Die Gartenlaube (1875)/Heft 29
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No. 29. | 1875. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.
„Mußt das nicht schief aufnehmen,“ unterbrach er sie, „mußt es halt so verstehen wie’s gemeint ist. Du kennst mich ja, wie ich bin, Mechel, Du weißt …“
„Ja wohl kenn’ ich Dich,“ fiel sie rasch ein, „aber Du kennst mich nicht, sonst thätst Du wissen, daß ich den Namen Mechel nicht ausstehen kann. Mechtildis heiß’ ich, und so will ich haben, daß Du mich nennst und nicht anders.“
„Ja ja,“ entgegnete er, „ich weiß es ja und hab’ nur darauf vergessen; es geht mir halt hart in den Kopf, denn wenn’s Dir auch anders vorkommt, mir gefallt Mechel viel besser; es ist viel lieber und heimlicher.“
„Warum nicht gar! Das verstehst Du nicht,“ unterbrach ihn das Mädchen, „ich will einmal das Wort nicht hören, und Du mußt auch Deinen Namen ändern. Du heißest ja auch Franz von der Firmung her; ich nenn’ Dich allemal Franz, das dumme Zachariesel bringt man ja kaum heraus.“
Nun war die Reihe, verletzt zu sein, an den Burschen gekommen: er sah nicht ein, was an dem Zacharias auszusetzen sei, der ihm von Jugend auf so gewohnt und vertraut geklungen hatte. „Thu’ dem ehrlichen Namen nicht Unrecht, Mechtild!“ sagte er, „mein Vater hat so geheißen und mein Großvater und mein Ahnl; er ist schon von jeher auf dem Hause.“
„Drum kannst ihn so leichter aufgeben,“ rief Mechtild, „Du gehst ja jetzt fort von Haus und wirst Grubenmüller; eine solche Kleinigkeit wirst mir doch nicht abschlagen, wenn Du mich wirklich so gern hast, wie Du mir alleweil sagst.“
„Wie könnt’ ich Dir was abschlagen!“ rief der Bursche entzückt, denn sie hatte ihm zugleich die Hand wieder geboten und ihn mit einem Blicke angesehen, in dem die ganze Zuversicht einer Liebe glänzte, die ihres Sieges gewiß war. „Ich will ja gern Mechtild sagen zu Dir, wenn’s Dir Freude macht. Nenn’ Du mich, wie Du magst, Peter oder Paul, aber am liebsten ist es mir doch, wenn Du mich Deinen lieben Buben nennst und Deinen Schatz.“
Sie reichten und drückten sich die Hände, und die Versöhnung wäre wohl mit einem Kusse versiegelt worden, wären die Bursche nicht mit einmal so laut geworden, daß es nur einem Tauben hätte entgehen können. So leise der Namenstreit geführt worden, war er doch den Lauschern nicht entgangen, welche aus einzelnen aufgefangenen Worten unschwer den ganzen Zusammenhang erriethen. Sie winkten und nickten sich zu und waren schnell ohne Auseinandersetzung über einen Scherz einverstanden, der dem lustigen Tage vollends die Krone aufsetzen sollte. Schon erhoben sich Einzelne von den Sitzen, als vor dem Hause ein Gefährt angerollt kam und das Vorhaben unterbrach.
Es war das Schweizerwägelchen des Schlösselbauern mit den muthigen Braunen davor. Die Begrüßungen der Gäste waren einfach und bedurften nicht vieler Zeit. Der Schlösselbauer mit Kuni wollte gleich aufbrechen um auf dem Markte die Einkäufe zu machen, die er beabsichtigte, der Müller aber gab es nicht zu und meinte, da man auf dem Lande doch so selten zusammen komme, solle man einen Augenblick verweilen, eine Maß zum Willkomm trinken und dann gemeinsam die Herrlichkeiten des Jahrmarkts besehen. So setzte man sich denn an einem Tische zusammen, und der Müller stellte denen vom Schlösselbauernhofe das Brautpaar vor. Die Mädchen begrüßten sich als frühe Bekannte von der Schulzeit her, und die feurige Mechtild war außer sich vor Freude, der Jugendgespielin ihren Hochzeiter noch besonders vorstellen und erzählen zu können, wie glücklich sie sei. Kuni hörte mit einem Lächeln zu, das von Spott nicht frei war, gewahrte sie doch, daß die Braut den Bräutigam fortwährend an der Hand hielt, als befürchte sie, daß er ihr noch von der Seite weg gestohlen werden könne. Der Bauer hatte soeben von der bereits erhaltenen Einladung und deren Annahme erzählt; natürlich wollte der Müller die dadurch erwiesene Ehre mit einer andern erwidern und erhob den Krug, damit der Schlösselbauer mit ihm anstoße und Bescheid thue.
„Mich schönstens zu bedanken, Schlösselbauer,“ sagte er, „sollst leben und Deine Tochter daneben und sollst bald die gleiche Freud’ erleben.“
Etwas kleinlaut stimmte der Bauer ein und stieß nothdürftig mit dem Kruge an, Kuni aber biß sich die Zähne übereinander und sah auf das Zifferblatt der großen Standuhr hinauf, wo eben der Kukuk aus seinem Verstecke schlüpfte, um mit grellem Rufe die Stunde anzuzeigen. Sie that, als hätte sie gar nicht gehört, was gesprochen worden, und als sähe sie nicht, daß alle Anwesenden, insbesondere das Brautpaar, ihr die Gläser entgegen hielten, um mit ihr anzuklingen auf baldige Erfüllung des soeben ausgesprochenen Wunsches. Zu anderer Zeit hätte sie dazu gelacht und lachend mit angestoßen, aber nach dem, was vor so kurzer Zeit zu Hause vorgefallen, war sie gereizt und empfand die [486] Mahnung, wie man die Berührung einer frischen Wunde spürt; ein kleiner Zwist nach der freundlichen Begegnung schien unvermeidlich, ward aber im Entstehen durch das Eintreten des welschen Bilderhändlers abgeschnitten, der mit einem Brette voll Gypsfiguren auf dem Kopfe hausiren ging. Das Ansehen der um den Herrentisch gereihten Gäste schien ihm einen guten Handel zu versprechen; er nahm daher seine Figuren herab und fing an, sie anzupreisen und zum Verkaufe einzuladen. Es waren Brustbilder von Jesus und Maria und Gestalten von Heiligen. Mitten unter den frommen Gestalten war auch die eines kleinen heidnischen Liebesgottes, ein geflügelter Amor, der mit schelmischem Lachen die Spitze eines Pfeiles prüft.
Die Erwartungen des Händlers wurden jedoch nur sehr mäßig erfüllt; die Waare wurde wohl durchgemustert, aber Niemand hatte Lust, zu kaufen. Der Schlösselbauer und der Grubenmüller wußten nicht, wie sie das zerbrechliche „Gelump“ nach Hause bringen sollten und verließen die Stube. Dieser hatte einen Handel mit dem Wirthe abzumachen. Jener wollte in den Stall, um nach seinen Braunen zu sehen. Nur der Geometer blieb zurück – er lag trotz alles Unglücks noch immer im Banne von Mechtild’s Augen und kreiste immer näher um dieselbe, wie ein gelber Nachtfalter um die Kerze, die ihm bald die Flügel verbrennen soll. Er lechzte darnach, mit dem Mädchen ein paar Worte zu wechseln, wenn er sie auch für sich verloren geben mußte, und auch Mechtild zeigte keinen Widerwillen gegen seine Annäherung. Kein weibliches Wesen wird einem Manne deshalb gram, weil er sie liebt, auch wenn sie nicht daran denkt, ihn zu erhören. Ihre Blicke begegneten denen des Gelben durchaus nicht unfreundlich, wenn sie auch den Arm ihres Hochzeiters keinen Augenblick aus dem ihrigen ließ. Dieser ward es nur zu wohl gewahr. Die Funken der Eifersucht begannen in seinem sonst so ruhigen Gemüthe zu sprühen.
Mechtild war die Einzige, welche an den Gypsfiguren Gefallen fand, besonders gefiel ihr der Amor mit dem Pfeile; sie hatte einmal in irgend einem ihrer Bücher davon gelesen und trug eine unklare Vorstellung dessen in sich, was die Statuette bedeuten sollte. Auch die minderbelesene Kuni betrachtete den hübschen Buben mit Wohlgefallen – sie hatte keine Ahnung seines symbolischen Sinnes. „Was ist denn das für ein Bübel?“ sagte sie. „Gewiß ein Engerl, weil er Flügel hat. Und was macht er denn mit dem Pfeile, den er in den Handeln hat?“
Nun war für den Geometer der erwünschte Augenblick gekommen, sich in’s Gespräch zu mischen und zugleich Mechtild eine Gefälligkeit zu erweisen; er sah, daß sie den Amor gern besessen hätte und sich doch scheute, denselben zu kaufen. Er begann von dem Liebesgotte der Griechen und Römer zu erzählen, von seiner Allmacht und Unbezwinglichkeit, von der Sicherheit, mit der er seine Pfeile versende, und von den bitteren Schmerzen, die Mancher zu erdulden habe, den er getroffen. Er schloß damit, daß er den Amor kaufte und Mechtild bat, denselben als ein kleines Verlobungsgeschenk von ihm anzunehmen, Niemand besser als sie eigne sich zur Besitzerin des unbezwinglichen Gottes der Liebe. Mechtild nahm erröthend und nicht ohne Zögern das Geschenk an, das in so zierlicher Weise gegeben wurde, sie wehrte sogar dem Schenker nicht, ihre Hand zu fassen, um sich doch auch dafür dankbar zu bezeigen. Es war vergebens, daß Zachariesel ihr den Arm preßte und drückte und ihr in eifersüchtigem Grimme zuflüsterte, sie solle den Amorl doch ja nicht annehmen – das schicke sich nicht.
Kuni war es heiß über die Wangen geflogen, weil ihre Unwissenheit so beschämend an den Tag gekommen; sie fühlte sich unbehaglich in der Gesellschaft und sah sich nach der Thür um, den Vater aufzusuchen; Mechel, die auch von Verlegenheit nicht frei war, bat sie jedoch zu bleiben und dann den Gang zu den Verkaufsbuden mit ihr gemeinsam zu machen. Sie konnte nicht wohl anders und blieb; Mechtild beauftragte den Bräutigam, die Gypsfigur auf den nächsten Tisch zu stellen, aber ja recht behutsam, daß ihr nichts geschehe; wie die Spatzen auf einen Kirschbaum, von welchem die Vogelscheuche entfernt wurde, schoß der Geometer auf den endlich einmal leer gewordenen Platz an Mechtild’s Seite und war eben im Zuge, ihr seine Ueberraschung und schmerzliche Verwunderung über Alles auszusprechen, was seit seiner Anwesenheit in der Grubenmühle mit ihr vorgegangen war, als es hinter ihm polterte und klirrte und der Amor mit abgebrochenem Kopfe und zerschmetterten Beinen auf den Stubenboden kugelte. Zachariesel hatte seinen Auftrag etwas gar zu behutsam ausgeführt und in dem Bestreben, Mechtild nicht aus dem Auge zu verlieren, die Figur neben die Tischplatte in die Luft gesetzt oder gar in geheimer Bosheit mit Absicht fallen lassen.
„O weh, jetzt ist das schöne Engerl in tausend Trümmer gegangen,“ rief Kuni und machte sich daran, die Scherben aufzulesen; Mechtild aber fuhr mit zornrothem Gesichte auf den Missethäter zu. „Was ich halt immer sag’,“ rief sie, „Du bist und bleibst ein dummer Bub. Läßt er die schöne Figur fallen, als wenn’s ein Stück Holz wär’. Du hast Recht, wenn Du Deinen Namen behalten willst, Du bist ein recht tappeter Zachariesel.“
Der Bursch erröthete bis unter das Stirnhaar. „Oho, Du brauchst mich deswegen nicht vor allen Leuten dumm zu machen,“ entgegnete er fester, als sie es sonst von ihm gewohnt war. „Ist schon der Mühe werth, Mechel, daß Du wegen der paar Gypsbrocken einen solchen Lärm aufschlägst, und wenn Dir gar so viel daran gelegen ist, dann kauf’ ich Dir eine andere – brauchst Dir’s nicht schenken zu lassen von wildfremden Leuten.“
Mechtild betrachtete den Zürnenden mit geheimem Vergnügen; noch nie war er ihr so hübsch vorgekommen, und die unverhohlene Eifersucht, die aus seinen Worten und Blicken hervorloderte, hatte für sie etwas so Wohlgefälliges, daß sie darüber nicht einmal hörte, daß er sie schon wieder Mechel genannt hatte. Lachend trat sie vor ihn hin, klopfte ihn auf die Backe und sagte: „Laß es nur gut sein, Franzel, und sei nicht harb! Es ist mir nur so herausgefahren im ersten Zorne.“
Sie sah ihn glücklich an. Er faßte ebenso vergnügt ihre beiden Hände; das war für den Geometer zu viel – er eilte hinaus, und die Thür schlug hinter ihm krachend in’s Schloß. Auch Kuni folgte ihm; sie konnte nicht mehr wie anfangs lachen über das „verliebte Gethu’“ der Beiden; sie fühlte sich davon angewidert und wollte hinaus, ehe Mechtild ihre Entfernung gewahren würde.
Erstaunt trat sie einen Schritt zurück. Die Thür war von den Burschen umstellt, welche den günstigsten Augenblick zur Ausführung des längst geplanten Scherzes für gekommen hielten. Sie standen in weitem Kreise und schickten sich an, dem Liebespaare zum Spotte ein im Volke wohl bekanntes Spiel aufzuführen, dessen Inhalt darin besteht, daß ein Vater, dem ein Knabe geboren worden, mit dem Meßner und dem Nachbar darüber berathschlagt, welchen Namen der neue Weltbürger erhalten sollte. Die beiden Vorsänger, welche den Meßner und Vater vorstellten, begannen, die Uebrigen sangen den Endreim im Chore mit. Der Meßner schlägt dann Namen um Namen vor, aber an jedem findet der Vater etwas auszusetzen und kommt nach jedem Vorschlage schüchtern und mit verschämtem Zögern auf den Namen Zachariesel zurück, indem er erst die Vorsilbe einzeln und abgebrochen mehrere Male wiederholt, dann aber mit dem innigsten Behagen den ganzen Namen hervorjubelt. Der Streit der Liebenden über ihre Namen war den Burschen eine kostbare Gelegenheit, war ja doch das Lied, als wäre es eigens für diesen Anlaß gemacht.
Der Vater sang:
„So woll’n wir berathen, liebe Männa,
Wie wir den kleinen Buben nenna …“
„Virgili“ sang der Meßner, und der Vater erwiderte: „das ist mir z’herrisch.“ „Pamphili“, fährt der Meßner fort, aber der Vater wehrte wieder ab und meinte: „das ist mir z’närrisch.“ Dann begann er erst etwas unsicher, bald aber immer lauter und zuversichtlicher „Za – Za – Za –“ und schloß unter allseitigem Jubel mit den Endreimen:
„Zacharieserl wär’ nett und Zacharieserl wär’ schön,
Zacharieserl wär’ deutlich und leicht zu versteh’n.“
Sie kamen nicht weiter, denn der Träger dieses Namens war auf den Meßner losgesprungen und hielt ihn fest an der Gurgel gepackt. Die Anderen wollten dem Cameraden helfen, und in einem Augenblicke hingen Alle in einem Knäuel aneinander, wie ein abgehender Bienenschwarm – es war nahe daran, daß der zweifachen Lustbarkeit des Trinkens und Singens noch die dritte folgen sollte, die des Raufens.
Mechtild war schreiend in eine Ecke entflohen; Kuni schien [487] dagegen nicht übel Lust zu haben, als Vermittlerin aufzutreten, es bedurfte dessen aber nicht, denn gerade in der entscheidenden Minute, wo die Sache eine bedenkliche Wendung nehmen konnte, war die Thür mit Gewalt aufgestoßen worden, und ein junger Mann in soldatischer Uniform war eingetreten. „Auseinander! Da wird nichts gerauft,“ rief er mit echter Commandostimme, ging aber auch sogleich daran, die Ausführung seines Befehls in’s Werk zu setzen. Mit Einem Rucke der kräftigen Arme nach rechts und links waren die Streitenden auseinander gedrängt, daß sie kaum wußten, was ihnen geschah, und neugierig von selbst in ihrem Ringen innehielten.
Der junge Mann trug die schöne Kleidung der griechischen Ulanen von blauem Tuche mit karmosinrothem Aufschlage und Brustlatze. Ein schöner Kalpak von gleicher Farbe mit weißem hängendem Haarbusche saß auf dem keck aufgeworfenen Haupte. Reiche blinkende Fangschnüre hingen gefällig um Schulter und Brust.
Der Ulane hatte sich eben durch den Schwarm hindurch gearbeitet, als Kuni von der andern Seite sich demselben näherte. In der Mitte ihres Weges trafen Beide zusammen und standen sich plötzlich und unvermuthet hart gegenüber. Ein Augenblick[WS 1] stummen gegenseitigen Betrachtens folgte, dann wie ein aufzuckender Blitz ein Moment des Erkennens – im dritten funkelte es unheimlich in Beider Augen, als habe der Strahl dort eingeschlagen und gezündet. Um ihre Lippen spielte ein Lachen, aus Hohn und Haß gemischt, und mit einer Geberde gleichgültiger Nichtachtung hätten sie sich von einander abgewandt.
Raschen Schrittes, mit glühenden Wangen und fliegendem Athem verließ Kuni die Stube. In gemessenem Gang, den Kalpak zurecht setzend, als wäre er verrückt worden, folgte der Ulane; auch Mechtild mit dem Hochzeiter fand es gerathen, sich ihm wie einer Sicherheitsescorte anzuschließen.
Mit lautem Jubel, als wären sie Sieger, behaupteten die Bursche das Schlachtfeld und kehrten zur alten Unterhaltung zurück, hatte dieselbe doch neuen, noch anziehenderen Stoff gefunden. Wohl war von dem eigenthümlich feindseligen Verhältniß, in welchem Sylvest und Kuni zueinander standen, unter den Leuten nicht viel bekannt geworden, aber etwas hatte doch durchgesickert, wie feuchter Grund eine verborgene Quelle anzeigt, und so konnte es nicht fehlen, daß in dem einen oder anderen der Bursche, die mit Sylvest von gleichem Alter waren, durch die auffallende Eigenthümlichkeit und abstoßende Kälte dieses Begegnens Erinnerungen aus der Bubenzeit wieder aufwachten und allerlei Vermuthungen Nahrung gaben. Es währte nicht lange, so hatte der Stoff sich auch schon in die Form des Liedes gefunden, und lustig klang es den Enteilten nach, wenn sie es auch nicht vernahmen:
„Und ein Hund und ein’ Katz
Haben bei einander nit Platz,
Und der Hund, der thut beißen,
Und krallen de Katz.“
Sanct Galli Tag
Soll jeder Apfel in sein’ Sack.
Mit einem Lächeln auf dem heißen, müden Angesichte war der Sommer entschlafen – lächelnd, wie durch erquickenden Schlummer gestärkt, war der Herbst erwacht und hatte sich rasch an sein Tagewerk gemacht, die Früchte zu ernten, die jener reich und schön wie selten zur Reife gebracht. Schon war er damit nahezu am Ziele und schickte sich an, von den Scheuen und Speichern, die er gefüllt, selbst wieder Abschied zu nehmen, den Abhang seines Wirkens hinunter zu schreiten und dem Winter Platz zu machen, damit dieser mit Ruhe und Stille den Fluren die Kraft wieder gebe, einen neuen Frühling keimen zu lassen. Die Freude und der Segen Aller, die er erfreut und bereichert, gab ihm das Geleit: man sah im ganzen Gau nur heitere Gesichter; das Fest der Sichelhenk und des Schnitthahns war fröhlicher begangen worden, als in vielen Jahren geschehen, und selbst die Natur schien sich der glücklichen Menschen zu erfreuen, denn obwohl bereits die rasch abnehmenden Tage verkündeten, daß der October seine nebelreiche Herrschaft begonnen hatte, war doch der Himmel so sonnig und blau und die Luft so mild und weich, daß Wiesen und Fluren noch im vollsten Grün eines Spätfrühlings prangten und nur hier und da in den Wäldern eine vergilbende Birke oder das geröthete Laub einer Buche verrieth, wie nahe vielleicht das Ende all dieser Herrlichkeit sein mochte.
Es lag im Sinne des Volkes, seine Freude auch durch kirchliche Festlichkeiten kund zu geben, und Wallfahrten zum Danke für die gesegnete Ernte waren, wie noch bis zur Stunde, das beliebteste Mittel, die Andacht mit dem Vergnügen zu verbinden. Der Hauptort, wohin diese Züge sich richteten, war die am entgegengesetzten Ufer des Ammersees vom hohen Berge weithin sichtbare Kirche von Andechs, vom Volke der heilige Berg geheißen und in grauen Zeiten der prangende Herrschersitz der Grafen von Andechs, die sich auch Herzöge von Meranien genannt, aber nach kurzer Macht und Pracht untergegangen waren, ohne etwas anderes zurück zu lassen, als einen fast zum Märchen gewordenen ruhmvollen Namen.
Die Glocken der mächtigen Kirche hatten eben mit ihren feierlichsten Klängen einen solchen Wallfahrerzug empfangen. Es war die Gemeinde, zu welcher der Schlösselbauernhof gehörte; der Besitzer desselben fehlte daher in dem Zuge so wenig, wie Kuni in der Nähe der Prangerinnen. Die Riesenkerze war der verlobte Dank und das Opfer für die reiche Ernte. Auch von anderen Orten waren bereits ähnliche Züge eingetroffen. Die Kreuze und Fahnen glänzten im Laube der um die Kirche stehenden Lindenbäume, indeß ihre Träger und die Wallfahrer, die den andächtigen Theil ihres Tagewerks bereits hinter sich hatten, auf dem Rasen vor dem damals unbewohnten Kloster herumsaßen und sich glücklich priesen, wenn sie zu dem mitgebrachten Mundvorrathe einen Krug Bier aus dem Wirthshause erobern konnten, das in seinen nicht unansehnlichen Räumen kaum hinreichte, dem zehnten Theile der dürstenden Frommen Aufnahme zu gewähren. Viele zogen es daher vor, in das nahe Dorf zurückzukehren, dessen Häuser sich an solche Tagen für Freunde und Bekannte in ebenso viele Herbergen verwandelten.
Unter diesen Auswanderern befand sich auch der Grubenmüller mit Tochter und Bräutigam; wäre auch die Nachbarschaft nicht gewesen, die sie mit den Wallfahrern verknüpfte, so hätte das herrliche Wetter zu einem Vergnügungsausfluge eingeladen; das junge Paar war immer zu einem solchen bereit, erhielt es doch durch denselben Gelegenheit zu ungestörtem Beisammensein, die sich außerdem seltener bot, denn die Hochzeit, die schon so nahe angesetzt gewesen war, hatte sich durch eine Reihe zufälliger Umstände verzögert und war zu nicht geringem Staunen und Kopfschütteln der Geladenen um einige Wochen verschoben worden. Ein starkes Gewitter, das sich in einer Art Wolkenbruch entladen, hatte in der Grubenmühle arge Verwüstung angerichtet, so daß über der Ausbesserung an den Einzug eines neuen Herrn nicht wohl zu denken war; eine Schwester des Müllers hatte durch ihren Tod Trauer in’s Haus gebracht – die Hauptveranlassung aber lag wohl in den beiden Brautleuten selbst. Wenn sie von einander entfernt waren, sehnten sie sich nacheinander, wie ein Paar jener Vögel, die man die Unzertrennlichen nennt; waren sie einige Stunden beisammen, so kam es jedesmal unter ihnen zu einem Zanke oder Zwiste, der zwar immer mit einer Aussöhnung endete, aber ohne daß dadurch für das nächste Begegnen ein ähnlicher Vorgang ausgeschlossen wurde; es war ein böser Samen aufgegangen in ihrem Liebesgarten, der, so oft auch das emporschießende Unkraut abgeschnitten wurde, immer neu aufwucherte, weil die Wurzel zurückgeblieben war. Die Liebenden selbst waren davon am wenigsten unangenehm berührt; sie wußten ja doch, daß sie sich angehörten, und lag doch ein eigener Reiz darin, nach dem Schmollen und Grollen sich immer lieben zu wollen; desto ärgerlicher waren die Zwistigkeiten dem Müller, der manchmal vermittelnd eingriff und es vortrefflich zu machen glaubte, wenn er Mechel eine „geschupfte Dingin“ nannte, die nächstens überschnappen werde, oder Zachariesel einen Lappen schalt, der sich keinen Respect zu verschaffen wisse.
Auf dem Wege zum Dorfe nahm ein Bekannter, der den Dreien begegnete, den Müller in Beschlag. Mechel und Zacharias gingen langsam voran. Es hatte wieder die gute Stunde für sie geschlagen, und sie gewahrten darüber kaum, daß er nach kurzem Gespräch ihnen nacheilte, mit einer Miene, welche schon von Weitem verrieth, daß seine Unterhaltung nicht so angenehmer Art gewesen war, als die ihrige. „Jetzt hab’ ich die Geschicht’ einmal satt bis an den Hals,“ rief er, als er die Beiden erreicht hatte; „jetzt muß einmal ein End’ hergehn; in sechs [488] Wochen ist Hochzeit, da beißt die Maus keinen Faden ab; ich will es haben, und wie ich es haben will, justament so muß es geh’n.“
„Was schreist denn so, Vater, und thust Dich so alteriren?“ erwiderte Mechel, indem sie ihn lächelnd betrachtete und gleichgültig fortfuhr, an Zachariesel’s Hut, den sie ihm abgenommen, ein Paar am Raine gepflückte Feldblumen zu befestigen. „Mich brauchst Du deswegen nicht auszuzahlen. Mir ist’s ja jede Stunde recht und meinem Franz auch; wer ist denn dran schuld, daß es sich so lang’ hinauszieht, als Du selber, zuerst mit Deiner Bauerei und dann mit der Klag’ wegen der Bas’? Wir Zwei sind einig, nicht wahr, Franz?“
„Ja wohl, Mechel – will ich sagen, Mechtild,“ rief Zachariesel freudig, „wir Zwei sind einig und lassen nit von einander und wenn man uns mit Keilen von einander klieben wollt’ –
Und Eins weiß ich g’wiß,
Das bleibt allemal wahr;
Zwei Täuberl, zwei Herzerl –
Giebt jedes ein Paar.“
„So, zuletzt soll ich wohl die Schuld haben an all’ dem Gethu’?“ unterbrach ihn ärgerlich der Müller. „Dann will ich Euch zeigen, daß ich es nicht bin, und will nicht auslassen, bis Ihr copulirt seid. Jetzt soll in vier Wochen die Hochzeit sein. Noch heut’ red’ ich mit dem Trompeterfranz’l, wenn er mir nicht ausspringt, weil ich ihn schon einmal mitten im Sommer in den April geschickt hab’. Gerade hat mich der Berger von Berg, der spöttische Mensch, angered’t und hat gefragt, wann die Hochzeit sei und daß die Leut’ gar nicht begreifen, was denn dazwischen gekommen ist, und daß sie die Köpf’ zusammenstecken und schon anfangen, Euch einen Spitznamen zu geben, und daß sie Euch die ewigen Hochzeiter nennen.“
„Das können die Leut’ thun von mir aus,“ rief Mechtild dazwischen; „das ist keine Unehr’, und wenn wir erst verheirathet sind, thun wir’s ihnen zum Trotz’ und wollen als Eh’leut’ erst recht die ewigen Hochzeiter bleiben. Nicht wahr, Franzel?“
„Freilich, Mechel – will sagen, Mechtild,“ erwiderte der Bursche zerstreut; er hatte das Gesprochene nur halb gehört und bejahte auf gut Glück, wie er es immer gewohnt war. Während sie an den Häusern und Gärten des Dorfes dahin gegangen, hatte ein Mädchen über den Zaun gesehen und ihm wie einem alten Bekannten grüßend zugenickt. Das rothbackige Gesicht mit den blauen Augen und dem Flachshaar war ihm nicht unbekannt, aber vergebens blätterte er in dem Büchlein seiner Erinnerungen zurück, um das Blatt zu finden, auf welchem dieses Bildchen verzeichnet stand. Mechtild gewahrte seine Zerstreuung nicht; so wanderten sie noch völlig die Dorfgasse hinab bis zum Wirthshause, vor welchem, durch die Straße geschieden, ein geräumiger Sitzplatz sich über Stufen erhob, mit Tischen und Bänken und breitästigen reich belaubten Lindenbäumen darüber. Sie gingen Hand in Hand, zum Zeichen völliger Eintracht, und doch dauerte die Eintracht nicht länger als der Weg.
Unter den Bäumen waren fast alle Plätze schon von lachenden und plaudernden Gästen besetzt; nur zuvorderst an der Straße war noch eine Rundbank leer, weil sie von der Sonne beschienen war; ein einziger Gast hatte sich nicht davor gescheut und schien sich in der Helle und Hitze vielmehr ganz behaglich zu finden. Sein gelber Anzug leuchtete den Ankommenden schon von ferne entgegen, das Leuchten aber hatte zugleich die Wirkung eines Blitzes, der Zachariesel traf und seine Eifersucht hell auflodern machte. War dieselbe auf dem Diessener Markte mehr die Wirkung eines dunkel ahnenden Gefühls gewesen, so war sie jetzt eine ganz deutliche und bewußte Regung, denn der eitle Grubenmüller hatte es nicht über’s Herz gebracht, sein damaliges Gespräch mit dem Geometer zu verschweigen; er mußte groß damit thun, daß seine Tochter auch eine gute Heirath in die Stadt hätte machen können und daß er selber ganz wohl als Privatier in München sitzen könnte, auf dem Hofbräuhauskeller, mitten unter den Secretären und Commissären. Zachariesel’s Gemüth war davon etwas angeflogen, wie beim Vorbeistreifen an einer Hecke ein feiner Stachel hängen bleibt, den man nicht gewahrt und der doch durch das Gefühl seine Anwesenheit verräth. Es beruhigte ihn nicht ganz, daß der Müller sogleich hinzufügte, er denke nicht an solche Sachen, und auch an Mechtild glaubte er zu bemerken, als ob die Mittheilung nicht einen so vorübergehenden und gleichgültigen Eindruck auf sie gemacht habe, wie sie denselben schilderte. Zacharias empfand den Anblick des Gelben wie einen Schlag, der seine Hand aus der Mechtild’s schleuderte. „Himmelsacrament!“ rief er losplatzend, „führt denn der Teufel den verdammten Kanari überall hin?“
Weder Mechtild noch der Müller hatten Zeit, ihn zu beruhigen oder auch nur etwas darauf zu erwidern, denn der höfliche Städter hatte die Ankommenden bereits bemerkt und eilte ihnen mit dem artigsten Gruße und der Einladung entgegen, an seinem Tische Platz zu nehmen – es war kein Grund vorhanden, dieselbe auszuschlagen, um so weniger, als alle anderen Sitze überfüllt waren, und so saß der Müller nach wenigen Augenblicken neben dem Geometer; auch die jungen Leute mußten folgen und verweilten nur, weil Zacharias das Mädchen nicht los ließ, sondern erhitzten Angesichts eifrig in sie hinein redete.
„Ich lasse mir’s nicht einreden, daß das bloßer Zufall ist,“ grollte er. „Wie käm’ der Geometer gerade heut’ hieher, wo’s auf sieben Meilen nichts zu vermessen giebt! Wirst ihm schon Post gethan haben, so durch die dritte und vierte Hand.“
„Ob Du mich in Ruhe lassen willst mit Deiner dummen Eifersucht?“ zankte das Mädchen hinwider. „Hast es in der Geschwindigkeit schon wieder vergessen, daß Du selber gesagt hast, man könnt’ uns nicht mit Keilen auseinander treiben, und jetzt brennt Dir schon wieder der Kopf? Ich weiß nichts von dem Feldmesser und wundere mich gerade so gut wie Du, daß wir da wieder mit ihm zusamm’treffen.“
„Ich glaub’ Dir’s ja, Mechtild,“ sagte Zacharias einlenkend, „ich glaub’ jedes Wort, das Du sagst, aber Du mußt mir dann auch versprechen, daß Du nicht mit ihm red’st und Dir Flattusen sagen laß’t von ihm. Neulich hast ihm sogar die Hand gegeben …“
„Das ist nicht wahr,“ eiferte sie, „er hat sie sich genommen, und wenn Du glaubst, Du darfst mich nur so commandiren, und mir befehlen, was ich reden und wie ich d’rein schauen soll, so bist Du auf dem Holzweg. Ich will nicht, daß man mich für eine dumme Gans halten soll; ich will, daß man’s kennen soll, daß ich nicht umsonst im Kloster gewesen bin.“
„Mechel,“ rief der Bursch in wieder aufsteigendem Unmuth. „Mechel, sage so was nicht! Du weißt, daß ich es nicht vertrag. Wenn Du das thust, nachher steh’ ich für nichts gut. Nachher giebt’s ein Unglück.“
„Und was wär’ denn das für ein Unglück?“ fragte sie spöttisch entgegen.
„Ich geh’ auf und davon,“ rief er, laut genug um auch von den anderen Anwesenden vernommen zu werden. Mechtild aber, dadurch gereizt, erwiderte nicht minder verständlich: „Thu’ das, Zachariesel! Das Unglück ist zu ertragen – ehe eine Stunde vergeht, bist Du doch wieder da.“
Damit wandte sie sich lachend von ihm ab und dem Tische zu, wo sie den Gruß des Geometers auf’s Freundlichste erwiderte und nicht im Mindesten zögerte, in dessen dargebotene Hand einzuschlagen. Der Bursche hielt sein Wort; er drückte den Hut so fest auf die Stirn, daß die Feldblumen, die Mechtild daran befestigt hatte zu Boden fielen, ohne daß er es gewahr ward oder beachtete. Ihr flog es dabei heiß über’s Gesicht, aber sie zwang sich, hell aufzulachen, als der Geometer aufsprang und die Blumen auflas. „Es läßt sich errathen,“ sagte er mit seiner artigsten Verbeugung, „wer dem glücklichen Bräutigam diese Blumen geschenkt hat, allein da er sie verliert, ist es wohl erlaubt, wenn sie ein Anderer zu sich nimmt, der sie besser zu verwahren weiß.“
„Warum justament nicht?“ sagte der Müller. „Was weggeworfen wird, kann Jeder aufheben, da beißt die Maus kein’ Faden ab.“ Mechtild aber erröthete bis unter das Haar, denn es entging ihr nicht, daß Zacharias sich nur zum Scheine entfernt hatte und, hinter einem Holzstoße verborgen, sie von ferne beobachtete. Sie lachte in sich hinein und hörte eine Weile mit Vergnügen dem Geplauder des Feldmessers zu, wie das schöne Wetter ihn noch einmal zu einem Ausfluge veranlaßt habe und wie er dazu diese Gegend gewählt, weil eine stille Hoffnung ihm gesagt, wen er vielleicht hier antreffen werde. Was er dabei [489] nicht aussprach, sagten seine Blicke desto deutlicher. Auch der Vater ließ sich mit Behagen erzählen, wie auf dem Hofbräuhauskeller unlängst ein so herrliches Fest gefeiert worden sei und wie er einen Finger aus der Hand darum hätte geben wollen, wenn der Herr Grubenmüller dabei hätte zugegen sein können. Darüber war Mechtild allmählich kühler und gleichgültiger geworden, und ihre Blicke richteten sich immer öfter dahin, wo sie Zacharias bemerkt hatte, aber der Platz war leer. Sollte er wirklich im Stande gewesen sein, seine Drohung zu erfüllen? Hätte er es wirklich vermocht, fortzugehen und sie allein zu lassen ohne „Grüß Gott“ und „behüt’ Dich Gott“? Je länger sie sich umsah, je peinlicher ward ihr zu Muthe. Zorn und Kränkung wechselten in ihr; zuletzt vermochte sie nicht mehr auf ihrem Sitze zu verbleiben und mahnte den Vater, wie es nun Zeit sei, aufzubrechen, und wie sie noch beim Krämer des Orts allerlei zu fragen und zu besorgen habe. Der Müller erhob sich ohne Widerrede, und der Geometer gab ihnen bis an die Stufen das Geleit; „Auf Wiedersehen“, rief er ihnen zu und sah ihnen mit eigenthümlichem Lächeln nach; es mochten auch eigenthümliche Gedanken und Bilder sein, die sich ihm an diese Hoffnung des Wiedersehens knüpften. Dann kehrte er nach seinem Sitze zurück, nahm das Brodmesser und kritzelte nachdenklich auf der Tischplatte herum; es währte geraume Zeit, ehe er mit den Gedanken, die ihn beschäftigten, so weit im Reinen war, daß er der Gesellschaft an den andern Tischen einige Aufmerksamkeit, und ihrem laut genug geführten Gespräche Gehör schenken konnte.
Dort saßen unmittelbar am nächsten Tische einige Bauersleute; bei ihnen ein hübscher, soldatenhaft aussehender Bursche mit weißem Brustschurze, dem Zeichen, daß es sein Geschäft war, die Gäste zu bedienen und im Pferdestalle behülflich zu sein.
Eben trat der Trompeterfranzel, der Hochzeitlader, hinzu und begrüßte ihn mit lauter Stimme und freundlichem Handschlage. „Grüß’ Dich Gott, Sylvest!“ rief er, „freut mich, daß ich Dich da find! Hab’ es schon gehört, daß Du die Hulanenuniform ausgezogen hast und willst wieder ein Bauer werden. Hast aber nichts verloren bei dem Tausche, stichst auch im Bauernkittel alle anderen Bursche aus und allen Mädeln in die Augen.“
„Du lobst mich für nichts und wider nichts,“ entgegnete Sylvest lachend; „ich veracht’ den Bauernstand nicht; es ist nach meinem Sinne der schönste Stand auf der Welt, aber wenn ich auch den Ulanen wieder ausgezogen habe, ein Reiter bin ich doch geblieben und hab’ meine meiste Freud’ mit den Rossen. D’rum hab ich mich auch hierher zum Wirthe verdingt, da hab’ ich viel mit den Rossen zu thun – einen Bauernknecht zu spielen, das lustet mich gerad’ nicht mehr.“
„So mußt halt schauen, daß Du statt des Bauernknechts den Bauern spielen kannst,“ rief der Hochzeitlader, erfreut über die Wendung des Gesprächs. „Mußt halt einheirathen, wo man einen richtigen Bauern braucht. Weißt keinen Hof, wo eine einschichtige Täubin sitzt? Man hat oft gar nit weit zu geh’n, bis man einen findet.“
„Damit hat’s gute Weil,“ rief Sylvest lachend und doch etwas verstimmt; die Rede des Alten hatte ihn an ein Zusammentreffen erinnert, das er, so unangenehm es ihm war, nicht mehr aus dem Sinne brachte. Er hatte nicht die volle Wahrheit gesagt: nicht bloß die Vorliebe für Pferde und die Abneigung, als Bauernknecht arbeiten zu sollen, hatte ihn von dem väterlichen Buchmaierhofe vertrieben – er war gegangen, um der Nachbarschaft des Schlösselbauerngutes auszuweichen, dessen Bewohnern er nicht begegnen wollte und voraussichtlich doch unvermeidlich begegnen mußte. Draußen im fernen Griechenlande unter fremden Menschen hatte er seine Feindin und seinen Haß beinahe vergessen. Er hatte ihres Daseins kaum mehr gedacht; um so lebhafter wachte die Erinnerung und mit ihr die alte Abneigung auf, als sie ihm unerwartet und plötzlich gegenüber stand. Er mußte sich selber gestehen, daß sie sich sehr verändert hatte und daß die Veränderung keineswegs zu ihrem Nachtheile gerathen war, zugleich aber stand fest, daß sie demungeachtet im Grunde dieselbe geblieben: diese blauen Augen hatten ihn so trutzig angesehen, dieser Mund ihn so übermüthig angelacht, wie in der Bubenzeit, wo er unwillkürlich über sie herfallen mußte, um sie für all diese Bosheit zu züchtigen, und wieder wie in der Bubenzeit hatte es ihn angewandelt, als müsse er sie mit Gewalt ergreifen und als könne in seinem Leben ein Glück nicht eher aufkommen und gedeihen, als bis dieser sein böser Geist gebändigt und gebannt sein würde. Demungeachtet begegnete es ihm, daß manchmal wider Wollen und Denken Kuni’s Gestalt wie hervorgezaubert vor ihm stand und ihn ansah, als fordere sie ihn heraus, den Kampf mit ihr aufzunehmen und sein Aergstes an ihr zu versuchen. All’ das war bei den Worten des Alten ihm flüchtig durch die Seele gegangen, und dahin zielte seine Antwort, wenn er auch nicht wußte, ob derselbe mit Bedacht gesprochen oder nur zufällig die empfindliche Stelle berührt hatte. „Damit hat’s gute,Weil’,“ wiederholte er, „ist auch nicht allemal eine Täubin, was so einschichtig sitzt, sondern ein bissiger Hacht oder gar ein Auf mit Krallen. Das Einheirathen gefällt mir nicht, und wenn mir etwas über’s Kreuz kommt, dann laß ich mich wieder anwerben und geh’ noch einmal in’s Griechenland hinein; es giebt doch nichts Schöneres als ein Ulan sein und sein Rössel unter sich haben, das ist leicht treuer und anhänglicher als mancher Mensch und als manches Weib obendrein …
,Den Säbel an der Seiten,
Ein’n Federbusch von Haar,
Ein schwarzbraun Roß zum Reiten,
Ob wohl was Schön’res war’!’“
Die Bauern jubelten ihm laut entgegen; der Geometer begann zuzuhören. „Wie treu ein Rössel sein kann, davon will ich Euch eine Geschichte erzählen,“ mischte sich der Trompeterfranzel in’s Gespräch, „da ist ein Franzos in Tobolsk gewesen, in Sibirien, wo sie uns hingeschleppt haben, in die Gefangenschaft. Das ist ein Rittmeister gewesen von den Dragonern und hat sein Pferd mitgehabt, einen Rappen, an dem kein weißes Härl’ gewesen ist, als die Bläß’ auf der Stirn, und den Rappen hat ihm der Gouverneur abgenommen, und der Rittmeister hat den Stall von dem Gouverneur versehen müssen, wie ein gemeiner Stallknecht, und er hat das Pferd so gern gehabt, daß er oft mit ihm gered’t hat, als wenn’s ein Mensch wär’, und der Rapp’ hat ihn dann so traurig angeschaut und hat ihm den Kopf auf die Achsel gelegt, als wenn er ihn trösten wollt. Und manchmal hat der Rittmeister ein kleines Bild hervor geholt; das hat er geküßt und hat geweint dazu und hat’s dem Rappen auch gezeigt. Und der Rapp’, als wenn er wirklich Menschenverstand hätt’, der hat dazu mit dem Kopfe genickt, als wenn er sagen wollt’: ich kenn’ das Gemäl’ schon, das ist das Bild von Deiner Frau, nach der Du Dich so sehnst. Und wiederum einmal, da ist ein Brief kommen an den Rittmeister, da muß etwas Trauriges drinnen gestanden sein; der Rittmeister ist noch betrübter ’worden als zuvor, und einmal ist er in der Frühe verschwunden gewesen und der Rapp’ mit ihm; er hat’s nicht mehr ausgehalten und hat gemeint, er könnt’ durchkommen durch die Posten und durch den Schnee und könnt’ heimreiten nach Frankreich zu seiner Frau. Da sind gleich ganze Schaaren Kosaken aufgesessen mit ihren Spießen und sind ihm nach, ich weiß nicht wie weit, und er immer davor her, und der Rapp’ hat ausgehalten, als wenn er wüßt’ auf was es ankommen thät. Aber viele Hund’ sind des Hasen Tod; der Rapp’ ist gelaufen, bis er den letzten Schnaufer gemacht hat, und mit dem ist er zusammengestürzt. Den Rittmeister haben ein Paar an ihren Lanzen aufgespießt.“
„Der arme Herr, das brave Roß!“ riefen die Bauern durch einander; der Aelteste davon aber mochte der Zeit gedenken, da auch er die Leiden des Krieges empfunden hatte. „Das sind traurige Sachen,“ sagte er, „und es ist nur gut, daß solche Zeiten vorbei sind. So was kommt bei uns doch nimmer vor, daß man einen armen Gefangenen verfolgt und hetzt wie ein wildes Thier.“
„Das ist wahr, Landsmann,“ unterbrach ihn der Geometer, der sich zum Gehen anschickte, „aber wenn es auch nicht mehr zum Spießen kommt, wird doch auch jetzt noch mancher arme Teufel gejagt, als wenn er ein Fuchs oder Hirsch wäre. Ich bin erst, als ich von der Stadt herkam, einem Trupp solcher Jäger begegnet. Ihr habt doch wohl davon gehört, daß eine Handvoll Studenten in Frankfurt am Main Revolution gemacht hat, weil sie die Landesherren absetzen und einen Kaiser machen wollen über das ganze deutsche Reich; es ist ihnen mißglückt, und die meisten sitzen nun gefangen auf Leben und Tod. Auch aus unserm Lande sind einige davon, und Einer ist aus der
[490] Frohnveste entsprungen und flüchtig gegangen. Den suchen sie seit ein Paar Tagen in der ganzen Gegend herum, weil er in der Nähe zu Hause sein soll – es heißt, er sei ein Advocatensohn von … den Ort und den Namen hab’ ich vergessen.“
Er ging, die Bauern aber steckten die Köpfe zusammen und thaten klug und redeten leise, wie sie auch schon von der Geschichte gehört und wie es eine alte Prophezeiung gebe, daß einmal eine Zeit kommen werde, in der das deutsche Reich wieder einen Kaiser habe. Die Prophezeiung stehe gedruckt zu lesen in der „Sibylle Weis“ und was darin stehe, das sei unfehlbar und müsse in Erfüllung gehen.
Sie beachteten darüber nicht einen fremden Mann mit bleichem, eingefallenem Angesichte und in abgetragener städtischer Kleidung, der wankenden Schritts näher gekommen und auf den Stufen, über denen jetzt der Lindenschatten lag, vor Ermüdung zusammengebrochen war. Sylvest war der Einzige, der ihn wahrnahm; er beobachtete ihn einige Augenblicke, dann erhob er sich leise und trat ihm näher.
„Will sich der Herr nicht da herauf setzen auf die Bank?“ sagte er, auf das Geländer sich stützend. „Soll ich dem Herrn vielleicht einen Krug Bier bringen?“
Ueberrascht und beinahe erschreckt, hatte der Fremde emporgeblickt; als er in das offene Angesicht des Burschen und in sein treuherziges Auge sah, schwand seine Befangenheit. „Ich möchte wohl,“ sagte er mit tiefer, männlich klingender Stimme, „aber ich kann die Labung nicht bezahlen und will dankbar sein, wenn Ihr mir nur vergönnt, hier im Schatten auszuruhen. Ich habe einen weiten und bösen Weg gemacht.“
„Das sieht man dem Herrn ohne Zettel an,“ entgegnete Sylvest, „es muß wohl ein böser Weg gewesen sein, er hat ja nicht nur seinen Geldbeutel, sondern auch seinen Hut verloren. Aber auf einen Krug Bier für einen durstigen und müden Menschen darf’s nicht ankommen. Ich will ihm einen bringen und ein Stück Brod und Fleisch dazu.“
„Ich kann mich aber nicht aufhalten,“ sagte der Fremde unruhig, „ich bin auch noch nicht so ganz erschöpft und habe noch einen weiten Weg vor mir.“
Sylvest sah ihn noch einmal schärfer an. „Nehm’s der Herr nicht übel,“ sagte er dann, „aber ich mein’, ich könnt’s errathen, wer der Herr ist. Und wenn ich’s errathe, so thut’s mir leid, daß man auf ihn so Jagd macht, wie auf ein wildes Thier; sei der Herr aufrichtig! Ich verrath’ ihn nicht … ist er nicht mit in Frankfurt dabei gewesen und aus dem Gefängnisse ausgebrochen?“
Der Fremdling wollte aufspringen, aber seine wund gelaufenen Füße machten ihn wieder zurücksinken. „Nun denn,“ sagte er, „Du scheinst ein braver Bursche – ich will Dir vertrauen. Du hast es errathen … ich bin …“
„Schon gut,“ unterbrach ihn Sylvest rasch, „ich weiß jetzt schon, was ich zu wissen brauch’. Die Hauptsach’ ist, daß ich den Herrn den Leuten aus den Augen bring’, damit niemand auf einen Verdacht verfallt. Thun Sie nur jetzt Alles, was ich sag’, und sagen Sie zu Allem Ja! Ich will Sie für einen Cameraden ausgeben, den ich in Griechenland bei den Ulanen kennen gelernt hab’ und der in meiner Schwadron gewesen ist; damit werden wir schon durchkommen, hoff’ ich.“
Am mittleren Neckar, gleichweit von Tübingen und Cannstatt entfernt, liegt die Oberamtsstadt Nürtingen. So sehr im Herzen des württembergischen Landes liegt sie, daß ein Fußgänger von dort aus an einem Tage durch alle vier nahe zusammentretende Regierungsbezirke des Königreichs seinen Weg nehmen und Abends wieder in Nürtingen sein kann. Der Neckar mit seinen Zuflüssen, die Alb mit ihren stolzen burggekrönten Häuptern, der Wechsel von Höhe und Thal, Acker, Wiese und Wald giebt der Gegend solchen Reiz, daß man sie mit Recht zu den schönsten Theilen Schwabens zählt. Auch in die Geschichte Württembergs ist der Name des Städtchens fast von deren Beginne an verflochten. Auf dem „Schloßberge“ hatten württembergische Herzoginnen ihren Wittwensitz, und in der Nähe, im hohlen Stein des malerisch gelegenen Dörfchens Hart soll Herzog Ulrich, der durch seine Kämpfe mit dem schwäbischen Bunde bekannt geworden ist, beschützt von dem „Pfeifer von Hart“, Zuflucht vor seinen Feinden gefunden haben. Die Muse hat die kleine Neckarstadt aus Hölderlin’s, des kühnen Feuergeistes, Munde gegrüßt, der viele Tage seines Lebens dort zugebracht hat und dahin, zerrütteten Geistes und mit verwildertem Aeußern, zu den erschrockenen Verwandten später zurückgekehrt ist. Auch Schelling, der Dichter unter den Philosophen, hat seine ersten Jugendjahre auf der altberühmten Nürtinger Lateinschule zugebracht, und endlich hat in der Stadt der jüngst zu Stuttgart verstorbene Dichter Eduard Mörike seinen Sitz für Jahr und Tag genommen. der Mann,
„dem wahrlich die Muse
Heiter Lippen und Stirn’ und beide die glänzenden Augen
Mit unsprödem Kusse berührt,“
wie er selbst von seinem Landsmanne Hermann Kurz singt.
Der Reiz des Stilllebens und der herrlichen Gegend hat Mörike zur Zeit des deutsch-französischen Krieges nach Nürtingen geführt, nachdem er bisher im Winter zu Stuttgart, Sommers in Lorch, der Hohenstaufenstadt mit ihren schönen Wäldern, gelebt hatte. Die Erinnerungen seines eigenen Lebens mögen ihn in seinem Entschlusse bestärkt haben. Am Fuße der nahen Teck, in Owen, hatte er der Muse köstliche Erstlingsopfer gebracht, und in einem Pfarrhause auf den Höhen über dem Neckar hatte zuerst die Liebe tiefer sein Herz berührt, ohne der Verlobten ein anderes Loos als dasjenige der Friederike von Sesenheim zu bereiten.
„Rosenzeit, wie schnell vorbei
schnell vorbei,
Bist Du doch gegangen!“
In späteren Jahren schickte er wohl manchmal dem befreundeten Rector der Lateinschule liebliche Idyllen in elegischem Maße, um sie nicht ohne philologische Superrevision zu lassen, so z. B. seinen Besuch im Karthäuserkloster und Anderes. Wie sehr er aber in der Gegend von jeher selbst heimisch war, zeigen seine Poesien. Ein Hügel mit herzerfreuender Rundschau, die er im „Maler Nolten“ schildert, ist kein anderer, als das Geigersbühl bei dem nahen Großbettlingen. Der Lateinschule Nürtingens widmet er freundliche Disticha, und in der klappernden Neckarmühle läßt er den wandernden Schuster seines Märchens „das Hutzelmännlein“ mit den Zauberschuhen und dem „Klötzle Blei plei bei Blaubeura“, dem glücklich gefundenen zauberkräftigen Kreckenzahn, die letzte Nachtrast vor der Rückkehr nach Stuttgart bei Kartenspiel und geringem Schlummer halten. Ob er wohl damals ahnte, daß etliche Jahr später er selbst, der Liebling holder Geister, wenige Schritte von der Mühle die vorletzte Station seines Lebensweges beziehen würde?
In jenem Hause „an der Neckarsteig“ habe ich den Dichter manchmal besucht, und auch er ist, herzlich und freundlich wie er war, öfter zu mir in meine Wohnung oder in das Haus meiner Mutter gekommen. So gewaltig mich die Kriegs- und Siegestage ergriffen und mit ihren Eindrücken erfüllten, so unvergeßlich sind mir doch auch die stillen Stunden geblieben, die ich da mit dem Dichter hinbringen durfte. Und was ist natürlicher? Hatte ich doch längst zu der „stillen Gemeinde“ gehört, von der Friedrich Vischer in seinem Nachruf an Mörike’s Grabe sagte, daß sie sich labe und erquicke an des Entschlafenen wunderbaren, hellen und seligen Träumen und die hohe Weihe schaue in diesen Träumen. Wie oft im Freundeskreise oder als Lehrer im Unterrichte hatte ich seiner Poesie als eines zu wenig bekannten Kleinods, des Dichters als des trefflichsten unter den deutschen Lyrikern der Neuzeit gedacht! Und nun war mir die traute Gemeinschaft eines stillen Städtchens mit dem Manne beschieden, den auch dort nur Wenige in seiner dichterischen Bedeutung
[491] kannten. Es war bei Mörike so: Manche seiner Lieder wurden gesungen, oft gesungen, so das volksthümliche schwäbische Lied „Die Soldatenbraut“:
Ach, wenn’s nur der König auch wüßt’,
Wie wacker mein Schätzelein ist!
Für den König, da ließ er sein Blut,
Für mich aber ebenso gut.
oder das von Kaufmann herrlich in Melodie gesetzte „Schön-Rohtraut“. Andere, wie die „Geister am Mummelsee“, wurden wohl in Schulen gelesen und vorgetragen. Aber der Mann und sein Name blieb doch der Menge ziemlich unbekannt. Er lebte zu still und bescheiden, und im Genießen und Schaffen des Schönen, in wunderbarer Mischung des Romantischen und classisch Antiken den vollen Frieden seiner Seele findend, verschmähte er die Erregung und den Beifall der Menge. Schon früher, noch mehr aber, als er, ein vorgerückter Sechziger, in Nürtingen wohnte, verbrachte er seine Tage gern in häuslicher Zurückgezogenheit, umgeben von seiner Gattin (siehe das Gedicht „An Gretchen“), zwei lieblich aufblühenden Töchtern, einer „Blondine“ und einer „Mohrin“, wie er sie unterscheidet, und von seiner immer besonders enge mit ihm verbundenen Schwester Clara, jetzt mehr lesend und künstlerisch genießend als dichtend und schaffend, aber doch immer von freundlichen Genien und neckischen Geistern besucht und in seine Rede heiteren Scherz und holde Anmuth webend. Unter den Freunden, die ihn während seines ländlichen Stilllebens ab und zu besuchten, sind Männer wie David Friedrich Strauß und Moritz von Schwind, der Münchener Maler, die ihm beide im Tode vorausgegangen, und viele andere bedeutende Männer, besonders auch Dichter gewesen. Denn bei den Dichtern selbst und auch bei den Jüngern anderer Künste, bei Malern und Tondichtern, galt Mörike als ein hochverehrter, gottbegnadeter Sänger. Ihrer Liebe und Verehrung bedurfte aber auch sein weiches Gemüth. So scheu er sich dem lärmenden Tage verschloß, so empfindlich er gegen jede Störung und Verneinung seines Schönheitsdienstes war, so tief erquickte und so reich förderte ihn die Mittheilsamkeit der Genossen und Freunde in Dichtung, Malerei und Tonkunst. Und wie gern er von ihnen empfing, so gern theilte er ihnen und überhaupt Denen aus dem Reichthum seines Geistes und Gemüthes mit, welche mit offenem, zugeneigtem Sinne ihm näher traten. Ja, so paradox es lauten mag über einen so zurückgezogenen und oft als hypochondrisch berufenen Mann, die Theilnahme, mit welcher sich Mörike in Andere, in Dichter und Laien versetzte, ihren Kräften das Zusagende bot und ihrer Förderung nachsann, war ein schöner Grundzug seines Wesens. Dem geistigen Austausche, der hierdurch bewirkt wurde, verdankte Schwind den Gedanken zur „schönen Melusine“ und mancher Componist die Anregung zu seinen Melodieen.
Eines Tages zeigte mir Mörike ein ganzes Album, dessen lose Blätter voll von Erinnerungen an solchen Verkehr waren und die tiefe Gemüthlichkeit des Dichters bekundeten. Ein Haus, wo er viel ein- und ausgegangen, ein Baum, eine Gartenthür, der Cleversulzbacher Thurmhahn und viele andere Raritäten kamen zum Vorscheine, theils von seinem eigenen geschickten Stifte auf’s Papier geworfen, theils von Freundeshand gezeichnet. Sinnig und schalkhaft war die mündliche Erklärung dazu, und wie ich so bei seinen Bildern saß, war mir zu Muthe, als hätte ich seine Lieder und Idylle vor mir, die auch so gelegentlich und aus dem vollen Gemüthserlebniß heraus entstanden sind und, ohne zu großen Werken sich zu gestalten, in schöner Harmonie auf uns wirken. So ist mir eine Zeichnung in Erinnerung geblieben, welche sich auf einen Besuch Moritz von Schwind’s bezieht. Dieser ist in Lorch als Gast des Dichters angekommen. Er bedarf der Ruhe von der Reise am heißen Sommertage und sucht im Oberstübchen sich auszuschlafen. In Hemdärmeln liegt der wegemüde Mann auf dem Ruhebette. Liebliche Märchen treten im Hause des Dichters vor seine träumende Seele. Eben will er zum Pinsel greifen, sie festzuhalten – da, o Tücke des Schicksals, springt ein gewaltiger Kater durch’s offene Fenster auf den Leib des Malers, der entsetzt auffährt und der Mittagsruhe völlig entsagt.
Daß Mörike bei solcher Gemüthlichkeit gleichwohl für einen Feind der Geselligkeit gelten konnte, erklärt sich aus seinem Bedürfnisse, nicht Vielen nahe zu kommen. Denn eben weil seine Seele weich war und das für andere Augen Kleine und Unbedeutende mit Innigkeit erfaßte, konnten viele und geräuschvolle Eindrücke nur störend für sie sein. Und in der That gab es nicht leicht Jemanden, den jedes Rauhe und Unschöne so empfindlich verletzte wie ihn. Um die intensive Wirkung zu begreifen, die das Geschaute und Gehörte auf ihn übte, mußte man ihn vor einem Bilde stehen oder einer Mozart’schen Sonate lauschen sehen oder ihn über das Gesehene und Vernommene reden hören. Da war alles Andere um ihn vergessen, und niemals hat sich der Fluß der Farben und Töne in ein dankbareres, hingegebeneres Gemüth ergossen.
Und an diesem Priester der Musen habe ich etwas Unreines nie entdecken können. Er war in diesem Sinne das Seitenbild zu seinem Landsmanne Schiller, mit dessen auf das Reich der That gerichtetem Genius er sonst so wenig gemein hat. Wenn Schillern die Macht des Ethos emporhob, daß „hinter ihm blieb in wesenlosem Scheine das, was uns Alle bändigt, das Gemeine,“ so hat die Weihe der Kunst und der Friede der Harmonie von Mörike’s lichter Seele jedes Trübe ferngehalten. Schiller, der ungleich Gewaltigere, hatte sich durchgekämpft und durchgerungen zum sittlichen Ideale. Mörike war immer ein Kind geblieben und war bis zum Tode harmlos wie ein Kind. Wenn er mit seinen Töchtern sprach und ging und ihrer holden Anmuth sich freute, erschien er wie ein Gärtner, der zwei Rosen pflegt, eine dunkle und eine helle. Nie hat eine reinere Hand über reineren Blumen gewaltet. Dieselbe Scheu vor allem Trüben und Unharmonischen und dieselbe Kindlichkeit war es auch, die Mörike noch weit mehr, als seinen großen lyrischen Meister Goethe, von den Zeitereignissen fernhielt und sein Lied niemals auch nur im Geringsten politisch werden ließ.
Wer aber darum glauben wollte, er hätte überhaupt kein Herz gehabt für des Vaterlandes Wohl oder er hätte die Größe der Siegesjahre nicht empfunden, der würde sehr irren. An einem sonnigen Märztage, nachdem kurz zuvor die Kunde von der Annahme der Friedenspräliminarien aus Versailles eingetroffen, kam er in gehobener Stimmung zu mir. Meine Schwester mußte sich an das Piano setzen, und diesmal durfte sogar die „Wacht am Rhein“ nicht fehlen. Abends aber kam er in die hochgelegene Wohnung meiner Mutter, um nach den Bergfeuern zu schauen, die vom Hohenstaufen bis zum Hohenzollern leuchteten. Da barg er seine höchste Freude nicht über des deutschen Volkes Auferstehung zu Sieg und Einigkeit, und der Mann, der grundsätzlich keinen politischen Vers gedichtet, hat damals in überwallender Begeisterung von dem Großen gesprochen, das zu sehen ihm am Abend seines Lebens noch vergönnt war.
Daß er ein durch und durch deutsches Herz hatte, zeigen freilich auch seine dichterischen Träume und Phantasien deutlich genug. Wer so wie er mit sicherer Hand aus dem Wortschatze des Volkes und seiner Stämme schöpft (vergleiche „Das Hutzelmännlein“ und „Die Idylle am Bodensee“) und den Sinn seiner Sprüche und Redensarten belauscht, wer mit solch lebendiger Wärme die Heimath schildert, vom Blautopfe bis nach Cleversulzbach im Unterlande, vom Mummelsee mit seinen Geistern bis zur Waldstille des Lorcher Klosters, wer so den Altvordern gleich die Natur belebt mit geheimnißvollen Geistern, Nixen und Kobolden, ohne doch je unwahr und manierirt zu werden, wer so wie er das Grab von Schiller’s Mutter aufgesucht und ihm zu sinnigem Schmucke verholfen, kurz wer die herrlichsten Menschen (Kepler, Schelling und Andere) und die schönsten Gegenden seiner Heimath so lieblich in den Kreis seiner Dichtung zu ziehen gewußt hat, dessen Seele hängt mit tausend Banden am deutschen Wesen, dessen ganzes Dichten und Schaffen ist nur Liebe zum Vaterlande, so wenig er von dieser spricht. Und dabei ist die Beschaulichkeit seiner Muse gegen anders geartete Dichtung niemals ungerecht geworden. Seinen Landsmann Uhland hat er nicht trotz, sondern wegen der Vereinigung echter Poesie mit der praktischen, patriotischen oder politischen Richtung in seinem Werthe sehr wohl gewürdigt, und von denen, die überhaupt echte Dichter sind, hat in seinem „Lararum“ jeder den rechten Platz gefunden.
Mörike war sehr bescheiden und kannte seine dichterischen Kräfte und ihre Grenzen gar wohl. Lied, Idyll und Märchen mit ihrer tiefen, reinen Empfindung und ihrem heitern scherzenden
[492] Spiel, das waren die Kleinode, welche ihm die Götter anvertraut. Diese wollte er hüten und zeigen, nicht andere erbeuten. Darum ist er auch nie, wie die meisten andern Dichter so oft, auf poetische Abwege geraten; er hat nichts versucht, wozu ihn nicht die innere Stimme berufen, und hat die edlen Muster bei Griechen, Römern und Deutschen mit sicherem Blicke erkannt und immer wieder sich vorgehalten. Auch der Stunde nahm er treulich wahr, wo der Geist des Gesanges wirklich über ihn kam. Monate, Jahre konnten vergehen, wo er keine Zeile gedichtet, und wahrlich diese „Bequemlichkeit“, wie man es da und dort wohl nannte, ist verehrungswürdiger als der „Fleiß“ und die „Fruchtbarkeit“ vieler anderer Dichter.
So hatte er der Rebe gleich wenig sonnige, gesegnete, mehr dürftige, magere Jahre. Daher aber auch die lichte Farbe, der edle Duft, das erwärmende Leben des Weins, den er uns spendet. Was sein Lied singt und sein Mund erzählt, das paßt und klappt und sitzt und trifft den Nagel auf den Kopf, ob sein Vers scherzend durch die kühle Waldung wandle oder seine Epistel launige Hiebe nach den Tröpfen führe, welche den Erdball zieren, oder sein Lied des Mädchens gedenke, das vom Liebsten verlassen ist. Denn Mörike hat nur gedichtet, wenn für die rechte Sache das rechte Lied, für die rechte Gelegenheit das rechte Gelegenheitsgedicht ihm auf die Lippen sich gelegt. Das war doppelt schön in einer Zeit, wo Alles nach Geld drängt und Alles am Golde hängt und wo auch er den Pegasus zu gewinnreichem Rennen hätte spornen und sein äußeres Loos, das bescheiden genug ausgefallen, verbessern können. Er that es aber nicht, weil sein ästhetisches Gewissen – und das war sein Alles – es nicht erlaubte und sich lieber, als die landläufige Entweihung der Poesie, die Sorge gefallen ließ, welche ihm nahte, wenn das letzte Geld ausgegeben war. Er war auch in dieser Beziehung ein harmloses Kind und hat manche Aehnlichkeit mit seinem Mozart, wie er ihn in der köstlichen Novelle „Mozart auf der Reise nach Prag“ uns vor Augen stellt.
Seine Bedürfnißlosigkeit freilich war weit größer als diejenige des Maestro und paßte auch besser zu seinen bescheidenen Einnahmen. Ein eigenes Haus mit lauschigem Garten wäre wohl seine Freude gewesen. Es war ihm nicht beschieden, und er mußte sich mit Miethwohnungen begnügen, zu welchen ihm die Freunde verhalfen. Aber auch zwischen den gemietheten Wänden und bei seinem Schälchen Kaffee wie glücklich, heiter und launig konnte er sein! Die Wenigsten mögen das bei ihm gesucht haben. Erst flog sein leichter Scherz nur dann und wann über den Tisch. Dann zuckte es um seine Lippen, und der Schalk, der ihm im Mundwinkel saß, ließ prasselndes Feuerwerk steigen. Er war dann der leibhaftige Märte seiner „Idylle vom Bodensee“, erzählte lustige Schwänke vergangener Tage und ahmte Stimme und Sprechweise von Abwesenden so täuschend nach, daß man den Nachgeahmten vor sich zu haben glaubte. Die bleibende Bewunderung früherer Schülerinnen für seine Art, Dichtungen, besonders Schauspiele vorzutragen, wird dadurch wohl erklärlich. Freilich wechselten mit solcher Laune häufige Tage, wo er in körperlichem Mißbefinden und trüber Stimmung selbst vor den Nächsten sich verschloß, oder, ganz inwendigen Träumen hingegeben, einsame Wege ging. Aber gegen Natur und landschaftliche Schönheit war er niemals gleichgültig. Oft genug blieb er auf seinem Gange wie festgewurzelt stehen. Befragt über das, was ihn festhalte, zeigte er auf einen Baum, eine Durchsicht durch den Wald, ein Stückchen Fluß.
Ein landschaftliches Vermissen war es auch, was ihn von Nürtingen hauptsächlich wieder weggetrieben. Er vermißte Wald und schattige Wege in der nächsten Umgebung der Stadt. Die vielen anderen Naturschönheiten der Gegend konnten ihm das nicht ersetzen. So zog er denn – auch durch andere Gründe mitbewogen – wieder nach Stuttgart. Manches Schmerzliche erwartete ihn noch hier. Seine Frau, mit der er lange Jahre ruhig zusammengelebt, trennte sich von ihm. Die Weichheit und Verletzbarkeit von Mörike’s Natur und häusliche Verhältnisse, die hier nicht weiter zu erörtern sind, haben zu dieser gewiß für beide Theile wehthuenden und auch für die Freunde schmerzlichen Trennung geführt. Daß einige Wochen vor dem Tode des Dichters die Gattin wieder zu ihm eilte, um ihn zu pflegen, mildert die Erinnerung an solchen Lebensabend.
Nun ist der Treffliche in die Arme des Todes gesunken; der Vergessenheit anheimfallen wird er nimmermehr. Seiner Muse ist es nicht beschieden gewesen, in raschem Triumphzug Lorbeeren zu ernten, aber nach Menschenaltern, wenn viele Sänger des Tages vergessen sind, wird sie die Freunde des Echten, und wahrhaft Schönen immer mit neuer Freude erfüllen.
Der Besuch der Königin von Saba bei König Salomo war seiner Zeit ein so hochwichtiges Ereigniß, daß er würdig erachtet wurde, in der heiligen Schrift registrirt zu werden. Und doch war er in Betracht der geographischen Entfernung nur ein Katzensprung gegen die Besuche, welche ägyptische, persische, indische, chinesische, japanische Potentaten und Herrschersöhne in unseren Tagen europäischen Höfen abstatten. Augenblicklich ist es der Sultan[WS 2] von Zanzibar, Seid Bargasch, der in London der Tageslöwe ist und, was ungleich mehr, dem sich die aufrichtigen Huldigungen, die schönsten Hoffnungen der Freunde civilisatorischer Cultur zuwenden.
Zanzibar, obwohl an der Schwelle, an der Küste Afrikas gelegen, begann uns erst seit wenig mehr als zwei Jahrzehnten bekannt zu werden. Es war bislang nur ein geographischer Begriff, und Fürst und Volk rangiren noch jetzt in unsern geographischen Schulbüchern auf keiner besondern Culturstufe. Um so mehr überrascht uns ein Liebesabenteuer, das hier emporgeblüht ist, und das die jetzige Anwesenheit der tropischen Majestät in London in Erinnerung gebracht hat.
Die Wasungu, das heißt die Fremden europäischen Ursprungs, bilden nur einen sehr geringen Theil der Bevölkerung von Zanzibar; bei von Decken’s Anwesenheit, 1860, waren es etwa fünfzig. Amerikaner waren die ersten, welche sich hier niederließen; ihnen folgten Engländer, Hamburger, Franzosen, als Kaufleute und Missionäre, und Alle erreichen ihre Zwecke. Die Kaufleute machen gute Geschäfte; die Missionäre haben segensreiche Wirksamkeit, und ihre Schulen werden gern besucht. England und Frankreich haben hier sogar Consulate.
Das Leben der Wasungu ist auch trotz allem Mangel an Theater und Concerten gesellig und angenehm. Sie erfreuen sich, trotz vielen bei den Arabern noch herrschenden Vorurtheilen, einer sehr angenehmen Stellung. Sie heben den Handel; dieser vermehrt die Steuern und Staatseinnahmen und – am Gelde hängt, zum Gelde drängt sich auch der Mensch in Zanzibar.
So war die Stellung der Europäer schon unter der Regierung des Vaters und des älteren Bruders „unseres“ Seid Bargasch stets eine geachtete, und sie erklärt die Freundschaftsverhältnisse und die Gunstbezeigungen, wie sie sonst in mohamedanischen Staaten fast unmöglich erscheinen.
Nicht nur der Sultan und die Würdenträger des Reichs verkehrten mit den Wasungu, auch die Damen des Hofes, namentlich zwei Schwestern des Herrschers, die Prinzessinnen Bibi Holli und Bibi Salima, zwei Stiefschwestern von einem Vater, dem vorletzten hochseligen Regenten.
Bibi Holli war die ältere.
Sie begünstigte die Fremden in huldvollster und unbefangenster Weise und verkehrte mit ihnen auf das Allergnädigste.
Eine kluge, zuthuliche Sclavin, Simakasi benamset, war in gewissem Sinne vertraute Hof- und Ehrendame, etwa wie Gräfin Mondecar am Hofe Philipp’s des Zweiten von Spanien. Sie war Vermittlerin aller Botschaften der Prinzessin. Sie war die Ueberbringerin ihrer Geschenke an die Wasungu. Kein Tag verging ohne solchen huldvollen Verkehr. Irgend eine Kleinigkeit, Blumen, Früchte, Backwerk wurden vom Harem aus in dieses oder jenes Haus gebracht und selbstverständlich andere Gegengaben zurückbefördert.
[493] Und Bibi Holli nahm alle Werthzeichen ehrfurchtsvoller Huldigung der Kaufleute und Modisten allergnädigst an. So schwanden die Jahre im flüchtigen Reigen der Horen. Aber es kam kein Prinz, die Prinzessin zur Herrin seines Harems zu erkiesen. Bibi Holli ahnte – ach! sie erkannte die tragische Wahrheit von der Vergänglichkeit der Frauenschöne:
„Und die Schönheit vergeht,
Und die Backen fallen ein –“
Die glühenden Huldigungen der Wasungu erkalteten zu Aeußerungen frostiger Ehrerbietung. Der Stern der Prinzessin fing an sich zu neigen, während der der jüngeren Schwester immer höher emporstieg.
Bibi Salima war erblüht. Wir sagen nicht um der Prinzeß zu schmeicheln, sie wäre eine Wunderblume, ein Meteor zanzibarischer Schönheit gewesen. Sie war mehr. Außer dem Zauber der äußeren Erscheinung besaß sie Vorzüge höherer Art. Sie war in hohem Maße wahrhaft liebenswürdig; sie war eine edle Frauennatur von seltenen Eigenschaften des Herzens und des Geistes, von einem ganz außerordentlichen Streben nach wissenschaftlicher Vervollkommnung.
Und so saß des Sultans jüngstes Schwesterlein, Prinzeß Bibi Salima, an den linden mondhellen Abenden hinter den eisernen Gittern ihres Fensterleins und lauschte mit Theilnahme den Wasungu auf dem Nachbardache zu, wenn diese von Uleia, dem fernen Europa, erzählten, von den dortigen Sitten und Gebräuchen, von der geachteten freien Stellung der Frauen, von der Größe und Schönheit der Städte, von der Lieblichkeit des Landes und von tausenderlei Dingen, welche ihr wie lockende Märchensagen klangen. Sie lauschte mit Vergnügen den fremden Liedern, welche ihr zu Gefallen oft mehrstimmig vorgetragen wurden. Ihr klarer Verstand erkannte das Schöne und Gute der europäischen Sitten, und diese Erkenntniß weckte eine Sehnsucht in ihr, die sie fortzog in weite, unbegrenzte Fernen, traumselig,
„hangend und bangend in schwebender Pein.“
Und es kam die Krisis und, ach! auch das Aergerniß.
Der Wasungu, welcher das Nachbarhaus bewohnte, ein durch Festigkeit und Bestimmtheit des Charakters ausgezeichneter junger Mann, ein Deutscher aus einem Großhandelshause in Hamburg, erwarb sich nicht blos die Freundschaft, sondern die volle Liebe, das warme, überströmende Herz der zanzibarischen Prinzessin. Es erblühte ein Roman, ein Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ in voller Wahrheit und Wirklichkeit, gegen die alle Phantasie der Dichtung zurückbleibt.
Der deutsche Kaufmann warb um die arabische Prinzessin. Und wie das Märchen es schildert, so geschah es. Es war, als hätten Torpedos alle Sitten des Harems, alle Gewohnheit des zanzibarischen Lebens, alle Etiquette des Hofes erschüttert und gesprengt. Eine so frevelnde Kühnheit des Wasungu, solche Herablassung einer Sultanstochter verwirrte alle Begriffe und Urtheile. Sultan Seid Madjid war von der Schuld der Schwester überzeugt. Sie wurde verhaftet und in den Kerker geworfen.
Einsam und verlassen schmachtete Bibi Salima und erwartete den Richterspruch des Bruders, der von der unbeugsamen Sitte beeinflußt war. Hülfe, Rettung, Wiedervereinigung mit dem Geliebten ihres Herzens schienen Fieberträume wüster Phantasieen. Der Befreiung, der Vereinigung mit dem geliebten Wasungu leuchtete keine Hoffnung. Und doch ging sie in Erfüllung, und alles, alles wurde Wirklichkeit, Wahrheit. Um nun mit keinem Titelchen von dieser Wahrheit abzuweichen, berichten und schließen wir nunmehr mit den Worten, mit denen die Erzählung des Ereignisses in „Baron Karl Claus von Decken’s Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859 bis 1865“ endet. Da lesen wir Band I, Seite 114 wörtlich:
„Im Hafen Sansibars lag ein englisches Kriegsschiff. Der Capitain desselben muß wohl großherziger gedacht haben, als seine Landsleute in Indien und daheim, welche den deutschen Kaufmann und die Prinzessin später so schmachvoll verlästerten und verleumdeten; denn er hatte Verständniß für das Ansinnen des deutschen Kaufmannes und den Muth, ihm zu helfen. In einer späten Abendstunde stieß ein stark bemanntes Boot von jenem Kriegsschiffe ab, näherte sich lautlos dem Lande; bewaffnete Schiffer und Soldaten stiegen aus, wandten sich geraden Weges dem Kerker der Prinzessin zu, verscheuchte die Wachen, erbrachen das Thor und entführten die geängstigte Frau. Am andern Morgen hatte das Kriegsschiff die Gewässer Sansibars verlassen. Wer durfte es wagen, ihm seine Beute streitig zu machen?
Ein Schrei der Entrüstung wurde laut in der Stadt Sansibar. Die Araber sannen auf Rache und die fremden Handlungshäuser sahen sich in ihren Grundfesten erschüttert. Was konnte nicht alles geschehen, wenn der unberechenbare Zorn des Sultans nicht allein den Schuldigen, sondern überhaupt alle Wasungu traf? Was sollte aus dem gewinnreichen Eintausch von Elfenbein, Gewürznäglein und Ochsenhäuten fernerhin werden? Der Verlust ließ sich kaum nach Tausenden und Hunderttausenden berechnen. Mancher sah in der Liebe des Berufsgenossen ein todeswürdiges Verbrechen und fürchtete mehr als der Missethäter selbst die zürnende Gerechtigkeit. Schlimmer aber verfuhr die eigentlich unbetheiligte indische und später auch die englische Presse. In dem fernen Lande fühlte sich jeder Philister im Innersten getroffen; viele der dortigen Biedermänner hätten lieber noch als der Sultan den deutschen ‚Dütenkrämer‘ (shop keeper), wie sie ihn verächtlich nannten, am Galgen hängen oder auf dem Pfahle stecken sehen. Der deutsche Kaufmann aber wappnete sich auch dieser schnöden Denkweise gegenüber mit derselben unerschütterlichen Ruhe, welche er in der ganzen Geschichte an den Tag gelegt hatte. Er wickelte seine Geschäfte ab, reiste dann nach Aden, traf hier mit der inzwischen zum Christenthume übergetretenen Prinzessin zusammen, ehelichte sie und zog mit ihr nach seiner Heimath. Hier, in einer Handelsstadt Deutschlands, lebt gegenwärtig das glückliche Paar. Die Prinzessin hat sich rasch in die neuen Verhältnisse gefunden, und die Liebe, welche sie von allen ihr Nahestehenden genießt, läßt sie lächeln über andersdenkende Kaufmannsfrauen, welche ihr nicht vergessen, daß sie – doch eine Prinzessin ist.“
Soweit die Erzählung von Decken’s, die schon 1869 gedruckt, aber, wie leider auch sein ganz vortreffliches Reisewerk selbst, in den nächsten turbulenten Jahren vergessen wurde. Der gegenwärtige Besuch des Sultans in London brachte den zanzibarischen Liebesroman wieder in Erinnerung, nicht ohne vermeintliche journalistische Verschönerung.
Dagegen nun kam von Dresden die authentische Mittheilung: Die Notizen, welche über die hier lebende „Prinzessin“ erschienen, bedürfen der Berichtigung, beziehungsweise der Ergänzung. Es hat seine Richtigkeit, daß dieselbe an der Hand ihres Bräutigams vor etwa sieben Jahren lediglich unter Mitnahme ihres Schmuckes aus Zanzibar flüchtete, zum Christenthume übertrat und Herrn Ruite heirathete. Nach vierjähriger glücklicher Ehe in Hamburg traf sie das harte Geschick, daß ihr Mann in Folge eines Sturzes vom Wagen der Pferdebahn starb. Seitdem lebt sie mit ihren Kindern aus dieser Ehe hier hochgeschätzt und verehrt in einem kleinen Bekanntenkreise. Außer Arabisch, ihrer Muttersprache, ist ihr Englisch und Deutsch vollständig geläufig, und in letzterem vervollkommnete sie sich in der Weise, daß sie bei einem hiesigen Gelehrten regelmäßige Stunden in Sprache und Literatur nahm, wogegen dieser von ihr Arabisch lernte, in welchem er es bereits zu einer gewissen Fertigkeit gebracht haben soll. Frau Ruite bekundet bei einer angenehmen und liebenswürdigen äußeren Erscheinung außerordentliches Streben nach wissenschaftlicher Vervollkommnung, wobei ihre schnelle Auffassung und ihr reger Geist wesentliche Hülfen sind. Gegenwärtig weilt Frau Ruite in London in der Familie des Dr. Lyon Playfair, um sich mit ihrem zur Zeit dort anwesenden Bruder, dem Sultan von Zanzibar, zu verständigen und zu versöhnen.
Die Prinzessin von Zanzibar, Frau Wittwe Ruite, findet auch in London in den besten Kreisen lebhafte Theilnahme, doch zweifelt man daran, daß das Herz des Bruders, des regierenden Sultans, sich ihr in Gnade und in Edelmuth zuwenden werde.
Knüpfen wir hieran einige Momente zur Kenntniß des Landes und zur Charakteristik seines Herrschers, des Sultans Seid Bargasch.
Während man seit Jahrhunderten von allen Seiten, von Norden, Westen, Süden her Afrika zu erforschen suchte, blieb [494] die Ostküste des Erdtheils etwa vom zehnten Grade südlicher Breite, von C. Delgado, bis über den Aequator hinaus wenig beachtet. Erst die deutschen Missionäre Krapf, Rebmann, Erhardt berichteten Ende der vierziger Jahre von ungeheuren Schneebergen gerade unter dem Aequator und einem unermeßlichen Binnensee, dem Victoria- oder Ukerewesee mitten in Afrika. Die herodoteischen Märchen, die ptolemäischen Mondberge schienen Wahrheit geworden; die Berichte wirkten zündend auf den Forschungsdrang der Reisenden. Zunächst vervollständigten diese Nachrichten die Engländer Burton, Speke, Grant, sodann der Deutsche Albrecht Roscher, der 1860 an der Nordspitze des südlicheren Nyassa-Sees ermordet wurde. Die ausführlichsten Nachrichten aber sind dem oben erwähnten Werke des deutschen Barons von der Decken zu verdanken. Sie sind die Hauptquelle für die Kenntniß des Landes Zanzibar, dessen Beherrscher, wie gesagt, jetzt in London alle Aufmerksamkeit der geographischen Welt auf sich zieht, Sultan Seid Bargasch, dem auch wir unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben.
Seid Bargasch gehört der arabischen Race, der arabischen Nationalität an. Seine Hautfarbe ist licht; er hat nichts mit afrikanischen Negern oder Negerähnlichem gemein; seine ganze Familie zeichnet sich durch helle Gesichtsfarbe aus. Er gehört der edlen Dynastie der Imâme von Omân an der Ostküste Arabiens an, der Abu Seidi, welche die Jarebiten, die Jahrhunderte im heutigen Zanzibar geherrscht hatten, 1744 stürzte und mit dem ausgezeichneten und thatkräftigen Achmed ben Said eine geschichtlich bedeutsame Periode begann.
Der dritte Nachfolger Achmed’s war Seid Said, der in einer fünfzigjährigen Regierung, 1806–1856, es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat, und auch in Europa als „Imâm von Maskat“ bekannt geworden ist. Er ist der Vater Seid Bargasch’s. Seid Said vereinigte die Küste des mittleren Ostafrika, das heutige Zanzibar, mit seinem Erblande Omân in Arabien zu einem ansehnlichen Reiche, siedelte 1840 aus dem arabischen Erblande Omân nach Zanzibar über und widmete sich nach stürmischen Anstrengungen den Werken des Friedens. So ereilte ihn 1856 im sechsundsechszigsten Lebensjahre der Tod. Er hinterließ neben vielen Töchtern elf Söhne, von denen Seid Suëni, Seid Madjid und „unser“ Seid Bargasch die bekanntesten sind. Nach Seid Said’s Tode zerfiel das Reich in eine arabische Hälfte unter Seid Suëni und in eine afrikanische unter Seid Madjid. – Erst nach dem Tode dieses letzteren, 1870, folgte ihm Seid Bargasch, der wegen eines gegen seinen Bruder angezettelten Aufstandes mehrere Jahre in der Verbannung leben mußte, größtentheils in Bombay, wo er die englische Sprache und europäische Sitten lernte. Das Exil war seine beste Schule; ihr verdankt er ein großes Maß seiner Bildung, die ihm und seiner Regierung zu Gute kommt. Er hob den Sclavenhandel auf.
Die Größe des Areals, der Bevölkerung seines Reiches ist auch nur mit Wahrscheinlichkeit noch nicht zu bestimmen.
Der Werth des Handels in Zanzibar beträgt an dreißig Millionen Reichsmark. Der Verkehr mit Europa und dem Caplande wird seit 1873 durch eine regelmäßige englische Dampferlinie vermittelt. Seid Bargasch hat auch ein Geschwader von Kriegsdampfern, welches jedoch in den letzten Jahren durch einen Orkan schwer geschädigt worden ist. Die Staatseinkünfte beliefen sich früher auf etwa anderthalb Millionen Reichsmark, von denen neun Zehntel die Handelszölle einbrachten. Gegenwärtig mag etwa ein Achtel der Einnahmen durch die Aufhebung des Sclavenhandels seit 1872 ausfallen, denn die Zahl der jährlich verzollten Sclaven betrug etwa zwanzigtausend, von denen pro Stück zwei Maria-Theresienthaler gezahlt wurden.
Dieser empfindliche Ausfall ist auch die wesentliche Ursache des Besuches Seid Bargasch’s in England. Er hofft durch persönliche Verhandlungen einen Ersatz für die Einbuße aus der Abschaffung des Sclavenhandels zu erlangen, und ohne Zweifel wird die englische Regierung loyal und gerecht genug sein, um die Maßregeln gegen den Sclavenhandel zu vervollständigen und zu schirmen.
Die Gesellschaft zur Abschaffung des Sclavenhandels hat auch bereits dem afrikanischen Herrscher eine Deputation in’s Haus geschickt, um ihm für seine treue Innehaltung der früheren Zusagen zu danken und die Klagen vorzutragen, daß Zanzibar doch noch immer der Rüstplatz zu Sclavenexpeditionen ist. Die Deputation bat um weitere Maßregeln zur vollständigen Ausrottung des Menschenhandels und um Oeffnung der Häfen und Flüsse für den legitimen Handel, welcher bald einen überreichen Ersatz für die beklagten Steuerausfälle bieten würde. – Seid Bargasch versicherte mit großer Zuvorkommenheit, daß er lebhaft wünsche, Englands Forderungen zu erfüllen. Aber der tief eingewurzelte Brauch des Sclavenhandels lasse sich nicht mit einem Schlage ausrotten; er werde indeß das Möglichste thun.
Noch lebhafter und schöner war der Ausdruck seiner Dankadresse an die geographische Gesellschaft, die ihn zu ihrem Ehrenmitgliede ernannt hatte, und in deren Sitzung er von Sir Henry Rawlison feierlich begrüßt wurde. Seid Bargasch ließ seinerseits durch den Dolmetscher, Dr. Badger, eine Adresse verlesen, in welcher er seine große Freude aussprach, sich in die Gesellschaft eingeführt zu sehen, und ihr für die herzliche Begrüßung dankte. Er habe erstaunlich viel über das Wirken der Gesellschaft in allen Theilen der Erde vernommen, über Manches aber auch genauere Kunde erlangt durch seinen Freund John Kirk (den englischen Consul in Zanzibar), besonders über die Forschungsreisen, welche Burton, Speke, Grant, Livingstone, Manley und Cameron in ihrem Auftrage in Ost- und Centralafrika unternahmen. Durch sie habe die Welt zuverlässige Berichte über das Land der großen Seen erhalten, und sie hätten ihn selbst die Landstriche genauer kennen gelehrt, die zwar zu seinem Gebiete gerechnet worden, aber nur ungenügend bekannt gewesen seien. Diese Forschungen müßten sicherlich große Vortheile im Gefolge haben. Er selbst habe, so viel in seinen schwachen Kräften gestanden, dieselben gefördert, unter großen Schwierigkeiten, die man nicht immer genugsam in Betracht gezogen habe. Er werde dies auch ferner thun, besonders da er jetzt ein Mitglied der Gesellschaft sei und aufgemuntert durch das, was er hier in England sehe. Die Adresse abließt mit erneuten freundschaftlichen Versicherungen. Der Sultan unterzeichnete die arabische Abschrift derselben und bemerkte dabei, er hoffe, daß dies nicht das letzte Document sei, das er für die geographische Gesellschaft unterzeichne.
Zanzibar ist übrigens, wie es in v. Decken’s Reise heißt, für Reisende an der Ostküste Afrikas dasselbe und mehr, was Kairo und Chartum für den Nordosten sind. Hier kann man sich mit Allem versorgen was man braucht, und bleibt in Verbindung mit der Heimath.
Und welch’ ein Zufall! Während der Sultan von Zanzibar in London feierlichst verspricht, den Sclavenhandel mit allen Kräften zu unterdrücken, kommt die Nachricht, daß an der afrikanischen Küste ein Sclavenschiff unter französischer Flagge aufgebracht sei, das aber den französischen Behörden ausgeliefert werden mußte und von diesen freigegeben wurde, weil mit Frankreich ein Vertrag zur Unterdrückung der Sclaverei nicht existirt, – mit Frankreich, das mit prahlerischem „Elan“ sich brüstet, an der Spitze der Civilisation zu marschiren! –
Während meines letzten Aufenthaltes in Berlin schlenderte ich an einem Spätherbstabende „Unter den Linden“ entlang und tauchte dann in den Menschen- und Lichtstrom, welcher die „Passage“ oder „Kaisergalerie“ durchfluthet, hinein. Unter dem Säulenportale an der Ecke der Friedrichs- und Behrenstraße blieb ich eine Weile stehen um, zurückblickend, mein Auge noch einmal an dem prächtigen Bilde zu laben. Ich stand in dem Schatten eines jener mächtigen Steinpfeiler, welche den Eingang zu dem prächtigen Kinde der mit Fug und Recht verpönten „Gründerzeit“ schmücken.
Da kam ein junger, hübscher und elegant gekleideter Herr aus der im Vergleiche zu der Lichtfülle, welche mein Auge [495] blendete, dunkeln Behrenstraße hervor, indem er einen scharfen Blick auf mich warf, als ob er etwas suchte. Ich erkannte den jungen Mann sofort. Es war ein alter Freund, welchen ich seit Jahren aus den Augen verloren hatte. Er war Schriftsteller, hatte aber auch zugleich das Glück, reich und Baron zu sein.
Um sich mit etwas zu beschäftigen, war ihm eines Tages die Lust angekommen, einen vierbändigen Roman und zwei Bände lyrischer Gedichte zu – verbrechen, und bescheiden, wie er war, berichtete er mir lachend darüber, daß er glaube, nur sein tönender Name und andere klingende Mittel hätten ihm dazu verholfen, die Kinder seiner Muse gedruckt zu sehen.
Ich freute mich, den guten Jungen wiederzufinden, und trat hastig aus meinem zufälligen Verstecke hervor, indem ich ihm lachend beide Hände entgegenstreckte und ausrief:
„Suchst Du mich etwa, liebster Persin?“
Er fuhr erschreckt zurück. Doch bald flog ein freundliches Lächeln über sein Gesicht, und er ergriff meine Hände mit herzlichem Drucke.
„Ehrlich gestanden,“ entgegnete er heiter, „hab’ ich im Augenblicke Deiner nicht gedacht; glaubt’ ich Dich doch wer weiß wo – aber herzlich freu’ ich mich, daß ich Dich unverhofft gefunden.“
„Also ein Stelldichein? Verzeihung dem Indiscreten!“ sagte ich, „dann will ich nicht stören. Mit Deiner Erlaubniß such’ ich Dich morgen auf. Gieb mir Deine Adresse!“
„Bleibe!“ rief er launig. „Ich erwarte Niemand. Aber die Stelle, auf der Du stehst, ist historisch.“
„Ah –?“ sagte ich zweifelnd.
„Für mich wenigstens, Freund,“ entgegnete er mit einem seltsamen Gemische von Scherz und Ernst.
„Darf ich wissen –?“
„Hier, mein Freund, hier hab’ ich meine – Schwiegermutter gefunden.“
„Du bist vermählt? Da wünsch’ ich herzlich Glück.“
„Noch nicht, Bester. Uebermorgen erst soll meine Hochzeit sein. Ich war eben im Begriffe mir den noch fehlenden Zeugen zu suchen. Willst Du mir die Ehre erweisen, es zu sein?“
„Gern, lieber Persin. Aber verzeihe, ich finde es originell, daß Du Dir Deine Zeugen von der Straße nimmst. Du hast sicher nähere Bekannte –“
„Nein. Und dann ist der ganze Handel auch nicht so, wie er gewöhnlich zu sein pflegt. Wo wohnst Du?“ unterbrach er sich.
„Nicht weit von hier, Friedrichsstraße, Numero …“
„Wenn Du erlaubst, werde ich den Abend bei Dir zubringen und Dich in mein seltsames Geheimniß einweihen. Zugleich gebe ich Dir die Erlaubniß, die Geschichte, wenn sie Dir dessen werth erscheint, zu veröffentlichen.“
„Du bist sehr gütig. Jedoch fühle ich mich umsoweniger dazu berufen, als Du selbst Schriftsteller –“
„Du!“ drohte er mir lachend mit dem Finger, „spotte nicht! Im Augenblicke bin ich weiter nichts, will auch nichts anderes sein, als unsagbar glücklich. Aber lassen wir das – da sind wir an Deiner Hausthür. Interessirt Dich meine Angelegenheit, so tret’ ich ein.“
„Höchlich, bester Persin. Ich bin sehr begierig auf die Ehre, Deine Schwiegermutter kennen zu lernen, noch mehr aber wird es mich entzücken, Deiner gewiß reizenden Braut vorgestellt zu werden.“
Damit waren wir auf meinem Zimmer angekommen; ich reichte dem Freunde, der es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte, Cigarren, füllte unsere Gläser und ließ mich neben ihm nieder.
„Meine Braut wirst Du kennen lernen, o gewiß“ – es flog ein glückseliges Lächeln über sein Gesicht – „gewiß ist sie hübsch, für mich sogar schön, sehr schön. Aber so sprechen alle Verliebten, wirst Du sagen, alter Freund. Also, sie ist hübsch, und was mehr ist, engelgut. Wir bleiben nun einmal nicht jung, aber das Herz, Freund, das Herz darf uns nimmer altern und bleibt auch frisch, wenn wahre Liebe es erfüllt.“
„Und die Schwiegermutter?“ unterbrach ich lächelnd den Begeisterten. „Schwärmst Du in gleichem Maße für sie?“
Er blickte mich ernst an.
„Du wirst sie vorläufig nicht sehen, sie ist – nun, sie ist – krank.“
„Und Ihr feiert dessenungeachtet Eure Hochzeit? Höre, Freund, die Sache kommt mir immer räthselhafter vor.“
„Nun,“ rief er, wieder in seinen gewohnten heiteren Ton zurückfallend, „so unterbrich mich nicht immer mit Deinen Fragen, sondern höre gefälligst meiner Erzählung zu!“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Ich flanirte vor einiger Zeit in dieser Gegend,“ fuhr mein Freund fort, „und als ich etwa hundert Schritte gemacht, stieß ich auf derselben Stelle, an der ich Dich heute gefunden, auf eine –“
„Schwiegermutter,“ warf ich lachend ein.
„Unterbrich mich nicht!“ rief er hastig. „Ich fand also an dieser Stelle, im Schatten einer Säule, ein zusammengeschrumpftes, dürftig bekleidetes altes Mütterchen, welches mit zitternder, demüthiger Stimme mich um eine Gabe anflehte. Mehr als diese Stimme war es die unbeschreibliche Bescheidenheit, ja Aengstlichkeit, mit welcher die Alte ihre gabeheischende kleine Hand mir entgegenstreckte – es lag eine gewisse Vornehmheit in ihren Bewegungen, die man bei einer Bettlerin zu finden nicht gewohnt ist, welche mich veranlaßte, nicht, wie ich wohl sonst zu thun pflegte, dem Bittenden achtlos ein Almosen zu reichen, sondern, ehe ich ihr ein Geldstück in die Hand drückte, einen forschenden Blick auf die alte Frau zu werfen. Dabei bemerkte ich, daß ihre Gestalt von einem breiten, langen, aus verschossener und zerrissener Seide bestehenden alten Mantel umhüllt war. Die arme Frau schien augenleidend zu sein, denn ein breiter Schirm umschattete ihr Gesicht, und über denselben hing noch ein dichter, schwarzer Spitzenschleier herab.“
„Also eine Bettlerin mit einem Schleier! Nicht übel!“ warf ich lachend dem Erzähler ein, indem ich zugleich sein Glas füllte.
„Ja,“ fuhr Persin fort, „und ich weiß nicht, was mich antrieb, dieser Frau meine ganze, nicht schwach gefüllte Geldbörse in die Hand zu drücken, um mich dann schnell abzuwenden. In diesem Augenblicke kam ein Schutzmann die Passage entlang. Seinen scharfen Augen war die Bettlerin wohl kaum entgangen. Jetzt fühlte ich mich am Arme festgehalten, und eine vor Angst bebende Stimme schlug flehend an mein Ohr. ‚O, mein Herr, der Sie so gütig waren – retten Sie mich dort – ein Schutzmann, der – ach, das könnte ich nicht überleben!‘
Der Ton, mit welchem die Unglückliche diese Worte sprach, war unbeschreiblich ergreifend und rührte tief mein Herz. Ich faßte, ohne lange zu überlegen, die auf meinem Arme ruhende Hand, welche leise zitterte, mit herzlichem Drucke und führte die alte Frau auf die Friedrichstraße zurück.
Der Schutzmann folgte uns.
‚Die Frau hat Sie angebettelt, mein Herr?‘ fragte er.
‚Nein,‘ log ich, zum Vortheile meines Schützlings, ‚es ist eine Verwandte von mir, die ich nach Hause geleite; ich bin der Baron Persin.‘
Der Schutzmann sah mich ein wenig erstaunt an, dann entfernte er sich mit kurzem Gruße.
Die alte Frau athmete tief und erleichtert auf. ‚Ich danke Ihnen,‘ stieß die Arme mühsam hervor, meinen Arm fester drückend. ‚Gott lohne Ihnen das! – ach, es wäre entsetzlich gewesen, und – und ich will es gewiß nicht wieder thun.‘
Sie hatte die letzten Worte leise, mehr wie zu sich selbst gesprochen.
Ich wurde aufmerksam.
‚Was –?‘
‚O, nichts, nichts!‘ fiel sie mir schnell in’s Wort. ‚Aber bedenken Sie, mein Herr, wenn ich hätte in’s Gefängniß gehen müssen – ich – ich, und was würde meine Tochter –‘
Sie brach jäh ab, indem sie ihren Arm aus dem meinigen zog und sich vorsichtig – wir waren indeß die Linden entlang bis zum düsteren Lustgarten gekommen – umschaute.
‚Ich danke Ihnen nochmals herzlich,‘ sagte sie dann, ‚auch für Ihre reiche Gabe. Ach, es thut so wehe, Almosen zu erflehen, aber es – muß eben sein. Nun find’ ich meinen Weg allein – man wird mich nicht wieder belästigen.‘“
„Du wirst einsehen,“ unterbrach sich der Erzähler, „daß all’ dies meine Neugier rege machen mußte. Ich gab demzufolge den Arm der Bettlerin nicht frei, sondern entgegnete ihr in
[496][497] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [498] möglichst gewinnendem Tone: ‚Gestatten Sie nur, meine Gute, Sie bis an Ihre Wohnung zu begleiten! Sie sind alt, schwach und könnten noch anderweitige Gefahr laufen. Erzählen Sie mir einiges aus Ihrem Leben! Vielleicht kann ich mich Ihnen nützlich machen. Jedenfalls will ich, da ich gern bereit bin, zu helfen, und dies mir auch meine Mittel gestatten, versuchen, nach Kräften Ihr trauriges Geschick zu mildern.‘
Es war diese von mir ausgesprochene Bereitwilligkeit und die Darlegung meiner Verhältnisse einer fremden Person gegenüber eigentlich ein wenig voreilig, besonders auf dem weltstädtischen Boden Berlins, indeß diese Bettlerin hatte nun einmal etwas Anziehendes für mich, und ihr zurückhaltendes, von Bildung zeugendes Benehmen ließ mich annehmen, daß ich es mit einer ‚verschämten‘ Armen zu thun hatte.
‚Sie sind mehr als gütig, mein Herr,‘ sagte die alte Frau nach einer Pause, während welcher sie sich die Augen getrocknet hatte; ‚aber ich würde allzu unbescheiden sein, wenn ich Ihre Begleitung annähme. Ich wohne im entlegensten und ärmlichsten Theil dieser glänzenden Stadt, die in ihrem Weichbild viel Glück, aber auch unsäglich viel Leid birgt. Ein eleganter Herr hat in jenen Quartieren der Noth und zuweilen des – Verbrechens nichts zu suchen, besonders zur Nachtzeit, wie jetzt. Es könnte Ihnen beim Heimkehren Gefahr drohen – ich würde nicht ruhig schlafen können. Nein, nein, ich nehme das nicht an.‘
In ihren Worten lag so viel herzliche, mütterliche – möcht’ ich sagen – Sorge für mich, die mich an meine trostlose Einsamkeit in der Welt mahnte, daß die Bettlerin nichts Besseres hätte thun können, um mich zu veranlassen, bei meinem Entschlusse stehen zu bleiben.
‚Wo wohnen Sie?‘ fragte ich daher, ruhig mit ihr weiter schreitend, um ihr anzudeuten, daß ich ihren Worten kein Gehör geben wollte.
‚Draußen im Voigtlande, weit, weit draußen, in einem der letzten einsamen Häuser in der A.straße‘ – sie nannte die Nummer – ‚vier Treppen hoch,‘ entgegnete sie, noch einen schwachen Versuch machend, mich zum Stillstehen zu bewegen.
‚Vier Treppen hoch!‘ dachte ich. ‚Und dieser gebrechliche, elende Körper der armen Frau!‘
Nach langer Wanderung – denn die Entfernung von der ‚Passage‘ bis in jene entlegene Vorstadt ist eine beträchtliche – erreichten wir endlich das Ziel.
Die alte Frau schien äußerst angestrengt von dem weiten Wege. Sie hatte bis jetzt nur wenig gesprochen, da häufige Hustenanfälle und knapper Athem sie andauernd belästigten, aber ich schien nur doch ihr Vertrauen gewonnen zu haben, denn sie bat mich, nun ihr Zimmer zu betreten.
Das Haus, in welchem die Frau wohnte, war eine jener zahlreichen Speculationsbauten, wie sie die letzten Jahre pilzähnlich schnell entstehen ließen – unfertig noch, weil dem Bauherrn mit dem raschen Sinken der Course auch seine Baarmittel ausgegangen waren. Nun bevölkerten die unwohnlichen Räume sogenannte ‚Trockenwohner‘, das heißt Leute, deren Mittel ihnen nicht gestatteten, eine Wohnung zu bezahlen, und die von manchen Hauswirthen gratis eingenommen wurden, um dem Hause einen einigermaßen wohnlichen Anstrich zu geben, oft aber auch aus anderen noch weniger reellen Gründen.
Mit Mühe erklomm meine Begleiterin die Treppen. Oft mußte sie, schwer athmend, im Steigen innehalten. Das Haus war augenscheinlich nur schwach bewohnt, denn mehrere Thüren, welche in die verschiedenen Wohnungen führten, standen weit offen und gestatteten einen Blick in öde Räume.
Es fehlte an jeder Treppenbeleuchtung, wenngleich ein schwacher Lichtschimmer durch das Fenster hereindrang. Ich zog meine Hauslaterne, welche ich gewöhnlich bei mir zu tragen pflege, hervor und zündete das Wachslicht an. Inzwischen hatte die alte Frau eine Thür geöffnet, welche in einen sehr beengten, einem Taubenschlage ähnlichen Raum führte. Ein Strohlager, ein Tischchen und ein wackeliger Schemel bildeten die armselige Ausstattung. Ein Ofen war nicht vorhanden, und es durchschauerte mich eisig, als ich den dumpfigen, nach frischer Tünche riechenden Raum betrat. Wie wird das werden, wenn Eis und Schneesturm an die Fenster schlagen!
Ich setzte mein Licht auf den Tisch, während die Bettlerin den Schleier ablegte, den Schirm aber, ihrer schmerzenden Augen wegen, wie sie sagte, nicht entfernte. Der Theil ihres Gesichtes, welcher sich mir nun zeigte, war, wenn auch runzelig, doch zart, fein und wohlgebildet. Weiße vornehme Locken schauten aus einer schwarzen Haube hervor. Um die feinen Lippen zuckte ein bitteres Lächeln.
‚Das hier, mein Herr, ist die Residenz der Frau von Saremba, geborenen von Biedefeld,‘ sagte sie dann. ‚Nicht wahr, tönende Namen, aber doch nur ein – leerer Schall. Wie gern gäb’ ich all den Namenswust für ein Stückchen Brodes dahin!‘
‚Aber leben Ihnen denn keine Verwandte, hier oder anderswo?‘ fragte ich erstaunt, unwillkürlich der Dame eine tiefe Verbeugung machend. ‚Mein Name ist Bruno von Persin.‘
‚Ah,‘ rief sie lebhaft, ‚der Name ist mir nicht unbekannt. Irre ich nicht, so hat eine Saremba einen Persin geheirathet – aber Kopf und Sinn wird schwach durch Alter und Leid – nun, ich werde mich wohl noch darauf besinnen; am Ende sind wir gar noch verwandt. Das wäre ein sonderbarer Zufall.‘
Sie sagte das in jenem nachdenklichen, grübelnden Tone, wie er alten Leuten, die vergangene Zeiten sich zurückrufen wollen, eigen ist.
‚Aber da sollte es Ihnen doch nicht an Hülfe fehlen. Die Sarembas sind bemittelt. Freilich glaub’ ich kaum, daß noch ein Träger des Namens Persin, außer mir, in der Welt ist.‘
‚Aber ich stehe ihnen fern, das heißt den Sarembas und Biedefelds. ‚Warum?‘ werden Sie fragen. Nun, das Ihnen genau zu erzählen, würde viel Zeit in Anspruch nehmen, vielleicht thu’ ich’s einmal gelegentlich.‘ Es lag in ihren Worten eine feine Abweisung, von ihren Familienangelegenheiten zu sprechen.
‚Nun, jedenfalls hab’ ich als Ihr Anverwandter das Recht, Ihnen beizustehen, gnädige Frau –‘
‚O, ich möchte Sie dringend bitten, auf meine Vermuthung in dieser Beziehung nicht viel zu geben. Wie gesagt, ich kann mich irren – es geht mir da so viel durch meinen armen Kopf, daß ich oft dies und das verwechsele; auf keinen Fall, Herr von Persin, dürfen Sie glauben, daß ich aus einer möglichen Verwandtschaft zwischen uns für mich einen Vortheil ziehen wollte, nein, Sie werden das auch nicht annehmen.‘ Sie sagte die letzten Worte mit einer stolzen Geberde. ‚Uebrigens,‘ fuhr sie dann fort, ‚lebt die Familie, das heißt die der Sarembas, in Oesterreich oder Süddeutschland – mir fern. Ich suche sie nicht mehr, auch die Biedefelds nicht, und sie mich nicht. Arme Verwandte fallen der Mißachtung anheim. Ich hatte einiges Vermögen. Ein kleiner Theil – es sind fünfzig Thaler – ist mir noch geblieben. Ich bewahre ihn für meine Tochter, für mein heißgeliebtes, einziges Kind auf. Ach, und ich mußte sie von mir geben. Sie ist in einer Provinzialstadt Verkäuferin in – in einem Weißwaarengeschäfte – denken Sie, Baron, eine Saremba! Aber es mußte sein; sie konnte das Elend hier nicht länger mit ansehen. Mit blutigen Thränen riß sie sich von mir, gab ich sie dahin. Ihr Verdienst ist gering, aber sie giebt mir, was sie geben kann. Auch erhalte ich kleine Beihülfen von den mildthätigen Damen unseres Bezirks, aber mein Herr, Alles wird theurer, es reicht nicht aus, und ich will die freundlichen Geber nicht noch weiterhin in Anspruch nehmen, nicht meinem Kinde das schwer verdiente Geld entziehen. Da faßte ich eines Tages den Muth und trat in Gottes Namen hinaus in die dunkle Nacht und flehte mit schwerem Herzen und bangem Zagen die Barmherzigkeit der Vorübergehenden an. Mancher stieß meine zitternde Hand rauh zurück. Ihm sei vergeben! Mancher füllte sie mitleidigen Herzens. Ihm sei Gottes Lohn! Heut’ zum ersten Male nahete mir Gefahr. Ich hatte nicht gewußt, daß die Gesetze es verbieten, mit schwerbedrücktem Herzen hülfeflehend sich an unsere Mitmenschen zu wenden. Da retteten Sie mich, Herr Baron – o, wie danke ich Ihnen dafür!‘
„Mir drangen,“ fuhr der Erzähler nach einer kurzen Pause fort, „diese Worte der alten Dame tief in’s Herz. Ich bat sie herzlich, meine Hülfe auch fernerhin anzunehmen. Oft wandelte ich hinaus nach der A.straße, bisweilen fand ich das Zimmer verschlossen. Manchmal war die gute Frau, die ich schon herzlich liebgewonnen hatte, daheim, und sie empfing mich dann mit großer Freude und innigen Dankesworten. Und ich – ich fühlte mich hochbeglückt in dem Bewußtsein, ein Herz gefunden zu haben, dem ich meine herzliche Theilnahme weihen durfte.“
[499] Ich drückte dem Freunde herzlich die Hand.
„Du bist ein braver Mensch,“ sagte ich, „aber vielleicht allzu gutherzig. Das ist zuweilen auch ein Fehler. Konnte die alte Frau nicht eine Schwindlerin sein, Dich nicht in ein Netz locken, in welchem man Dich gehörig rupfen durfte? Doch, wie ist’s eigentlich mit Deiner Schwiegermutter? Von ihr höre ich noch immer kein Wort. Oder sollte etwa die alte Dame –? Sie hat eine Tochter –“
„Höre nur weiter, Freund!“ fiel Persin mir lächelnd in die Rede, „die Schwiegermutter wird auch kommen und die Geliebte. Zu jener Zeit sah ich mich veranlaßt, meine Wohnung zu wechseln. Ich bezog zwei möblirte Zimmer in einem eleganten Hause an der Potsdamerstraße.
Eines Tages las ich zufällig das neben der Thürwartswohnung aufgehängte Verzeichniß der Hausbewohner, und mein erstaunter Blick fiel dabei auf den Namen: verwittwete Frau von Saremba. ‚Sollte diese Dame eine Verwandte meiner alten Freundin sein?‘ fragte ich mich. Da ließe sich über diese wohl Näheres erfahren, denn die alte Dame war immer noch in ihren Mittheilungen über die Ursachen der Spannung mit ihrer Familie vorsichtig und zurückhaltend geblieben. Ich fragte den Hauscerberus nach dieser Frau von Saremba.
‚O,‘ entgegnete der, ‚das ist eine vornehme, aber gar gute Dame, die sicher einmal bessere Tage gesehen hat. Jetzt aber lebt sie still und ziemlich zurückgezogen in ihrer bescheidenen Wohnung im dritten Stock, im Vereine mit ihrem einzigen Kinde, einer Tochter, die ein wahrer Engel von Schönheit ist. Damit will ich aber nicht gesagt haben, daß die Dame gänzlich heruntergekommen ist, wie man zu sagen pflegt. Nein, sie hat noch genug, um mir hin und wieder ein Trinkgeld zukommen zu lassen, auch hält sie sich ein kleines Dienstmädchen und giebt sogar dann und wann kleine Theegesellschaften. Sehen Sie, lieber Herr, unsereins ist nicht gerade neugierig, aber man muß doch wissen, wie es bei den Hausbewohnern zugeht; es könnte Jemand Auskunft wünschen –‘
Ich unterbrach den Redestrom des biederen Alten und beschloß, in meinem Zimmer angekommen, meinen Hausgenossen im dritten Stock baldigst meine Aufwartung zu machen, um ihnen von meiner armen Freundin, die sicher eine Verwandte der Dame war, zu sprechen, und außerdem war ich auch gespannt, das schöne Fräulein von Saremba kennen zu lernen, welches den alten Hauswächter in eine gelinde Begeisterung versetzt hatte.
Ich warf mich also eines Tages in den Frack, nahm Visitenkarten zur Hand und begann, meinen Flurnachbarn – ich wohnte im zweiten Stock – Besuche zu machen. Dann stieg ich auch in den dritten Stock hinauf, dessen kleinere Hälfte Frau von Saremba bewohnte.“
Auch vom „gütigen Kaiser“. Am 29. Juni d. J. schloß ein Monarch auf immer die Augen, der beinahe siebenundzwanzig Jahre, fern von der großen Welt, in friedlicher Zurückgezogenheit gelebt hat, aber nicht nur von einzelnen Historikern, sondern von dem Volke, dessen Glück ihm am Herzen lag, den Namen „der Gütige“ erhalten hat, und zwar zu einer Zeit, wo er eben zu Gunsten seines jugendlichen Neffen, des Kaisers Franz Joseph, die Krone niedergelegt hatte, also Niemand mehr Orden und Beförderungen von ihm erwarten konnte, da Ferdinand der Fünfte fortan nur als Privatmann leben wollte.
Ich hatte den Kaiser im Jahre 1836 in Prag gesehen, wie er als König von Böhmen gekrönt wurde. Jeder rühmte seine echte Humanität, seine liebenswürdige Artigkeit. Er war kaum mittelgroß zu nennen; sein großes blaues Auge, seine echt habsburgischen Züge gaben ihm einen edlen Ausdruck. Seine Haltung zu Pferde war vortrefflich. Damals wurde der gute Fürst noch nicht von jener den Geist und die Willenskraft niederdrückenden Krankheit gequält, die ihm später vom Schicksale auferlegt worden war. Im Jahre 1842 war ich in Wien mehrmals öffentlich und, wie ich wohl sagen kann, ohne unbescheiden zu sein, mit großem Beifall als Improvisatrice aufgetreten. Die Kaiserinnen und Erzherzoginnen hatten durch ihre Gegenwart meine Matinées verherrlicht, und für den zweiten Osterfeiertag wurde ich für den Abend zu Ihrer Majestät, der Kaiserin Anna Maria, befohlen, um vor ihr und einer zahlreichen Gesellschaft Proben meines Talentes abzulegen. Um acht Uhr wurde ich in einem Hofwagen abgeholt und fand in einem mäßig großen Salon bereits den Musikgrafen, Grafen Amadé, und den Oberstkämmerer Grafen Moritz von Dietrichstein, sowie Fräulein Elise Meerti, den berühmten Violoncellvirtuosen Servais und den damals noch im Knabenalter stehenden, aber schon vielbewunderten Anton Rubinstein. Frau von Cibini, die erste Kammerfrau der Maria Anna, eine ausgezeichnete Pianistin, Tochter des seiner Zeit gefeierten Pianisten Kotzebuh, empfing mich sehr freundlich und flüsterte mir zu: „Die regierende Kaiserin versteht deutsch. Lassen Sie sich nicht durch den Gedanken, daß Ihre Majestät Ihren Worten nicht folgen kann, beirren!“
Graf Dietrichstein sagte mir einige Artigkeiten über meine Novellen und Märchen, und daß ihm Rastrelli’s Oper „Bertha von Bretagne“, die er in Dresden gehört, und wozu ich das Buch geschrieben, sehr gefallen habe. Wenn Jemand von den Herrschaften mir vielleicht den Rath ertheile, aus einer meiner Sagen ein Libretto zu machen, solle ich sogleich bejahen. – Ich war nämlich damals Mitarbeiterin an mehreren Wiener Zeitschriften, die oft von den Damen des Kaiserhauses gelesen wurden, und eine der hohen Damen fand Vergnügen daran, Opernstoffe aufzufinden.
Graf Amadé nöthigte uns jetzt in den anstoßenden Salon, und bald darauf traten die Palastdamen, die zum Hofstaate gehörenden Cavaliere, die Gesandten fremder Höfe, Fürst Metternich nebst Gemahlin, der Fürst-Erzbischof von Wien, die Prinzessin von Wasa mit ihrer schönen Hofdame, einer Enkelin Scharnhorst’s, die Herzogin-Wittwe von Anhalt-Cöthen[1] ein, hierauf mehrere Erzherzöge und Erzherzoginnen, zuletzt Kaiser und Kaiserin und die Kaiserin-Mutter, am Arme des Erzherzog Karl, des Siegers bei Aspern, der ein Jahr später das fünfzigjährige Jubiläum als Theresien-Ritter feierte. Auch das Idol der jugendlichen Damenwelt, Erzherzog Stephan, war anwesend, ebenso zwei Söhne des Erzherzog Karl, nämlich Erzherzog Friedrich, der sich später ebenfalls den Theresien-Orden verdiente und jung starb, sowie Erzherzog Albrecht, der Sieger bei Custozza.
Da der Hof noch Halbtrauer um die junge Erzherzogin Hermine trug – sie war die Zwillingsschwester des Erzherzogs Stephan –, waren alle Damen schwarz gekleidet, aber doch schon wieder mit Edelsteinen und Blumen geschmückt. Uniformen waren wenige zu sehen, aber die Herren hatten natürlich ihre Orden angelegt, und die Gesellschaft, bestrahlt vom Schimmer unzähliger Wachskerzen, bot einen, wenn auch nicht bunten, doch glänzenden Anblick dar.
Die beiden Kaiserinnen hatten auf einem Sopha Platz genommen. Neben der Kaiserin-Mutter saß in einem Fauteuil der Kaiser; ihm zur Rechten ebenfalls im Fauteuil die Erzherzogin Sophie, damals eine majestätische Erscheinung, mit dem Erbtheil der Töchter Max Joseph’s des Ersten begabt, mit sehr schönen, sprechenden Augen. Mehrere Reihen Stühle links von der Kaiserin Anna Maria waren mit Damen und Herren besetzt. Ich hatte zwischen einer jungen Hofdame und Fräulein Meerti einen Platz, von dem aus ich, ohne gegen den Anstand zu verstoßen, die Herrschaften genau betrachten konnte. Das von Herzensgüte strahlende Gesicht des Kaisers, so wie das des alten Helden von Aspern steht noch deutlich vor meinem geistigen Auge.
Die Kaiserin-Mutter, die sich für Literatur und Künste sehr lebhaft interessirt, ließ sich ein Blatt Papier und eine Bleifeder geben, und sagte lächelnd zu mir: „Die Kaiserin wünscht, daß ich den Anfang mache; so will ich Ihnen einige Endreime zu einem Sonette geben. Die Damen mögen meinem Beispiele folgen.“ Hierauf schrieben die Erzherzogin Sophie, die Herzogin von Anhalt-Cöthen und noch einige Damen Endreime, und ich löste meine Aufgabe zur Zufriedenheit der Zuhörer. Eine der Damen – täuscht mich mein Gedächtniß nicht, so war es die Prinzessin von Salerno – sagte, sie möchte wissen, ob ich wie Rosa Taddei, die berühmte italienische Improvisatrice, auch zu denselben Reimen ein Sonett nach gegebenem Thema improvisiren könne.
„Ich will es versuchen,“ flüsterte ich dem Grafen Dietrichstein zu, der sich in meiner Nähe befand.
Der Kaiser rief: „An eine Blume – die Blume wählen Sie selbst.“
Ich gebe nicht viel auf Wortspielereien und habe stets mehr Freude gehabt, wenn ein poetischer oder prägnanter Gedanke die Form beseelte, als wenn ich eben nur wohlklingende Verse improvisirte, aber jenes Sonett – keine leichte Aufgabe – hätte ich gern noch im Gedächtniß.
Während Elise Meerti[2] einige französische Chansons mit schöner Stimme und bezaubernder Grazie vortrug, hatte ich wieder Muße, die anwesenden Berühmtheiten zu betrachten. Erzherzog Karl stand schon im zweiundsiebenzigsten Jahre, hatte aber noch die stramme Haltung eines Kriegers und in seinem Blick etwas Gebieterisches, Durchdringendes. Fürst Metternich war ein schöner Greis, dessen feingeschnittene Züge deutlich verriethen, daß er in seinen jüngeren Jahren ein höchst einnehmender Mann gewesen sein mußte, wenn er – gewollt hatte. Er sprach später sehr freundlich mit mir; auch hörte ich ihn in französischer Sprache viel Verbindliches zu Fräulein Meerti sagen; mir machte er den Eindruck eines nach allen Seiten hin gebildeten, feinen Geistes, aber nicht den eines energischen, gewaltigen Staatsmannes. Ich glaube, daß diejenigen Historiker Recht haben, welche sagen: daß Kaiser Franz der Erste in geistiger Einsicht oft unterschätzt worden sei und nicht selten in wichtigen Angelegenheiten scheinbar habe Metternich walten lassen, um Zeit zu gewinnen eigene Entschlüsse zu fassen, die der Fürst-Staatskanzler als treuer, ergebener Diener seines Herrn ausführte.
Ich bekam später noch von der Herzogin von Anhalt-Cöthen das
[500] Thema: Hoffnung und Erinnerung, und vom Kaiser: Die Gedanken Rüdiger Starhemberg’s, als er auf dem Stephansthurme das Herannahen der Hülfstruppen sehnlichst erwartet und endlich die Raketen steigen sieht, die ihr Kommen verkünden. Später spielte Servais, ebenfalls ein Belgier, entzückend auf seinem Instrumente. Mit ihm zugleich war damals Bohrer aus Stuttgart in Wien, und beide Künstler hatten stets volle Häuser. Zu jener Zeit sprach man in der Kaiserstadt noch nicht von Politik; Börsenspiel und Gründungen kannte man nicht, und mit dem größten Ernste, ja sogar mit Erbitterung, stritten sich die Wiener, wer größer sei, Servais oder Bohrer, während die Kenner jedem der großen Virtuosen seine eigenthümlichen Vorzüge gestanden.
Jetzt wurde Anton Rubinstein aufgefordert, sich hören zu lassen. So viel ich mich erinnere, trug er noch die damals übliche Knabentracht, nämlich eine feine Tuchjacke, über welcher ein breiter, weißer Kragen von Jaconnet geschlagen war. Reiche, natürliche Locken schmückten den Kopf des genialen Kunstjüngers, und ein blitzendes Augenpaar belebte die rosigen, kindlichen Züge. „Das Kind ist der Vater des Mannes“, sagt das Sprüchwort. Es ließ sich auf Anton Rubinstein’s schönes Spiel damals anwenden. Der Kaiser, selbst ein guter Pianist, widmete Rubinstein viele Aufmerksamkeit und redete später längere Zeit eingehend über seinen Vortrag.
Jeder der anwesenden Künstler erntete reichen Beifall. Während Erfrischungen herumgereicht wurden, sprachen die Herrschaften mit den Anwesenden. Der Kaiser bediente sich den Ausländern gegenüber der französischen Sprache; zu mir sagte er mit einem Anfluge von Wiener Dialect: „Das könnt’ ich nit, und gefreut hat es mich, daß Sie, als Sie über die Blume sprachen, gerade eine meiner Lieblingsblumen gewählt hatten, den Agapanthus. Lieben Sie die Blumen?“
Ich bejahte; der Kaiser fuhr fort: „Blumen sind auch etwas Schönes, Blumen und Musik.“
„Und Poesie,“ fügte die Kaiserin-Mutter hinzu.
Die Herrschaften sagten noch viel Liebenswürdiges, und gerade der Wiener Dialect ließ jedes Wort sehr gemüthlich klingen.
Bevor ich heimfuhr, sagte Herr Servais zu mir: „Verkaufen Sie mir das Blatt, auf welches Ihnen die Herrschaften Worte geschrieben haben.“ Das that ich aber nicht. Die Grafen Amadé und Dietrichstein unterhielten sich, als wir durch die Vorgemächer gingen, noch mit uns Künstlern. Herr Servais sagte etwas unbedacht: „Ich bin erstaunt über des Kaisers vortreffliches Französisch,“ worauf Graf Dietrichstein entgegnete: „Seine Majestät sprechen ebenso geläufig Italienisch und überhaupt die Sprachen seiner Lande, nur nicht viel Polnisch.“ Oft hörte ich von Personen, die es wissen und beurtheilen konnten, daß Kaiser Ferdinand schöne Kenntnisse in den Naturwissenschaften besitze. Leider kennen selbst die geistvollsten, strebsamsten Aerzte bisjetzt noch kein Mittel gegen die Krankheit, welche im Jahre 1848 eine der Hauptursachen war, weshalb der Kaiser Ferdinand abdankte und sich später immer seltener öffentlich zeigte.
Zum Feldherrn und Gesetzgeber war Ferdinand der Fünfte nicht geboren, aber von dem schönsten Vorrechte des Regenten, von dem, Gnade walten zu lassen, machte er so oft wie möglich Gebrauch. Als vor seiner Thronbesteigung in Preßburg ein Mordversuch auf ihn gemacht wurde, waren des damaligen Kronprinzen erste Worte: „Man verfahre mild mit dem Manne! Es ist mir ja nichts Uebles geschehen.“ Ein hoher Officier sagte mir einst, daß auf ausdrücklichen Wunsch des Kaisers die vierzehnjährige Dienstzeit der Soldaten auf acht Jahre herabgesetzt worden sei, und gewiß werden andere Schriftsteller noch viel von der Herzengüte des Kaisers erzählen, der wie sein Ahnherr Rudolph der Zweite auch Jahre lang das Schloß auf dem Hradschin bewohnte, aber nicht, wie dieser, von Astrologen und Gauklern umgeben und erfüllt von Mißtrauen, sondern an der Seite einer edlen frommen Gemahlin, allen Menschen das Beste gönnend, Wohlthaten spendend bis zum letzten Athemzuge.
Das Vaterlandsfest in der Schule. Die von Friedrich Hofmann gedichteten, von Julius Otto Musik gesetzten „Kinderfeste“ („Schulfest“, „Pfingstfest“, „Weihnachtsfest“) sind einem großen Theile unserer Leser hinlänglich durch die zahlreichen gelungenen Aufführungen bekannt, die sie seit zwanzig Jahren weit und breit in Stadt und Dorf gefunden haben. Ueberall hat sich der Erfolg dieser musikalisch-declamatorischen Festspiele als ein vortrefflicher gezeigt. Da aber eine allzugroße Häufung solcher Veranstaltungen ihrem eigentlichen Zwecke nicht entsprechen würde, hätten sicher die Verfasser an den drei von ihnen bearbeiteten Festmomenten sich genügen lassen, wenn nicht mit dem inzwischen erfolgten Umschwunge unserer vaterländischen Verhältnisse ein neues Bedürfniß sich ihnen gezeigt, eine neue und unzweifelhaft ernste Verpflichtung an sie herangetreten wäre. Nun handelte es sich darum, eine zugkräftig in die Herzen greifende, dramatisch abgerundete Schöpfung auch jenen Festen zu bieten, die jetzt an besonderen Gedenktagen (Sedanfest etc.) zur Erinnerung an die letzten Großthaten des deutschen Heeres und an die Wiederaufrichtung des Reiches in den deutschen Schulen gefeiert werden. So entstand die poesiewarme, in Wort und Ton von edler Vaterlandsliebe durchwehete Dichtung „Das Vaterlandsfest“ von Friedrich Hofmann, Composition von Julius Otto. Es ist Kraft, Bewegung und Begeisterung in der ganzen Entfaltung, und wir sind überzeugt, daß die Aufführungen überall einen guten Erfolg haben werden. Das binnen Kurzem (bei Glaser in Schleusingen) im Druck erscheinende „Vaterlandsfest“ ist also unbedingt den Eltern und Lehrern zu empfehlen, denen es um eine wirklich erhebende und wahrhaft patriotische Feier der Nationalfeste in den Schulen zu thun ist.
Zwei Cabinetsordres Friedrich’s des Großen. Im Jahre 1755 ward auf Befehl König Friedrich des Zweiten, der deshalb eine eigene Cabinetsordre, d. d. Potsdam, den 25. October, an den jüngeren Franke (Sohn des Stifters des Halleschen Waisenhauses August Hermann Franke), als damaligen Director des königlichen Pädagogii (innerhalb jener Stiftungen) erließ, ein eigener Tanzmeister angestellt, und der Commandeur des zu Halle garnisonirenden Anhalt-Dessauischen Regiments, Oberst von Pritzen, bekam zugleich die Ordre, von Zeit zu Zeit bei den Tanzlectionen gegenwärtig zu sein und nachzusehen, wie der Unterricht von statten gehe. Als hierauf Letzterer unter dem 1. November dem König berichtete, „er habe den Professor Franke billig und bereit gefunden, alle dem Folge zu leisten, was Se. Majestät befohlen, es sei auch ein guter Tanzmeister, Namens Greiß, angestellt worden, er habe den Lectionen selbst zugesehen und gefunden, daß er die Leute gut dressire, ihnen anfänglich eine gute Stellung, Reverence und Pas, auch Tours weise, und ihm aufgegeben, nun seine Schüler auch Menuets zu lehren, damit sie nach seiner Rückkunft vor ihm tanzen könnten,“ – erließ der König eine zweite Cabinetsordre, worin es unter Anderem heißt: „Es ist mir sehr lieb gewesen, daß auf dem dortigen Pädagogio ein Tanzmeister zur Information der jungen Edelleute aus meinem Lande bestellt ist. Im Uebrigen declarire ich hierdurch, daß dieses Tanzen auf dem Pädagogio nur pur (rein, ausschließlich) für die Edelleute aus meinem Lande sein soll; denn was die anderen und die ausländischen Edelleute anbetrifft, da stehet solchen frei, nach eigenem Gefallen das Tanzen zu lernen oder nicht, als wonach, ob solches geschehe oder nicht, ich gar nicht frage.
Er ißt ein hartes Stücklein Brod,
Ach, lauter dürre Rinde,
Der Herrgottshändler in der Noth
Mit seinem Weib und Kinde.
Er zieht, sie schiebt den Wagen fort
Im heißen Straßenstaube, –
Gottlob! ein Wirthshaus winket dort
Mit schmucker Erkerlaube.
Und lustig ist’s im Schatten kühl;
Wo froh die Leute scherzen,
Da regt auf menschlich Mitgefühl
Die Hoffnung sich im Herzen.
Der Wagen hält – das arme Weib,
Ihr schreiend Kind zu stillen
Zwingt sie den kraftberaubten Leib
Mit ihrem Mutterwillen.
Wie nah’ sich wähnt der Mann am Ziel!
Da sitzen vor dem „Besten“
Zwei höhere Kutten beim Kartenspiel
Am Tisch mit Bauerngästen.
Mit Fleh’n und Bitten beut er dar,
Mit ehrfurchtsvollen Knixen
Den hohen Herren seine Waar’
An Bildern und Crucifixen.
Doch mit empörten Stolzes Sturm,
Im Spiel gestört zu werden,
Spricht Pfaffenmund herab zum Wurm,
Der knieet auf der Erden:
„Laßt mich in Ruhe, Bettelzeug!
Ihr seid so dumm wie Kälber!
Den Herrgott kauf’ ich nicht von Euch,
Verkauf ich ihn doch selber.“
Die Mythologie als Bilderspiel. Die Nürnberger Kunst- und Spielwaarenverlagshandlung von G. Maar, welche bei der Wiener Weltausstellung für ihre Leistungen sich ein Anerkennungsdiplom erworben, bietet der Kinderwelt auch die Figuren und Gruppen der Götterlehre der Alten in bunten Lithographien, zum Aufstellen und beliebigen Gruppiren eingerichtet, als Spielwerk dar. Eltern können mit einer Auswahl aus dem sehr reichen Vorrathe ihren größeren Kindern die Einprägung der wichtigsten mythologischen Namen durch dieses Bilderspiel erleichtern; wenn die Großen sie weglegen, bleibt für die Kleinen immer noch ein farbenbelebtes Spielzeug übrig.
A. M. in Charkow. Zur Vertreibung der Ameisen, auch der rothen (Formica rufa), die Ihre Hauptplage ist, dienen ganz sicher todte, schon übelriechende Fische, welche die Ameisen wie die Pest fliehen, die aber freilich die Menschen ebenso geschwind vertreiben würden; gute Dienste thun in dieser Beziehung aber auch Petersilie und Kerbel. Schon ein oft gebrauchtes Fischnetz, oder auch nur Lumpen, die mit Schuppen oder Eingeweiden von Fischen durchmengt und wieder getrocknet sind, reichen hin, einen Ort von Ameisen zu säubern. Nicht weniger sind denselben Theer, Thran, Spieköl, Hollunderblüthen, frisch wie getrocknet, zuwider.
A. v. T. in Dresden. Ihr ebenso liebenswürdiger wie bescheidener Brief veranlaßt uns, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß unsere Ablehnung Ihrer Novelle durchaus nicht ein Mißtrauensvotum gegen Ihre literarische Leistungsfähigkeit sein sollte. Wir bitten Sie im Gegentheile, Ihr hübsches Talent nicht unbenützt zu lassen und uns gelegentlich eine neue Probe desselben zu unterbreiten.
- ↑ Eine geborene Gräfin von Brandenburg. Sie hatte trotz aller Vorstellungen König Friedrich Wilhelm’s des Dritten den evangelischen Glauben mit dem katholischen vertauscht und lebte seitdem viel in Wien.
- ↑ Elise Meerti aus Brüssel war eine vortreffliche Sängerin und von Mendelssohn warm empfohlen; sie war auch eine reizende, poetische Erscheinung.