aufgenommen wurde, daß eine Menge von Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten sich ihnen entgegenstellten. Sie untersuchten das Land und bestimmten dann Haifa als ersten Ansiedlungsort, bald hernach durch zufällig in Jaffa sich darbietende Erwerbung von Grundstücken einer dort wieder eingehenden nordamerikanischen Secte auch diese Stadt zum gleichen Zwecke.
In kleinen Abtheilungen ging dann die Auswanderung der Gläubigen aus Württemberg vor sich, zumeist mit Familien. Jahr um Jahr zogen neue Ansiedler an und richteten sich mit ihren Gewerben oder Ackerbauwirthschaften in dem Lande ihrer Sehnsucht, trotz herber Enttäuschung über Natur und Zustände daselbst, ein, und zwar ein Theil in Haifa, ein anderer in Jaffa, etliche in Jerusalem selbst, in Nazareth und Ramle, in Beirut, Alexandrien und Constantinopel; für speciell Ackerbau treibende Familien wurde sogar eine Stunde von Jaffa eine neue Colonie angelegt, die den Namen Sarona erhielt.
Sechs Jahre lang bestanden die Ansiedlungen unabhängig neben einander, dann aber machte sich das Bedürfniß einer einheitlichen Leitung derselben geltend. Unter den Hauptgründern der Gesellschaft war freilich der Zwist so tief geworden, daß Hardegg wieder nach Deutschland zurückging und sogar aus der Tempelgesellschaft austrat. Aber statt seiner kam 1873 Christoph Paulus nach Jaffa, und Beide wurden nun von den Colonien zu Vorstehern erwählt, Hoffmann als erster, Paulus als sein Stellvertreter.
Die Zahl der Ansiedler in Palästina beläuft sich jetzt auf siebenhundertundfünfzig Köpfe. Davon sind in Jerusalem achtzehn Familien und etliche junge Leute, zusammen etwa hundert Personen, in und bei Jaffa dreiunddreißig Familien, die Mehrzahl mit Gewerben und Gartenbau beschäftigt. In dieser zweihundertundzwanzig Köpfe starken Gemeinde besteht ein Krankenhaus für Europäer und Araber mit zehn Betten, mit Apotheke
[873][874] und zwei wissenschaftlich gebildeten Aerzten, ferner eine Schule mit Pensionat von zweiundzwanzig Zöglingen und dreißig sonstigen Schülern, an welcher acht Lehrer und Lehrerinnen thätig sind. Der Unterricht umfaßt alte und neue Sprachen, Geschichte und Geographie, Mathematik und Naturwissenschaft. In der dritten Gemeinde, Sarona, leben achtzig Menschen. Sie unterhalten eine Schule für ihre Kinder.
In Haifa, am Berge Carmel, haben sich zweiundsechszig Familien mit dreihundertundzwanzig Seelen angesiedelt, Wein- und Ackerbauer, aber auch Gewerbetreibende; eine Mühle, eine Oel- und Seifenfabrik befindet sich daselbst, ebenso eine Schule für Europäer und Eingeborene, in welcher neuere Sprachen, Geschichte, Geographie, Mathematik gelehrt werden. Als ein kleiner, aber sichlich aufblühender Staat mitten unter dem Islam wird er in völlig republikanischer Art verwaltet. Jede der Colonien wählt ihre bestimmte Anzahl Abgeordnete, zusammen achtzehn, die alljährlich wenigstens einmal als „Tempelrath“ zusammen kommen und die gesetzgebende Kammer der Gemeinschaft bilden. Jede Gemeinde wählt sich ihren eigenen Gemeinderath mit einem Gemeindevorsteher, der das Bürgerrecht an die Einzelnen ertheilt, es ihnen aber auch entziehen kann und der für Schule, Waisen und Ortsangelegenheiten zu sorgen hat. Der auf unbestimmte Zeit gewählte Vorsteher des Tempels übt die Executive, die höhere Verwaltung, das besondere Gericht mit den Gemeindevorstehern zusammen; er ernennt die Aeltesten, die das Priesteramt versehen; er leitet die Missionen, die öffentlichen Anstalten und die amtliche Correspondenz. Da der Tempel in Palästina den Höhepunkt der Entwickelung der Secte darstellt, so ist der dortige Vorsteher auch zugleich der Oberleiter für alle Württembergischen und sonstigen Gemeinden, welche indessen, mit ihrer besondern Leitung die gleiche Stellung zum Vorsteher einnehmen, wie der für Palästina eingesetzte Tempelrath. Nach wie vor wird die Hauptmasse der Gesellschaft in Württemberg als auf der Vorstufe zum wirklichen Tempel stehend betrachtet, und zur Übersiedelung nach Palästina bedarf es besonderer Erlaubniß- und Legitimationskarten Seitens des leitenden Ausschusses.
Diese speciellen Angaben entnehmen wir einem kürzlich erschienenen neuen Buche von Christof Hoffmann: „Occident und Orient“ (Stuttgart), in welchem der reichbegabte, scharfsinnige Schwärmer die Bekenntnisse seines Glaubens bis zu kulturgeschichtlichen Betrachtungen über die religiösen, politischen und socialen Zustände Europas und des Orients erweitert. Der rüstige Greis war im letzten Sommer selbst auf Besuch nach Württemberg zurückgekommen, um für die Sache seines Lebens neue Hebel anzusetzen. – Es mögen zur Ergänzung der äußeren Geschichte dieser friedlichen Kreuzfahrer unserer Zeit noch einige Mittheilungen über ihren geistigen Standpunkt hinzugefügt werden, von dem aus sie nach den Lehren ihres Oberpriesters Menschen, Welt und Dinge ansehen.
Ihr Glaube richtet sich auf einen vollkommeneren Zustand des menschlichen Geschlechts, als der jetzige ist, und sie wollen nach ihren Kräften beitragen, ihn herbeizuführen. Sie schöpfen diesen Glauben aus den biblischen Weissagungen und dem Evangelium, wenn sie auch keineswegs wissenschaftliche Zweifel an der Echtheit einzelner biblischer Bücher und an der geschichtlichen Wahrheit der im Evangelium berichteten Thatsachen abweisen. Das Gesetz Mosis ist eine unzweifelhafte Thatsache; es bietet ihnen für alle Zeiten, einige nicht buchstäblich zu nehmende Satzungen abgerechnet, gültige Grundzüge der individuellen und socialen Lebensordnung. Deshalb richten sie die ihrige streng darnach ein, ohne freien Ueberzeugungen sonst Zwang anzuthun, und deshalb verwerfen sie auch diejenigen socialistischen Meinungen, die mit dieser mosaischen Achtung vor dem Schutz der Person, der Ehe und Familie, des Eigenthumsrechts und der Ehre in Widerspruch stehen. In solcher Auffassung der Stellung der Religion zu Leben und Wissenschaft erziehen sie ihre Kinder. Ihr Priesterthum bilden die Beamten und Aeltesten der Gemeinde, die dafür keine besondere Stellung in Anspruch nehmen dürfen; dazu gehören auch die Lehrer, Aerzte und Alle, welche mit der „Idee des Reiches Gottes“ ausgerüstet sind. Nur in sonntäglichen Gemeindeversammlungen, bei denen einer der Aeltesten den Vorsitz führt, besteht ihr Cultus, sonst tritt ein Priesterdienst nur in solchen Fällen ein, wo in feierlicher Weise ein Wort im Namen der Gemeinde zu sprechen ist, nämlich wo für Vermählungen oder für neugeborene Kinder der Segen der Gemeinde begehrt wird, oder auch am Grabe Verstorbener. Sacramente kennt der Tempel nicht, wenigstens nicht im kirchlichen Sinne, wie denn der Gottesdienst auf’s Einfachste beschränkt ist. Die Lebens- und Denkweise jedes Einzelnen soll ja ein steter Gottesdienst sein, damit sich auch jene Schilderungen der Propheten erfüllen, die den allgemeinen Völkerfrieden, die geistige Ausbildung Aller und gesicherten Nahrungszustand für Jeden verheißen. Eine solche Zukunft des Glücks für ihre Gemeinde erwarten sie mit Bestimmtheit, in der dann auch Alles aufhören soll, was der Gesundheit schadet und das Leben verkümmert und verkürzt. Denn die heilige Schrift lehre, daß das Glück in dieser und die Seligkeit in der zukünftigen Welt nicht mit einem Sprung und nicht durch Einbildungen erreicht, sondern daß einst wieder ein Uebergang des irdischen Daseins in das ewige Leben erfolgen wird, womit dem Tod seine Macht genommen werden soll.
Ueberall, an jedem Ort der Erde sei es zwar ausführbar, daß der neue Tempel des Volks Gottes errichtet werde, womit der Anfang der menschlichen Wiedergeburt erfolge; auch sei jedes Volk dazu berufen und die Mission daher keine beschränkt nationale Sache, aber immer sei Jerusalem der vor Allem verheißene Ort, wo er erstehen werde, wenn die Zeiten der Heiden erfüllt seien. Als ein Bethaus aller Völker stelle sich also der Tempel dar, wie ihn jetzt die Gesellschaft in Palästina zu errichten begonnen. Nach der Offenbarung Johannis werden drei Epochen in der Zukunft dieses Tempels zu Jerusalem unterschieden: sein Aufbau inmitten einer feindlichen Völkerwelt, dann seine Bedeutung als Mittelpunkt aller gebildeten Völker während des sogenannten tausendjährigen Reiches, endlich das himmlische Jerusalem für die ganze erneuerte Erde. Die erste Epoche habe nun mit der Gründung der Gesellschaft des Neuen Tempels und ihrer Cultur-Colonien in Palästina ihren Anfang genommen. Ueberall in der Welt werden die Zeichen des Verfalls immer sichtbarer; von Europa wie Amerika sei nichts für die wirkliche Rettung der Menschheit zu hoffen – der Orient gehe seiner Auflösung entgegen. Wohl sei die liberale Idee verjüngend in die verrotteten Verhältnisse gedrungen, doch fehle ihr die nachhaltige Kraft der echten christlichen Religiosität. In der kleinen Gemeinde, die vom Neckar ausgegangen, die im gelobten Lande ihren Staat begonnen, werde das Wahre in den liberalen Ideen erkannt und ihnen die Weihe der Religion mitgetheilt. In diesem Glauben betrachtet sich Hoffmann als den Stifter des Tempels für die einst neu sich erhebende Christenheit, der die Bibel die Wiedereröffnung des Paradieses verheißt; mit geringen Mitteln hat er sein Werk unternommen und er hofft, daß es ausgeführt werde und die Welt an demselben erkennen solle, wie der Glaube Wunder zu wirken vermag.
Wenn man gegen ein Uhr Mittags zufällig durch die Französische Straße in Berlin geht, so wird man durch die große Menge junger Damen überrascht, welche in ein düsteres Eckhaus an der Wallstraße treten. Die Meisten derselben richten unwillkürlich ihre Blicke auf die große, über dem Eingange befindliche Uhr, und je näher der Zeiger auf die angegebene Stunde rückt, desto rascher fliegen die kleinen Füße die Treppe hinauf, bis die Letzten verschwunden sind. Beinahe gleichzeitig sieht man eine ebenso große Anzahl fast ohne Ausnahme sauber gekleideter, den besseren Ständen angehöriger Mädchen das bezeichnete Haus verlassen und mit den sie ablösenden Colleginnen einen freundlichen Gruß wechseln. Sie Alle scheinen fröhlich und zufrieden, und auf ihren oft recht hübschen und frischen Gesichtern glaubt man ein gewisses, nicht unangenehmes Selbstbewußtsein zu bemerken. Gewöhnlich standen noch vor einem Jahre in der Nähe der genannten Ecke um dieselbe Zeit verschiedene Herren [875] vom Civil und Militär, mit Brillen und Pince-nez bewaffnet, um die an ihnen vorübergehenden Damen zu mustern und nach Berliner Weise allerlei witzige Bemerkungen über „Stephan’s Blitzmädel“ zu machen. Heute sind die edlen Ritter verschwunden, da sie wohl endlich eingesehen, daß die Liebesmüh’ hier eine verlorene sei.
Wir befinden uns nämlich vor der Telegraphen-Centralstation, und die jungen Damen sind die angestellten Telegraphistinnen des deutschen Reiches. Die erste Anregung zu dieser Neuerung gab der Berliner „Lette-Verein für die Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“, über dessen segensreiche Thätigkeit wir schon ausführlich in der Gartenlaube (1868, Nr. 50) berichtet haben.
Nachdem bereits in der Schweiz und im Großherzogthum Baden Frauen im Post- und Telegraphendienst Verwendung und Anstellung gefunden hatten, richtete der genannte Verein eine Gleiches bezweckende Petition an den Reichstag, welcher der General-Postdirector Stephan auf das Bereitwilligste entgegenkam. Zu diesem Behufe erhalten junge, dazu geeignete Mädchen in einer besonderen Abtheilung des genannten Lette-Hauses in der Königsgrätzer Straße unter der Leitung eines kaiserlichen Ober-Telegraphisten den nöthigen theoretischen und praktischen Unterricht, wenn sie nachweisen, daß sie die erste Classe einer höheren Töchterschule besucht haben oder ein Tentamen im Englischen, Französischen und in der Geographie, so wie der Ausarbeitung eines deutschen Aufsatzes bestehen.
Nach einem dreimonatlichen Cursus in dem Uebungssaale, wo eine genügende Anzahl von Apparaten aufgestellt ist, müssen die zum Staatsdienste tauglichen Candidatinnen zuvor ein praktisches Examen ablegen, bestehend in dem Abtelegraphiren einer deutschen, einer englischen und einer französischen Depesche, sowie in der Aufnahme derselben, wozu sie für jede einzelne Depesche drei Minuten Zeit haben. Die definitive Anstellung erfolgt jedoch erst nach einer längeren Probezeit von drei bis fünf Monaten und nach Anhörung der physikalisch-chemischen Vorträge, welche zweimal in der Woche gehalten werden. Hieran schließt sich ein zweites schriftliches und mündliches Examen über die innere Verwaltung des Telegraphendienstes und über die Zusammensetzung, Wirkung und den Gebrauch der verschiedenen Apparate. Wenn alle diese Prüfungen glücklich überstanden sind, so erhalten die weiblichen Telegraphisten zunächst einen monatlichen Gehalt von zwanzig Thalern, der jedoch mit dem Dienstalter steigt. Vorläufig werden in Berlin ungefähr hundert Damen auf dem Telegraphenamte beschäftigt, darunter Mädchen und Frauen aus den besten Ständen. Berlin selbst liefert kaum die Hälfte des Contingents. Die Mehrzahl kommt von außerhalb. Einige benutzen ihren Dienst nur, um sich die müßige Zeit zu verkürzen, um sich eine kleine Summe für Extravergnügungen zu verschaffen oder einen Nothgroschen für die Zukunft zurückzulegen. Anderen, denen das stille Leben in den kleinen Städten oder auf dem Lande nicht behagt, ist es nur darum zu thun, unter einem schicklichen Vorwande die Residenz mit ihren Genüssen kennen zu lernen. Der größere Theil jedoch sieht sich durch die bittere Noth gezwungen, diesen gebotenen neuen Erwerbszweig zu ergreifen, um sich den nöthigen Lebensunterhalt zu verschaffen.
So findet man eine bedeutende Zahl von Beamten- und Officierstöchtern, deren Väter mit ihrem mäßigen Einkommen eine zahlreiche Familie nicht standesgemäß ernähren oder von ihrer kleinen Pension nicht leben können. Noch trauriger ist das Loos der unglücklichen Mädchen und Frauen, welche ohne jede Stütze allein den schweren Kampf um das Dasein bestehen müssen und ganz verlassen in der Welt dastehen. Der Telegraphendienst gewährt ihnen eine willkommene Zuflucht und schützt sie vor Elend und noch Schlimmerem. Manche dieser Damen hat einst bessere Tage gesehen und im Glanz und Ueberfluß gelebt, bis der plötzliche Tod ihrer Angehörigen oder der Verlust ihres Vermögens sie hierher geführt. Nicht selten wird man unter ihnen durch aristokratische Namen und durch Erscheinungen überrascht, welche einst den vornehmsten Kreisen angehörten. Selbst eine Enkeltochter des berühmten Staatskanzlers, des Fürsten Hardenberg, soll, wie man uns erzählt, augenblicklich – Telegraphistin sein.
Sämmtliche angestellte Damen arbeiten gemeinsam in einem besonderen Saale im zweiten Stock des riesigen Gebäudes und werden hauptsächlich im inneren Verkehr und der Stadttelegraphie beschäftigt, ausnahmsweise jedoch auch zur Aushülfe für den weiteren Dienst in Gesellschaft der Herren verwendet. Sobald sie ihre Mäntel und Hüllen auf dem Corridor abgelegt und in die eigens für sie bestimmten Schränkchen gehängt, treten sie in den Saal, wo bereits die bisher beschäftigten Colleginnen auf ihre Ablösung sehnsüchtig harren, da sie von sieben Uhr Morgens bis ein Uhr Mittags ununterbrochen im Dienste sind. Rasch übersieht die Neuangekommene die vorliegenden Depeschen und ordnet sie nach der Zeit der Annahme. Ohne Zögern geht sie an die Arbeit, welche ihre ganze Kraft in Anspruch nimmt.
Es giebt einzelne Apparate, welche in einem Nachmittag bis zweihundert Depeschen befördern. Da muß man aufpassen und rührig sein, um eine solche Aufgabe zur Zufriedenheit der Vorgesetzten zu lösen. In fieberhafter Aufregung fliegen die Finger; fünf Botschaften kommen; fünf gehen, schneller, immer schneller. An neuer Zufuhr fehlt es nicht, und die freundlichen Grüße der weniger beschäftigten Nachbarinnen können nur durch ein stummes Kopfnicken beantwortet werden, da keine Zeit zum Sprechen übrig bleibt. Endlich eine Pause; die Arbeit ging gut und schnell, ohne Störung von statten. Nun kann man sich ein wenig ausruhn und per Draht die Grüße einer Collegin erwidern. So wunderbar es klingen mag, so erkennen sich an der bloßen Schrift, welche doch nur aus Strichen und Punkten besteht, die Telegraphistinnen unter einander immer wieder, obgleich die Apparate jeden Tag gewechselt und anders vertheilt werden.
Allerdings ist jede derartige Privat-Correspondenz streng verboten, aber die Töchter Eva’s lieben auch hier, dem Gesetz eine Nase zu drehen – höchstens riskiren sie eine Ordnungsstrafe, einen kleinen Abzug von ihrem Gehalt. Eine Telegraphistin erhält nie einen mündlichen Verweis wegen eines begangenen Fehlers; dagegen muß sie im Fall einer Uebertretung ihren Namen in ein besonderes schwarzes Buch, in das sogenannte „Album“ eintragen und durch ihre Unterschrift sich zu dem angegebenen Fehler bekennen. Nach einigen Tagen erhält sie eine Einladung auf das Revisionsbureau, wo sie aufgefordert wird unter die Worte: „Unterzeichnete hat diesen oder jenen Fehler gemacht und sich deshalb einen Verweis zugezogen“ ihren Namen zu setzen, womit die Sache abgethan ist. Im Ganzen sind Verweise nicht häufig, und bis jetzt ist erst eine einzige Telegraphistin und auch diese nicht wegen eines groben Vergehens, sondern wegen Schwäche und Unfähigkeit entlassen worden.
Selbstverständlich benutzen die Damen jede freie Pause, um sich mit einander zu unterhalten. An dem einen Tische wird ernst und eifrig über Politik gesprochen und gestritten; an dem zweiten Kindererziehung und Wirthschaft, an dem dritten die Toilettenfrage lebhaft abgehandelt. Alle neueren Erscheinungen der Tagesliteratur gehen frei von Hand zu Hand, und auch an eigenen poetischen Versuchen fehlt es nicht, wie folgende kleine Probe einer dichterischen Telegraphistin zeigt:
„Die Telegraphen-Aspirantin
Ist ein als fähig erkanntes,
In den Uebungssaal des Lette-Vereins gesandtes,
Vom Herrn Ober-Telegraphisten commandirtes,
Mitunter etwas affectirtes,
Anfangs beim Lernen sich quälendes,
Striche und Punkte zählendes,
Endlich Examen bestehendes,
Nach der Station abgehendes,
Dort pünktlich zu sein geruhendes,
In der Garderobe viel Unsinn thuendes,
Am Apparate sitzendes,
Bei zweiundzwanzig Grad schwitzendes,
Ueber schlechte Schrift schwälendes,
Sich per Draht gern was erzählendes,
Hin und wieder falsch aufnehmendes,
Dann zur Strafe sich bequemendes,
An den Vorträgen sich erbauendes,
Blitzableiter anschauendes,
Betriebsreglement einbläuendes,
Schriftliche Arbeiten scheuendes,
Endlich beim Examen sechs Bogen voll schmierendes,
Dadurch zur Gehülfin avancirendes,
Geplagtes Individuum.“
Die Behandlung der Damen von Seiten der männlichen Collegen ist meistens eine durchaus freundliche und rücksichtsvolle. Sollte jedoch einmal dieser oder jener Beamte die dem zarten Geschlecht [876] schuldige Höflichkeit vergessen, so hat eine derartige Scene stets die Versetzung des Betreffenden aus dem Damensaal zur Folge. Von ihren Vorgesetzten werden sie mit besonderer Nachsicht und Schonung behandelt, soweit dies mit der Strenge des Dienstes vereinbar ist. Auch der Kronprinz und die Kronprinzessin schenken den weiblichen Telegraphisten eine erfreuliche Aufmerksamkeit und besuchen zuweilen den Uebungssaal im Lette-Hause; Ersterer war selbst einmal auf der Centralstation, wo er sich mit den jungen Damen freundlich unterhielt. Besonders belustigte ihn die Antwort, welche er auf seine scherzhafte Frage: „Was giebt es Neues?“ von einer gewissenhaften Telegraphistin erhielt: „Thut mir leid, kaiserliche Hoheit, nicht dienen zu können, das ist Amtsgeheimniß.“
Die Beamten sind mit den Leistungen ihrer weiblichen Collegen meist zufrieden und nur selten hört man eine ernste Klage. Einer der älteren Herren giebt ihnen das beste Zeugniß: „Erst seitdem wir weibliche Collegen im Bureau haben, habe ich die Frauen achten gelernt, und so sehr ich gegen die Anstellung derselben früher gewesen bin, so muß ich nach längerer unparteiischer Beobachtung zugeben, daß die Mädchen weit mehr leisten, als ich je von ihnen erwartet habe.“ – Die jüngeren Collegen aber sagen, daß noch nie eine solche Heiterkeit und herzliche Lust in den Räumen dieses Hauses geherrscht, als seitdem sie es mit den Damen theilen. Alle aber stimmen darin überein, daß der gemeinsame Verkehr stets sich in den Grenzen des feinsten Anstandes hält und der Dienst durch die Gegenwart der Damen nicht die geringste Störung erleidet.
Obgleich die Arbeit anstrengend ist und die Mädchen bei gutem und schlechtem Wetter auf ihren Posten mit militärischer Pünktlichkeit erscheinen müssen, so kommen doch nur wenige Krankheitsfälle vor. Im Gegentheil scheint den Meisten die Beschäftigung und die damit verbundene körperliche Abhärtung sehr gut zu bekommen. Unter einander sind die Damen verträglich, sie helfen sich gegenseitig und vertreten einander, wenn es nöthig ist. Wenn Eine ernstlich erkrankt, so muß sie ein Attest von ihrem Arzte einreichen und erhält dann einen Urlaub bis zu sechs Wochen. Alle anderen Entschuldigungen sind unstatthaft und werden unnachsichtlich mit Gehaltsabzügen und nöthigenfalls mit Entlassung bestraft.
Wenn auch das Gehalt der Damen verhältnißmäßig noch unbedeutend ist und nur knapp zum Lebensunterhalte hinreicht, so beweist der große Andrang zum Telegraphendienste doch, daß dieser Erwerbszweig beim zarten Geschlechte kein unbeliebter ist. Die Thatsache lehrt, daß selbst Töchter aus den besseren Ständen öfter in die Lage kommen, für sich selbst sorgen zu müssen. Nicht Alle sind so glücklich, vermögende Eltern zu haben oder einen Mann zu finden, der ihnen eine sorgenlose Häuslichkeit bietet. Unter solchen Verhältnissen ist es gewiß nur zu billigen, wenn das weibliche Geschlecht durch eigene Thätigkeit und Arbeit sich ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen sucht, um nicht Andern zur Last zu fallen. Wir können dieses Streben nur gut heißen und achten; darum Respect vor den Berliner Blitzmädeln Stephan’s!
Aus San Diego in Californien erhalten wir mit Bezug auf den
in Nr. 32 der „Gartenlaube“ enthaltenen kleinen Artikel über die Jagd auf Klapperschlangen folgende interessante Mittheilungen:
„Im Juni des Jahres 1873 wurde ich nach Penasquitos[WS 1], einer Besitzung des Capitains J., berufen, um während der mehrmonatlichen Abwesenheit des Eigenthümers denselben zu vertreten. Penasquitos[WS 2] ist ein schöner, aber einsamer Landsitz, der sich vor den übrigen Farmen im Umkreise vieler Meilen durch seinen ungewöhnlichen Wasserreichthum auszeichnet. Die Flüsse und Deiche wimmeln von Amphibien aller Art, und wiederholt hatten mir unsere farbigen Arbeiter von den zahlreichen Klapperschlangen erzählt, die sich in unserer Nähe aufhalten sollten, ohne daß ich diesen Mittheilungen indeß besondere Beachtung geschenkt hätte. Nur einmal wöchentlich, Donnerstags, wurde unsere Einsamkeit unterbrochen, wenn aus dem fünfundzwanzig Meilen entfernten San Diego Briefe und Zeitschriften, unter ihnen auch die ‚Gartenlaube‘, eintrafen.
Eines Tages hatte ich mich auf den Divan gestreckt und mich in die Lectüre der eben angekommenen Journale vertieft. Mein Zimmer lag zu ebener Erde und grenzte an eine Veranda, die einen angenehm kühlen Aufenthalt gewährte. Draußen herrschte eine tropische Hitze, und ich hatte Thür und Fenster weit geöffnet, um die Temperatur im Zimmer etwas zu mildern. Plötzlich vernahm ich ein eigentümlich rasselndes Geräusch, und in demselben Augenblicke sah ich einige junge Schwalben mit allen Zeichen höchster Angst auf der Veranda umherlaufen und endlich in mein Zimmer schlüpfen. Die Ursache dieser auffallenden Erscheinung ließ nicht lange auf sich warten: blitzschnell zeigte sich eine blaßrothe, etwa fünf Fuß lange Klapperschlange, im Begriffe, sich auf eines der Thierchen zu stürzen. Ich lag wie erstarrt. Jede auffallende Bewegung konnte mir den Tod bringen; dennoch behielt ich Geistesgegenwart genug, nach meinem immer geladenen Pistol zu greifen und den Hahn zu spannen. Das Geräusch machte das giftige Reptil aufmerksam, einige Augenblicke sah es mich mit seinen stechenden, diamantfunkelnden Augen an, züngelte und verschwand dann ebenso plötzlich, wie es gekommen war, unter der Veranda. Man kann sich denken, daß ich über diese Hausgenossenschaft nicht sehr erbaut war, es gelang mir aber nicht, den Schlupfwinkel des Thieres zu entdecken und dasselbe unschädlich zu machen. Im Banne der Schlange legten die Schwalben ihr sonst so scheues Wesen gänzlich ab und hätten sich ruhig ergreifen lassen; als ich dies jetzt versuchte, flatterten sie lustig davon. Warum flohen die Thierchen nicht vor dem Todfeinde hinauf in die höheren Luftregionen?
Glücklicher war ich einige Wochen später. Der Gärtner, ein Indianer, hatte mir oft gesagt, daß sich im Gemüsegarten wiederholt Klapperschlangen gezeigt hätten, ohne daß ich Gelegenheit fand, mich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. An einem heißen Julimorgen befand ich mich, den Spaten in der Hand, im Garten, wo ein Negerbursche beschäftigt war, junge Erbsen zu pflücken. Ich sprach einige Worte mit ihm und hatte eben den Spaten in die Erde gestoßen, als plötzlich zu meinem Schrecken dicht vor mir eine Klapperschlange aus dem Beete herausschlüpfen wollte, die ich offenbar in ihrer Morgenruhe gestört hatte. Sofort streckte das Thier den Kopf wieder empor, in der unverkennbaren Absicht, mich anzugreifen; in demselben Augenblicke aber führte ich mit dem Spaten einen so kräftigen Schlag nach der Schlange, daß der Kopf vom Rumpfe getrennt ward und der Spaten noch tief in die Erde fuhr. Minutenlang peitschte der Körper noch den Boden, und das Schnarren und Rasseln der sogenannten ‚Klappern‘ wirkte in dieser unmittelbaren Nähe fast betäubend. Das Thier gehörte der Gattung der gefleckten Klapperschlangen an, war von weißgrüner Farbe und mit tiefschwarzen, offenen Vierecken besetzt. Es hatte eine Länge von vier Fuß, zwanzig Zoll. Im Magen fanden sich eine große Menge junger, grüner Erbsen und mehrere erst vor Kurzem verspeiste Vögel; den Inhalt der Giftbläschen entleerte ich in ein Fläschchen und gewann etwa acht Tropfen dieser gefährlichen Flüssigkeit, die ich nebst der getrockneten Haut noch jetzt besitze.
San Diego, Californien.
Ein Umgangsfehler. Der Mensch ist ein geborener Hypochonder.
Zwar nicht bei einem Jeden entwickelt sich die geringe Anlage zu dem
berüchtigten Plagegeist, denn Energie und Willenskraft können den Beginn
des Wachsthums unterdrücken, der Keim aber ist vorhanden, aus welchem
bei einer unzweckmäßigen Behandlung eine Schmarotzerpflanze der
schlimmsten Art für den befallenen Organismus hervorwuchert. Diese
Thatsache findet leider oft nur eine sehr geringe Beachtung. In dem
Glauben befangen, daß nur auf den Körper selbst wirkende Ursachen,
dauernde Diätfehler, vieles Sitzen in schlechler Luft etc. die Hypochondrie
nach sich ziehen, übersieht man gänzlich die psychischen Einflüsse ihrer
Entstehung. Tagtäglich schleudert man seinem unglücklichen Mitmenschen,
und zwar noch aus Höflichkeit, Phrasen in das Gesicht, welche ein nur
geringes Nachdenken wenigstens als unbesonnen zurückweisen würde.
Das menschliche Gesicht bietet das ungeeignetste Moment zur Beurtheilung des jedesmaligen Gesundheitszustandes dar. Eine nur unerhebliche Störung des normalen Stoffwechsels, vor allem die äußere Temperatur, Kälte, können eine Veränderung des Ansehens bedingen, welche trotz unseres vollständigen Wohlbefindens eine schwerere Affection vermuthen läßt. Was geschieht nun, wenn wir uns in einem derartigen Falle befinden? Gar bald werden wir einer mitleidigen Seele begegnen, die uns erst mit kritischem Blicke mustert, dann aber theilnehmend fragt: „Was fehlt Ihnen denn? Sie sehen so schlecht aus.“ etc. Es wird damit nichts weniger als etwas Böses beabsichtigt, ganz im Gegentheil soll die Theilnahme verrathen werden, welche der Betreffende unserer armen Persönlichkeit angedeihen läßt. Man soll denken, daß er uns seit der letzten Begegnung fortdauernd im Andenken behalten hat. Den Folgezustand solcher unbesonnenen Redensarten dürften Viele unserer Leser an sich selbst durchgemacht haben. Sobald sich Gelegenheit findet, geschieht der erste Schritt nach dem Spiegel; mit angsterfüllten Blicken wird jede Falte des werthen Ichs durchmustert, ob wir uns denn wirklich so grauenhaft verändert haben. Wehe uns, wenn sich wirklich eine Achillesferse findet! Der Anfang zum Hypochonder ist fertig, der Funke in das Pulverfaß geworfen. Täglich wird die Specialuntersuchung nun erneuert; ein unschuldiges Blüthchen zeigt den beginnenden Krebs; die Röthe der Gesundheit ist der hektische Vorbote der Schwindsucht; dem unscheinbarsten Symptome, welches uns sonst nie berührt, schenken wir jetzt die genaueste Beachtung. Endlich muß das Nervensystem, durch solche Hirngespinnste zuerst gereizt, dann herabgestimmt, die functionirenden Organe, vor allem die Verdauung, in Mitleidenschaft ziehen; gesellen sich die oben genannten begünstigenden Umstände, Diätfehler etc. hinzu, so ist die Kette fertig, deren erstes Glied der menschliche Unverstand geschmiedet hat.
Bei obiger Darstellung hat sich nicht die mindeste Uebertreibung eingeschlichen. Es muß immer erwogen werden, daß nicht allem eine Person, sondern noch so und so viele Andere die gleiche unüberlegte
[877] Bekrittelung ausüben, und schenkte man auch dem Ersten wenig Vertrauen, von den Aussagen des Letzten bleibt sicher etwas haften. Wenn aber schon auf den Gesunden eine solche Wirkung ausgeübt wird, wie verkümmert man erst, einem armen Kranken sein unglückliches Dasein! Verbanne man also schon aus Zartgefühl diesen verderblichen Umgangsfehler! Viel Frohsinn kann dadurch erhalten werden.
„Julklapp!“ – dem Süd- und Mitteldeutschen ist’s ein fremder Wortklang ohne Farbe und Bedeutung, dem Bewohner der Ostseeküste und der angrenzenden Provinzen ein Zauberlaut, der ihm wie mit magischer Gewalt die köstlichsten Kindheitserinnerungen wachruft.
Weihnachtsabend! Da erwacht in den kleinen und mittelgroßen Städten Norddeutschlands mit der hereinbrechenden Dämmerung, wenn die Fest-Glocken von allen Thürmen läuten und durch die Fenster die strahlenden Tannenbäume leuchten, ein seltsam reges Leben auf Straßen und Gassen. Alles läuft und rennt über das schneebedeckte Pflaster – hier ein flinkes Dienstmädchen, unter der Schürze geheimnißvoll einen Korb mit hundert Packetchen bergend, dort ein stattlicher Livréebedienter, einen leichten Wagen mit vielen kleinen Kisten und Kästen nach sich ziehend. „Hollah! vorgesehen!“ ruft er eben einem vorübereilenden Packträger zu, der, den ganzen Arm voll sauber eingewickelter Sächelchen, gefährlich mit ihm carambolirt – und da liegen sie schon alle im Schnee, die tausend Packete unseres wackeren Dienstmannes Numero so und so. Ein altes Mütterchen, das, von Schneeflocken ganz bedeckt und einen großen Sack auf dem Rücken tragend, aussieht, als wäre sie der Knecht Ruprecht in weiblicher Gestalt, muß eiligst zur Seite springen, um nicht die Rückwirkung dieses Zusammenstoßes der beiden Männer an ihren gebrechlichen Gliedern empfindlich zu spüren. Es ist eben am Weihnachtsabend eine wahre Völkerwanderung auf Gassen und Plätzen in den Städten des Nordens.
„Julklapp, Julklapp!“ tönt es von allen Seiten. Dazwischen schallen die Klingeln an den Hausthüren – sie fehlen nie in den kleineren norddeutschen Städten – so hell und so lustig in das bunte Treiben hinein, wie kaum an einem anderen Tage im Jahre. Und unmittelbar auf jeden Klingelschall läßt sich ein fröhliches „Julklapp!“ vernehmen. Hui, wie bei diesem Rufe die Packete fliegen – weit hinein in den Hausflur und oft bis in die äußerste Ecke desselben. Schnell fällt die Hausthür wieder in’s Schloß, und der muntere Julklapp-Rufer, der schnelle Packet-Werfer ist hurtig um die nächste Ecke verschwunden, damit Niemand ihn sehe, Niemand ihn verrathe.
Innen in den Häusern aber knarren die Thüren geschäftig, denn zu den um den leuchtenden Christbaum versammelten Familiengliedern bringen die Dienstboten Packet auf Packet vom Flur herein – Julklappen, wie diese lustigen Weihnachtsboten genannt werden, und nun geht’s an’s Auspacken. So eine Julklappe ist ein seltsam’ Ding. Die erste Umhüllung trägt etwa die Aufschrift: „Der ehrsamen Hausfrau!“ und ein schelmischer Vers darunter macht den häuslichen Tugenden der edeln Dame ein Compliment. Sie öffnet – aber ach! sie ist betrogen; denn auf dem zweiten Papierumschlage liest sie die Adresse des würdigen Herrn Gemahls, der nun das Packet empfängt und neben seinem Namen eine humoristische Verherrlichung seines lieben Ich oder auch eine grausame Satire auf seine besten Eigenschaften entdeckt, je nach Laune und Beziehung des Absenders. „Wird Papa das Geschenk bekommen?“ – „Nein, mein Junge, es ist für Dich.“ Und der Herr Sohn hat nun die dritte Umhüllung zu öffnen – aber auch der ist düpirt. Und so wandert die Julklappe von Hand zu Hand, bis endlich die liebliche Tochter oder an wen sonst die letzte Adresse gerichtet war, das Geschenk in Händen hält, einen Ring oder eine goldene Uhr, oder auch nur ein Buch oder ein Kleidungsstück, kostbar oder werthlos – es ist eben Weihnachten, und wie die Herzen weit oder eng, die Cassen voll oder leer sind, so fallen auch die Festesgaben prächtig oder schlicht aus.
Und während man sich noch den Kopf darüber zerbricht, wer der freundliche Geber sein mag, während man noch auf den abgerissenen Papierumhüllungen an Handschrift und Siegel criminalistische Studien macht, werden schon vom Flur herein neue und immer neue Julklappen gebracht – denn von allen Enden der Stadt kommen die Geschenke in’s Haus geflogen –, und wie das Papier am Fußboden sich mehrt, so steigern sich Jubel und Lust, bis die Lichter am Tannenbaume herunter gebrannt sind und die Glocke zum Imbiß ruft. „Kommt, Kinder! Die Karpfen werden kalt,“ ruft die Frau Mama, und die Freude des Mahls beschließt den Abend. – –
Julklappenscherz, uralte lustige Erfindung des skandinavischen Nordens, wem du je in der Kinderzeit das junge Gemüth erfüllt und die leichtbewegliche Phantasie erregt hast, ob es nun im Pommerlande war, in Mecklenburg oder weiter hinauf an der buchenbewaldeten Küste der Ostsee, nie und nimmer vergißt er dich, freundliche Urvätersitte voll Humor und Schelmerei.
Der amerikanische Sonntag. Die Jubel-Weltausstellung in Philadelphia wird manches originelle vor den bisherigen Ausstellungen voraus haben. Der Amerikaner stellt sich und seine charakteristischen Eigenthümlichkeiten nämlich selbst aus und – giebt sich bloß. Die Besucher der Ausstellung werden unter Anderem Gelegenheit haben zu bemerken, wie Amerika seinen größten Feiertag im Jahre, den 4. Juli, mit Ohren und Sinne betäubendem Geknatter aus allen Arten von Feuerwerkskörpern und Schießwaffen, begleitet von Feuersbrünsten, Körperverletzungen, ja Tödtungen sogar, begeht. Es wird gerade zur Zeit der Wahl eines Präsidenten sein, in welcher sich die beiden Parteien und ihre Vertreter bekanntlich die liebenswürdigsten Angriffe entgegenwerfen und die Presse in gewisser Beziehung das Unglaubliche leistet. Aber den Gästen wird es auch nicht erspart werden, den puritanischen Sonntag Amerikas mit seiner deutsch-amerikanischen Hinterthür in die verpönten Wirthshäuser kennen zu lernen. Denn die volle Gewissensfreiheit ertheilende große Republik schreibt nichtsdestoweniger durch Gesetzgebung und Gewohnheit jene Heiligung des Sabbaths vor, die sich in den „blauen Gesetzen Connecticuts“ so weit vermaß, am Sonntage nicht nur jede Reise und jeden Spaziergang, sondern sogar zu verbieten, daß Eheleute sich küssen durften (bei Liebenden wird es der Reiz des „Verbotenen“ wohl doppelt süß gemacht haben). Die Herren, unter deren Leitung die Weltausstellung in Philadelphia steht, haben sich denn auch nicht von der amerikanischen Engherzigkeit zu emancipiren vermocht, mit Rücksicht auf ihre ausländischen Gäste das Internationale eines solchen Unternehmens zu achten, sondern halten die Ausstellung an Sonntagen geschlossen. Denn das steht deutlich in den von dem Executiv-Comité gut geheißenen Anordnungen zu lesen, wo es unter Anderem heißt. „Die Ausstellung wird am 10. Mai 1876 eröffnet werden, und mit Ausnahme des Sonntags jeden Tag bis zum 10. November dem Besuche offen stehen.“ Diese Bestimmung hat bisher keinen Widerruf erfahren, und die Commissionäre denken auch nicht im Mindesten an eine Abänderung derselben. Daß die Herren auf das Volk, auf die arbeitenden Classen nicht die mindeste Rücksicht nehmen, das ist man schon gewohnt. Es liegt in der Rücksichtslosigkeit und Unduldsamkeit der Pfaffenclique, welche den Armen nicht die geringste Unterhaltung und Erholung gönnt und den Menschen nur zum Sclaven der Werkstätte und der Kirche machen will.
Charakteristisch in jeder Beziehung bleibt aber diese ausschließliche Ausstellung des amerikanischen Sonntags jedenfalls. Sie ist besonders der Stadt der Bruderliebe angemessen (die New-Yorker hätten dies gewiß nicht gethan). Am besten wird es sein, wenn die Ausstellungsgäste an Sonntagen sich nach Newark zurückziehen, wo es „Auf dem deutschen Berg“ bei Kölger’s etc. so lustig zugeht, wie in Deutschland selbst. Tanz, Musik und Gerstensaft verschaffen sich dort trotz Pfaffen Sonntag und Polizei ihr Recht.
Weihnacht.
Wie war’s in jenen gold’nen Tagen,
Wo jede Nacht in schönem Traum
Den lichterhellen Weihnachtsbaum
Vor deinen Augen aufgeschlagen,
Bis die ersehnte Stunde kam
Und dem erwartungsvollen Knaben
Mit tausend bunten Liebesgaben
Das Sehnen von der Seele nahm?
War’s denn allein der Gaben Prangen,
Was deine Seel’ in Lust geschwellt,
Als sei ihr eine neue Welt
An jenem Abend aufgegangen?
Was mächtig wie ein Freudenstrom
An deinen jungen Busen stürmte,
Der ziellos seine Wünsche thürmte
Zum sternenhellen Himmelsdom?
Was war es, was in glüh’nden Farben
Noch jetzt in deine Seele taucht,
Wo all’ die Lichter längst verraucht,
Wo all’ die Lieben lange starben,
Was noch in der Erinn’rung Licht
Dein alternd Herz macht höher schwellen,
Noch jetzt in warmen Thränenquellen
Aus deinen milden Augen bricht?
Das war’s: du sahst den Himmel glänzen
Mit tausend Sternen weit und groß,
Und war dein Wünschen grenzenlos,
War auch dein Hoffen ohne Grenzen.
Mit jedem umgestürzten Glück
Sahst eine Hoffnung du zerstieben,
Und nur der Sehnsucht Schmerzen blieben
In deiner wunden Brust zurück.
Karl Bartsch.
Eine Unsitte auf Bahnhöfen. „Schon zu wiederholten Malen“ – so schreibt man uns aus Crefeld – „war es ein Verdienst der ‚Gartenlaube‘, durch energischen Hinweis auf gewisse Gebrechen des öffentlichen Verkehrs wirksam auf deren Abhülfe hinzuarbeiten und sich den Dank des Publicums zu erwerben. Ihre Mahnung genügte, den Reisenden auf der Eisenbahn Befriedigung des primitivsten Bedürfnisses nach einem Trunk frischen Wassers in brennender Sonnengluth auf fast jedem Bahnhofe unseres Vaterlandes zu verschaffen. Eine neuliche Nummer der ‚Gartenlaube‘ trat wieder mit einer Reihe gerechtfertigter Wünsche hervor, die gewiß nicht vergeblich ausgesprochen sein werden und deren Erfüllung nicht unwesentlich beitragen muß, das Reisen auf der Eisenbahn angenehmer und sicherer zu machen. Nur einen faulen Punkt finde ich noch nicht erwähnt, der die ‚Gartenlaube‘ nicht minder zu energischem Protest veranlassen dürfte, wie Curirschwindel und Gründerthum, weil durch ihn sittliche Interessen unserer Nation tiefer geschädigt werden als man auf den ersten Blick glauben möchte – ich meine die schmutzige Literatur, die sich in der schamlosesten Weise zur Zeit auf fast allen Bahnhöfen breit macht, während sie in den Schaufenstern anständiger Buchhandlungen das Tageslicht scheuen muß. Die erbärmlichen Auswüchse der Phantasie eines Paul de Kock, Sardou, Dumas jr und ähnlicher Scribenten, die schon in ihrer aller guten Sitte Hohn sprechenden Ausstattung ihren unsauberen Inhalt genügend darthun, destomehr aber
[878] auch die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, speculiren hier auf das Unterhaltungsbedürfniß der Reisenden und finden eine bereitwilligst gebotene Absatzquelle, die leider auch unserer Jugend nur zu leicht zugänglich ist. Für die Ausstellung aber solcher Schundliteratur erheben die Eisenbahn-Verwaltungen ein Standgeld und weisen ihr eine Stelle an, wo sie nothwendig Jedermann in die Augen fallen muß. Diese Art von Literatur ist da und wird auch immer ihre Leser finden, aber ein ganz Anderes ist es, sie aus den Winkeln, in die sie sich sonst verkriechen muß, hervorzuziehen und ihr gerade an den verkehrreichsten Punkten des öffentlichen Lebens eine legitime Stätte zu bewilligen. Man sorge, daß dem Reisenden gute Werke unserer und der ausländischen Literatur geboten werden – dann erfüllt die Einrichtung einen Culturzweck, der nicht gering anzuschlagen ist, aber man wehre der Gewinnsucht der Eisenbahnverwaltungen, auf ihren Bahnhöfen den schlüpfrigen Erzeugnissen nichtswürdiger Schreiber einen ergiebigen Markt zu bereiten! A. H. in Crefeld.“
Ein Kriegs-Invalidenloos. Wir versagen Keinem unsere Theilnahme, den ein Mißgeschick trifft, auch wenn es ein selbstverschuldetes ist. Höher steigt dieselbe aber unverschuldeten Leiden gegenüber. Wenn uns gar ein Mann sagen muß: „Ich habe für Euch im großen Kriege geblutet, und nun ist Armuth und Entbehrung mein Lohn“ – so trifft das in’s Herz und die Pflicht der Dankbarkeit gebietet Hülfe. Leider kommen solcher Hülferufe uns so viele zu, daß wir nur die am meisten für sich selbst sprechenden Fälle an die Oeffentlichkeit bringen können. Für einen solchen halten wir den nachfolgenden.
Ein jetzt achtunddreißigjähriger, verheiratheter, aber kinderloser Mann, der als Sohn eines Landpfarrers auf Rügen eine gute Bildung genoß und mit Glück Landwirthschaft betrieb, verlor in Folge der Kriegsdienste 1864 und 1866 sein kleines Gut, wurde Beamter an einer Berliner Bahn und mußte 1870 als Landwehrmann der Kummer’schen Division mit in’s Feld ziehen, wo ihm bei dem Ausfallgefechte am 7. October vor Metz bei Les Tapes der rechte Arm abgeschossen wurde. Den einarmigen Mann nahm die Berliner Bahnverwaltung nicht wieder in Dienst. Von seiner Pension allein kann er nicht leben; er muß arbeiten und hat sich deshalb vor Allem im Schreiben wieder so geübt, daß er jetzt die Feder mit derselben Gewandtheit in der Linken führt, wie früher in der Rechten. Er würde zwar als Aufseher und in manchem anderen Fache zu gebrauchen sein, in keinem aber so viel leisten können, wie in der Landwirthschaft, die er mit völliger Hingebung betrieben.
Sollte der Mann Recht haben mit seinem Vorwurfe: „Schon jetzt, nach fünf Jahren, ist die Erinnerung an unsere Verdienste so schwach geworden, daß man am frohesten ist, wenn man uns los ist, und das wird später noch mehr der Fall sein.“? – Möchte doch Diesem und Jedem, der ebenso zu klagen hat, recht bald geholfen werden!
Der Naturforscher Brehm als Wanderredner. Dr. Alfred Brehm, den Lesern der Gartenlaube seit siebenzehn Jahren als gewandter und interessanter Schriftsteller auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete eine stets willkommene Erscheinung, hat nach mancherlei Schicksalen in den Schranken von festen Berufsstellungen und nachdem er die Literatur um eine Reihe tüchtiger und gerngelesener Werke bereichert hat, endlich den Entschluß gefaßt, seine ungewöhnliche Redner- und namentlich Erzählergabe praktisch im Großen zu verwerthen. Nachdem er bisher nur in kleinen Kreisen seine Zuhörer entzückt, gehört er heute bereits zu den gefeierten Wanderrednern, deren Zuhörerschaft von Abend zu Abend steigt. Er spricht unter Anderem über allgemeine naturwissenschaftliche Themata, über Vogelzucht, den Hund und dessen Ahnen, die Vogelberge, die Bedeutung der Vögel im Naturhaushalt, über Wüste, Steppe und Urwald, über die Jahreszeiten etc. In Dresden, Halle, Magdeburg und Braunschweig hat er unter vielem Beifall seine Vorträge gehalten und wird im neuen Jahre am Oberrhein prüfen, ob die Herzen der Freunde und Freundinnen der Naturwissenschaft im deutschen Süden ihm ebenso gewogen sein werden, wie er dies im Norden erfahren hat.
Zur Thierschutz-Angelegenheit schreibt man uns aus München: „Bezugnehmend auf den Bericht aus New-York in Nr. 41 über die dortigen Verbesserungen im Viehtransport, glauben wir der Tendenz Ihres geehrten Blattes fördernd entgegenzukommen, wenn wir Sie in den Stand setzen, auch von den Bestrebungen in Bayern hinsichtlich der Lösung der Frage über die Möglichkeit einer Umgestaltung des bisherigen Schlachtthiertransports Notiz zu nehmen. Schon im April 1874 wurde uns vom Oekonomie-Praktikanten L. Schwartz in Aschau bei Murnau, damals noch Studirenden der Centrallandwirthschaftsschule Weihenstephan, der Vorschlag zu einer solchen Umgestaltung gemacht, welche in einer ausschließlichen Benützung von eigens dazu zu construirenden mobilen Eiskellern in der Form der Eisenbahnwaggons zu bestehen hätte. In deren abgekühltem Luftraume sollten zunächst nur geschlachtete Kälber, Schweine, Schafe etc., unbeschadet des Fleischwerthes, zu jeder Jahreszeit transportirt werden, und könnten dieselben nach diesem Vorschlage, im gesundheitlichen und pecuniären Interesse der Bevölkerung großer Städte, auch zum Transporte solcher Lebensmittel verwendet werden, welche bei warmer Temperatur nicht transportabel sind, wie Milch, Butter etc. So anerkennenswerth uns diese Idee insbesondere vom Standpunkte der Humanität aus erschien, so sehr wir mit dem leitenden Gedanken und den Vorschlägen zu ihrer Verwirklichung übereinstimmten, mußten wir es uns doch versagen, sofort mit unserer Thätigkeit in diese Frage einzugreifen. Die localen Verhältnisse, insbesondere aber der Mangel von Vorschriften über den Transport von Fleisch, ja sogar die von vielen Seiten betonte Unzulässigkeit eines solchen, lassen es uns zweckdienlich erscheinen, vorerst hiervon abzustehen, wogegen wir mit gesteigertem Interesse weiteren Berichten über die bereits errungenen Erfolge jenseits des Oceans entgegensehen.
Ungarische Lyriker in Deutschland. Seitdem die gefühlstiefen Dichtungen Petöfi’s durch mehrfache Uebersetzungen dem deutschen Leser erschlossen worden, ist bei uns das Interesse für die Poesie Ungarns von Jahr zu Jahr gewachsen, und namentlich die Blumen aus dem Garten der ungarischen Lyrik haben in Deutschland stets eine freundliche Aufnahme gefunden. So darf denn auch des bekannten Gustav Steinacker’s „Ungarische Lyriker von Alexander Kisfaludy bis auf die neueste Zeit“ (Leipzig, Joh. Ambr. Barth) wohl einer freundlichen Aufnahme diesseits der Leitha gewiß sein. Indem wir diesen fremdländischen Liederblüthen bei ihrem Eintritt in deutsche Lande ein freundliches „Glück auf!“ mit auf den Weg geben, fügen wir die für die Leser unseres Blattes gewiß interessante Bemerkung hinzu, daß der Uebersetzer sein Werk den „Dichterinnen der Gartenlaube“ E. Marlitt, Wilhelmine v. Hillern und E. Werner „in huldigender Bewunderung und gleichgesinntem Streben“ gewidmet hat.
Zum Ehrengeschenke für Arnold Ruge gingen uns wieder zu: Stud. A. Große in Jena 6 Mk.; F. R. 20 Mk.; Gust. Schaumann in Lac Paulo (Brasilien) 50 Mk.; Hofgerichts-Advocat Weller in Darmstadt 9 Mk.; G. Schke. in H-e 100 Mk.; G. A. Wislicenus in Zürich 25 Mk.; Dr. Kierschi in Belgrad 5 Mk.; F. H. in Würzburg 5 Mk.; Henry Villard in Boston 75 Mk.; Rabbiner Stern in Buttenhausen 3 Mk.; M. und K. in Galizien 2 fl.; aus Halle ungenannt 60 Mk. 75 Pf.; zwei Freunde aus Bradford 121 Mk.
In Folge unseres Aufrufes veranstalteten die Herren Blind, Schaible und Trübner in London eine Separat-Sammlung, deren Erträgniß, 251 Pfund Sterling oder 5100 Mark, dem Herrn Professor Ruge mit einem Begleitschreiben überreicht wurde, in welchem dem Adressaten die wärmste Anerkennung für sein langjähriges Wirken zu Gunsten geistiger und staatlicher Befreiung ausgesprochen wurde. Mit der Schlußnummer dieses Jahrganges schließt nunmehr auch die Gartenlaube ihre Sammlung, die mit der Londoner zusammen 19,000 Mark ergeben hat, und danken wir vorläufig im Namen des Comités allen den freundlichen Gebern, welche auch nach langer Zeit sich der hohen Verdienste unseres braven Ruge erinnerten.Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der dreiundzwanzigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen, und machen ihnen zugleich die erfreuliche Mittheilung, daß die erste Nummer des neuen Jahrgangs mit der bereits angekündigten Erzählung:
beginnen wird, der sich sodann anschließen werden die Fortsetzungs- und Schlußcapitel von Levin Schücking’s „Der Doppelgänger“ und später
Von den demnächst erscheinenden belehrenden und unterhaltenden Artikeln heben wir vorläufig hervor:
Das rothe Quartal. Aus der Geschichte der Pariser Commune. Von Prof. Johannes Scherr. – Um eines Knopfes Dicke. Aus dem Eisenbahnleben. Von M. M. von Weber in Wien. – Der Spiritismus in seinen Verirrungen. Von Dr. Stein. Mit Abbildungen. – Aus dem jüdischen Familienleben. Von S. von Mosenthal. Ein entlaufener Lehrling. Künstler-Charakteristik. Von Herman Schmid. Mit Gruppenbild von Grützner in München. – Louise. Zur hundertjährigen Geburtstagsfeier der Mutter unseres Kaisers. Mit Abbildungen. – Die weiße Frau. Eine historische Revue. Von Georg Hiltl. Mit Abbildungen. – Die Farbenblindheit, eine Gefahr für das öffentliche Leben. – Böhmische Glasindustrie. Von A. B. – Bilder aus Amerika. Von Richard Blum. Mit Abbildungen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Neujahr aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig anstatt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.