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Die Gartenlaube (1875)/Heft 32

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 32.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.


Hund und Katz’.
Eine Geschichte aus dem bairischen Oberland.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


3.

Fabian und Sebastian
Soll der Saft in die Bäume gahn.

Wieder waren einige Monate verflogen, und was sie gebracht, hatte sie nicht zu überdauern vermocht – nur an den Eichen und Buchen, die den Höhen und dem Seegestade entlang stehen, hingen noch die Büschel dürrer frostgebräunter Blätter, in der weiten Winterlandschaft das einzige Zeichen, daß über den schneebedeckten Hängen, der matten halb überfrorenen Seefläche und den fernen eisstarrenden Gebirgen jemals ein Frühling geblüht, ein Sommer gereift und ein Herbst geerntet hatte. So weit das Auge des Wanderers zu reichen vermochte, überall bot sich ihm dasselbe Bild der Erstarrung – eine riesige Schneelandschaft zog sich so endlos dahin, daß die zerstreuten Häuser und die Waldstrecken sich nur wie verloren davon abhoben; vergebens schien die Sonne mit mittäglicher Kraft darauf herunter, ein scharfer Ostwind machte ihre Strahlen abweichen, daß sie nur geschwächt die überharschte Schneedecke trafen und die Eiskrystalle derselben flimmern machten. Nur die Schneeflocken und Reifsterne, die an den Zweigen hingen, vermochten nicht, ihnen zu widerstehen, und fielen geräuschlos hernieder.

Auch für das Ohr war das Gepräge des Todes und Verstummens über die ganze Gegend gebreitet – nur ein einziges Mal rollte ein dumpfes Krachen wie schwacher Donner darüber hin, ohne daß irgendwo eine Bewegung zu bemerken war, von der das Geräusch hätte ausgehen können; beinahe zu gleicher Zeit strich ein Fischgeier hart an der überfrorenen Seefläche hin, hob sich dann ebenso rasch in die Luft und stieß einen langgezogenen Ruf aus, der sich wie ein Freudenschrei anhörte.

Der Wanderer, der auf dem Seesträßchen dahin schritt, blieb stehen, sah dem Fluge des Vogels nach und warf einen prüfenden Blick auf die Eisdecke des Sees.

Es war der Trompeterfranzl, der greise Hochzeitlader, den weder Kälte noch Schnee abhielt, die Baßgeige über der Schulter, Diessen zuzuwandern, wo das Instrument noch heute in Thätigkeit kommen sollte. Dasselbe war vorsichtig in ein starkes Tuch gehüllt, während der Träger sich selbst viel geringere Sorgfalt zugewendet hatte; er trug sein gewöhnliches Bauerngewand, nur die Hände staken in einem Paar derber Fäustlinge aus Fuchspelz, und auf dem ausnahmsweise übereinander geknöpften Rocke hing das kleine unscheinbare Erzkreuzchen, das Denkzeichen an den russischen Feldzug, als ob es die alte Brust und das Herz darunter warm halten sollte vor dem schneidenden Ost, der eben mit stärkerem Odem über den See blies und die Schneeflöckchen auf demselben wirbeln machte. Rüstig stand er da und während Andere schon vor seinen Jahren das Aussehen hatten, als gäbe es für sie keinen Platz mehr, als in der warmen Stube auf der Bank hinter’m Ofen, hatte ihn das heitere Gemüth und die Freude an den Tönen so lebfrisch erhalten, daß er mit den von der Kälte gerötheten Wangen fast einem Burschen glich, der, anstatt dazu aufzuspielen, lieber selbst Lust hatte, zum Tanze anzutreten. Um seine Naturbeobachtungen bequemer vornehmen zu können, stellte er den Baß vor sich hin und griff dann in die Tasche, um eine Handvoll Brodkrumen, mit denen er sich offenbar eigens versehen hatte, unter die Hecken zu streuen, durch welche allerlei Gevögel huschte und sich sein kümmerliches Futter zusammenlas. Die Finken, Emmerlinge und Meisen verschmähten die gastliche Einladung zu offener Tafel nicht, und auch eine Amsel überwand allmählich ihre Schüchternheit; um näher hüpfend und mit ihrem Goldschnabel pickend daran Theil zu nehmen.

Mit einem fröhlichen Kinderlächeln, auf seinen Baß gelehnt, sah der Greis dem Spiele seiner gefiederten Gäste zu; plötzlich schwirrten sie alle in die Höhe und flüchteten in die sicheren Wipfel höherer Bäume. Die Ankunft eines Zeugen und sein lauter Ruf hatten sie verscheucht; es war ein Bauernbursche, der in hohen Schneestiefeln quer über die Anhöhe herabkam, als habe er nicht Zeit der Krümmung zu folgen, in welcher der Fußpfad sich gegen das Gestade hinunter schlängelte.

„Oho,“ rief er schon aus der Entfernung lachend herunter. „Oho, Wettermannl’, futterst die Vögel und machst ihnen gleich Tafelmusik dazu auf Deiner Baßgeigen?“

Verstimmt und mit dem Auge zwinkernd sah der Alte nach dem Störer hin. „Du bist es, Zachariesel?“ entgegnete er in einem Tone, der sich nicht bemühte freundlich zu sein. „Was kommst Du denn über die Leiten heruntergeschossen wie ein Hacht und verjagst mir meine Kostgänger? Ist vielleicht wieder ein Bach in der Näh’, in den Du hinein plumpen willst? Oder willst zuhören bei meiner Tafelmusik? Das kann schon sein. Ich hätt’ gute Lust, Dir ein Stückel aufzuspielen. Du hast Ursach’, andere Leut’ bei ihren Spitznamen zu nennen, Du ewiger Hochzeiter Du.“

Ueber das Antlitz des Burschen, der inzwischen langsamer [534] auf die Straße herabgekommen war, glitt ein flammendes Roth; er schien nicht abgeneigt, dem Alten in demselben gereizten Tone zu erwidern, aber er zwang sich zum Lachen und sagte wie gleichgültig: „Daran liegt nicht viel, mein’ ich – für Dich ist’s keine Unehr’, wenn man Dich das Wettermannl’ heißt, das Wort aber, das Du gesagt hast, ist eine Schand’, daß es mir dabei siedig heiß gegen den Kopf steigt, und ich mein’, ich müßt’ Jeden niederschlagen, der so sagt’.“

„Na ja,“ erwiderte der Hochzeitlader mit eigenthümlichem Lachen, „wär’ schon ein schönes Stück, wenn Du Deine Wuth an einem alten Mann’l auslassen thätst, wie ich einer bin; wenn Du es aber mit Jedem so machen willst, der Dir das Wort zu Gehör red’t, da kann’s leicht geschehen, daß Du hübsch viel zu thun kriegst. Ich mein’ aber, Du könntest es leichter haben; der Spitznamen wird von selber wegfallen, sobald Du machst, daß er nimmer zutrifft.“

„Als wenn das an mir liegen thät’!“ rief Zachariesel eifrig. „Dafür kann ich doch nichts, daß die Mühl’ baufällig war und daß die Basen gestorben ist und daß die Mechel jetzt in die sechs Wochen krank und bettliegerig gewesen ist.“

„Dafür kannst Du freilich nit, Du Lapp,“ antwortete der Alte mit halbem Lachen, „aber wenn Du nur einmal ernsthaft das Maul aufthätest und sagtest: ‚so und so ist es, und so und so muß es sein, so will ich’s einmal haben,‘ dann würdest Du sehen, dann ging’ es gleich aus einem andern Ton. Merkst Du denn nicht, daß das Müllermädel, das halbgestudirte, Dich zum Narren hat? Daß sie blos spielt mit Dir, wie ein muthwilliger Bub’ mit einem Maikäfer, den er an einen Faden gebunden hat und fliegen und schnurren läßt, so lang’ es ihn freut, nachher aber wieder zurückzieht?“

„Du hast gut reden,“ seufzte der Bursche, „wenn sie mich halt so recht anschaut mit ihren kohlschwarzen Augen und wenn sie mir gute Wort’ giebt, da kann ich nicht Nein sagen. Du weißt halt nicht, wie das ist, wenn man Eins so recht von Herzen gern hat.“

„So? Hast Siegel und Brief dafür?“ fragte der Alte mit eigenthümlichem Blick und Ton entgegen. „Wenn Du schon glaubst, ich wüßt’ nicht, wie Einem dabei ist, so sag’ ich Dir doch, ich glaub’ Dir’s gar nicht, daß Deine Lieb’ zu dem Madel gar so enterisch (ungeheuer) ist; wenn das so wär, so hättest Du schon zehnmal für einmal Mittel und Wege gefunden und alle Krummen gerad’ gemacht.“

„Tratz’ mich nicht!“ sagte Zachariesel mit einer Miene, in welcher Zorn und Betrübniß miteinander kämpften, „hilf mir lieber! Mach’ Du meinen Procurator! Du bist es gewohnt vom Hochzeitladen her und weißt, wie man seine Reden richtig setzen muß: wie wär’s, wenn Du statt meiner zum Grubenmüller gingst und thätst ihn sprachen? (Jemand sprachen: soviel wie: ernsthaft zur Rede stellen.) Ja, das wird das Gescheidteste sein. Sag’ ihm und auch der Mechel …“

„Gieb Dir keine Müh’!“ sagte der Alte und nahm seinen Baß wieder auf, „das geschieht doch nit. Ich muß nit von Allem haben und misch’ mich nit unter Liebesleutel – hab’s neulich erst probiren wollen und hab’s erfahren, wie’s damit geht.“

„So gieb mir wenigstens einen Anschlag.“

„Einen Anschlag? Meinethalben. Eigentlich sollt’ ich zwar nicht; eigentlich sollt’ ich Dich an Deinem Kreuz hängen lassen, weil Du mich mit Deiner Hochzeitladerei wie einen Narren im ganzen Gau hast herumreiten lassen, aber ich will’s mit Dir nicht so genau nehmen und will Dir einen Anschlag geben, aber ich mag nicht da in’s Freie hersteh’n und in der Kält’. Wohin willst denn eigentlich, weil Du’s gar so eilig gehabt hast? Wieder da ’nüber?“ setzte er nach kurzem Innehalten spottend hinzu, indem er über seine Schulter hinweg mit dem Daumen nach dem See und dem jenseitigen Ufer deutete.

„Ja,“ entgegnete Zachariesel kleinlaut, „ich bin vorgestern drunten gewesen und da –“

„Und da hat sie Dir wieder einmal den Kopf heiß gemacht?“ lachte der Alte, da er stockend einen Augenblick inne hielt.

„Ja,“ fuhr er fort, „weil Faschingzeit ist, hat sie am nächsten Sonntag hinüber gewollt nach Weilheim; da geben die Frackischen (Frackträger, soviel wie: Stadtherren) einen Tanz oder Ball, wie sie’s nennen …“

„Aha,“ fiel der Alte ergänzend ein, „das ist Dir nicht recht gewesen, weil Du mit den Frackischen eiferst, und da habt Ihr Euch wieder einmal gestritten, und Du bist auf und davon und hast es in Deinem Zorn verredet, daß Du unter acht Tagen nicht wieder in die Grubenmühl’ gehst.“

Zachariesel sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. „Auf’s Haar ist’s so,“ sagte er, „aber wie kannst denn Du Alles so akkerat wissen?“

„Das sagt mir Alles mein kleiner Finger,“ erwiderte der Alte ernsthaft, „ich darf nur ein gewisses Sprüchel sagen und zwischen Dunkel und Siehstmichnit (zwischen Dämmerung und Nacht) den Finger an’s Ohr halten, da erzählt er mir Alles, was ich erfahren will. Also hast Du’s einen ganzen Tag ausgehalten, und jetzt bist Du eilends auf dem Weg in die Grubenmühl’ und willst dem Mädel sagen, daß es Dir leid thut und daß Du gar nichts dagegen hast, wenn sie auf den Ball geht und sich von den Weilheimer Frackischen recht herum tanzen läßt.“

„Du hast es wieder schier ganz errathen,“ sagte Zachariesel, „ich hab’ ihr sagen wollen, sie sollte nur auf den Ball geh’n, aber mich muß sie auch mitnehmen, und damit sie’s nicht anderwärts zusagt, bin ich den geradesten Weg über die Felder gelaufen und hab’ über den See hinüber gewollt.“

„Die zwei Sachen lassest Du alle beide schön bleiben,“ rief der Alte. „Ueber den See zu geh’n, ist nicht mehr rathsam.“

„Was fallt Dir ein?“ entgegnete Zachariesel, dem See zugewendet. „Das Eis ist ja wie ein Spiegel und hat noch nirgends den kleinsten Sprung. Das hält noch seine drei Wochen an, bei der Kälten.“

„Willst Du das besser versteh’n?“ fragte der Alte mit wichtiger Miene. „Hast vorhin das Krachen nicht gehört?“

„Freilich, ich hab’ gemeint, es hätt’ ein Jäger auf ein Wildbrät geschossen.“

„Da ist mir um Deine Ohren leid, wenn Du das für einen Schuß gehalten hast,“ rief der Andere wieder. „Das Eis ist’s gewesen, zu tiefst drunten im See. Das Grundeis, das hat einen Riß bekommen; drum ist auch vorhin schon ein Fischgeier über’s Eis hingestrichen, als wenn es schon offen wär’, und hat einen Ruf gethan dazu, und das ist eine gewisse Regel:

Wenn über’m Eis der Geier schreit,
Dann ist der Auswärts nimmer weit.

Du meinst, die Gefrier soll noch drei Wochen halten? Ich sage Dir, sie hebt (hält) keine drei Tage mehr an. Jetzt ist die Zeit, da rührt sich die Natur in der Tiefe, da kommt die Grundwärm’ herauf, und wenn es auch noch aussieht, als wenn der Winter erst anfangen sollt’, über Nacht kommt der warme Tirolerwind, und Alles springt um. Ist auch nicht mehr lange hin auf Fabian und Sebastian, und da muß der Saft in die Bäume gahn, wenn’s einen richtigen Laubs (Lenz) geben soll. Ich denk’,“ fuhr er, sich in Bewegung setzend, fort, „ich denk’, Du gehst mit mir nach Diessen hinein; da muß ich heut’ aufspielen beim Faschingsritt; kannst auch zuschauen. Ich will’s in der Still’ überlegen, was Du thun und sagen sollst; in der Weil’ kannst Du Dich umsehen, ob nicht ein Fuhrwerk da ist, mit dem Du ein Stück um den See herum fahren kannst. Es kommen ja zu der Narrethei die Leut’ von überall her, vor allem Ueberlegen aber sag’ ich Dir gleich auf der Stell’: das Gescheidteste ist, Du bleibst beim Faschingsritt und tanzest, was das Zeug hält und die Schuh’ vertragen, und gahst nicht in die Grubenmühl’. Sie müßt’ mir kommen und um ein schön’s Wetter bitten, wenn ich an Deiner Stell’ wär’.“

„Wenn sie’s aber nicht thut …“

„Sie thut’s, wenn ihr an Dir nur ein wenig gelegen ist, und wenn es wär’, und sie thät’s doch nicht, dann bist Du sie los. Dann brauchst nicht Oberknecht auf der Grubenmühl’ zu werden, denn etwas Anderes wirst Du doch nicht, und dann wird’s wohl noch ein anderes Mädel geben, das Du Dich zu kriegen traust.“

Zachariesel seufzte tief auf, aber erwiderte nichts; der Gedanke, Mechel aufzugehen, war ihm unfaßbar. Er veränderte daher das Gespräch und bot sich an, seinem Berather die Last abzunehmen und die Baßgeige für ihn zu tragen. „Meinetwegen,“ erwiderte der muntere Alte, „den Gefallen kann ich [535] Dir ja thun, nur mußt Du mir versprechen, daß Du nicht an die Grubenmühl’ denkst und an die Weilheimer Frackischen, sonst könnt’ es meinem armen Contrabaß gehen, wie es einmal beim Maurerhansel einem gewissen gipsernen Engerl gegangen ist.“

Schweigend nahm der Bursche die Last auf sich. Die Anspielung des Alten zeigte ihm auf’s Neue, wie alles Vorgefallene schon bekannt und zum Gegenstande allgemeinen Gespräches geworden war; es ward ihm darüber so bitterlich weh und doch wieder so grimmig um’s Herz, daß er den Baßgeigenhals krampfhaft umklammerte, als wäre es der eines Spötters, und daß ihm dabei doch die Thränen in die Augen schossen. Eines aber ward ihm immermehr zur Gewißheit, daß es so nicht länger fortgehen könne und er sich entschließen müsse, einen Entschluß zu fassen. Der Alte mochte bemerken, was in ihm vorging, und überließ ihn seinen Gedanken; die eigenen waren ihm lange befangen von den dürren Bäumen und Sträuchern am Wege, von den Raupengespinnsten, die daran herunterhingen, und von den schwarz gewordenen Schlehen und den braunen Hagebutten, die keine pflückende Hand gefunden hatten. Oft und lange sah er See und Himmel an, und es schien ihm nicht zu gefallen, daß im Süden gegen die Berge ein bräunlicher Qualm wie verwehter Rauch aufzusteigen begann, und kopfschüttelnd brummte er vor sich hin:

„Höhenrauch braun und dick
Bricht dem Winter ’s G’nick …“

Schweigend waren sie schon Diessen nahe gekommen, wo die Straße sich vom See abwendet und in leichtem Waldschlage verliert; ein Schlitten, von einem raschen Gaule gleich einer Nußschale wie im Fluge fortgezogen, klingelte lustig heran. Der kundige Hochzeitlader, trotz seiner schwachen Augen, hatte das Fuhrwerk wie dessen Herrn in Bälde erkannt. „Das ist ja gar der Schlösselbauer,“ rief er, „den erkenn’ ich am Schlittengeläut’; kein Anderer hat einen Schellenkranz, der so fein klingt, schier wie ein Glockenspiel. Grüß’ Gott, Schlösselbauer!“ rief er dem näher Kommenden zu, der mit einem Gegengruße das Pferd anhielt und dem Hochzeitlader die Hand schüttelte, die ihm derselbe in freudiger Eile sammt den füchsenen Fäustlingen entgegenstreckte. „Woher, Schlösselbauer? Bist auch in Diessen gewesen, beim Fasching? Willst schon so bald wieder heim? Das Reiten muß ja erst angeh’n, mein ich. Und gar allein bist? Wo ist denn Deine Tochter, die Kuni? Wird doch nicht etwa gar krank sein?“

„Du fragst einmal viel miteinander,“ lachte der Bauer, „da freut mich mein Leben mit lauter Antworten. Freilich bin ich in Diessen gewesen, hab’ gemeint, ich wollt’ mir die Narrethei anseh’n, aber es hat mir nichts recht gefallen wollen – da hab’ ich mir ’denkt, wenn ich Weillang haben will, das bring’ ich daheim auch zuwegen, und allein muß ich fahren, weil meine Kuni fort ist; drüben, gegen Kloster Polling hin, lebt ein altes Basel von ihrer Mutter selig; die ist schwer krank, und da hat sie sich’s mit Teufelsgewalt in den Kopf gesetzt, es wär’ ihre Pflicht und Schuldigkeit, daß sie einer so nah Befreund’ten auswarten thät und sie müßt’ sich noch auf ihrem eigenen Todbett’ Vorwürf’ machen, wenn sie’s nicht gethan hätte. Was willst machen, wenn sich so ein verflixtes Dirn’l einmal was in den Kopf gesetzt hat?“

„Hm, hm, jetzt fällt mir ein, ich hab’ so ’was läuten, aber nicht schlagen hören,“ erwiderte der Alte, indem er sich nach Zachariesel umsah und befriedigt fortfuhr, als er denselben mit dem Basse ruhig weiter traben sah. „Es hat geheißen, sie hat den Leuten auf eine Weil’ aus den Augen und aus dem Gered’ geh’n wollen – Du weißt wohl, von wegen der Geschicht’ in Erling mit dem Loostanze.“

Sichtlich unangenehm berührt, riß der Bauer an den Zügeln, obwohl das Pferd sich nicht von der Stelle geregt hatte. „Das hätt’ sie auf dem Schlösselbauernhofe auch haben können,“ sagte er mürrisch, „da oben ist ohnehin eine Einöd’, wo Füchs’ und Hasen einander gute Nacht geben, und dann mein’ ich, sie hätt’s nicht nöthig gehabt; selbiges Mal bei dem Loostanze ist nichts gescheh’n, wegen dessen sie sich hätt’ verstecken müssen. Was liegt daran, ob’s noch ein paar hundert Menschen mehr wissen, daß die Zwei einander nit leiden können und von Jugend auf einander feind sind, wie Hund und Katz’! Wie’s nur auch möglich gewesen ist, daß es sich gerad’ so auftrifft, und daß gerad’ die Loos’ von denen Zweien haben herauskommen müssen.“

„Ja wohl, wie so was nur möglich!“ sagte der Alte so unbefangen, wie er es mit seinem ehrlichen Gesichte zuwege brachte, durch das der Schalk guckte. „Man möchte diemalen wirklich an eine Hexerei glauben, wenn das Hexen nicht aus der Mode gekommen wär’. Aber gut war’s bei alledem, daß sie einmal so recht aneinander gerathen sind; jetzt ist das verhaltene wilde Feuer heraus; jetzt wird wohl Frieden sein auf eine Weil’.“

„Ja, bei ihm, bei dem groben Burschen, kannst wohl Recht haben,“ erwiderte der Bauer, „er hat sich ausgesprochen und ausgeschrieen genug, aber mein Mädel hat die Kränkung erhalten und hat sie mit ihren Zähern hinunterschlucken müssen. Sie ist mir ganz verkehrt seit der Zeit, und geweint hat sie in ihrem ganzen Leben nit so viel, als in den vier Wochen seit der Andechser Wallfahrt.“

„So so, fangt das Wetter an weich zu werden?“ rief der Hochzeitlader rasch, „das ist kein schlechtes Zeichen. Riegle Deine Thaler, Schlösselbauer! Es giebt bald Hochzeit.“

„Du denkst an nichts als an’s Hochzeitladen und an’s Hochzeitstiften,“ lachte der Bauer. „Meine Kuni will jetzt erst recht nichts vom Heirathen hören. Bei der kannst Du den Kuppelpelz in den Rauchfang schreiben.“

„Mach’ Du mir meinen Gaul nicht scheu!“ erwiderte der Alte, in das Lachen einstimmend, „eine Henn’ ist auch ein Vogel und

Wird erst der Boden warm und feucht,
Thut sich das Grasel beim Aufgeh’n leicht.

Spott’ Du nur, Schlösselbauer! Es kommt schon die passende Zeit, wo ich Dir’s heimgeben kann. Wo ist denn aber er?“ setzte er bedenklich hinzu. „Hast nichts gehört von ihm?“

„Wer?“ fragte der Bauer verwundert. „Von wem soll ich was gehört haben? Du meinst doch nicht etwa gar denselbigen, den …“

„Ja wohl’, red’ nur aus, denselbigen, den gar Andern mein’ ich,“ entgegnete der Alte. „Wenn er auch nicht Dein Schwiegersohn werden will, kannst ja doch von ihm gehört haben, und mir mußt Du’s nit übelnehmen, wenn ich nach ihm frag’: der Bub’ ist mir einmal an’s Herz gewachsen. Du hast ja gesagt, Du wolltest ihm heimgeben, was er Dir und der Kuni angethan hat, also wirst ihn wohl aufgesucht haben. Seit er dort in Erling verschwunden ist, hab’ ich von ihm nichts mehr gehört und geseh’n. Sein Vater weiß selber nichts von ihm und meint, ob er nicht etwa gar noch einmal in’s Griechenland hinein ist.“

„Dasselbe glaub’ ich nicht,“ war des Bauern Antwort, „da thäten sie ihn kennen und herausliefern, denn jetzt ist er selber ausgeschrieben, wie ein Maleficant; jetzt ist es erwiesen, daß er den Spitzbuben ganz offen in’s Haus geführt und für einen Cameraden aus dem Griechenlande ausgegeben hat, und wenn sie ihn finden, wird er selber eingehäuselt auf ein fünf bis sechs Jahrle.“

„Warum nit gar!“ erwiderte der Alte kopfschüttelnd. „Es kann doch gar kein so großes Verbrechen sein, daß er dem armen Teufel durchgeholfen hat. Ich hab’ ihn geseh’n und mich hat er erbarmt, und wenn Du ihn geseh’n hättest, Schlösselbauer, Du hättest ihn auch nicht ausgeliefert, sondern hättest ihm durchgeholfen. Und seit der Zeit hab’ ich den Buben erst recht in mein Herzkastel eingeschlossen und wünschet’ nur, daß es ihm so recht gut geht, und wenn’s auch nit sein kann, schad’ ist’s doch, daß er nicht Dein Schwiegersohn wird – dabei bleib’ ich, bis die Kuh einen Batzen gilt.“

„Und ich bleib’ dabei, daß Du ein alter Faxenmacher bist, Trompeter-Franzl,“ rief der Bauer halb lustig, halb ärgerlich. „Weil Du doch so gut auskennst in den Kräutern, so schau, daß Du einmal die Gescheidtwurz findest. Die thut Dir noth und Du hast hohe Zeit. … Behüt’ Dich Gott, Wetter-Mandel!“

Der Schlitten sauste dahin, und der Alte rief ihm nach: „Gleich mach’ ich mich an’s Suchen, Schlösselbauer, und wenn ich die Gescheidtwurz hab’, laß ich Dich nicht zu kurz kommen.“

Die Worte vertönten im Schellenklingeln und Peitschenknall. Der Hochzeitlader brauchte aber geraume Zeit, bis er Zachariesel eingeholt, der, in Gedanken fortschreitend, einen ansehnlichen Vorsprung gewonnen hatte. Der Bursche war darüber wieder ruhiger geworden. Zeit und Ueberlegung hatten ihn abgekühlt [536] und in seinem Gemüthe wieder Raum für andere Bilder geschaffen. Einmal gerieth dabei die Baßgeige in wirkliche Gefahr, denn als er bei den ersten kleinen Häuschen des Marktfleckens angekommen war und eine weibliche Gestalt in eines derselben ging, fuhr er aus seinem Brüten auf, daß er stolperte und nahezu gefallen wäre – war es ihm doch gewesen, als ob die Gestalt, wenn er sie auch nur von rückwärts sah, dem Mädchen glich, das ihn zwischen Erling und Andechs über den Zaun gegrüßt hatte. Eben besann er sich noch recht, daß ja die Gestalt helles Haar habe, während die Zöpfe des Mädchens vom allerschwärzesten Schwarz gewesen – war das Bild auch in seiner Erinnerung wieder verblichen und verdrängt, war der Eindruck dennoch tief genug gewesen, um immer wieder zum Vorscheine zu kommen, besonders wenn der Tag und die Geschäfte des Tages vorüber waren. Es ging damit, wie wenn in irgend einem alten Gebäude der Bewurf sich von der Wand abbröckelt und ein altes Gemälde sichtbar werden läßt, von dem kein Mensch mehr etwas gewußt oder an das doch seit vielen, vielen Jahren kein Mensch mehr gedacht.

Im Markte wurde der Alte und seine Baßgeige bereits erwartet; wußte er sie doch ungemein lustig zu handhaben und ihr so lächerlich brummende Töne zu entlocken, daß diese Musik mit zu den Hauptspäßen der Faschingslustbarkeit gehörte. Eine Schaar muntere Bursche verkleidete sich dabei in allerlei Masken, wie die Einbildungskraft des Landvolkes sie erfindet und als altes Herkommen werth hält. Da war ein buntscheckiger Hanswurst, der sich mit Ruß einen wilden Bart gemalt hatte und die Mädchen mit den Küssen, die er drohte, vor sich herscheuchte; der bairische Hiesel mit seinem großen Hunde und dem nie fehlenden Stutzen kam als grimmiger Wildschütz heranstolzirt. Wilde Männer schritten durch die Menge, in umgekehrte Wildschuren gehüllt und mit mächtigen Bärten aus Hanfwerg am Kinn und Tannenreisig um die Köpfe. Keinem fehlte der Zweig der wintergrünen Sangen oder Stechpalmen, denn das ist eine geheimnißvolle Pflanze, welche gar wunderbare Kraft in sich haben soll. Auf einem Klepper, der durch künstliche Höcker zu einem Dromedar umgestaltet war, saß zwischen den Buckeln der eigentliche Faschingsnarr, ein Vermummter, der, wenn der Zug vor den Häusern anhielt, eine Art gereimter Strafpredigt ablas und Spottverse über die Thorheiten sang, die man sich von den Bewohnern erzählte, ähnlich, wie es in anderen Gauen beim Haberfeldtreiben zu geschehen pflegt. Die Hauptpersonen des eigentlichen Spiels aber waren zwei Knaben, welche, als Winter und Sommer verkleidet, den Kampf der beiden Jahreszeiten, der nun bald wieder beginnen sollte, singend erst mit Worten, dann mit den Fäusten darstellten. Natürlich mußte der Winter spielgemäß zuletzt unterliegen, aber aus der größern oder geringern Leichtigkeit, mit welcher der Sommer ihn bezwang, wurden allerlei Anzeichen entnommen, ob in der Wirklichkeit dieser Kampf sich bald entscheiden oder in die Länge ziehen werde. Reiter beschlossen wieder den Faschingsritt, an dessen Spitze die Musikanten um die Wette bliesen, pfiffen und trompeteten.

Eben war das Spiel wieder beendet; der Sommer in weißem Hemde und einem Kranze gemachter Blumen im Haare hatte eben dem plumpvermummten Winter ein Bein gestellt und ihn mit Pelzmütze und dem Tannenbäumchen, das er trug, zu Falle gebracht, als der herumspürende Hanswurst den Zachariesel unter den Zuschauern gewahrte und ihn, ehe dieser sich seiner erwehren konnte, gepackt und in den Kreis geschleppt hatte.

„Der gehört auch zu uns,“ rief er mit gellender Stimme. „Der ewige Hochzeiter hat uns noch gefehlt; der ist auch ein Faschingsnarr.“

Schallendes Gelächter begleitete den Einfall, aber Zachariesel wehrte sich wie ein Rasender und warf mit einem wilden Faustschlage den Hanswurst bei Seite, dem darüber das Blut aus Mund und Nase schoß und in den beschmierten Bart rann; ein Paar nicht minder kräftige Stöße bahnten ihm den Weg durch die höchlich ergötzte Zuschauermenge, und ehe man sich recht besann und daran dachte, ihn festzuhalten, hatte er schon eine Nebengasse erreicht und rannte die Straße dahin. Er dachte nicht mehr an den Hochzeitlader und seinen versprochenen Rath; jetzt bedurfte er desselben nicht mehr. Die allgemeine öffentliche Verhöhnung hatte dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Jetzt half ihm das siedende Blut, schnell zur Fassung und zum Entschlusse zu kommen. Alle sollten sie beschämt und gründlich überwiesen werden, wie sehr sie ihm Unrecht gethan; nun galt es, die Sache zum Biegen oder Brechen zu bringen. Doch nein, brechen sollte sie nicht. Das hätte ihm erst recht als Beweis seiner Schwäche ausgelegt werden können; gerade darin sollte seine vollste Rechtfertigung und sein Triumph bestehen, daß er seinen Willen nicht brechen ließ, sondern daß Alles sich vor ihm beugte und daß er vollständig durchsetzte und erreichte, was er sich einmal vorgenommen. Dann, wenn er Mechel in den nächsten Wochen zum Altare führte und in der Grubenmühle als Herr und Vogt seinen Einzug hielt, dann sollte alle Welt erkennen, was er für ein Mann war.

Lange noch, als er sich schon überzeugt hatte, daß die Faschingnarren eine Verfolgung gar nicht beabsichtigten oder wieder aufgegeben hatten, rannte er stürmisch dahin, als ob die gefrorene Straße ihm unter den Füßen brennte, und hörte darüber kaum, daß ihm ein Schlitten nachgefahren kam, dessen Inhaber, als er bei ihm angekommen, seine Pferde anhielt. Es war ein Bekannter aus der Umgegend, der ihn einlud, mit ihm ein Stück Weges zu fahren. Mit den frischen Pferden ging die Fahrt schnell von Statten, und als Zachariesel an der Wegscheide mit flüchtigem Gruß und kurzem Dank abgestiegen war, trieb es ihn auf seinem Waldwege durch die kahlen Büsche und das Stangengehölz dahin, wie ein Boot, das der Wind in den Segeln gefaßt hat und unaufhaltsam dem Gestade oder einem Riff oder einer Sandbank entgegen treibt. Bald war die schmale Schlucht erreicht, an deren Eingang die Mühle, um ihren Namen zu rechtfertigen, wie in einer Grube stand, halb überwölbt von einem Haine uralter Buchen, deren Laubdach im Sommer kaum einen Sonnenstrahl auf den brausenden Bach hernieder dringen ließ, der unter Gebüsch und überhangendem Gesteine so eilfertig hervorschoß, als könne er es nicht erwarten, die Mühlschußrinne zu erreichen und im Sturze seine Kraft an den Schaufeln der Räder zu versuchen. Jetzt sah es allerdings winterlich kahl und einsam unter den Buchen und vor der Mühle aus, aber das Haus mit den blanken Fenstern, dem rauchenden Schornstein und dem Geklapper des Mühlgangs bot ein so gastliches und einladendes Bild, daß man sich wohl versucht sah, anzuklopfen und Einlaß zu fordern in der friedlichen Einsamkeit, wenn auch von der Dachrinne und dem Mühlschusse mächtige Eiszapfen herabhingen, wie die Bärte von griesgrämigen Greisen oder wie gefrorene Thränengüsse.

Jetzt hatte Zachariesel die Stelle erreicht, von wo er die Mühle und die ganze Umgebung überblicken konnte, und hielt seinen Schritt verwundert an. Nichts regte sich ringsum, und auch an dem Fenster, an welchem sonst Mechel hinter einem großen Wachsblumenstock bei der Arbeit saß und ihn zu begrüßen pflegte, blieb Alles stumm und regungslos. Er eilte die Stufen zur Hausthür hinan – sie war verschlossen; er stürmte wieder hinab und in die Mühle hinein – ein verschlafener Mühlknapp erhob sich von der Bank und sah ihn verwundert an. „Wißt Ihr denn das nicht?“ erwiderte derselbe auf die hastige Frage, „wo Mechtilde und der Grubenmüller sich befinden. Das ist aber spaßig. Ich hab’ gemeint, die Jungfer hätt’ Euch Botschaft davon gethan. Letzthin – Ihr seid fortgewesen – da ist ein Brief aus der Stadt gekommen, und da sind sie fortgereist …“

„Nach Weilheim?“ rief Zachariesel grimmig.

„Warum nit gar!“ lachte der Knappe, „was sollten sie denn da thun? Das wär’ ja ein Weilheimerstückl; der Brief ist aus der Münchenerstadt gewesen, und dahin sind sie auch gereist – heute in aller Früh.“

Zachariesel war es, als ob das ganze Mühlwehr abgelassen sei und ihm vor den Ohren brause. „Aber warum denn?“ stieß er mühsam hervor. „Was thun sie denn jetzt mitten im Winter in München?“

„Ja, das weiß ich nicht,“ entgegnete der Knappe, indem er dem einen Mahlgang, der zu läuten begonnen hatte, Frucht aufschüttete und darüber hinweg den bestürzten Frager mit verwunderten Blicken und spöttisch zuckenden Mundwinkeln betrachtete. „Der Herr hat nur gesagt, in ein paar Tagen kommen sie schon wieder, aber drinnen in der Stuben auf dem Fensterbrett liegt noch der Brief, der aus der Stadt gekommen ist – da wird wohl Alles drinnen steh’n …“

Und in dem Briefe stand auch, wenn nicht Alles, so doch genug und weit mehr, als Zachariesel zu wissen verlangt und erwartet hatte.

(Fortsetzung folgt.)

[537]

Ein Vorkämpfer der humanen Rechtswissenschaft.


Das Volk soll bei Zeiten Diejenigen kennen lernen, welche vorzugsweise für sein Wohl und Wehe bestrebt sind. Unter die nicht gar zu große Zahl solcher Männer gehört Franz von Holtzendorff, und deshalb wollen wir versuchen, hier, in dem Blatte, dessen Mitarbeiter er ist, eine Skizze seiner Thätigkeit zu entwerfen.

In Deutschland vorzugsweise hat man die schmerzliche Erfahrung machen müssen, daß nur Diejenigen sowohl von den gelehrten Genossenschaften wie von den maßgebenden Regierungsbehörden als „wahre“ Gelehrte erachtet worden sind, welche aus der Stille der isolirten Studirstube heraus nur auf das Katheder der Hochschulen und von diesem alsbald wieder zurück in die

Franz von Holtzendorff.

Studirstube getreten sind und nur den einen Zweck im Auge hatten, die „Wissenschaft“ für den Kreis ihrer Jünger und für die wissenschaftlichen Mitarbeiter zu entwickeln und zu fördern. Endlich – und wir sagen wohlerwogen: gottlob! – ist denn doch auch in Deutschland eine andere Zeit angebrochen. Endlich haben auch unsere Gelehrten sich herausgearbeitet aus der engen und engherzigen Beschränkung und damit der Entfremdung der Wissenschaft vom öffentlichen Leben und Verkehre ein Ende bereitet.

Am längsten hat die Zurückhaltung der „Männer vom Fache“ vorgehalten bei der Rechtswissenschaft. Es hatte dies freilich einen tief in der historischen Entwickelungsgeschichte unserer deutschen Rechtszustände liegenden Grund. Ist es doch eine zwar unbestrittene, aber im Einzelnen noch keineswegs klar gelegte historische Thatsache, daß Deutschland das Geschick hatte, daß das gelehrte römische Recht nicht nur auf dem Gebiete des Privatrechts, nein, mehr oder weniger auf allen Rechtsgebieten, dem Staatsrechte wie dem Strafrechte, dem materiellen Rechte wie dem Proceßrechte, eindrang in die Gerichtshöfe, eindrang in die Gesetzgebung, ja in die ganze maßgebende Anschauung, von dem Kaiser und den Landesherren bis herab in die Ausläufe des Beamtenthums. Es erwies sich dies besonders für die staatsrechtliche Weiterentwickelung des deutschen Staatswesens seit dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderte als ein nationales Unglück, ein Unglück, von welchem sich England so gut wie vollständig, Frankreich wenigstens zum großen Theile frei zu halten wußte.

Auf anderen Gebieten war das Eis längst mit staunenswerthem Glücke gebrochen worden. Ein Liebig steht dort im Vordergrunde. Er zeigte sofort in mustergültiger Form und mit dem bestmöglichen Gehalte seiner Schriften, daß echte Wissenschaftlichkeit in der Forschung sehr wohl vereinbar ist mit gemeinverständlicher Mittheilung der Forschungsresultate. Ein Virchow ist dem glänzenden Beispiele glänzend nachgefolgt. Vor Allem aber wäre es an sich und besonders hier undankbar, nicht unseres trefflichen Bock zu gedenken. Ihnen schloß sich eine täglich wachsende Reihe von Nacheiferern würdig an. Gerade die höchsten Fragen der Menschheit, die Entstehungsgeschichte des Weltalls, die Abstammung und Entwickelung des Menschengeschlechts wurden in trefflichen Volksschriften verarbeitet und Bescheidenheit und Humanität indirect in hohem Maße gefördert.

Unbegreiflich wäre es gewesen, wenn die Rechtswissenschaft auch jetzt noch sich der gleichen Aufgabe entzogen hätte. Und wenn auch auf diesem zuletzt übriggebliebenen Gebiete Diejenigen noch immer das große Wort führten, welche das Leben als Gegensatz von „akademisch“ auffassen, – auch das Recht weist in der That heutzutage schon eine stattliche Reihe von Vorkämpfern für die freie Forschung und Lehre auf. Ein Häusser hat den Reigen eröffnet; ein Sybel ist ihm gefolgt, und direct „vom Fache“ sind in die gleiche Bahn eingetreten Gneist, Bluntschli und – unser Holtzendorff, Alle unbekümmert um das Achselzucken der noch heute die Mehrzahl bildenden Vertreter der vornehmen Gelehrsamkeit, welche noch in der neuesten Periode Deutschlands ihre Wissenschaft von jeder Berührung mit dem Volksleben ängstlich fern zu halten nach wie vor bestrebt sind.

Unbekümmert um diese vornehmen Herren, giebt von Holtzendorff seit langen Jahren im Vereine mit jenem Virchow die „Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge“, mit dem gesinnungsverwandten Oncken die „Deutschen Zeit- und Streitfragen“ heraus. Gemeinsam ist beiden Unternehmungen das Streben der Volkserziehung und gewissermaßen auch der Versöhnung des Volks in seinen einzelnen Schichten unter einander, besonders der Arbeiter. Auch durch Anregung des Juristenvereins, gegründet 1860, und selbst durch seine Thätigkeit an der Universität gab Holtzendorff gewissermaßen unter den gleichen Widerwärtigkeiten demselben Zuge unerschrockenen und consequenten Ausdruck, indem er sogenannte „Publica“, das heißt Vorlesungen hielt, zu welchen nicht blos jeder akademische Bürger, sondern auch mit Erlaubniß des Rectors jeder Bürger überhaupt Zutritt hat, und er erlebte die Freude, daß sich zeitweise allabendlich ein großer Kreis bildungsbestrebter Männer in einem großen Hörsale der Berliner Universität einfand, um dem Gedankengange des Lehrers gespannt zu folgen und wenigstens fruchtverheißende Anregungen mit nach Hause zu nehmen. Holtzendorff setzte das Gleiche auch in München fort.

In diesen öffentlichen Vorlesungen war das eine Thema die Todesstrafe. Wie überhaupt die Humanität und ihre Förderung, besonders auf dem ganzen Gebiete des Rechts, des Staatsrechts, des Völkerrechts, vorzugsweise des Kriegs- und Friedensrechts, die eine Grundrichtung des Geistesstrebens Holtzendorff’s ist, so gehört er vor Allen zu denjenigen Vorkämpfern der Gegenwart, welche bei dem großen Gewichte der Gegenansicht beinahe ihr persönliches Renommée in die Schanze schlagen, um der Humanität besonders in dem hundertjährigen Streitpunkte der Todesstrafe endlich Bahn zu brechen.

Was ein Beccaria begonnen, ein Mittermaier in seiner reiferen Lebenshälfte mit Freimuth und Wärme vertreten, das nahm Holtzendorff auf. Er war es, welcher nicht etwa nur in

[538] jenen Vorlesungen die fernere Beibehaltung der Todesstrafe bekämpfte, sondern auch an die Spitze der praktischen Bewegung gegen dieselbe trat. Als es sich um die Beschlußfassung des Norddeutschen Reichstages über das neue deutsche Strafgesetzbuch handelte, da reichte er eine von den namhaftesten Juristen und Schriftstellern unterzeichnete Adresse gegen die Todesstrafe ein.

Der Norddeutsche Reichstag sprach sich damals bekanntlich in seinem ersten Beschlusse für die Beseitigung der Todesstrafe aus. Allein da trat Graf Bismarck für die gegentheilige Rechtsanschauung nicht nur mit seinem persönlichen Riesengewichte ein, sondern erklärte, es würde durch Abschaffung der Todesstrafe das Zustandekommen des Norddeutschen Reichsstrafgesetzbuchs gefährdet sein. Die Todesstrafe wurde daher vom Norddeutschen Reichstage, um des Zustandekommens des Strafgesetzbuchs willen, in einem zweiten Beschlusse unter die Strafmittel wirklich aufgenommen, jedoch auf eine überaus kleine Zahl von Fällen beschränkt. Allein Holtzendorff ist noch nicht ermüdet, wie das denn überhaupt seine Sache nicht ist; er hat sein Agitationsfeld im Gegentheile nur noch erweitert. Abgesehen davon, daß er nun auch in einem süddeutschen Hörsaale durch sein zündendes Wort wirkt, hat er jetzt eine Schrift – die einläßlichste seit der Schrift Mittermaier’s – nach allen Richtungen der Windrose in die civilisirte Welt hinausgehen lassen und durch sie zugleich einen neuen Appell an die Humanität erlassen. Mittlerweile hatte sich beinahe überall, selbst in England und Nordamerika, die Todesstrafe in einen letzten Winkel zurückgezogen, indem sie im Ganzen und Großen nur noch für die Fälle des Mordes beibehalten erscheint. In diesen Winkel ist er ihr nachgefolgt und hat seine neue Schrift daher gefaßt: „Das Verbrechen des Mordes und die Todesstrafe“. Gewidmet hat er sie „den parlamentarischen Vorkämpfern gegen die Todesstrafe, Eduard Lasker in Berlin und P. St. Mancini in Rom“. Wir können den Inhalt des Werkes hier auch nicht einmal skizziren. Erlauben möchten wir uns aber aus mehr als einem Grunde, die Schlußstelle wörtlich wieder zu geben. Sie lautet:

„Deutschlands Kaiser, König Wilhelm, schon im Beginne der preußischen Regentschaft zur Milde geneigt, hat seit dem Jahre 1870 kein Todesurtheil mehr bestätigt: eine Thatsache, deren Grund sich sowohl der Erläuterung wie auch den Vermuthungen gegenwärtig noch entzieht. Aber es muß darauf hingewiesen werden, daß der Monarch, der die blutigsten Schlachten der neueren Zeit siegreich schlug und in den Kriegslazarethen das Leben der edelsten Männer gleichsam selbst blutenden Herzens massenhaft untergehen sah, den Werth des menschlichen Lebens nicht geringer, sondern im Gegentheil nur um so höher veranschlagt. Wenn die Schrecken der letzten deutschen Kriege außer den unvergänglichen Lorbeeren, die unsere Krieger einsammelten, und außer der kostbarsten Frucht deutscher Einheit, auch noch Einiges dazu beigetragen haben, die Herzen der Menschen mit göttlicher Milde zu erfüllen und der endlichen Abschaffung der Todesstrafe vorzuarbeiten, so werden spätere Geschlechter auch aus diesem Grunde mehr und mehr erkennen, daß Deutschlands Kampf zu den heiligen Befreiungskriegen der Menschheit gezählt werden muß.“ –

In noch ausgedehnterem Maße und mit schneller erreichtem Erfolge als gegen die Todesstrafe hat Holtzendorff gegen die in Deutschland bestandenen ausschließlichen Gefängnißsysteme, nämlich einerseits das der Gemeinschaftshaft, andererseits das der strengen Zellenhaft, gekämpft, wie es denn überhaupt ein Grundzug Holtzendorff’s ist, sich nicht ausschließlichen Systemen und aprioristischen Theorien gefangen zu geben. Man hatte sich aber in Deutschland, da man die Gemeinschaftshaft als unzulänglich befunden hatte, nun der Zellenhaft in die Arme geworfen. Allein der bei längerer Haftdauer auf die Gesundheit der Sträflinge geäußerte ungünstige Einfluß ließ diese Haftart unter Umständen grausam erscheinen. Die Humanität verlangte vielmehr eine verständige Vereinigung beider Strafarten und die Verbesserung einer jeden, der Gemeinschaftshaft durch größere Strenge, der Zellenhaft durch Milderungen. Mittlerweile war nun aber in Irland ein neues System aufgetaucht. Nach demselben ist es dem Sträflinge selbst in die Hand gegeben, durch gutes Betragen seine Strafzeit abzukürzen. Dieses „Irische System“ (auch Progressiv-, bedingtes Freilassungssystem genannt) hatte bereits die günstigsten Erfolge aufzuweisen. Holtzendorff ergriff daher den neuen Humanitätsgedanken mit gewohnter Lebhaftigkeit und Ausdauer und machte behufs genauesten Studiums eigens eine Reise nach Irland. Seine 1858 und 1861 herausgegebenen Schriften wurden nicht nur in die hauptsächlichsten europäischen Sprachen übersetzt, sondern hatten so durchschlagenden Erfolg, daß man sie geradezu als epochemachend in der europäischen Gefängnißliteratur erachten kann. Sachsen war der erste deutsche Staat, in welchem durch den König Johann die Reform zuerst eingeführt wurde (1863, wenn wir nicht irren), worauf sie ihren Weg auch in das Norddeutsche und Deutsche Strafgesetzbuch gefunden hat.

Wir haben oben des Fürsten Bismarck gedacht. Wie sich Holtzendorff wohl von Niemand in der Liebe zum großen deutschen Vaterland übertreffen läßt, so wüßten wir auch nicht, wer mit größerer Begeisterung und mit tieferem Dankgefühle dem großen Staatsmanne – neben Stein dem größten, welchen der deutsche Boden je hervorgebracht, – zugethan wäre. Noch ehe unserm Bismarck der letzte große Schritt zur Vollendung der deutschen Einheit gelungen war, hat er ihm, wenn er auch keinen Namen nannte, ein redendes Denkmal in seinen „Principien der Politik“ 1869 gesetzt. Wer hätte schon damals nicht an den Namen Bismarck gedacht, wenn er Stellen las, wie die folgende, die Thätigkeit und die Schwierigkeiten jedes großen Staatsmannes schildernde:

„Er hat den Hafen hinter sich, den Hafen vor sich. Die Stärke und Richtung des Windes, die Strömungen des Meeres schreiben ihm die Stellung der Segel vor, und jede Stunde kann hier eine Veränderung fordern. Wer auf einer Seekarte die Curven betrachtet, welche berühmte Weltumsegler auf den Wassern des Oceans, in ihrer nach Punkten markirten Tagereise zahlreiche Windungen und Zickzackbewegungen durchlaufend, zurücklegen mußten, findet ein Gleichniß für die Bewegungen, welche zur Erreichung entfernter politischer Ziele innegehalten werden müssen.“

Am Schlusse des Buches aber sagte damals (1869) von Holtzendorff:

„An sich kann von der politischen Theorie weder eine conservative, noch eine liberale, noch eine radicale Politik jemals völlig verworfen werden. Die Politik des Freiherrn von Stein war in verschiedenen Perioden verschieden gestaltet: radical, reformatorisch und conservativ. Das Gleiche gilt vom Grafen Cavour und – von dem Staatsmanne, der durch eine nach außen radicale Politik dem deutschen Bundestage ein Ende machte.“

Das Wagniß Holtzendorff’s, die Vertheidigung des Grafen Arnim zu übernehmen, ist vielfach mißdeutet worden. Er sagt in einem Vorworte zu seiner in Berlin herausgegebenen Vertheidigungsrede etwa: „Ich kenne keine ‚Interessen‘, wie sie selbst meine Freunde als gefährdet erachteten, denn ich diene nicht auf Avancement. Wären aber solche wirklich vorhanden, so würde ich sie meiner Ueberzeugung getrost zum Opfer bringen. Wenn es sich darum handelt, eine falsche Anwendung des Strafgesetzes abzuwehren, und außerdem, wenn meine Vertheidigung ein Geringes dazu beigetragen hat, den zweifelhaften Sinn des Strafgesetzes klarer zu stellen, so würde ich glauben, daß der Dienst, den ich dem Grafen Arnim geleistet habe, geringer wäre als derjenige, den ich – Deutschland erwiesen.“

Die vollste Charakterunabhängigkeit, das Freisein von allen „Rücksichten“ in gewissem Sinne hat übrigens Holtzendorff nicht erst heute bewährt. Nachdem er, so lange der Pietismus in voller Blüthe stand, 1861 den Kampf mit dem Rauhen Hause aufgenommen hatte, half er 1865 den Protestanten-Verein mitbegründen; er ist es auch, welcher durch die neueste Herausgabe der von ihm angeregten Protestanten-Bibel neben Dr. Paul Schmid eine der durchschlagendsten „Thaten“ des Vereins zu Tage gefördert hat. – Unerschütterlich liberal hat er gleichwohl zu keiner Fahne ausschließlich geschworen. Soeben hält er an der Münchener Universität wieder eine öffentliche Vorlesung, als deren Thema er sich diesmal nicht einen strafrechtlichen Gegenstand, sondern einen dem Staatsrecht und der Politik angehörenden gewählt hat. (Holtzendorff ist an die Universität München als Lehrer des Straf-, Staats- und Völkerrechts berufen.) Es ist dies eine wissenschaftliche politische Betrachtung der politischen Parteien, und er scheut sich hierbei in keiner Weise, jeder der verschiedenen Parteien die Wahrheit zu sagen. – Einige bezeichnende [539] Vorgänge müssen wir zur Illustration jener Charakterunabhängigkeit aus neuester Zeit herbeiziehen.

Der Prophet gilt nichts im Vaterlande. Diesen Satz hat auch unser Freund, welchen unter seine Mitglieder zu zählen, eine Reihe ausländischer Akademien und gelehrter Gesellschaften sich zur Ehre rechnen, häufig an sich erprobt. Sein[WS 1] Name hat in Amerika und England, in dem wissenschaftlich hochaufstrebenden jungen Staate Italien einen allgemein gültigeren Klang, als man gemäß seiner officiellen Anerkennung in Deutschland irgend erwarten sollte. Auf dem Gefängnißcongreß in London erschien er ohne alle officielle staatliche Legitimation; dennoch wurde er zum Mitvorsitzenden erwählt. Kurz vor Beginn des Arnim’schen Processes tagte eine Versammlung des völkerrechtlichen Instituts in Genf. Nach deren Beendigung versammelte sich in derselben Stadt eine Gesellschaft amerikanischer und englischer Friedensfreunde, welche es sich nicht nehmen ließen, auch Holtzendorff zur Theilnahme und einer Rede einzuladen. Er folgte dieser Aufforderung, jedoch in einer anderen Weise als gehofft, und dennoch reichte das Ansehen seines Namens nicht nur hin, um ihm „freie Bahn“ zu eröffnen, sondern ihm auch einen lebhaften Beifall zu verschaffen.

Er sagte nämlich – gar sehr am rechten Platze und zur rechten Zeit –: er müßte mit Entschiedenheit hervorheben, daß die allgemeinen Declamationen gegen die stehenden Heere, was Deutschland anbelange, aus den gröbsten Mißverständnissen hervorgegangen seien; nicht an die Armee, nicht an deren Heerführer sei die erste Mahnung zum Frieden zu richten, sondern – an die „streitende Kirche“. So lange der Jesuitismus noch sein Unwesen in der Welt treibe, so lange könne von „Frieden“ in der Menschheit die Rede nicht sein. Das Christenthum, die Religion des Friedens, sei durch das jesuitische Kirchenwesen zu einer fortwährenden Bedrohung des Friedens, der inneren Ruhe in den Nationen geworden, die Religion der Liebe sei umgestaltet in ein Bekenntniß des Bürgerkriegs. Mit heuchlerischen Worten, in heuchlerischen Processionen werde unter Thränen und Klagen der eine stille Wunsch verborgen, das deutsche Reich wieder in Trümmer zu zerschlagen.

Bei seinem jüngsten Aufenthalte in Italien endlich wurde Holtzendorff, obgleich er in einem allbekannt gewordenen Toaste bei einem Festbankette in Rom seiner von der Ansicht der italienischen Regierung und Parlamentsmajorität durchaus abweichenden Anschauung von einer richtigen Politik dem Papste und der katholischen Kirche gegenüber einen sehr unzweideutigen Ausdruck gab, in allen größeren Städten von Rom herauf bis nach Venedig mit Huldigungen überhäuft, wie solche daselbst noch keinem deutschen Rechtsgelehrten, selbst Mittermaier nicht, im gleichen Maße zu Theil geworden sind.

Freilich ganz vergessen waren Holtzendorff’s Bemühungen auch im Inlande, wenigstens seitens des Volkes, nicht. Als er von Berlin nach München übersiedelte (Herbst 1873), ward ihm aus Volkskreisen und aus dem Schooße von Vereinen zum Wohle des Volks heraus noch eine Anerkennung in die neue Heimath nachgesendet, nachdem er seine Mitgliedschaft und zumeist Vorstandschaft im Gefängnißverein, den Vereinen für Förderung der Erwerbsfähigkeit der Frauen, für Einrichtung von Volksküchen, und den zahlreichen Vereinen für Volksbildung, z. B. dem Handwerkerverein in Berlin, hatte niederlegen müssen.

Holtzendorff’s Vater gehörte zu den Bestverleumdeten und Heftigstverfolgten seiner Zeit. Weil er in einer strafrechtlichen, mit einem Jagdfrevel zusammenhängenden Untersuchung nach dem alten Inquisitionsproceß „nur vorläufig freigesprochen“ worden war, entzog man dem muthig für den Liberalismus Eintretenden von Regierungswegen seine kreisständischen Rechte, und zwar dann, als er auf einem Kreistage es gewagt hatte, den König Friedrich Wilhelm den Vierten an die Erfüllung der Zusage von 1815 und an den Erlaß einer Constitution zu mahnen. Die Verfolgung gegen den älteren Holtzendorff ging so weit, daß der Geistliche unter seinem Patronate angewiesen wurde, ihn aus dem üblichen Kirchengebete der Pfarrgemeinde auszuschließen. Erst das Jahr 1848 brachte dem maßlos Verfolgten die Erfüllung Dessen, was er erstrebt, und damit endlich zugleich die Wiederherstellung sämmtlicher ständischer Ehrenrechte. Zu seinem Andenken stiftete der Sohn das erste Stipendium der neugegründeten Straßburger Universität unter dem Titel „Holtzendorff-Vietmannsdorff[1]-Stipendium“ – ein Vorspiel für die von ihm gleichzeitig angeregte Bismarck-Stiftung.




Der berühmte Sohn eines berühmten Vaters.


Der Name Garibaldi ist allen Zungen geläufig; er ist mit der Idee unseres Jahrhunderts, welches die Einigung der Völker nach Nationalitäten bedeutet, auf das Innigste verknüpft und wird im Andenken der Menschheit geachtet, ja verehrt fortleben, so lange wahre Seelengröße der Anerkennung sicher ist. Mag auch mancher Schatten auf diesem geweihten, blendenden Namen sich dem Auge des kritischen Beobachters offenbaren – als schmachvolle Flecken werden solche dunkle Punkte nie und nimmer angesehen werden können. Garibaldi’s Irrthümer sind die Verirrungen einer reinen, von keinen egoistischen Motiven geleiteten Seele, seine Fehler das Unglück eines bedeutenden, edlen Mannes, dessen Unkenntniß der Verhältnisse, dessen begeisterte Freiheitsliebe von fanatischen Agitatoren oder gewissenlosen „Freunden“ ausgebeutet worden. Die deutsche Nation, die alle Ursache hätte, sich über die Fehler und Verirrungen Garibaldi’s zu beklagen, hat „dem Helden zweier Welten“ längst verziehen. Die schönste Tugend der Deutschen ist ihre Größe im Vergessen, und vergessen sind die schnöden Pamphlete, die im Jahre 1870 dem italienischen Helden gegen Deutschland in die Feder dictirt wurden, vergessen die Kugeln aus dem Umkreise Belforts, die so manchem deutschen Leben den Tod brachten. Garibaldi erfreut sich in Deutschland der allgemeinen Achtung und Sympathie, und sicherlich wird sich das deutsche Volk nicht weigern, diese Sympathie von dem Vater auf den Sohn zu übertragen, auf einen Sohn, dem nicht blos der Name seines Erzeugers, sondern auch dessen Tugend zu Theil wurde, ohne daß er Etwas von seinen Fehlern geerbt hätte.

Menotti Garibaldi ist eine der beachtenswerthesten Persönlichkeiten der italienischen Gesellschaft, und der berühmte Name, dessen Träger er ist, verleiht ihm nahezu eine kosmopolitische Bedeutung; er ist der Stolz, der Liebling seines Vaters, und deshalb auch der Liebling des italienischen Volkes, für das er schon oft sein Leben in die Schanze geschlagen. Der alte Garibaldi, den das Glück in seiner politischen und militärischen Laufbahn so entschieden begünstigte, hatte in seinem Familienleben das schwerste Mißgeschick zu erdulden. Er mußte sehen, wie seine geliebte Gattin Anita, die an seiner Seite werkthätig bei der Vertheidigung Roms gegen die Franzosen mitgearbeitet hatte, auf dem abenteuerlichen Fluchtversuche hülflos in Ravenna dahinstarb; er mußte das Leid einer unglücklichen Ehe erfahren, als er sich nach zwölfjährigem Wittwerstande im Jahre 1860 mit der unwürdigen Gräfin Raimondi, deren courtisanenartige Schlauheit ihn getäuscht hatte, vermählte – und seine Kinder bereiteten ihm, mit Ausnahme Menotti’s, wenig Freude. Das eine, die Gattin des genuesischen Kaufmannes Cunzio, befand und befindet sich noch in wenig günstigen Verhältnissen. Wohl sind die Nachrichten von der Noth der Tochter Garibaldi’s, die mitunter die Runde durch die europäischen Blätter machen, übertrieben, allein die Vermögensverhältnisse Cunzio’s sind nicht derart, daß er im Stande wäre, seiner großen Familie eine sorgenfreie Existenz zu sichern. Und zudem störten nicht selten politische Differenzen das freundliche Einvernehmen zwischen dem Generale und seinem Schwiegersohne. Ricciotti, der Bruder Menotti’s, jedoch hat dem Vater den schwersten Kummer bereitet. Der geniale, feurige Jüngling hat einen unglückseligen Hang zum Leichtsinn, und öfters schon schwebte Garibaldi in Gefahr, seinen Namen auf den Pranger der Anklagebank gestellt zu sehen. Der leichtfertige Bursche führte Streiche aus, die das Strafgesetz hart streiften. Um seiner ausschweifenden Lebenslust fröhnen zu können, ging er Schulden über Schulden ein, ja mißbrauchte sogar den Namen seines [540] Vaters. Garibaldi verkaufte seine ganze Habe, die kostbaren Geschenke, die ihm aus aller Welt zugegangen waren, nicht ausgenommen, um seinen Sohn vor Schande zu bewahren – er gab Ricciotti sein Vermögen, Menotti jedoch schenkte er sein Herz, und der wackere Sohn ist eifrig bemüht, diesen Schatz zu hüten.

Menotti Garibaldi steht jetzt im Beginn der Dreißiger; allein trotz seiner jungen Jahre hat er schon eine ganze Geschichte hinter sich. Unter eigenthümlichen Verhältnissen geboren, mußte er schon frühzeitig die Last des Lebens fühlen. Die Tage seiner Kindheit sind in traurige Schatten gehüllt. Der alte Garibaldi lebte damals das Leben eines von allen Mitteln entblößten Flüchtlings in Südamerika, und Entbehrungen aller Art mußte seine Familie erfahren. Die ersten Jahre Menotti’s waren solchergestalt sehr öde; das Kind hatte keine Heimath, keinen Spielgenossen, und mußte auf die unschuldigsten Vergnügungen seiner Altersgenossen verzichten. Nur die zarte Fürsorge seiner Mutter, der wackeren Anita, erhellte die traurig-ernste Kindheit Menotti’s. Allein auch dieser Stern versank bald für immer. Die brave Gattin Garibaldi’s starb, nachdem sie kaum das Heimathland ihres Gemahls betreten hatte, und Menotti, ein Knabe von kaum sieben Jahren, war auf sich selbst angewiesen. Der Ernst des Lebens ließ ihn den Jahren rasch voran eilen; er war bereits ein Mann, da die Genossen seines Alters kaum in die Jünglingsjahre eingetreten. Noch hatte er nicht den ersten Anflug eines Bartes, und schon wurde er in ganz Italien, und weit darüber hinaus, als ein Held, seines Vaters würdig, gefeiert. Er war dem General Garibaldi auf dem merkwürdigen Zuge nach Sicilien gefolgt und hatte bei Marsala und in zahlreichen anderen Gefechten so viel Muth und Einsicht bewiesen, daß er selbst in der begeisterten Schaar der berühmten Tausend als leuchtendes Muster hervorragte. Italien feierte den Jüngling in großartiger Weise, und alsbald zählte Menotti zu den populärsten Männern der Halbinsel.

Die liberale monarchische Partei, welcher Garibaldi durch seine Sympathien für Mazzini gefährlich schien, bewarb sich um Menotti’s Gunst; Ratazzi ließ sich mit ihm in Unterhandlungen wegen Errichtung eines Freischaarencorps zur Befreiung Italiens ein, damit er nicht bei dem alten Republikaner Garibaldi darum ansuchen müßte. Und Menotti zeigte sich auch willig. Der Sohn hat nicht die starren republikanischen Principien des Vaters, der außer der Republik blos Fäulniß und Entartung kennt, sondern glaubt vielmehr, daß Freiheit und Völkerglück auch mit der Monarchie vereinbar sei. Er ehrt wohl die Ueberzeugungen des alten Vaters, ist aber unermüdlich in seinen Versuchen, denselben von seinem einseitigen Standpunkte abzubringen, und die Wandlung, die sich jüngst in dem Wesen des Generals Garibaldi vollzog, ist zum nicht geringsten Theile von Menotti vorbereitet.

Menotti stellte sich deshalb auch vorbehaltlos dem monarchischen Italien zur Verfügung; doch der Einfluß Frankreichs widersetzte sich dem Plane Ratazzi’s, mit Menotti Garibaldi an der Spitze die Ewige Stadt einzunehmen, und Italien schien einstweilen auf seine natürliche Hauptstadt verzichten zu wollen. Der alte Garibaldi kehrte sich aber bekanntlich wenig an den Wunsch des officiellen Italiens; er stellte sich an die Spitze der von seinem Sohne gesammelten Schaaren – und Aspromonte bezeichnet den Weg, den er einschlug. Selbstverständlich ließ Menotti auch auf diesem traurigen Zuge seinen Vater nicht im Stiche; er kämpfte an seiner Seite mit Todesverachtung, obgleich er von der Unersprießlichkeit der Bemühungen überzeugt war, und vermehrte sein Ansehen und seine Popularität um ein Bedeutendes. Auch bei der zweiten römischen Expedition Garibaldi’s, die mit Mentana endete, war Menotti eine bedeutende Rolle zugefallen; er bewährte seinen Ruhm, da er ihn nicht mehr vermehren konnte, und galt für den zweiten Soldaten der Armee – ist doch Giuseppe Garibaldi selbst der erste.

Mit Mentana hatte Menotti’s militärische Laufbahn im Dienste des Vaterlandes ihren Abschluß erreicht, und hoffentlich wird er nicht mehr gezwungen sein, dieselbe aufzunehmen, um italienisches Land dem Besitze von Usurpatoren zu entreißen. Man bot ihm Stellen und Reichthümer an, um seine Verdienste um die Allgemeinheit zu belohnen, allein bescheiden und uneigennützig, wie sein Vater, lehnte er Alles ab. Da er durch das unstäte Leben seiner Jugend keine Fachkenntnisse in irgend einem Erwerbszweige sich aneignen konnte, war es ihm schwer, sich eine sichere Existenz zu gründen. Allein Ernst und Energie ließen ihn bald die Schwierigkeiten überwinden, und heute steht Menotti einem, wenn auch nicht besonders großen, so doch immerhin gesicherten Speditionsgeschäfte in Rom vor.

Sein Geschäft hindert ihn nicht, sich mit den öffentlichen Interessen, der Politik insbesondere, zu befassen; er hält sich stets vor Augen, was er seinem Namen schuldig ist, und wenn er bisher noch nicht öffentlich in die politische Arena trat, ist dies blos dem Gegensatze, der zwischen seinen und seines Vaters Ansichten herrscht, zuzuschreiben. Menotti Garibaldi ist ein ernster, ruhiger Politiker, der in manchen Dingen weit klarer sieht, als der alte General selbst; er besitzt weder das aufbrausende Temperament seines Vaters, noch ist er phrasenhaften Einflüsterungen und Schmeicheleien so zugänglich wie dieser; er nimmt die Dinge, wie sie sind, während sein Vater sie willig durch jene Brillen betrachtet, die man ihm mit Complimenten zur Verfügung stellt. Wäre Menotti stets in der Umgebung des alten Garibaldi gewesen, es würden dem ehrwürdigen Manne viele Vorwürfe erspart geblieben sein. Mancher tolle Streich, den die Leidenschaftlichkeit des Greises verursacht, wäre im Entstehen unterdrückt, mancher Brief des Generals, der seinen erhabenen Namen der Lächerlichkeit preisgab, nicht geschrieben worden. Menotti übt auf seinen Vater einen maßgebenden Einfluß; er versteht es, ihn mit Klugheit zu leiten, und indem er sich scheinbar dem Willen des Generals unterordnet, beherrscht er ihn vollends.

Die vielen demokratischen Gesellschaften Italiens, deren Ehrenpräsident General Garibaldi ist, betrachten Menotti als dessen Stellvertreter, und übertragen die Sympathien vom Vater auf den Sohn. Fast täglich empfängt er in seinem schlichten Speditionsbüreau Deputationen von Arbeitern und anderen Demokraten, die über Dieses und Jenes vom General Auskunft wünschen. Allein auch andere politische Parteien zollen Menotti ihre Achtung, und gesellschaftlich spielt er eine Rolle, wie kaum Einer in der Ewigen Stadt. Menotti hat auch bedeutende gesellschaftliche Vorzüge, die seinem Vater vollends abgehen: er besitzt die Gabe der Erzählung in hohem Grade und hat Etwas von dem feinen Schliff der höheren Stände, den man in der Regel blos in aristokratischen Erziehungshäusern sich aneignet. Seine Statur ist kräftig, dabei jedoch elegant, sein Gesicht energisch geformt, aber wohlwollend, seine Haltung ruhig vornehm. Man könnte unmöglich in dieser eleganten Gestalt den Sohn Garibaldi’s vermuthen, wenn einzelne Partien des Antlitzes nicht den Verräther spielten. Stirn und Nase erinnern lebhaft an den Vater, und der lange, wohlgepflegte Bart trägt deutlich jenes unverfälschte Rothblond zur Schau, das dem Generale eigenthümlich war, bevor die Macht der Jahre sein Haar bleichte.

Auch die seltene Charakterfestigkeit Garibaldi’s besitzt Menotti, allerdings ohne jene starre Unbeugsamkeit, die nicht selten in Eigensinn ausartet; er ist mild und gutmüthig von Natur, zu heftigem Hasse kaum fähig. Das südliche Blut, das in seinen Adern wallt, verleugnet er in Benehmen und Auftreten fast vollständig. Wie sein Aeußeres ließe auch sein ruhiges, gemessenes Auftreten, seine Leidenschaftslosigkeit und Vorsicht eher auf einen Nordländer, als auf einen Sohn des feurigen Südens schließen, und der kalte Ernst, mit dem er das Leben auffaßt, würde dieser Annahme nicht widerstreben. Das sprüchwörtlich gewordene süße Nichtsthun seiner Landsleute ist ihm fremd, wie er denn auch Nichts von der lebensfrohen Heiterkeit seiner Landsleute besitzt. Ein ernster, fast schwermüthiger Hauch umweht Menotti. Es scheint, als könne er die düstere Freudlosigkeit seiner Jugend nicht vergessen.

Eine große Zukunft harrt des noch jungen Mannes, der bereits eine bedeutende Vergangenheit hinter sich hat. Ganz Italien sieht in Menotti den Erben der Pflichten des edlen Garibaldi, da es ihm schon die Rechte desselben eingeräumt hat, und wenn der alte General einst die Augen zum ewigen Schlafe schließt, wird es Sache Menotti’s sein, den edlen Namen, dessen Träger er ist, rein und unbefleckt zu erhalten. Es wird ihm gelingen – dafür bürgen sein bisheriger Wandel, seine Fähigkeiten, sein Eifer und sein Streben; er wird das Zutrauen seines Landes nicht täuschen und den Gedanken seines berühmten Vaters in Ehren halten.
Emil Frischauer.
[541]
„Ferien!“
Ein Brief an Josef Victor Scheffel von Felix Dahn.

      „Hei, Ferien!“ – du Wort voll Fröhlichkeit!
Aufathmend spricht man’s, und es haucht daraus
Wie Morgenluft, die frisch den Wand’rer grüßt.
Man denkt dabei an’s leichte Ränzlein und
Den buchenlaubgeschmückten Reisehut.

      Das ist der Segen der Schulmeisterei,
Daß uns im grauen Haar, wie unsern Jungen,
Das Wörtlein „Ferien“ noch so silbern tönt
Wie in der Knabenzeit: es hüpft das Herz
Mit raschem leicht’rem Schlage bei dem Wort
Und breiter dehnt sich, athmend frei, die Brust.
Wir bleiben selber jung, wir alten Knaben;
Wir wissen’s, wie die jungen Herzen schlagen,
Denn unser eignes Herz ward noch nicht alt.

      O goldner Tag, da vom Gymnasium,
Nach durchgerungener Examenqual,
Muthwillig Abschied winkend dem Pedell
(Der grimm, ein alter Unterofficier,
Nachsah den seiner Macht Entsprungenen),
Halb fliegend durch Alt-Münchens Gassen hin,
In’s Elternhaus zurückschritt „der Student“!

      Am andern Morgen schon mit zwei Cam’raden,
Ging’s auf die Wanderschaft – nicht viele Gulden,
Doch eine ganze Zukunft eitlen Goldes
Im Reiseranzen – in die Ferien.

      So ging’s zum alten Isarthor hinaus,
Gen Rosenheim, den lieben Bergen zu.
Mit welchem Stolz in jedes Fremdenbuch
Der Landwirthshäuser (gar nicht Vorschrift war’s)
Schrieb man den Namen und: „Student aus München“.
Und wie wir auf der Fraueninsel dann
Im blauen Chiemsee – Freund, du kennst sie gut –
Den jungen Malern, die den Gymnasiasten
Nur wenig Ehr’ gegönnt, jetzt überlegen
Den „Universitäts-Studenten“ zeigten!

      O blaue Berge meines Heimathlandes,
O duft’ge Jugendzeit – wie liegt ihr fern!
O rascher Schritt durch’s saub’re fremde Städtchen,
O frischer Stegreistrunk am Thor der Schenke,
O Lieder, fremde, eig’ne, auf der Straße
Gefunden und gegeben: kleine Sträuße,
Dem Wanderbursch’ halb scherzhaft nachgeworfen ,
Von Mädchenhand wohl über’n Gartenzaun!
O duft’ge Jugendzeit – wie bist du fern!
Nichts mag der ersten Ferienreise doch
An Unschuld und an Hoffnung sich vergleichen.
Das sind des Lebens Osterferien.

      In weiß und rothen Frühlingsblüthen prangt
Das Dasein, und wie Osterglocken klingt es:
So edel und so feierlich, so rein
Und so verheißungsvoll. –
Nun, jede Knospe kann zur Frucht nicht reifen:
So Manche fiel vom Frost, vom Wurm zerstört,
Von eig’ner Hand bedachtlos abgestreift.

      Es steht uns an, uns dankbar zu bescheiden
Mit der gereiften Ernte, und den Sternen
Für still gestreuten Segen fromm zu danken,
Denn manche Saat ist besser uns gediehen,
Als eig’ne Kraft und Müh’ zu hoffen gab. –
Und der Professor auch hat Ferien
Zum Glücke, nicht nur der Student allein. –
Herbstferien freilich sind’s, nicht Frühlingsferien.
Nicht Apricosenblüthen nicken rosig
Ob unserm Haupte mehr aus Maiengrün,
Doch der September ist ein weis’rer Mai,
Und nur der Herbst giebt klaren, gold’nen Wein. –

      Wie wird noch heute jung das Herz, wenn nun
Zu Ende sich das Sommerhalbjahr schleppt!
Bald ist der letzte Paragraph erreicht
Und ungeduldig harrt der Studio,
Ob morgen oder übermorgen erst
Das allerletzte „Meine Herr’n“ ertönt. –
Da schlägt die Uhr (die allzu langsam geht)
Durch’s Marmoratrium: „Nun Dank, ihr Herr’n,
Daß ihr so lang getreulich ausgehalten!
Gedenket dieser Stunden gern – Lebt wohl!“

      Vergnügt geht’s an der Ecke nun vorbei,
Die viermal jeden heißen Julitag,
Die schattenlose, grollend man passirte.
Daheim steht, schon der Koffer, wohl gepackt;
Zu langer Trennung ist das Haus bestellt,
In Flor gehüllt Apoll und Zeus von Gips;
Das Manuskript des Buchs, des werdenden,
– Ach des Professors einzig Werthpapier! –
Wird dem befreundeten Banquier vertraut.
Ein letzter Blick auf die Excerpte noch:
„Die machten Mühe – fern aus Mailand kam
Der Codex – achten Sie darauf, Herr Hirsch!“
„Da liegt noch mehr, was nicht verbrennen darf,
In diesem Arnheim. Gute Ferien!
Erholen Sie sich! – ich hab’ niemals Ferien.“ –

      Nicht mehr zu Fuß geht’s nun zum Thor hinaus:
Das Dampfroß schleppt uns fort von Stadt zu Stadt,
Bis endlich Berg und Wald und See uns grüßt,
Und seßhaft, nicht mehr flugs in Wanderung,
Wird wohlverdiente Muße nun gekostet.
Manch Lieblingsbuch, das im Semesterdrang
Muß unberühret stehn, ward mitgenommen:
Ein Bändchen Goethe für den Waldspaziergang,
Für Ruh’n am Meeresstrand die Odyssee,
Fritz Reuter für den heitren Abendtrunk;
Doch nur beim besten Glase Rheinwein wird
Frau Aventiure tropfenweis geschlürft. –

      Ja, manch gelehrt Problema, d’ran vergeblich
Im Lärm der Stadt und der Geschäfte Hast
Der abgemüdete Gedanke drehte,
Fällt nun von selbst, wie reife Frucht, gelöst,
Erschlossen in den Schooß des Sinnenden,
Im Schatten hoher feierlicher Wipfel,
Am Seegestad’ im Flüsterwort der Wellen;
Der ausgeruhte Geist taucht ganz in sich
Und hebt sein Bestes still aus seinen Tiefen.

      Doch zuviel Muße trägt kein Rüstiger:
Wenn allzufrüh des Abends Schatten sinken,
Dann aus Italiens grünsten Myrthenhecken
Zieht’s zu dem schlichten Pult mich zwingend heimwärts,
Das aus der Schulzeit unverändert ich
Vom Isarstrande mitgeführt zur Ostsee,
Und eher nicht beschwichtet sich der Geist,
Bis wieder traulich am Octoberabend
Die Lampe brennt auf altgewohntem Tische
Drauf alte Götter mir und alte Bücher,
Die treuen Studiengenossen, winken.
Und leise Ungeduld ersehnt den Tag,
Der wiederum auf das Katheder ruft,
Der deutschen Jugend deutsches Recht zu weisen.
      Wohl dem, der wie aus Arbeit sich zur Muße,
Aus Muße sich zu seiner Arbeit sehnt!
      So laß’ uns denn noch eine Weile schaffen.
Die tücht’gen Jungen auch was Tücht’ges lehrend
(Mir schlägt das Herz, schau’ ich die wack’re Schaar,
Die tragen soll des deutschen Reiches Ehre,
Wenn lang’ die Augen sich geschlossen, die
Den Pulverdampf von Sedan qualmen sahn),
Bis endlich, nach dem letzten der Semester,
Die „großen Ferien“, die da nicht mehr enden,
Für immer schließen Mund mir und Colleg!




Deutschlands große Werkstätten.
Der Bochumer Verein.

An der Wasserscheide zwischen Ruhr und Embscher, drei Meilen vom alten Dortmund nach Westen und gleich diesem durchschnitten von der alten Handels- und Heerstraße des Hellweg, lag vor vierzig Jahren ein westphälisches Landstädtchen, dessen dreitausend Einwohner vom Ertrage ihrer Felder und Heerden lebten, dessen berühmtester Sohn und literarischer Localheros Dr. Kortüm war, der geistige Vater des gottseligen Candidaten Hieronymus Jobs und anderer, der Literatur zur Zeit nach vorenthaltener kräftiger und saftiger Scherze. „Kau-Baukum“ hieß es im Munde des Volkes, auf Hochdeutsch Kuh-Bochum, zum Unterschiede vom nahegelegenen Dorfe Alten-Bochum und mit ironischer Beziehung auf seinen vollständig dörflichen Charakter und Anstrich. In die nicht westphälische Außenwelt drang sein Name meist wohl erst, als die Köln-Mindener Eisenbahn auf ihrer Strecke Dortmund-Oberhausen das auf ihrem nächsten Wege liegende Städtchen zwar in großem Bogen umging, aber doch seinen [542] Namen mit dem ihres nächsten Stationsdorfes zu der vollklingenden Verbindung Herne-Bochum verschmolz. „Hernebochum!“ riefen die Schaffner in die Coupés und weckten im Reisenden, der nur ein wüstes, sumpfiges Gelände, von Herne wenig und von Bochum gar nichts sah, dunkle Anklänge an Czernebog und Melibocus.

Das Leben in dem kleinen Orte war, der Bedeutung desselben entsprechend, urwüchsig und patriarchalisch. Die Post kam täglich von Brünninghausen und ebenso oft in entgegengesetzter Richtung von Essen. Ueber Hattingen-Reviges vermittelte eine zweite Linie den Anschluß an die große Berlin-Elberfeld-Kölner Route. In engen, schlecht gepflasterten Straßen standen kleine unansehnliche Häuser, meist von Fachwerk und mit Schindeln bekleidet, im Style des bergischen Landes erbaut; neben oder vor dem Hause lag der Misthaufen, von dem aus Geflügel und Kleinvieh ungehindert seine Ausflüge auf die benachbarte Straße unternahm. Die engen Fenster und niedrigen Stuben der Häuser standen in lächerlichem Gegensatze zu den durchweg kräftigen, stellenweise sogar kolossalen Figuren der Bewohner.

Die Umgebung der Stadt war nur mäßig cultivirt. Große Obst- und Küchengärten verriethen nur selten das Walten einer kundigen und schönsinnigen Gärtnerhand; überaus schlechte Wege führten zu den kleinen Dorfschaften und ihren zerstreuten Höfen durch sumpfige, fieberathmende Niederungen hindurch, an Teichen vorbei und über buschige Hügel und Flächen, wo das Reh sprang und das scheue Wasserhuhn neben der wilden Ente hauste. Auf den haidebewachsenen unwirthlicheren Hochflächen huschte das wilde Kaninchen und nistete der Kibitz. Zwei kleine Kohlengruben Friederica und Engelsburg, je eine Viertelstunde vor der Stadt belegen und mit äußerst primitiven Einrichtungen ausgestattet, versorgten die Umgegend mit billigem Brande; es waren Besitzthümer von zweifelhaftem Werthe, die ihr Anlagecapital nur sehr gering zu verzinsen vermochten, bei einem durchschnittlichen Kohlenpreise von anderthalb bis zwei Silbergroschen per Centner.

In dieser stillen abgeschlossenen und regelrechten Abspinnung des gewöhnlichen Lebenslaufes brachte es eine große Aufregung hervor, als im Jahre des Herrn 1842 zwei Einwanderer in’s Städtchen kamen, ein paar Morgen Land kauften zu dem enormen Preise von fünf Thalern für die Kölner Ruthe (circa sechshundert Thaler per Morgen) und auf denselben etwa zehn Minuten vor der Stadt an der Essener Chaussee eine Gußstahlfabrik erbauten. Mit unverhohlenem Mißtrauen betrachtete man das Beginnen dieser „fremdredenden“ Menschen, welches die uralten Traditionen von Bochum zu stören drohte. Indessen wurde trotz allen Kopfschüttelns die Fabrik im Jahre 1843 unter der Firma „Mayer und Kühne“ mit wenigen Arbeitern eröffnet. Herr Jakob Mayer aus Dunningen in Württemberg war ihr technischer Leiter, und Herr Eduard Kühne aus Magdeburg führte die kaufmännischen Geschäfte.

Nach mehrjährigen Versuchen gelang es dem Ersteren, das große technische Problem des sogenannten „Stahlfaçongusses“ zu lösen, das heißt die verschiedensten Gegenstände in Stahlguß herzustellen. Diese hochwichtige Erfindung, auf deren Bedeutung wir im Verlaufe dieser Skizze genauer zurückkommen werden, fand die erste öffentliche Anerkennung auf der Gewerbe-Ausstellung zu Düsseldorf 1852, wo die Firma Mayer u. Kühne ein Gußstahlgeläute ausstellte und mit der silbernen Preismedaille geehrt wurde. Als im Jahre 1855 das mittlerweile in den Besitz des „Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation“ übergegangene Werk die Pariser Ausstellung mit drei gegossenen Stahlglocken beschickte, erhob sich ein erbitterter Widerspruch seitens der Concurrenz, die, unbekannt mit dem geheim gehaltenen Verfahren des „Stahlfaçongusses“, die Möglichkeit, solche Glocken aus Stahl zu gießen, hartnäckig in Abrede stellte und behauptete, sie seien aus Gußeisen. Indeß die Fabrik erbrachte den Beweis für die Richtigkeit ihrer Angabe, indem sie zuerst eine kleinere Glocke nach Paris schickte, an welcher der sogenannte Anguß – das überflüssig darauf Gegossene – noch nicht entfernt war, und diesen dort abnehmen und schmieden ließ. Als man auch hierbei noch Zweifel hegte, ließ sie eine Glocke zerschlagen und bewies durch die Schmiedbarkeit der Stücke, daß man es mit Stahl und nicht mit Gußeisen zu thun habe.

(Letzteres ist nämlich, wie wir gleich sehen werden, nicht schmiedbar.) Die große Jury ehrte das Werk und den Erfinder durch den höchsten Preis, die große goldene Ehrenmedaille und andere Auszeichnungen. Aehnlicher Anerkennung erfreute sich das Etablissement auf allen von ihm beschickten Ausstellungen. Die Londoner internationale Ausstellung 1862 brachte ihm drei Preismedaillen, die Stettiner Industrie-Ausstellung 1865 eine Preismedaille, die zweite Pariser Industrie-Ausstellung 1866 die goldene Medaille und die Wiener Weltausstellung 1873 das Ehrendiplom.

Um dem freundlichen Leser das Verständniß des Folgenden zu erleichtern, müssen wir zunächst einige Worte über die Eigenschaften der verschiedenen Eisen- und Stahlsorten hier einschalten.

Gußeisen, Schmiede-Eisen und Stahl sind eigentlich, soweit sie die Wissenschaft zur Zeit erkannt hat, im Wesentlichen nur durch ihren Kohlenstoffgehalt verschiedene Nüancen des Eisens. Schmiede-Eisen hat den geringsten Kohlengehalt, Gußeisen den höchsten, Stahl einen mittleren. Das Gußeisen wird bei tausendfünfzig bis tausendzweihundert Grad Celsius flüssig und gießbar, läßt sich aber weder schmieden noch walzen; es ist spröde und brüchig. Das Schmiede-Eisen dagegen ist kaum gießbar und muß durch Hammer und Walze bei Glühhitze in die gewünschte Form gezwungen werden; es ist biegsam, zäh und von großer Dichtigkeit. Der Stahl nähert sich, je nach seinem höheren oder geringeren Kohlenstoffgehalte, in seinen Eigenschaften der entsprechenden unvollkommeneren Eisensorte, idealisirt oder potenzirt jedoch dabei gewisse charakteristische Merkmale derselben. An Stelle der Sprödigkeit des Gußeisens tritt bei kohlenstoffreichem Stahle Elasticität und eine große Härtbarkeit. Bei geringer Beimischung von Kohlenstoff ist der Stahl zähe und biegsam, wie Schmiede-Eisen, aber in beiden Fällen, ob hart oder weich, von bedeutend größerer Haltbarkeit als jene. Je nach Bedarf wird er gehärtet oder ungehärtet benutzt. Messer, Scheeren, Feilen etc. werden z. B. erst ungehärtet verarbeitet und dann durch Glühen und rasche Abkühlung in besonders präparirtem Wasser gehärtet.

Es giebt verschiedene Sorten Stahl; die wichtigsten derselben sind: Raffinirstahl, Cementstahl, Tiegelstahl, Puddelstahl, Bessemerstahl und Martinstahl.

Der älteste ist der sogenannte Raffinirstahl, der für Messer, Schwerter, Säbel (Damascenerklingen) schon vor Jahrhunderten aus Rohstahleisen im Heerdfrischfeuer erzeugt wurde.

Cementstahl macht man aus Schmiedeeisen, indem man dasselbe mit Holzkohlen bestreut, in einem fest verschlossenen eisernen Behälter einer starken Rothglühhitze aussetzt und dadurch den Kohlenstoff dem Eisen imprägnirt. Dieser Stahl dient vorzugsweise als Material für den Tiegelgußstahl. Letzterer wird bei der höchsten im metallurgischen Betriebe erreichbaren Hitze in feuerfesten Tiegeln aus zerkleinertem Schmiedeeisen oder anderem Stahle unter Beimischung des erforderlichen Kohlenstoffes und anderer Ingredienzien hergestellt. Puddelstahl wird in Puddelöfen aus Roheisen durch Entziehung von Kohlenstoff erzeugt.

Bessemerstahl, nach dem Erfinder benannt, wird aus möglichst phosphor- und schwefelfreiem, vorher geschmolzenem Roheisen in großen birnenförmigen mit feuerfestem Material ausgefütterten „Convertern“ hergestellt, indem man atmosphärische Luft mit starker Pressung in die Converter durch das flüssige Eisen bläst und dadurch dasselbe von überschüssigem Kohlenstoffgehalt befreit.

Martinstahl wird aus Roheisen, Schmiedeeisen oder Abfällen von Eisen und Stahl bei Gasfeuerung in sogenannten Siemens’schen Regenerativöfen hergestellt. Dies letztere Verfahren ermöglicht auf die vorteilhafteste Weise die Verwerthung massenhafter Abfälle. Das Bessemer-Verfahren dagegen ermöglicht, sehr große Quantitäten auf einfachste und billigste Weise zu erzeugen. Die Erzeugnisse beider Fabrikationsmethoden haben die der älteren großenteils verdrängt mit Ausnahme jedoch des Tiegelstahls, der da noch immer Anwendung findet, wo es sich um Qualität handelt, wie z. B. bei Kanonen und bestem Eisenbahnmaterial, auch bei Werkzeugen, scharfen Schneidinstrumenten, wo es auf hohe Härte und gleichzeitig auf Zähigkeit ankommt, sowie endlich bei Preßcylindern, Schiffsschrauben, Glocken und anderen schwierigen Façonstücken.

Die Bochumer Fabrik hat sämmtliche Stahlfabrikationsmethoden sich zu eigen gemacht und alle, auch die neuesten, Verbesserungen [543] eingeführt. Ihre ursprüngliche Aufgabe, die Einführung und Verbesserung der Tiegelstahlfabrikation, hat sie vor allen anderen gelöst; das Verfahren kam zuerst von England nach Deutschland. Schon im Jahre 1740 hatte Hundsmann bei Sheffield die erste Tiegelstahlfabrik angelegt und zum Einschmelzen hauptsächlich schwedisches Stahleisen verwandt, nachdem dasselbe zuvor in der oben angedeuteten Weise cementirt war. In Deutschland haben Friedrich Krupp in Essen vor fünfzig Jahren, Jacob Mayer in Bochum vor fünfunddreißig Jahren die Tiegelstahlfabrikation begonnen und nach und nach zu einer Bedeutung zu erheben gewußt, welche selbst die englischen Fabriken überflügelte und den beiden deutschen Werken den ersten und zweiten Rang in der Welt sicherte. Wenn Krupp seine Energie und seine Mittel hauptsächlich dahin richtete, durch enorme mechanische Einrichtungen die Erzeugung schwerer Gußstahlschmiedestücke zu ermöglichen, so gebührt Jacob Mayer das Verdienst, durch die Erfindung des Stahlfaçongusses ohne Hammer oder Walze schwere Gegenstände aus Gußstahl für den Maschinenbau herzustellen, die aus Gußeisen nicht haltbar, aus Schmiedeeisen dagegen nicht ausführbar oder zu kostspielig sein würden, z. B. Kirchenglocken bis zum Gewichte von dreißigtausend Pfund, Schiffsschrauben bis zum Gewichte von zwanzigtausend Pfund, schwere Cylinder für hydraulische Pressen von zehntausend Pfund, schwierig construirte Façonstücke für den Brückenbau, Scheibenräder und Herzstücke für Eisenbahnen etc. Aber das nicht minder hoch anzuschlagende Verdienst, diese geniale Erfindung zur Anerkennung gebracht und dadurch in dem kurzen Zeitraume von zwanzig Jahren das kleine Etablissement zur heutigen Größe erhoben zu haben, gebührt der geschickten und energischen Leitung des Bochumer Vereins. Das kleine Werk an der Essener Chaussee wollte nämlich trotz jener wichtigen Erfindung nicht recht voran. Es kamen trübe Zeiten für die Besitzer, und erst nachdem im November 1854 die Fabrik der Herren Mayer und Kühne an die mit ausreichendem Capital versehene Actiengesellschaft Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation übergegangen und nach kurzer provisorischer Verwaltung des jetzigen Geheimen Regierungsrathes Alexander von Sybel Anfangs 1855 der noch jetzt als Generaldirector fungirende Commerzienrath Louis Baare an die Spitze getreten war, begann allmählich das Aufblühen der jetzt so bedeutenden Schöpfung. In zwanzigjährigem Zusammenwirken haben die Herren Baare und Mayer, gemeinsam mit dem ebenso lange fungirenden jetzigen Vorsitzenden des Verwaltungsrathes, Herrn Jean Marie Heimann in Köln, aus der kleinen Gußstahlfabrik, die sie mit dreihundert Arbeitern übernahmen, jenes gewaltige Werk geschaffen, welches unser Bild darstellt und welches Stadt und Umgegend mit wahrhaft elementarer Gewalt umgestaltet hat.

Im Jahre 1854 betrug die Production bei dreihundert Mann Belegschaft 18,182 Centner Gußstahl, im ungefähren Werthe von einer Viertel Million Thaler; 1867 war sie bei zweitausend Arbeitern auf 220,000 Centner, im Werthe von 2,800,000 Thaler, gestiegen; 1873 lieferte die Fabrik 1,300,000 Centner Gußstahlfabrikate, im Gesammtwerthe von circa acht Millionen Thaler, bei 5570 Arbeitern. Ihre Hauptforce besteht in der Fabrikation von Eisenbahnmaterial, namentlich Stahlschienen, Rädern, Achsen, Bandagen, Federn, Herzstücken etc.. – die gegenwärtige Tagesproduction von Stahlschienen beträgt zwischen 1000 und 1500 Stück. Das sogenannte „Bochumer Scheibenrad“ aus Stahlfaçonguß war lange Zeit nur in Bochum herstellbar. Erst seit 1864 gelang auch der Krupp’schen Concurrenz die Herstellung dieses weitaus dauerhaftesten und betriebssichersten aller Eisenbahnräder. Bei Gelegenheit seiner Referate über die Wiener Weltausstellung äußert sich Max Schlesinger über das Verhältniß zwischen Krupp und dem Bochum-Verein in der „Kölnischen Zeitung“ wie folgt:

„In Artilleriematerial steht Essen obenan, wogegen Bochum ihm im Bereiche des Eisenbahnmaterials den Rang abgelaufen hat. Beide können neidlos und selbstbewußt einander in’s Auge schauen, und wie Goethe in Bezug auf Schiller, so könnte das ältere Essen auch von dem jüngeren Bochum sagen: ‚Die Deutschen sollte sich glücklich schätzen, zwei solche Kerle, wie wir sind, zu haben.‘“

In der Geschützbranche ist Fr. Krupp an maschineller Leistungsfähigkeit dem Bochumer Werke zur Zeit überlegen. Es ist ihm gelungen die colossalen Bedürfnisse Preußens auf diesem Gebiete für sich zu einem ebenso lehrreichen wie einträglichen Monopol zu gestalten. Aber die Bochumer Fabrik hat nicht nur bereits 1874 die erste Gußstahlkanone angefertigt und damit die Verwendung dieses Materials für Geschützguß eingeführt, sie hat auch von der preußischen Regierung die officielle Bescheinigung, „daß ihre Geschütze als denen der Krupp’schen Fabrik ebenbürtig anerkannt seien“.

Eine weitere, bisher noch von Niemand erreichte oder auch nur annähernd ermöglichte Specialität ist der schon erwähnte Glockenguß. Nach Ausweis des Glockenprospectes hängen im deutschen Reiche circa zwölfhundert Stück große Kirchenglocken, im übrigen Europa circa fünfhundert, in Asien sechs, in Afrika zehn, in Nordamerika fünfundvierzig, in Südamerika zehn; gewiß ein Beweis für die Vorzüge dieses allerdings erst langsam zur allgemeinen Anerkennung gekommenen Fabrikates, welches an Klang den Bronzeglocken gleich, an Dauerhaftigkeit ihnen weit überlegen ist und etwa halb so viel kostet. Die Haltbarkeit der Gußstahlglocke hat sich vor einigen Jahren beim Brande einer der deutschen Kirchen Petersburgs glänzend bewährt. Als der Glockenstuhl vom Feuer verzehrt ward, stürzten die drei daselbst hängenden Bochumer Stahlglocken circa 130 Fuß hinab auf das feste Gewölbe des Thurmes und lagen daselbst längere Zeit in der Gluth, ohne äußerlich oder an Ton und Stimmung irgend welchen Schaden zu nehmen.

Außer der Gußstahlfabrik und deren Zubehör besitzt das Werk in Bochum eine große Hochofenanlage und Coaksbrennereien, eine Fabrik feuerfester Steine und, drei Kilometer entfernt, aber mit einer eigene Eisenbahn verbunden, drei vereinigte, höchst werthvolle Tiefbaukohlenzechen „Maria“, „Anna“ und „Steinbank“, außerdem bei Mühlheim am Rhein eine weitere Hochofenanlage und zahlreiche Eisensteingruben in Nassau und im Siegerlande. Alle diese zum Etablissement gehörige Grundstücke arbeiten vorwiegend für den Bedarf der Fabrik, deren täglicher Kohlenverbrauch sich bei mittlerer Beschäftigung auf 15,000 Centner, bei voller Arbeit auf circa 20,000 Centner Kohlen und Coaks beläuft, zu deren Anfuhr demnach vier Kohlenzüge von zwanzig bis fünfundzwanzig Doppelwaggons täglich nöthig sind.

Diese Kohlen heizen circa hundertfünfzig Dampfkessel und qualmen aus fünfzig große Kaminen, deren einer der höchste auf dem Continent ist. Derselbe senkte sich kurz nach seiner Fertigstellung nach einer Seite hin, wurde aber von dem Herrn Bauinspector Haarmann – einem langjährigen Mitglied des Verwaltungsraths – in sehr erfindungsreicher Weise wieder gerade gerichtet. Im Jahre 1874 beschäftigte die Fabrik 5630 Arbeiter, die, größtentheils verheirathet, 8765 Angehörige ernährten und mit Hinzurechnung von circa 250 Beamten und deren Familien reichlich 15,000 Köpfe ausmachten.

Für verheirathete Beamte ist ein großes Beamtenhaus mit Etagenwohnungen der verschiedensten Größe erbaut. Für verheiratete Arbeiter sind Häuser nach den verschiedensten Systemen errichtet, in denen hunderte von Familien ihr Unterkommen finden und zwar zu Preisen, die eine Kündigung als Strafe erscheinen lassen. Für die Unverheiratheten ist durch den Bau eines großen Kost- und Logierhauses gesorgt, in welchem bei einfacher Belegung 1200 Mann beherbergt und in einem riesigen Saale gleichzeitig gespeist werden können. Für Kost und Logis bezahlt der Mann pro Tag 7 Silbergroschen (der niedrigste Lohnsatz im Jahre 1874 betrug 25 Silbergroschen, der durchschnittliche 38 Silbergroschen pro Tag).

Daneben besteht ein Consumverein der Fabrik, der an verschiedenen Verkaufsstellen gute und billige Nahrungsmittel und Kleidung liefert; in eigenen Bierschenken wird vorzügliches Bier 20 bis 33⅓ Procent unter dem sonst üblichen Preise verzapft.

Wenn heutigen Tages ein Reisender die Stadt Bochum besucht, so ist vielleicht das Einzige, was ihn noch an die Zustände von „Kaubaukum“ erinnern kann, die klägliche Verbindung, welche die Bergisch-Märkische Eisenbahn seit Jahren in Dortmund mit der großen Berlin-Köln-Pariser Route unterhält, obgleich sie z. B. auf ihrer Station Bochum-Riemke 1873 die anständige Summe von 806,839 Thalern an Personenbillets und Frachten gelöst hat. Jedermann, der aus dem Osten kommt und statt der längeren

[544]

Die Gußstahlfabrik des Bochumer Vereins aus der Vogelschau. Nach der Natur aufgenommen von Adolf Eltzner.
1. Gußstahlfabrik. – 2. Hochofen und Coaksanlagen. – 3. Kanonenfabrik. – 4. Stahlhaufen. – 5. Arbeiterherberge für 1500 Mann. – 6. Ziegelbrennerei (Rundofen). – 7. Rheinische Eisenbahn, welche sich um die Fabrik herumzieht.

[545] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [546] Bergisch-Märkischen Route über Kreiensen die Köln-Mindener über Hannover wählt, muß zur Strafe dafür in Dortmund einige Stunden nachsitzen – so will es die Taktik der kleinen Eisenbahnpolitik. Hat der Reisende seine Strafe abgesessen, Bochum erreicht, einen Gang durch die Straßen der Stadt gemacht und mit uns einen der nahen Hügel bestiegen, so zeigt ihm die Rundschau eine Landschaft, die mit nichts mehr an das alte oben geschilderte „Kaubaukum“ erinnert. Die kleine Ackerstadt ist längst verschwunden hinter den hochragenden Bauten der Industrie und hinter der neuen Stadt, welche die grünen Gärten von ehemals bedeckt und unaufhörlich aus dem Boden heraus weiter wächst. In ihr und auf jeder Quadratmeile um sie herum wohnen im Durchschnitt dreißigtausend Menschen, also das Zehn- und Fünfzehnfache von ehemals. Mehr als sechzig Schachtthürme großer Tiefbau-Steinkohlenzechen zählt man eine Stunde im Umkreis der Stadt. Das kleine Werk von Mayer und Kühne hat sich zu dem großen, fast wirren Häusermeer entwickelt, welches unser Bild zeigt. Die Ruthe Landes, die Mayer und Kühne zu dreiunddreiviertel Thaler kauften (= 5 Thaler per Kölner Ruthe) kostet heute je nach der Lage fünfzig bis vierhundert Thaler; die Wälder sind bis auf geringe Reste verschwunden, die Niederungen trocken, und von allen Seiten umtost uns das erderschütternde Getöse der Hämmer, das Schnauben und Pfeifen der Dampfmaschinen und Locomotiven, das Rollen der zahllosen Bahnzüge, das Poltern der schweren Fuhrwerke, welche die Straßen der Stadt zahlreich durchrasseln. Und das edle Metall, welches sich dort unten zu Schienen reckt, zu Glocken wölbt, zu Rädern rundet und zu Kanonen formt, liefert nicht nur den Bedarf des eigenen Verkehrs und des nationalen Schutzes, es befreit nicht nur das Vaterland von einer kostspieligen und gefährlichen Abhängigkeit von der Industrie fremder Völker – nein, es bringt auch den stolzen Türken, den bärtigen Russen, den fleißigen Anwohner des Yan-tse-kiang, es bringt Spanier und Italiener in freundliche Handelsbeziehung zu dem Volke, welches heute besser den Stahl zu schmieden versteht, als alle anderen.

England hat fast ein Jahrhundert mit dem Geheimniß der Gußstahlbereitung auch den Ruhm der besten Eisenindustrie bewahrt und genießt denselben, obwohl nur zum geringern Theil, mit Recht noch heute. Es wird unterstützt in der Behauptung dieser seiner Stellung auf dem Eisenmarkt einmal durch die natürliche geographische Lage und sein Canalsystem, die ihm den billigen Wasserverkehr in sehr ausgedehntem Maße gestatten, dann aber auch durch seine edlen Eisenerze, durch seine hundertjährigen Handelsverbindungen mit allen Welttheilen, die kluge und glückliche Verkehrspolitik seiner eigenen und die unglücklichen Experimente fremder Regierungen auf dem gleichen Gebiet, durch einen seit Generationen geschulten und fleißigen Arbeiterstand und durch ein ebenso altes Vorurtheil, denn in Bezug auf Qualität und Arbeit steht das deutsche Eisenfabrikat höher. Wenn England in den wichtigsten Branchen der Stahlfabrikation die erste Stelle an Deutschland längst hat abtreten müssen, so knüpft sich die Ehre dieses Erfolges deutschen Fleißes an die Firmen Friedrich Krupp in Essen und „Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation in Bochum.“




Ein Verbrecher unter den Fischen.
Von Carl Vogt.


Unter den mancherlei Sehenswürdigkeiten, welche Paris vorführen kann, giebt es ein kleines Magazin an dem Quai du Louvre, Nr. 20, an welchem der gewöhnliche Tourist freilich achtlos vorübergeht, während der reisende Naturforscher sich nicht nur betrachtend dabei aufhält, sondern auch wohl eintritt und sich mit dem Manne, der es besorgt, in ein Gespräch einläßt. Wer einmal dort gewesen ist, kehrt wieder, und Keiner, darf ich wohl sagen, verläßt das Magazin des Fischzüchters Carbonnier ohne Belehrung. Der Mann ist schon für sich selbst eine Merkwürdigkeit. Er trägt seinen Namen „pisciculteur“ mit Stolz – er ist sich in der That bewußt, daß es keinen ihm Ebenbürtigen giebt in Beziehung auf Zucht und Behandlung der Wasserbewohner und namentlich der Fische. Man kann sich kaum umdrehen in dem engen Raume – überall plätschert und rieselt es; alle Wandflächen, alle Fenster und mit größeren und kleineren Aquarien besetzt, in welchen es von älteren Fischen, von Brut, von Molchen und Salamandern wimmelt. Carbonnier setzt seinen Stolz darein, ausländische Fische, welche durch ihre Schönheit, die Eigenthümlichkeiten ihrer Lebensweise oder die Vortrefflichkeit ihres Fleisches Anzucht verdienen, in Europa und speciell in Frankreich einzubürgern; er bezieht solche unter mannigfachen Mühseligkeiten und Unfällen, die ja auf der weiten Reise nicht fehlen können, aus Indien und in neuester Zeit besonders aus China und betreibt mit seinen Zöglingen, sowie mit Aquarien, Bruteinrichtungen für Fische etc. einen schwunghaften Handel. Er lebt und webt mit den Bewohnern seiner Aquarien, kennt ihre Bedürfnisse auf das Genaueste, weiß, wann sie Hunger haben, von der Kälte oder der schlechten Beschaffenheit des Wassers leiden, und erräth ihre Empfindungen, fast möchte ich sagen, ihre Gedanken. Das Auge des Fisches namentlich hat für Carbonnier seine ausgesprochene Mimik; er unterscheidet an dem besonderen Funkeln desselben die Liebe, wie den Haß und bemißt daraus seine Maßregeln der Trennung oder der Vereinigung.

Als ich mich im vorigen Herbste einige Tage in Paris aufhielt, lernte ich Carbonnier persönlich kennen und habe einige genuß- und lehrreiche Stunden in seinem Laden verbracht. Er zeigte mir alle seine Schätze: seine monströsen, aus China eingeführten Goldkarpfen mit den doppelten Schwänzen und den vorstehenden Glotzaugen; seine Kletterfische (Anabas scandens) aus Indien, welche unter den drolligsten Bewegungen auf dem Fußboden umherspazierten und in den Ecken emporkletterten, mit den Stacheln der Flossen sich forthelfend und stützend, seine Guramis (Osphromenus olfax), einen der wohlschmeckendsten Fische Chinas, der dem Steinbutt oder Turbot an Güte gleichstehen und dessen Anzucht, nach neuesten Nachrichten, wohl gelungen sein soll; seine Kampfhähne (Fondulus), kleine Fische, deren sonst ausdruckslose Augen wie Smaragde blitzen, und die, wenn sie in Wuth gekommen, aufeinander losstürzen; endlich seine Großflosser (Macropodius), von denen einige Paare für die Aquarien meines Laboratoriums zu kaufen ich mich nicht enthalten konnte. Von diesen letzteren soll hier die Rede sein.

Der Großflosser ist ein prächtiger kleiner Fisch von etwa fünf Centimeter Körperlänge, etwas seitlich abgeplattet, mit kleinem, nach oben gerichtetem Maule. Männchen und Weibchen sind sehr verschieden; das erstere größer, mit lebhafteren Farben und ungemein entwickelten Flossen ausgestattet. Der Rücken des Männchens ist dunkelbraungrün, mit schwarzen Marmorirungen; die Seiten sind grünlich mit verwaschenen senkrechten Binden von gelber, rother und blauer Farbe geziert; auf dem Kiemendeckel glänzt ein dunkelsmaragdgrüner runder, hell umsäumter Fleck. Das lebhafte Auge leuchtet hellgrün. Die Flossen sind bräunlich, himmelblau und gelb gesäumt; die Schwanzflosse ist so lang wie der Körper ohne den Kopf, halbmondförmig ausgeschnitten und in zwei Spitzen auslaufend; die an der Kehle stehenden Bauchflossen ziehen sich in einen langen, gelben Strahl aus. Bei dem Weibchen sind alle Farben mehr grau und unscheinbar, die Flossen weit kürzer, aber doch in ähnlicher Weise gebildet. Es ist unmöglich, sich eine Idee von der Grazie in den Bewegungen des Männchens zu machen; die langen Flossen flattern wie Wimpel um den Körper umher oder steifen sich wie Segel. Im Zorne gegen Nebenbuhler oder wenn sich das Männchen in seiner ganzen Schönheit der erstaunten Ehehälfte zeigen will, spreizt es alle Flossen mit leisem Zittern und schlägt mit der langen Schwanzflosse ein förmliches Rad.

Ich stehe nicht an, die Großflosser den Liebhabern von Aquarien und Becken statt der langweiligen Goldfische zu empfehlen. Sie liefern täglichen Stoff zu heiteren Beobachtungen und haben besonders den Vortheil, daß sie auch in schlechtem und verdorbenem Wasser aushalten. Sie gehören nämlich zu den sogenannten Labyrinthfischen, welche Wasser oder Luft in Höhlungen ihrer Kiemengebilde aufbewahren können. Man sieht [547] sie beständig an die Oberfläche kommen, Luft einschlucken und durch die Kiemenspalte wieder ausblasen; sie lassen sich leicht mit Insectenlarven, kleinen Wasserwürmern und Regenwürmern ernähren und pflanzen sich selbst in kleinen Gefäßen leicht fort und zwar in merkwürdigster Weise. Das Männchen nämlich schluckt die vom Weibchen entlassenen Eier mit dem Munde auf, wälzt sie eine Zeitlang im Maule umher, überzieht sie so mit Schleim und spuckt sie dann an die Oberfläche des Wassers, wo es schon vorher eine Art von Floß aus Schleim gebildet hat, in welchem die Eier sich einbetten. Es bewacht nun die Eier auf das Sorgfältigste, jagt das Weibchen weg, sobald es sich ihnen nähert, und beschützt sogar noch eine Zeitlang die ausgekrochenen Jungen, welche Kaulquappen nicht unähnlich sehen.

Außerdem sind die Großflosser recht verträglich, und obgleich sie sich paarweise zusammen thun, kann man doch hunderte von ihnen in demselben Aquarium halten, ohne daß sie sich gegenseitig befehdeten, wie andere Fische thun. Nur wenn die Laichzeit (Juni) herannaht, thut man wohl, die Paare zu trennen, da die Männchen heftig unter einander kämpfen und einander die Flossen verstümmeln – zuweilen sogar muß man die Paare trennen, da das Männchen das Weibchen oft heftig verfolgt. So weit aber, wie es einer unserer Wütheriche getrieben hat, dürfte es selten kommen.

Ich hatte von Paris fünf Paare von Großflossern mitgebracht – drei für unsere Aquarien, zwei für die eines Freundes, des Herrn Lunel, des Conservators unseres zoologischen Museums, der seit lange mit Carbonnier Beziehungen pflegt. Nichts leichter als der Transport. Carbonnier besorgt das vortrefflich. Eine Flasche wird mit Wasser zur Hälfte gefüllt; die Fische werden hinein gethan; der Hals der Flasche wird mit doppelter Leinwand zugebunden und nun dieselbe in das Netz des Waggons gestellt; nach der Fahrt von Paris nach Genf sind die Großflosser so munter wie vorher. Im Laufe des Winters sprang während der Nacht ein Männchen aus dem Glase und verendete; zwei Weibchen starben an den Krämpfen, wahrscheinlich weil sie im letzten Herbste ihren Laich nicht hatten absetzen können. Der Abgang wurde durch Nachsendung von Paris ersetzt. Es war fast komisch zu sehen, wie die neuen Ankömmlinge empfangen wurden. Die Männchen erschöpften sich in Demonstrationen mit Radschlagen und Flossenspreizen und führten ihre neu angelangten Bräute in dem Aquarium umher; das bisher verwittwete Weibchen schmiegte sich zuthunlich an den gestrengen Eheherrn, der es anfangs wenig beachtete, nach und nach aber sich herbeiließ, ihm schön zu thun und seine Flossenpracht zu zeigen.

Alles ging gut, bis vor etwa vier Monaten (ich schreibe dies Mitte Juni) Herr Lunel beobachtete, daß sein altes Paar nicht in geordneten Verhältnissen lebte. Das Weibchen wurde heftig von dem Männchen verfolgt, gebissen und gestoßen, ja selbst an den Flossen gepackt und umhergeschleift. „Ungestümer Liebeseifer!“ dachte Herr Lunel, dessen Aquarium in einer noch geheizten Stube stand, während die unsrigen, wo nichts Aehnliches sich zeigte, in kühlem Raume sich befanden. Aber eines Morgens fand er das Weibchen halbtodt und blutend am Boden des Aquariums; das eine Auge war ausgerissen; ein Pfropf von Blutgerinnsel und zerstörten Geweben füllte die Augenhöhle. Das grausame Ungethüm, das die That begangen hatte, triumphirte radschlagend im Wasser umher und stieß von Zeit zu Zeit nach der Unglücklichen, die sich tiefer unter den Pflanzen zu bergen suchte.

Herr Lunel trennte das zwistige Paar. Das Weibchen erholte sich; die Wunde verharschte, und ein schwammartiger Stumpf zeigte sich in der leeren Augenhöhle. Die beiden Fische waren durch eine gläserne Scheidewand im Aquarium getrennt. Ein gutes Verhältniß schien sich nach einiger Zeit angebahnt zu haben. Sie stellten sich von beiden Seiten her mit den Köpfen gegen die Scheidewand, nickten sich zu, machten gleichzeitig dieselben Bewegungen – kurz betrugen sich wie die anderen, nicht durch Scheidewände getrennten, in Eintracht lebenden Paare. „Hm!“ dachte Herr Lunel, „die Laichzeit naht heran; es ist für den Fisch ebenso wenig gut wie für den Menschen, daß er allein sei.“ Die Scheidewand wurde entfernt – die Eintracht schien ungestört. Liebenswürdiges Betragen ließ die besten Hoffnungen für eine glückliche Zukunft aufkommen.

Aber das Unerwartete trat ein. Herr Lunel bat mich vor einigen Tagen, am Morgen herüber zu kommen, um sein Aquarium zu sehen. Der Unfisch (wenn man so nach dem Vorbilde des Wortes „Unmensch“ sagen kann) hatte dem armen Weibchen das andere Auge auch ausgerissen und, nicht zufrieden damit, sogar den Stummel in der früher verödeten Augenhöhle entfernt. Ein vollendeter Augenarzt hätte die beiden Augenhöhlen nicht besser durch eine Operation entleeren können.

Natürlich abermalige Trennung. Das geblendete Weibchen hat sich erholt; das Wundfieber war mäßig und hat nicht lange gedauert. Das verstümmelte Thier schwimmt, wie vorher, im Wasser umher. Wir werden versuchen, es am Leben zu erhalten, und prüfen, ob ihm der Tastsinn genügt, seine Nahrung zu suchen und zu finden.

Was sagt der Leser zu dieser verbrecherischen That, die sich wiederholte? Die Psychologie der Fische ist noch wenig ergründet. Es öffnet sich hier ein Blick in ein dunkles Feld. Kann man annehmen, daß die Individualität unter den Fischen schon so weit ausgebildet sei, um grausame Wütheriche, Blaubarte und Borgia’s zu erzeugen neben liebenden Ehegatten und zärtlichen Vätern? Und wenn dies, welcher specielle Grund konnte hier vorliegen, der die zweimalige Unthat hervorrief? Der Hunger konnte es nicht sein – die Fische waren reichlich genährt. Die Eifersucht auch nicht, denn die Beiden waren in einem besonderen Aquarium isolirt, ohne störende Nachbarschaft. Auch das Betragen des Weibchens gab keinen sichtlichen Anlaß – es war, wie das aller übrigen Weibchen, zuvorkommend und unterwürfig, wie es wohlgezogenen Ehefrauen geziemt. In der allgemeinen Natur der Großflosser liegt die Grausamkeit auch nicht; das andere Lunel’sche Paar, in demselben Zimmer gehalten, beträgt sich friedlich. Meine drei Paare sind wahre Muster von Verträglichkeit, und Carbonnier hat bei Tausenden, welche er gezüchtet hat, niemals etwas Aehnliches beobachtet. Ist es eine unbewußte That, hervorgegangen aus Hartmann’scher Philosophie? Oder eine Darwin’sche Zuchtwahländerung mit Tendenz zur Ausbildung einer neuen Raubfischgattung? Hat hier, in diesem speciellen Falle, die Absonderung im Sinne von Moritz Wagner gewirkt, oder, da auch die Fische zu den Ahnen des Menschen gehören, kann man annehmen, daß hier ein prophetischer Sündenfall zum Bösen geführt und zum Verbrechen verleitet hat? Endlich aber, welche Reihe von Gedanken und Schlüssen mögen in dieser Fischseele sich abgespielt haben, bevor sie zu dem seltsamen Endresultate kam, daß die Blendung des Weibchens, die gänzliche Zerstörung des Augenlichtes, eine für den Thäter unbedingt gebotene Handlung sei?

Ich will die Lösung dieser Fragen Anderen überlassen. Der Thäter ist einstweilen zu Einzelhaft verurtheilt, die hoffentlich zu seiner moralischen Besserung das Ihrige beiträgt.




Blätter und Blüthen.

Aus Lima geht uns folgendes Schreiben zu: „Diejenigen Ihrer Leser, und es mögen ihrer nicht wenige sein, die mit dem Namen Peru den Begriff der intolerantesten Priesterherrschaft verbinden, werden nach Durchlesen der folgenden Zeilen zugestehen müssen, daß wir Wilden doch besser als unser Ruf sind, daß es auch hier ‚dämmert‘ und daß die Morgenröthe der Toleranz und der Befreiung von Roms Herrschaft auch diesem Lande bald leuchten dürfte.

Wir haben heute einen Vorkämpfer der Gewissensfreiheit, einen großen Mann begraben, der stets nur das gewollt, wofür jetzt in Deutschland jeder freie Mann kämpft; ich sage wir, denn auch die Deutschen in Lima haben sich mit Eifer bemüht, dem Todten, soweit es ihnen gestattet war, die letzten Ehren zu erweisen: Deutsche haben ihn getragen und deutsche Klänge haben die Grablegung begleitet. Am 9. Juni starb der Doctor der Theologie Francisco de Paula Vigil, der einzige Peruaner, dem das Unglück – Andere nennen es Ehre – zu Theil wurde, von Rom mit dem großen Bannfluche bestraft zu werden.

Vigil wurde am 13. September 1792 in Tacna geboren und von seinen Eltern in strengster Weise für seinen von vornherein bestimmten Beruf, den Priesterstand, erzogen. Nachdem er bis zum Canonicus der Kathedrale von Arequipa gestiegen war, nahm er eifrigen Antheil an den Freiheitsbestrebungen des Volks zur Losreißung vom spanischen Joch, und als das Land frei war, wurde er als Abgeordneter für seinen Geburtsort in den ersten Congreß erwählt. Während seiner politischen Laufbahn hat Vigil stets kräftig und meist erfolgreich gegen die despotischen und dictatorischen Gelüste mancher Präsidenten der Republik gekämpft und war immer ein Streiter für die wahren Interessen des Landes, der

[548] auch von seinen Gegnern, wegen seiner offenen und ehrlichen Kampfesweise, geachtet wurde. Im Jahre 1845 zog er sich von dem Felde der Politik ganz zurück, erhielt die bis zu seinem Tode innegehabte Anstellung als Bibliothekar an der Staatsbibliothek in Lima und lebte nun nur noch dem Studium und dem Unterricht.

Von jener Zeit an begann seine schriftstellerische Thätigkeit, und es erschien eine Reihe tiefdurchdachter Werke, von denen die folgenden die bedeutendsten sind: ‚Vertheidigung der Autorität der Regierungen und der Bischöfe gegen die Anmaßungen Roms‘, ‚Die Jesuiten‘ und ‚Cultusfreiheit‘, Werke, deren Titel den Inhalt genugsam andeuten. Schon das erste zog ihm die Blitze des Vaticans und seine Verdammung zu, die er aber mit Geduld über sich ergehen ließ, indem er auf alle noch so gehässigen Angriffe seiner klerikalen Gegner nur immer wieder mit fleißig zusammengetragenem historischem Materiale, mit Anführung von Thatsachen und einfach bescheidener, aber schlagender Logik antwortete.

Als Mensch hat Vigil ein wahrhaft exemplarisches Leben geführt; von seinem bescheidenen Gehalte gab er den größten Theil als Almosen an die Armen, und seine freien Stunden benutzte er bis zu seinem im dreiundachtzigsten Jahre erfolgten Tode, um armen Studenten unentgeltlich Unterricht und Rath bei ihren Studien zu ertheilen.

Als vorgestern sich die Nachricht von seinem Tode verbreitete, geschah dies gleichzeitig mit dem Zusatze, daß in allen Kirchen die Pfarrer sich geweigert hätten, die Leichenmesse zu lesen und die Erlaubniß zur Bestattung zu geben. Dieser Umstand trug wohl am meisten dazu bei, daß dem Todten, der im Leben so wenig Ehren genossen, dieselben jetzt in vollem Maße zu Theil werden sollten. Der Stadtrath ermannte sich sofort und befahl die Beerdigung auf dem Friedhofe trotz der Einsprache des Klerus, und nun folgten Kundgebungen aller Art, die der Bevölkerung Limas wahrlich Ehre machen. Der Congreß erklärte den heutigen Tag für einen ‚Nationaltrauertag‘; alle Geschäfte und Läden waren während des ganzen Tages geschlossen und eine unübersehbare Menschenmenge drängte sich seit dem frühen Morgen auf die Plaza Bolivar, wo das Trauerhaus liegt, um von dort aus das Gefolge bis zum Friedhofe zu bilden. Den Zug eröffnete die Musik der italienischen Feuerwehr; dann folgten die verschiedenen freiwilligen Feuerwehren in Paradeanzug, der Sarg, abwechselnd von dem Gefolge getragen, die nächsten Angehörigen des Verstorbenen, Adjutanten des Präsidenten der Republik, die Deputationen vom Congresse, vom Stadtrathe, der Universität, der Freimaurer, der Gewerbeschule, des deutschen Vereins, der Lehranstalten, genug Abgeordnete aller in Lima bestehenden Vereine und Verbindungen und schließlich Tausende von Privatleuten.

Am Grabe wurden Reden gehalten. Ein Männerchor sang den ‚Tag des Herrn‘ von Kreutzer mit deutschem Texte. Erhebend war die lautlose Stille unter den Tausenden, während dieses Lied erklang, dessen feierliche Töne auf dem Friedhofe von Lima wohl noch nie gehört waren.

Alle Zeitungen erschienen gestern im Trauergewande und brachten an ihrer Spitze Leitartikel als Nachruf an den Verstorbenen; nur das Leibblatt des Klerus begnügte sich damit, am Schlusse der Tageschronik, nach den Polizeinotizen über Diebstähle etc., zu sagen: ‚Gestern starb der Dr. Vigil (das Herr war fortgelassen) ohne seine Irrthümer zu bereuen und ohne die letzten Tröstungen der Religion zu begehren.‘ Eine andere Zeitung antwortete darauf: ‚Wahrlich, Ihr Priester, Ihr stehet zu hoch da in Eurer Verblendung und Ueberhebung, als daß Ihr auch nur dem Todten vergeben könntet! Wir rufen Euch als Antwort auf Eure Verachtung des guten Menschen, der gestorben, die Worte zu, die er in seinen letzten Augenblicken mehrfach den sein Sterbelager Umstehenden wiederholte: ‚Beruhigt Euch! Es muß doch Tag werden?‘ Es muß Tag werden.‘

     Lima, 11. Juni 1875.
A. W.“

Deutsche Vanille. Es klingt gewiß sehr sonderbar, daß in den nordischen Nadelwäldern Vanille wachsen und seit Frühjahr 1875 in den Wäldern Thüringens geerntet werden soll, und es ist doch wahr. Wenn wir von Vanille reden, so denken wir an das feine Aroma, welches die meisten Menschen so sehr lieben, daß sie es nicht allein ihren Eisspeisen, Crêmes, Torten, Chocoladen und Liqueuren zusetzen, sondern oftmals sogar das noch feinere Aroma guten chinesischen Thees damit ersticken. Dieser milde, der Nase und dem Gaumen gleich angenehme Duft geht von einem schneeweißen, Vanillin genannten Stoffe aus, welcher aus der Schale recht kräftiger Vanillefrüchte in Masse herauskrystallisirt, und ihre runzlige Oberfläche mit einem glitzernden Ueberzuge bedeckt, den man darum mit Recht als das Kennzeichen einer guten Vanille angesehen und bei schlechter Waare künstlich nachzuahmen gesucht hat. Eben dieser Träger des Vanilleduftes, oder vielmehr das Aroma selbst in verdichtetster Gestalt, läßt sich nun, wie Wilhelm Haarmann und Ferdinand Thiemann, zwei jüngere, im Laboratorium des berühmten Chemikers A. W. Hofmann in Berlin ausgebildete Forscher, im vergangenen Jahre entdeckt haben, künstlich darstellen und zwar aus einem so zu sagen gemeinen Stoffe, der in reichlicher Menge im Safte aller unserer Nadelhölzer enthalten ist. Der Chemiker und Forstmann Th. Hartig hatte vor vierzehn Jahren im Safte des Lärchenbaumes die Gegenwart eines noch unerkannten Körpers nachgewiesen, der in chemischer Beziehung dem Gerbstoffe der Eichen (Tannin) ähnlich ist, dessen ursprünglicher Name „Lärchenstoff“ (Laricin) vier Jahre später in „Zapfenbaumstoff“ (Coniferin) umgetauft wurde, weil ein anderer Chemiker, W. Kubel, gefunden hatte, daß er auch im Safte der meisten anderen Nadelhölzer oder Coniferen vorkommt.

Da das Coniferin am reichlichsten in dem zwischen Rinde und Holz circulirenden Cambialsafte enthalten ist, so wird das Rohmaterial für die Vanillindarstellung am besten durch Abschaben des eingetrockneten Saftes der gefällten und abgeschälten Fichten-, Tannen- oder Kieferstämme gewonnen. Als Kubel im Jahre 1866 den gereinigten Stoff mit Säuren behandelte, bemerkte er bereits das Auftreten eines unverkennbaren Vanillegeruches, aber erst die genannten beiden Chemiker gingen diesem Winke weiter nach und fanden, daß sich der Nadelholzstoff durch Behandeln mit sauerstoffabgebenden Körpern vollkommen in Vanillestoff umwandeln läßt. Man behandelt ersteren zu diesem Zwecke in gereinigtem Zustande mit doppeltchromsaurem Kali und Schwefelsäure, zieht das Product mit Aether aus und erhält das Vanillin nach dem Entfärben mit Thierkohle und Umkrystallisiren als salzartig schimmernde weiße Masse, die vollkommen identisch ist mit derjenigen, welche die Runzeln guter Vanillefrüchte bedeckt. Da diese Tropenfrucht schon immer das kostbarste Gewürz war, welches wir verwenden, und in neuerer Zeit noch im Preise stieg, so versprach der Fund lohnend zu werden, und der eine der beiden Entdecker hat sich nunmehr gänzlich der industriellen Ausbeutung desselben gewidmet.

Neuere Beobachtungen eröffnen ferner die Aussicht, daß man vielleicht den Vanillestoff gar als das Nebenproduct einer in unserm papiernen Zeitalter auf’s Höchste entwickelten Industrie gewinnen wird, nämlich bei der Holzstoffzubereitung für die Papierfabrikation. Da die Lumpen schon lange nicht mehr ausreichten, hat man sich längst nach Bundesgenossen der Leinenfaser umsehen müssen und den mächtigsten derselben im Zellstoffe der Nadelhölzer gefunden, die man zu seiner Gewinnung zerkleinert und bei hohem Dampfdruck mit Natronlauge in eisernen Kesseln behandelt. Sofern nun jener Ausgangsstoff für die Darstellung des Vanillins, das Coniferin, nicht allein im Safte unter der Rinde, sondern auch im jungen Holze enthalten ist, so geht dasselbe in die Lauge über, welche nach ihrer Benutzung mit Säuren versetzt einen entschiedenen Vanillegeruch entwickelt. Es ist daher möglich, daß das Vanillin künftig als reines Nebenproduct der Papierfabrikation gewonnen werden kann, und der Vanillenthee würde dadurch noch in eine neue Beziehung zur Literatur treten. Jedenfalls blüht den Verehrern der Vanille die verheißende Aussicht, ihr Lieblingsgewürz künftig zu viel mäßigeren Preisen beziehen zu können als bisher, und hoffentlich wird damit noch der Vortheil verbunden sein, daß die Vanilletinctur – denn als solche dürfte der neue Sieg der Chemie zunächst in den Handel kommen – niemals die giftigen Eigenschaften zeigen wird, welche man wiederholt, unter freilich noch unaufgeklärten Umständen, an mit Vanille gewürzten Conditorwaaren beobachtet hat.
C. St.

Jagd auf Klapperschlangen. In den „Blauen Bergen“ (Blue Mountains) im Staate Pennsylvanien giebt es, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, sehr viele Klapperschlangen, die sich meistens von Vögeln, kleineren Schlangen, Eidechsen, Ratten, Mäusen und Eichhörnchen nähren, die sie mit ziemlicher Leichtigkeit fangen, da es eine bekannte Thatsache ist, daß gerade die Klapperschlange mehr als jede andere Schlange einen gewissen Zauber auf die Thierwelt ausübt. Für die Bewohner der „Blauen Berge“ besitzt die Jagd auf Klapperschlangen wegen der damit verbundenen Gefahren einen großen Reiz, und Viele gehen ihr deshalb nur aus Vergnügen nach. Bei einem Besuche in der Stadt Reading am Schuylkillflusse, in der Nähe der „Blauen Berge“, erzählte man uns Folgendes über die Jagd und das Einfangen von Klapperschlangen: Die Jäger gehen meistens zu Zweien, so daß der Eine zu Hülfe kommen kann, wenn der Andere gebissen wird. Die Stiefel der Jäger sind von dickem und schwerem Leder und die Sohlen derselben mit Gummi überzogen, so daß man geräuschlos und sicher über schlüpfrige und steinige Stellen gehen kann. Die Mittagszeit ist die günstigste für die Jagd, da sich um diese Zeit die Klapperschlangen auf Steinen oder steinigen Plätzen ausstrecken oder zusammenrollen und sich sonnen. Die gefährliche Giftschlange schließt nur selten ihre Augen, und ihr Geruchssinn scheint sehr fein zu sein. Sie beißt in den meisten Fällen nur, wenn sie getreten oder gereizt wird. Die Jäger bedienen sich auf der Jagd eines eisernen Stockes mit einer Gabel an der Spitze, mit der sie den Kopf der erspähten Schlange niederhalten, dann das Thier mit einer hölzernen Zange scharf am Kiefer fassen und hierauf in einen Kasten werfen, über dessen oberen Theil ein dichtes Drahtgeflecht gespannt ist. Wenn die Jäger keine Verwendung für die lebende Klapperschlange haben, dann tödten sie dieselbe und bewahren die Haut als Trophäe auf. Bekanntlich können die Schweine die Klapperschlangen ohne alle Gefahr verspeisen.
R. D.




Bei Ernst Keil in Leipzig ist soeben in dritter Auflage erschienen:

E. Marlitt,
Die zweite Frau.
2 Bände. 7 Mark 50 Pfennige.

Ueber die Buchausgabe dieser berühmten, von allen Gartenlaubenlesern mit Enthusiasmus aufgenommenen Erzählung urtheilt auch das bekannte englische Blatt „Saturday Review“ (Nummer vom 20. März d. J.) sehr günstig und schießt seine Kritik mit den Worten: „Die zweite Frau von E. Marlitt ist äußerst anziehend, klar und kräftig geschrieben und frei von allen eigenthümlichen Mängeln deutscher Novellistik.“



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vietmannsdorf in der Mark ist der Stammsitz dieses Holtzendorff’schen Familienzweiges.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Seine