Die Gartenlaube (1874)/Heft 52
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No. 52. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Mein Vater war in dem kleinen Städtchen Wiesenheim ein ehrsamer Schneidermeister, und ich glaube, sein Vater und Großvater betrieben dasselbe Handwerk.
Welchen Lebensberuf meine Ahnen in jenen Tagen hatten, da die alten Deutschen in Thierfellen einhergingen, davon schweigt unsere Familientradition, aber so viel steht fest, daß ein Karl Nöhring schon geschlitzte Wämser und Pluderhosen verfertigte und dadurch wahrscheinlich mehr Geld verdiente als der jetzige Karl Nöhring, mein ältester Bruder, durch Einsegnungsleibröcke und Turnanzüge. Außer durch die vererbte Treue für das löbliche Schneiderhandwerk ist das Geschlecht der Nöhrings noch besonders dadurch bemerkenswerth, daß stets der älteste Sohn der Familie den Namen Karl bekommt, wie der zweite den Namen Gottlieb; stellte sich, was im Laufe der Zeiten ziemlich häufig vorgekommen ist, noch ein dritter oder gar ein vierter Sohn ein, so wurde er nach dem Kalenderheiligen seines Geburtstages genannt. Von weiblichen Familiengliedern kennen wir eigentlich nur Annen und Marien und die Ueberlieferung weiß wenig von ihnen zu erzählen, so wenig, daß man guten Grund hat anzunehmen, daß die Annen und Marien Nöhring die besten Frauen ihrer Zeit gewesen sind. Mit gerechtem Tadel aber spricht die obenerwähnte Ueberlieferung von einem entarteten Schneidermeister Nöhring, der sich unterfing, seinen ältesten Sohn Richard taufen zu lassen; daß er nebenbei noch zuweilen ein Glas über den Durst trank, konnte bei so deutlich an den Tag gelegter Verachtung althergebrachter Sitte nicht weiter Verwunderung erregen. Der kleine Richard starb aber noch im Kindesalter, und der Stammbaum der Nöhrings erhielt sich unbefleckt.
Nun geschah es aber, daß, als ich das Licht der Welt erblickte, die Familienwiege vor mir schon von einem Karl, einem Gottlieb, einem Gideon und einem Desiderius benützt worden war, welch letzterer aber seinen Namen mit Unrecht trug, denn nach den drei Knaben wäre meinen Eltern eine Marie oder eine Anna erwünschter gewesen.
An dem Tage, da ich die enge Wohnung der allemal jüngsten Nöhrings bezog, stand eben Mittfasten im Kalender. Was war da zu thun? Ein kleiner „Mittfasten“ Nöhring war noch nicht dagewesen, und der Pfarrer würde diesen wohl auch schwerlich als christlichen Taufnamen haben gelten lassen. Das muß meinem Vater wohl viel Sorge und Kopfzerbrechen gemacht haben, denn etwa acht Tage nach meiner Geburt trat einer unserer geachtetsten Mitbürger, Herr Hartlieb, schlechtweg der alte Hartlieb genannt, kopfschüttelnd in das Zimmer, in welchem mein Vater mit zwei Gesellen am Schneidertische saß. Er trug eine neue Tuchhose in der Hand und redete meinen Vater also an:
„Ei, ei, lieber Meister, wo habt Ihr nur Eure Gedanken gehabt? Schickt mir da die bestellte Hose in’s Haus, und als ich sie anziehen will, findet mein rechtes Bein unten keinen Ausweg. Seht her, Ihr habt die rechte Hose unten zugenäht.“
Die beiden Gesellen verbissen sich mit Mühe das Lachen; mein Vater aber kraute sich hinter dem Ohre und bat den geschätzten Kunden tausendmal um Verzeihung. Er wolle sich solcher Nachlässigkeit nicht wieder schuldig machen, denn er hoffe, seine Frau werde ihm keinen zweiten derartigen Streich spielen und ihm ein Söhnlein an Mittfasten schenken.
Der alte Hartlieb fragte nun weiter, was denn dabei Schlimmes sei, daß ein Kind an Mittfasten geboren würde, und als ihm mein Vater von dem alten Familienbrauche erzählte, sagte er:
„Wißt Ihr was, Meister? Nehmt mich zum Taufpathen für Euer Söhnlein und gebt ihm meinen Namen: Franz! Der ist so gut, wie irgend ein anderer.“
Eine solche Ehre schlug mein Vater natürlich nicht aus, und so ist mir der Zufall, daß ich an Mittfasten geboren bin und mein Vater in Frage dessen die Hosen seines besten Kunden am unteren Ende zusammengenäht hat, zum größten Glück geworden, denn was ich bin und habe, danke ich meinem Pathen, dem alten Hartlieb. Er war trotz seiner Sonderbarkeiten einer der angesehensten Männer von Wiesenheim, obwohl er, was sonst in einer kleinen Stadt besonderes Ansehen verleiht, keinerlei Amt bekleidete und auch, seinem Vermögen nach, nicht die erste Stelle einnahm. Denn wenn ich ihn vorhin meines Vaters besten Kunden nannte, so darf das nicht so verstanden werden, als hätte er eine sehr umfangreiche Garderobe besessen – er fand nur stets sehr bald Jemanden, der seiner noch sehr brauchbaren Kleider dringend bedürftig war. Und so hatte er stets genug, einem Mitbürger aus der Noth zu helfen, und wenige gingen ohne Hülfe, keiner aber ohne Trost und Rath von ihm. Er wohnte in einem kleinen, von seinem Vater ererbten Hause, hart am Ende der Stadt, dort, wo sie nur durch ein kleines Gewässer von den ausgebreiteten Wiesen getrennt ist, denen sie ihren Namen verdankt.
Vor vielen Jahren – das heißt viele Jahre ehe er sich meinem Vater als Gevatter anbot – hatte er sich noch ein Nachbarhaus [832] käuflich erworben, dessen Besitzer gestorben war. Die Gärten der beiden Häuser – sie trugen die schönsten Fliedersträuche, die ich jemals gesehen – stießen an einander, und man hatte geglaubt, er habe den Kauf hauptsächlich gemacht, um seinen Garten zu vergrößern, dessen Pflege er sich sehr angelegen sein ließ, aber der Zaun, der die beiden Besitzthümer trennte, fiel nicht; weder das angekaufte Haus noch der Garten wurden jemals benützt. Ueber den Grund dieses seltsamen Verfahrens mögen seiner Zeit wohl die mannigfachsten Vermuthungen umgelaufen sein; als ich in das Alter kam, darüber nachzudenken, waren sie längst verstummt und das ehemalige Dreßler’sche Besitzthum ein Gegenstand abergläubischer Furcht geworden. Man wollte seltsame Schatten an den geschlossenen Fenstern, eine weiße Gestalt im verwilderten Garten gesehen haben, ja, man war so fest überzeugt von dem Dasein dieser Gestalt, daß man ihr einen Namen gab und sie Sabine nannte nach einer Tochter des früheren Besitzers, die in der Ferne geheirathet und, wie man wissen wollte, unglücklich geworden war. Ob diese Tochter noch lebte, wußte man nicht, man mußte aber wohl das Gegentheil angenommen haben, denn wie hätte sonst ihr Geist umgehen können?
Zur Zeit, da ich mich der Wiesenheimer Schuljugend beigesellte, galt es für einen Beweis hohen Muthes, am späten Abend an dem Dreßler’schen Hause vorüberzugehen, und ich gelangte bei meinen Cameraden in den Ruf wilder Tollkühnheit, als ich einmal gewagt hatte, zu später Stunde den kleinen Bach zu durchwaten und in den öden Garten einzudringen. Mir war die weiße Sabine nun freilich nicht sichtbar geworden; ich war ja eben an Mittfasten geboren und deshalb kein Sonntagskind, welches bekanntlich stets ein Auge für Gespenster haben muß, aber auf die Schmerzen, die mir bei diesem Abenteuer die Dornen und Brennnesseln an Händen und Füßen verursachten, war ich so stolz, wie ein Krieger auf seine im ehrenvollsten Kampfe erlangten Wunden. Mein Herr Pathe, der alte Hartlieb, würde an diesem Wagestück wohl schwerlich Gefallen gefunden haben und hat es auch niemals erfahren.
Er kümmerte sich um jene Zeit wenig um mich und ich sah ihn nur, wenn er bei meinem Vater ein neues Kleidungsstück bestellte oder eine Rechnung zu bezahlen kam. Alsdann sprach er mich freundlich an, ließ sich auch wohl mein letztes Schulzeugniß zeigen und klopfte meinen flachsblonden Kopf oder schüttelte seinen grauen, je nachdem es eben ausgefallen war. Aber je älter ich wurde, desto häufiger wurde das erstere, das beifällige Klopfen meines Kopfes nämlich, denn das Lernen wurde mir leicht und machte mir darum auch Freude.
Mit der Zeit trat denn auch die Frage an uns heran, was aus mir wohl eigentlich werden sollte. Karl und Gottlieb handhabten schon Nadel und Scheere; Gideon war bei einem Bäcker in die Lehre getreten, Desiderius frühzeitig gestorben, ich selbst aber verspürte nicht die geringste Lust für das ehrsame Schneiderhandwerk, denn seit ich einmal als Kind der bei meiner Mutter zum Besuche sitzenden Gevatterin, der reichen Bäckermeisterin Klenze, ohne daß sie es bemerkte, kleine kunstlose Viereckchen aus dem feinen kornblauen Wollenkleide geschnitten und von meinem Vater die gebührende Strafe mit dem Rohrstöckchen empfangen, hatte ich mich weislich gehütet, jemals wieder eine Scheere zur Hand zu nehmen.
Zum Ueberfluß war auch noch mehrere Jahre nach mir ein Brüderchen geboren, ohne daß die Reihe männlicher Nöhrings durch eine Anna ober Marie unterbrochen worden wäre, und der kleine Anselm offenbarte schon jetzt ein auffallendes Talent für das erbliche Handwerk. Selbst mein Vater, ein so eingefleischter Schneider er auch war, konnte nicht erwarten, mehr als drei seiner Söhne in seine Fußstapfen treten zu sehen – aber was sollte aus mir werden? Bei seinem nächsten Besuche wurde des alten Hartlieb Rath eingeholt. Er kam auf den Ausweg, mich selbst danach zu fragen, was meinem Vater niemals eingefallen war.
„Wozu hättest Du wohl Lust, mein Sohn?“ und da er sah, daß ich zögerte, „sprich nur dreist heraus! Wir wollen sehen, was sich thun läßt.“
Da faßte ich Muth zu dem kühnen Bekenntniß:
„Am liebsten möchte ich wohl studiren und Arzt werden, Herr Pathe.“
Mein Vater glaubte, ich habe den Verstand verloren, und meine Mutter schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, aber der alte Hartlieb wiegte nur bedächtig sein graues Haupt und sagte: er wolle sich die Sache überlegen.
Und am nächsten Morgen kam er wieder und erklärte meinem Vater, er wolle von nun an die Sorge für meine Ausbildung übernehmen und mit Gottes Hülfe einen Arzt aus mir machen. Mein Vater war es wohl zufrieden, und meine gute Mutter – ich glaube, sie hatte die ganze Nacht wach gelegen vor Sorge und Aufregung – küßte mich unter Freudenthränen, und mit Thränen und Segenswünschen entließ sie mich einige Zeit darauf, als ich an die höhere Schule abging, die mich für die Universität vorbereiten sollte.
Endlich bezog ich die Universität und setzte stolz hinter meinen Namen ein: stud. med. Ich bewohnte ein Stübchen, das in einem vierten Stockwerke nach vorn heraus gelegen war. Schon an dem Tage meines Einzuges bemerkte ich gegenüber an einem Fenster, allerdings tief unter meiner Höhe, einen braunlockigen Mädchenkopf, der sofort mein ganzes junges Herz in Flammen setzte. Ich hütete mich wohl, mich danach zu erkundigen, wer dort drüben wohne, es hätte ja meine ganze Illusion zerstört, wenn ich erfahren, sie sei anderen Leuten als Fräulein Schulze oder Müller bekannt; für mich sollte sie die Eine, die Namenlose bleiben. Ich bedurfte keines Namens, sie damit zu bezeichnen, denn neben ihr gab es für mich ferner kein Mädchen auf der Welt. Ich vergaß gänzlich das rosenwangige Minchen Klenze, obgleich mir das freundliche Mädchen zum Abschied ein so schönes Buchzeichen von himmelblauer Seide mit der Inschrift: „Aus Freindschaft“ gestickt hatte.
Auch einen anderen Frauenkopf mit silberweißem Scheitel erblickte ich zuweilen neben dem braunlockigen, der mit diesem eine unverkennbare Aehnlichkeit zeigte. Natürlich machte die Liebe mich zum – Dichter. Aber über dem Dichten versäumte ich das Studiren nicht, nein, ich widmete mich ihm mit verdoppeltem Eifer, denn ich hatte mir vorgesetzt, nach glücklich bestandenem Examen die Bekanntschaft meiner Angebeteten zu suchen, und war von dem Gelingen dieses Vorhabens ziemlich fest überzeugt. Aber ach, als ich einst nach den im Elternhause verlebten Ferien in mein mir so lieb gewordenes Stübchen zurückkehrte, suchte ich im Hause gegenüber umsonst den braunen Mädchenkopf; die Fenster waren alle geöffnet und ließen mir den Einblick in die leeren Wände – die Familie war ausgezogen. Umsonst durchwanderte ich die Straßen der Stadt und blickte an den Häusern empor, nirgends sah ich die Eine, der mein Suchen galt.
Es vergingen Jahre; ich bestand glücklich mein Examen und erhielt eine Anstellung als Gehülfe eines berühmten Arztes. Die Meinigen hätten es gar gerne gesehen, wenn ich mich in meiner Vaterstadt niedergelassen. Allein ich wollte erst noch ein wenig mich in der Welt umsehen, auch besaß Wiesenheim bereits einen geschickten Arzt außer dem alten Wundarzte, der allen kleinen Wiesenheimern die ersten Zähne ausriß, und der Ort war zu gesund, als daß er einem Dritten Beschäftigung geben konnte. Mein Pathe Hartlieb, der ganz in seiner alten Weise fortlebte, billigte meinen Entschluß vollständig.
Eines Abends saß ich noch spät bei meiner Studirlampe, als meine Aufwärterin eilig in’s Zimmer trat.
„O Herr Doctor, Sie möchten recht schnell zu einer Kranken kommen – es soll sehr schlimm stehen.“
Vor der Thür erwartete mich ein sauberes junges Mädchen, die mich mit den Worten empfing:
„Kommen Sie nur recht schnell, Herr Doctor! Unsere Frau Geheimräthin will sterben.“
„Ist es wirklich so gefährlich?“ fragte ich unterwegs.
„Ganz gewiß, sonst würde ich Sie nicht geholt haben, sondern zu einem bessern Arzte gegangen sein, so aber sagte unser Fräulein, ich solle den holen, der am nächsten wohnt.“
Sie führte mich in ein elegant möblirtes Schlafzimmer, in welchem eine alte Frau mit dem Tode rang. Ich erkannte sofort die Größe der Gefahr, aber auch zugleich, daß der Fall noch nicht hoffnungslos war.
Zu Füßen des Bettes, in welchem die Kranke lag, kniete eine schlanke Mädchengestalt und verbarg schluchzend ihr Gesicht. Bei meinen ersten Worten, die von Hoffnung sprachen, erhob sie den Kopf und blickte durch ihre strömenden Thränen zu mir auf, aber bei der schwachen Beleuchtung des Zimmers konnte ich ihre Züge nicht erkennen.
[833] Als meine Mittel der Kranken einige Erleichterung verschafften, die schmerzliche Erstarrung ihrer Gesichtszüge nachließ und die Todtenblässe einer natürlichen Farbe wich, kam mir das Antlitz der alten Dame sehr bekannt vor, nur wußte ich im ersten Augenblick nicht, an welchem Punkte meines Lebensweges mir dieses trotz seines Alters noch schöne Gesicht begegnet war. – Ich verließ die Nacht über meine Kranke nicht; das junge Mädchen ging mir zur Hand, so viel sie konnte, aber als die ersten Morgenstunden der Alten einen ruhigen Schlummer brachten, widerstand auch sie nicht länger, sondern gab ihrem erschöpften Körper nach und versank, am Fußende des Bettes auf einem niedrigen Schemel sitzend, in einen tiefen Schlaf. Ich wachte bei den beiden Schlafenden, weil ich eine Rückkehr des gefährlichen Anfalles befürchtete, aber die Kranke schlummerte fort, und als die ersten Strahlen der Morgensonne durch das Fenster drangen, stand ich leise auf, horchte noch einmal auf ihre regelmäßigen Athemzüge und beugte mich zu dem Mädchen nieder. Jetzt, da Angst und Schmerz das junge Antlitz nicht mehr entstellten, erkannte ich in ihr – mein angebetetes Gegenüber aus meiner Studentenzeit.
Ich hatte, aufrichtig gesprochen, in den letzten Jahren kaum noch an sie gedacht; dennoch freute es mich, sie jetzt wiederzusehen und ihr einen Dienst leisten zu können. Sie hatte damals den schmächtigen blonden Studenten, der ihr gegenüber, dicht unter den Wolken wohnte, wohl nicht bemerkt, aber dem jungen Arzt, der das Leben ihrer Großmutter gerettet, begegnete sie mit großer Freundlichkeit.
Ich erfuhr, daß Margarethens Eltern, welche damals mit ihr nach einer andern Stadt gezogen, in der Zwischenzeit gestorben waren, ohne sie in so glänzenden Verhältnissen zurückzulassen, wie die waren, in denen sie aufgewachsen war. Sie lebte nun hier mit ihrer Großmutter von deren Wittwenpension und den Resten ihres Vermögens, aber ich lernte die alte Geheimeräthin Wildhofen als eine gar stolze, unnahbare Dame kennen, deren Sinn alles Mißgeschick, das sie betroffen, nicht zu beugen vermochte.
Ich kam wochenlang täglich in das Haus, weil die alte Dame meiner noch bedurfte, dann aber auch, weil die braunen Augen ihrer Enkeltochter mich zuerst so freundlich willkommen hießen, bei meinen späteren Besuchen aber schüchtern den meinen auswichen und ein höheres Roth ihre Wangen färbte.
So geschah es eines Tages, daß die Frau Geheimeräthin uns überraschte, als mein Arm um Margarethens Schulter und ihr Kopf an meiner Brust lag. Wir erschraken wohl ein wenig bei ihrem unerwarteten Eintritt, aber ich hielt die Geliebte nur noch fester, als ich mich an ihre Großmutter wandte und um deren Segen zu unserer Verbindung bat.
Die alte Dame betrachtete mich kalt und prüfend, gleichsam als sei sie erstaunt über meine Kühnheit, dann fragte sie mich kühl, was ich denn neben meinem Herzen ihrer Enkeltochter zu bieten habe. Das war denn nun freilich nicht allzuviel, wenn sie die Aussichten auf eine bessere Stellung nicht gelten lassen wollte.
„Und noch eins, mein junger Herr Doctor,“ sagte sie endlich spottend, „der Sie so zuversichtlich um Fräulein von Rhoda werben, als erwiesen Sie ihr damit eine Ehre: aus was für einer Familie stammen Sie?“
Ruhig, das heißt so ruhig, wie ein Liebender in solchem Augenblick eben sein kann, gab ich ihr zur Antwort, daß mein Vater und meine Brüder, dem Beispiele ihrer Vorfahren folgend, das ehrsame Schneiderhandwerk betrieben und ich nur durch die Güte meines Pathen zu einer höheren Ausbildung gelangt sei.
Doch wozu soll ich länger bei diesem Gespräch verweilen – genug, daß mir die Geheimeräthin mit herben Worten das Haus verbot und ich meine liebe weinende Margareth verlassen mußte. Ich war jung und muthig, baute fest auf die Treue meiner Geliebten und sah hoffnungsvoll in die Zukunft. Doch sollte meine Zuversicht auf eine schwere Probe gestellt werden.
Es war an einem Novembertage, als die alte Dame mir die Thür wies; der Winter verging; der Sommer folgte ihm; es wurde wiederum Herbst und wiederum Winter, und die Erfüllung meines Herzenswunsches schien mir noch eben so unerreichbar fern zu liegen.
Da theilte mir mein Vater mit, der Wiesenheimer Arzt gehe mit der Absicht um, nach einer größeren Stadt überzusiedeln, und bat mich, den Wunsch der ganzen Familie zu erfüllen und in meine Vaterstadt zurückzukehren, an Praxis werde es mir, als geborenem Wiesenheimer, der überdies mit den angesehensten Bürgern des Ortes durch Bande des Blutes, der Verschwägerung oder doch der Gevatterschaft verbunden sei, noch weniger fehlen als meinem Vorgänger. Bei meiner tiefgewurzelten Anhänglichkeit an die Meinigen und die alte kleine Stadt hätte mir nichts erwünschter sein können, wenn nicht der Wechsel des Wohnortes zugleich eine vollständige Trennung von meiner geliebten Margareth bedeutete. Wenn ich auch seit jenem Herbsttage nie wieder ihr Haus betrat, so sah ich sie doch zuweilen am Fenster oder es glückte mir auch, auf der Straße oder bei einer uns beiden befreundeten Familie ein paar Worte mit ihr zu wechseln, wenn sie eben nicht von ihrer Großmutter begleitet war. Und nun sollte ich auch diesen letzten kargen Trost von mir weisen? Unmöglich! Und doch – es war eine schwere Wahl, vor welcher ich stand.
Zum Glück ließ man mir Zeit zur Ueberlegung. Der Arzt, dessen Nachfolger ich werden sollte, beabsichtigte seine Uebersiedelung erst zum Frühjahre auszuführen, und zu dieser Jahreszeit konnten die Wiesenheimer immer noch am leichtesten eine Zeit lang sich mit dem alten Wundarzt begnügen; der Ort war, wie ich schon gesagt habe, sehr gesund und die meisten Krankheitsfälle zeigten sich bei seinen Kindern im Herbste, wenn das Obst zu reifen begann. Aber gerade jetzt, wo ich am dringendsten eine Unterredung mit Margarethen ersehnte, gelang es mir nicht, ihr irgendwo zu begegnen, und ich erfuhr, daß eine neue Erkrankung ihrer Großmutter sie an’s Haus fessele. Das arme Mädchen, wie mochte sie meines Beistandes, meines Trostes bedürfen! Der Zustand der Großmutter verschlimmerte sich, und endlich überwog Margarethens Herzensangst ihre Furcht vor dem Zorne der Kranken: sie ließ mich rufen.
Anfangs wagte ich mich nicht an das Bett der Leidenden, aus Furcht, durch Aufregung ihren gefährlichen Zustand noch zu verschlimmern, aber bald trat heftiges Fieber und völlige Bewußtlosigkeit bei ihr ein, so daß ich ihr beistehen konnte, ohne von ihr erkannt zu sein. Der kräftige Körper der alten Dame widerstand der Krankheit lange, und nachdem ich schon jede Hoffnung auf Genesung aufgegeben hatte, kamen immer noch Tage, an welchen sie sich wieder zu erholen schien. Meine arme Margareth war sehr unglücklich bei dem Gedanken, ihre letzte Verwandte verlieren zu sollen, und jeder Gedanke an ihre Härte verschwand vor der Erinnerung an die zahlreichen Liebesbeweise, die sie dem verwaisten Mädchen gegeben hatte.
„Wenn sie stirbt, ohne unseren Bund gesegnet zu haben, kann ich selbst an Deiner Seite niemals glücklich werden, Franz!“ Es waren traurige, bange Tage für uns Beide.
Darüber brach der Frühling herein, und zwar ein Frühling, der seinem Namen Ehre machte. Margareth, an das Bett der Großmutter gebannt, fühlte nicht die balsamische Luft, konnte sich nicht an dem Anblick der Blüthenbäume, dem Dufte der Blumen, dem Gesange der Vögel erfreuen.
Als ich mich eines Tages, mit diesen Gedanken beschäftigt und von innigem Mitleide für sie erfüllt, auf dem Wege nach ihrem Hause befand, bot mir ein kleines ärmlich gekleidetes Mädchen einen Strauß blühender Fliederzweige zum Kauf. Ich nahm ihn an mich und begab mich damit in’s Krankenzimmer.
Die Geheimräthin lag in ruhigem Schlummer, und ich setzte mich an’s Fenster, wo Margareth mit einer Handarbeit beschäftigt war. Sie empfing freudig den Strauß aus meiner Hand und athmete den süßen Duft. Wie mich die Fliederblüthen an meine Heimath erinnerten, besonders an den Garten des alten Hartlieb und den daranstoßenden, in welchem der Geist der Sabine lustwandeln sollte! Zum ersten Male erzählte ich meiner Geliebten Näheres über den Pathen, der mir ein zweiter Vater geworden war, und schilderte ihr sein freundliches kleines Besitzthum. Ich sprach auch von seinen Eigenthümlichkeiten, von jener auffallendsten, daß er bei dem Tode des Nachbars dessen Haus und Garten angekauft, ohne das Grundstück je zu benutzen und ohne auch einem fremden Fuße den Eintritt zu demselben zu gestatten.
Ein Seufzer vom Bette her unterbrach meine Erzählung. Die Kranke lag mit geöffneten Augen, die so mild und freundlich blickten, wie ich sie nie zuvor gesehen. Sie winkte uns, zu ihr [834] zu treten, und als wir gehorchten, nahm sie Margarethens Hand und legte sie in die meine, dann faltete sie ihre Hände um den Fliederzweig, den die Enkelin auf ihr Bett niedergelegt hatte, und ein Ausdruck tiefen Friedens breitete sich über ihr Antlitz; sie athmete noch einmal tief und schloß die Augen zum letzten Schlaf. Wir legten die Blüthen in ihren Sarg.
An dem Tage, da wir sie zur Ruhe bestatteten, erhielt ich eine Todesbotschaft aus der Heimath: der alte Hartlieb war nach kurzem Krankenlager gestorben, fast zu derselben Stunde wie Margarethens Großmutter. In seinem Testament hatte er mich zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. So war nun nach jeder Seite hin für unsere Zukunft gesorgt; ich ließ mich in Wiesenheim nieder und führte meine Margareth heim. Muß ich noch hinzufügen, daß ich Beides nie bereut habe?
Eines Abends, als ich von meinen Krankenbesuchen nach Hause kam, fand ich meine süße kleine Frau in Thränen; ein paar beschriebene Blätter lagen in ihrem Schooße.
„Sieh her, Franz, was ich beim Aufräumen in Deines Pathen Schreibtisch fand!“
War es ein Tagebuch? War es ein Brief? Doch an wen hätte der alte Hartlieb wohl schreiben sollen? Ich hatte nie von Verwandten, nie von einem vertrauten Freunde gehört.
Ich las.
„Es ist ein wunderbar schöner Frühlingsabend,“ so stand auf den vergilbten Blättern geschrieben; „ich sitze am geöffneten Fenster und blicke in den Garten hinaus, wie es seit fünfzig Jahren und länger wohl meine liebe Gewohnheit ist. Drüben, hinter Nachbars Dach, taucht eben der Mond auf – ich sage, auch aus alter Gewohnheit noch, ‚Nachbars Dach‘, obwohl das Haus längst schon mir gehört und die Leute schon aufgehört haben, sich darüber zu wundern, daß ich es gekauft habe, um es leer stehen zu lassen, und es nicht einmal vermiethen will. Der Duft des Flieders zieht mit dem Abendwinde in mein Stübchen, und in dem Gesträuche schlägt die Nachtigall, aber so süß duftet der Flieder nicht mehr, so schmelzend singt die Nachtigall nicht wie in meiner Jugend, da sie in Nachbars Garten ihr Nest baute und Nachbars Sabine ihr zuhörte. Es ist wohl auch längst nicht mehr dieselbe Nachtigall, die uns Beiden sang; es ist ja nur dem Menschen bestimmt, daß er seine Jugend so lange überleben soll.
Ich bin ein alter, alter Mann. Es ist mir zuweilen, als sei ich eigentlich gar niemals jung gewesen, als sei ich schon als Greis zur Welt gekommen in derselben Stunde, in der meine junge Mutter starb. Ich glaube, ich habe in der Wiege schon recht alt und unkindlich ausgesehen, und meine Amme hätte mich vielleicht damals schon den alten Hartlieb genannt, wenn sie diese Bezeichnung nicht für meinen Vater, den Herrn Bürgermeister, gebraucht hätte.
Von meinen ersten Kinderjahren weiß ich nichts; ich hatte ja nicht, wie andere glückliche Kinder, eine Mutter, welche die ersten Regungen des Menschengeistes bewacht, sich der ersten Offenbarungen des Verstandes freut. Meine frühesten, mir erinnerlichen Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, warum wohl Apothekers jüngster Sohn, der doch mehrere Jahre älter war als ich, von seinen Eltern Fränzchen genannt wurde, während mich Niemand anders als Franz nannte. Ich glaube, wenn es meinen Pathen eingefallen wäre, mir anstatt dieses kurzen den längsten aller Kalendernamen zu geben, so würde doch mein Vater niemals an eine Abkürzung oder einen Liebesnamen, wie sie Kinder so gern haben, gedacht haben. Ich habe nie an seiner väterlichen Zuneigung gezweifelt, aber er war ein kalter, ernster Mann, der auch in seinem Hause nicht den Bürgermeister verleugnete.
Meine Schulcameraden kümmerten sich wenig um meinen Vornamen; für sie war ich vom ersten Tage an der alte Hartlieb, da ich mich nicht an ihren lärmenden Spielen betheiligte, theils weil mir die Lust dazu nicht angeboren war, theils auch weil es mein Vater mir als für mich unschicklich verboten hatte. Und so ist denn der Name ‚der alte Hartlieb‘ an mir haften geblieben für mein ganzes Leben, jetzt freilich führe ich ihn schon seit vielen Jahren mit Recht.
Ich war zwölf Jahre alt, als unsere junge Nachbarin, Frau Anna Dreßler, starb, die Einzige, die zuweilen freundlich mein Haar gestreichelt hatte. Sie ließ ein kleines Mädchen zurück, das eben die ersten Versuche zum Gehen machte. Von dieser Zeit ab war ich oft in Nachbars Hause und bewachte mit ängstlicher Sorgfalt die zaghaften Schritte der kleinen Sabine. Ich dachte es freilich damals nicht, daß eben diese zarten Füßchen später so achtlos mein Herz zertreten würden.
Aber warum schreibe ich das nieder? Es ist doch nur eine Geschichte, wie sie gar oft vorfällt, wenn auch Jeder denkt, so groß wie sein Schmerz sei kein anderer unter dem Himmel.
Sie hing an mir bald mehr als an ihrem eigenen Vater, und die ersten zusammenhängenden Worte, die sie sprach, waren: ‚Alter Hartlieb‘, wie die Leute es ihr, mich zu necken, vorgesprochen hatten. Ich sehe es noch oft in meinen Träumen bei Tage und bei Nacht vor mir, das hübsche braunäugige Kind, wie es lachte, wenn es mich kommen sah, und mir die Arme entgegenstreckte.
Die Jahre vergingen. Sabine wurde je älter, desto hübscher; wir spielten zusammen zwischen den Fliederbüschen ihres Gartens. Und die Nachbarn wußten es schon ganz bestimmt, daß der Franz und die Sabine ein Paar werden würden, und unsere Väter sprachen darüber, ob sie alsdann den Zaun, der ihre Gärten trennte, ganz fortnehmen oder nur eine Thür hindurch brechen sollten. Für mich war Beides nicht nöthig; ich sprang allabendlich darüber hinweg.
Ich hatte nun die Schule verlassen, und mein heißester Wunsch war, in eine größere Stadt zu kommen und etwas Rechtes zu lernen, ehe ich einen eigenen Hausstand gründete. Oder wenn ich gar hätte Reisen machen können, über Berge und Flüsse, und am liebsten wohl gar über das Meer! Aber davon wollte mein Vater nichts hören; er war ja auch nie aus unserer guten kleinen Stadt hinausgekommen und hatte es doch bis zum Bürgermeister gebracht, und höher hinauf konnte doch selbst mein Ehrgeiz nicht gehen. Er hat es wohl gut gemeint, mein braver Vater, aber vielleicht wäre es mir doch besser gewesen, er hätte meinen Bitten nachgegeben.
Und nun gar die Sabine! Wenn ich ihr von meinen Wünschen und Plänen sprach, da schlang sie ihre Arme um meinen Hals und sagte mit Thränen in den Augen:
‚Aber, lieber alter Franz, was soll aus Deiner Sabine werden, wenn Du fortgehst?‘
Wenn es sich um mein Lebensglück gehandelt, hätte ich doch ihre schönen braunen Augen nicht trüben mögen, und so blieb ich und tröstete mich mit dem Gedanken an das Glück, das mich erwartete, wenn Sabine erst meine Frau sein würde. Aber ihr von meiner Liebe zu sagen, fiel mir nicht ein; sie hat wohl auch niemals erfahren, wie sehr sie mir an’s Herz gewachsen war.
Sie war nun eine Jungfrau, so blühend und schön, wie unser Städtchen keine zweite aufzuweisen hatte, und ich bekleidete ein kleines Amt in der Stadt und dachte nun ernstlich daran, um sie zu freien. Ich war schon öfter, mit einem Ringe meiner verstorbenen Mutter in der Tasche, zu ihr gegangen in der Absicht, ihn ihr an den Finger zu stecken und dabei mein Anliegen in wohlgesetzten Wortes vorzubringen, aber immer verließ mich der Muth ihren schelmischen Kinderaugen gegenüber, und ich kam mit dem Ringe in der Tasche wieder heim. Ich trage ihn jetzt an meinem kleinen Finger; er ist mit der Zeit sehr dünn geworden; aber ich denke, er wird wohl noch so lange zusammenhalten, bis man ihn mir in den Sarg mitgiebt.
In dieser Zeit erkrankte mein Vater plötzlich so heftig, daß ich alle anderen Gedanken um seinetwillen aufgeben mußte. Nach einem mehrwöchentlichen, schmerzhaften Krankenlager erlöste ihn ein sanfter Tod. Ich hatte ihn aufrichtig verehrt und betrauerte ihn nun, wie es sich für einen Sohn geziemt.
In der ganzen Zeit seit jener Erkrankung hatte ich Sabinen nur ein einziges Mal, und nur flüchtig, gesehen, als ich nach einer Nachtwache in den Garten ging, um mich zu erfrischen. Ihr Vater kam öfter zu uns, und von diesem hörte ich, daß in sein Haus Besuch gekommen sei, ein junger Vetter, ein studirter, sehr vornehmer Herr. Ich hörte kaum danach hin, oder doch nur mit dem Gedanken, daß wir den jungen Herrn Vetter, wenn er nicht allzu vornehm wäre, vielleicht zur Hochzeit einladen könnten.
Doch war jetzt, so bald nach meines Vaters Tode, nicht die Zeit, an Werben und Freien zu denken; ich wollte auch nicht zu Sabinen gehen, so lange der fremde Besuch in ihrem Hause
[835][836] war. Es war darüber Frühling geworden, und eines Abends – o, wie genau erinnere ich mich seiner! – ging ich in meinem Garten auf und nieder; der Flieder duftete, und die Nachtigall sang so sehnsüchtig, wie noch nie – da kam meine Liebe mit überwältigender Macht über mich; ich übersprang leicht den Zaun und stand im Garten des Nachbars. Dort, hinter jenem Fliederbusche, in dem die Nachtigall immer ihr Nest baute, stand eine kleine Bank, die unser Lieblingssitz war; dort hoffte ich jetzt Sabinen zu finden.
Ja, dort saß sie, aber nicht allein – der Vetter saß neben ihr und hatte den Arm um sie gelegt; eben jetzt beugte er sich herab, ihren Mund zu küssen. – – –
Ich habe sie nicht wiedergesehen.
Unser Hausarzt bestand auf einer Luftveränderung, einer Zerstreuung für mich, um meine durch die Krankenpflege angegriffene Gesundheit zu stärken, und so erfaßte ich die Gelegenheit, mich von meiner Vaterstadt und allen ihren Banden für längere Zeit loszureißen.
Sabine heirathete im Spätherbste, und kurze Zeit darauf kehrte ich nach Hause zurück, in die Heimath, die mir nun kaum noch wie eine solche erschien. Jetzt hätte ich all’ die schönen Pläne von Reisen nach Nord und Süd wohl ausführen können; nichts hinderte mich daran, aber ich hatte die Lust dazu verloren. Ich lebte einsam in meinem leeren Hause und wurde bald, wozu man mich dem Namen nach schon lange gemacht hatte: der alte Hartlieb.
Als der Nachbar Dreßler gestorben war, kaufte ich sein Haus und seinen Garten – ich hätte es nicht ertragen können, fremde Leute darin zu sehen, aber ich betrete es nie. Das Haus habe ich verschlossen, so wie ich es fand; noch steht Sabinens einfacher alter Nähtisch an dem Fenster, an dem ich sie so oft im Vorübergehen begrüßte, und im Garten haben die Fliedersträuche wohl schon die Bank und den Weg überwuchert.
So ist es gekommen, daß ich ein einsamer alter Mann geworden bin. Ich habe keine Familie und bekleide kein Amt, und es mögen wohl Viele mein Leben für ein recht nutzloses halten, aber wenn ich so manches ‚Gott vergelte es Euch, Nachbar!‘ höre, so tröstet mich der Gedanke, daß mein Dasein doch wohl kein ganz verlorenes sein mag.
Und nun geht es wohl auch bald mit mir zu Ende. Nur noch kurze Zeit und ich darf die müden Augen schließen und ausruhen unter den alten Linden unseres Kirchhofes, und dort bin ich nicht mehr einsam.
In meinem Hause, das ich meinem Pathen vererbe, wird es dann wohl auch wieder lebendig werden, und junge Füße werden durch Haus und Garten eilen. Aber sie werden mir auch eindringen in das Stübchen, das ich so ängstlich verschlossen hielt, und werden die Spinnweben von Sabinens Fenster fegen und den Staub von ihrem Arbeitstischchen. Doch mir thut das nicht mehr weh.
Vielleicht hält unter dem alten Fliedergesträuche einmal der junge Franz sein Lieb im Arm, und dann schlägt wohl die Nachtigall so süß wie ehedem.“ – – – –
„Und Sabine Dreßler war der Mädchenname meiner Großmutter,“ sagte meine Frau, als ich ihr die Blätter wieder zurückgab, „sie hat von ihrem Geburtsorte nie gesprochen, aber ich weiß nun, weshalb sie in ihrer letzten Stunde, in der Stunde, in welcher Du mir von dem alten Franz Hartlieb erzähltest, unsere Hände ineinander legte.“
Jahre sind vergangen seit jenem Tage; mein kleiner Franz hat gestern seine ersten Höschen bekommen, die ihm sein Oheim Karl gemacht hat; für den Andern, noch Namenlosen, der in der Wiege liegt, habe ich sie schon vorläufig bei Bruder Gottlieb bestellt, und die runden Händchen der kleinen dicken Sabine haben heut’ die ersten Fliederblüthen auf des alten Hartlieb Grab niedergelegt.
Das ehemalige Dreßler’sche Haus habe ich niederreißen lassen und dadurch noch unsern Garten vergrößert, und an jener Stelle, wo Sabinens Arbeitstischchen am Fenster stand, nicken jetzt blaue und weiße Fliederzweige über den Zaun nach der Straße hinaus.
Vor dem Schlosse meiner Ahnen.
(Mit Abbildung.)
Das ist das Schloß im Buchenhain,
Das meiner Kindheit Wiege war.
O Weihnachtszeit, wie zogst du ein
So märchenschön, so wunderbar!
Wie war so lieb die Mutter mein –
Nun schläft sie längst im Grabe.
Das ist das Schloß im Buchenhain,
Wo süß geträumt der Knabe.
Das ist im Schloß der Ahnensaal,
Wo unter’m Christbaum weihevoll
„Gelobt sei Gott!“ im Festchoral
Wie himmlischer Gesang erscholl.
Nun jubeln Fremde dort beim Mahl –
Mein Ohr vernimmt’s mit Schmerzen.
Das ist im Schloß der Ahnensaal,
Wo mir gestrahlt die Kerzen.
Das ist im Hain der Laubengang,
So weihnachtshell im Lichterschein.
Einst war ich Herr im Schloß – wie klang
Mein Wort so stolz in Haus und Hain!
Ach! Glück und Glanz, wie lang’, wie lang’
Verloren und verdorben!
Ein Bettler steht im Laubengang,
Dem Lieb’ und Lust gestorben.
Ernst vom Strande.
Das zweite indische Epos, Ramajana, wird einem Brahmanen, Valmiki, zugeschrieben. Auch machen es Inhalt und Tendenz unzweifelhaft, daß berechnende Priesterarbeit ihm seine jetzige Gestalt gegeben hat.
König Daçaratha von Ajodhja hat von drei Frauen drei Söhne: Rama, Lakschmana und Bharata. Schon alt und schwach, will er den Erstgeborenen zum Könige weihen. Aber Keikeja, seine dritte Frau, hatte ihn einst nach schwerer Verwundung aus der Schlacht gerettet, geheilt und dafür von ihm das Versprechen empfangen, ihr eine Bitte zu erfüllen. Eine boshafte, weil buckelige Sclavin stiftet sie an, nunmehr den Thron zu fordern für ihren Sohn Bharata. Obgleich ihr der König flehend zu Füßen fällt, sie besteht auf ihrer Forderung und er muß sein Wort halten. Rama selbst ist voll edler Entsagung und zwingt ihn dazu. Aber Lakschmana, sein Bruder, ein Vertreter der alten kriegerischen Gesinnung und des Heldenstolzes des Mahabharata, lehnt sich dagegen auf, daß er das Heil des Reichs der Tücke einer Sclavin opfern wolle, und erklärt diese weichliche Ergebenheit für unwürdig eines hochgeborenen Kschatrija. Ihn zu widerlegen ist die Hauptaufgabe der Dichtung. Rama schlägt ihn denn auch mit siegreichen Gründen. Was wiegt das Wohl eines Reiches gegen die Heiligkeit eines Fürstenwortes, und sei es auch noch so thöricht! Entsagung und leidender Gehorsam seien die obersten Pflichten. Er und seine Gattin Sita schenken
[837] ihre Schätze den Priestern und Armen und verbannen sich in den wilden Wald Dandaka. Sein Vater stirbt aus Gram, nachdem er zuvor erkannt, es sei das die gerechte Strafe einer Jugendsünde; denn er hatte einst durch einen Fehlschuß statt des Wildes den Sohn eines frommen Büßers getödtet. Auch Bharata, der neue König, ist lauter Großmuth und will Rama auf den Thron zurückholen, damit die Sünde seiner Mutter ihm verziehen werde. Rama verzeiht, bleibt aber in der einmal gelobten fünfzehnjährigen Verbannung. Mit Indra’s Schwert und Bogen tödtet er vierzehntausend Riesen. Da entführt ihm Ravana von Lanka (Ceylon), der Riesenkönig, seine Gemahlin Sita. Rama jedoch verbündet sich mit den Affen. Hanuman, der Affenkönig, läßt ihm von ungeheuern Felsblöcken eine Brücke schlagen nach der Insel Lanka. Auf ihr begegnen einander in ihren Streitwagen Rama und der Riesenkönig. Die Erde erbebt von ihrem Zusammenstoße; sieben Tage dauert der Kampf. Endlich fällt der Riese; die befreite Sita beweist durch die Feuerprobe, daß sie treu geblieben, und kehrt mit dem Gatten, nachdem die fünfzehn Jahre verflossen, nach Ajodhja zurück, wo Rama unter hundert Pferdeopfern den Thron besteigt, um nun lange Jahre in Glück und Frieden zu herrschen.
Als geschichtlicher Vorgang liegt dieser monströsen Dichtung zu Grunde die Eroberung der Halbinsel Dekhan und der Insel Ceylon. Da „Sita“ die Furche der Pflugschar bedeutet, ist die Entführung und Wiederbefreiung der Gattin Rama’s wohl anzusehen als der allegorische Ausdruck dafür, daß jene Eroberung durch Einführung des Ackerbaues bewirkt und durch dessen Sicherung gegen die Elemente und die wilden Urbewohner vollendet wurde. Alles das tritt aber schattenhaft zurück gegen die grell hervorleuchtende Tendenz: den letzten Rest des ehrbegierigen Kriegerstolzes und der dem Leben selbst zugewendeten Thatenlust der Helden des Mahabharata zur Werthlosigkeit hinabzudrücken gegenüber der frommen Entsagung und dem duldenden Gehorsam gegen die Priesterlehre. Rama ist nicht mehr ein Kriegs-, sondern ein Glaubensheld und bußesüchtiger Märtyrer. Nicht Muth und Kraft, sondern Wunderwaffen und Zauberei verschaffen ihm Sieg über fabelhafte Unholde. Die Poesie ist bereits der krankhaften Sucht nach maßloser Ungeheuerlichkeit verfallen. Schließlich aber erweisen sich alle diese Kämpfe und Leiden in der Königsfamilie nur als die Buße für das unbeabsichtigte Vergehen gegen ein Pfaffensöhnlein. –
Die ehemaligen „Vorbeter“ (Brahmanas) hatten schon während der Kriege an Einfluß gewonnen; denn der Sieg galt für abhängig von der rechten Anrufung der Götter. Diesen Einfluß steigerte die Muße des Friedens. Nahrung lieferte das üppige Land in Fülle und was der Boden an Arbeit verlangte, geschah zumeist durch unterjochte Stämme, die man hinabgedrückt hatte zu verachteten Kasten. Die große Mehrheit des herrschenden Stammes durfte sich beschaulichem Nichtsthun hingeben und fand ihre Hauptunterhaltung im Anhören einer allerunterthänigsten und bigotten Poesie, welche immer schärfer ausdestillirt wurde für den beabsichtigten Giftrausch. Die Gaben der Erde waren im heißen Gangeslande, wie noch heutigen Tages, weit mehr vom Wetter, in der Auffassung des Volkes also von den Göttern, abhängig, als vom Fleiße des Menschen. So wurde die Gewogenheit der Götter zur wichtigsten Frage, Gebet und Opfer zur vornehmsten Thätigkeit. Hatte weiland jedem Familienhaupte das Recht des Opfers zugestanden, so galt es jetzt für einen Frevel von äußerster Verderblichkeit, die Götter anzurufen ohne die genaueste Kenntniß der inzwischen bis in’s Unermeßliche vermehrten Ceremonien und Formeln. Im erblichen Besitze derselben waren nur die Priesterfamilien, und ihre Behauptung, vermöge dieser Zaubersprüche die Macht der Götter ihrem Willen gehorsam machen zu können, fand allgemeinen Glauben. So mußten sich schließlich die Brahmanen selbst für Wesen von höherer Art halten.
Diesen ihren eigenen Dünkel verwandelten sie in eine neue allmächtige Gottheit. Wie ist es möglich, fragten sie, daß unsere Gebete die Götter zwingen? Der erlogene, aber für die Praxis im verkümmerten Gehirne des Volkes zur Wahrheit gewordene Vordersatz erlaubte nur einen Schluß, und diesen zogen sie mit unerschrockener Frechheit: es giebt einen Gott, der stärker ist als die andern alle zusammen und sie zwingen kann, unsern Sprüchen zu gehorchen. Sie nannten ihn Brahmanaspati, das ist den Herrn des Gebetes, und so wurden sie die einzigen Priester welche nicht sich nach ihrem Gotte, sondern ihren Gott nach sich benannt haben.
Bisher waren die Natur und ihre Geschöpfe nichts gewesen als das Theater und die Marionetten der Götter. Nun erschien sie wie mit einem Schlage verwandelt. Die Berge mit ihren Firnkronen und Schneemänteln, die wasserreichen Ströme mit ihren gewaltigen Ueberfluthungen, die unermeßlich üppige und farbensatte Vegetation des Tropenlandes, Orkane und Gewitter von beispielloser Furchtbarkeit, eine wundersame vielgestaltige und bunte Thierwelt, hier die kolossalen Elephanten, Nashörner, Krokodile und ringelnden Riesenschlangen, dort in unzähligen Arten und unendlichen Schwärmen die Vögel im Federschmucke von juwelischer Pracht; alles dies erschien jetzt als der sichtbare Leib, als die millionenfach wechselnde Gestaltung eines Grundwesens, der unsichtbaren Weltseele. Brahma – so wurde der Name verkürzt – stand nicht über und außer der Natur, sondern athmete in ihr als ihr eigentliches Leben. Werk und Werkmeister zugleich. Sämmtliche Wesen bilden eine Stufenleiter von ihm hinunter bis zum Steine, und von diesem hinauf bis zur unterschiedslosen Einheit mit dem Allgeiste.
Je nach seinen frühern Thaten, mit Gefühl für Qual und Lust
Bleibt im vielgestalt’gen Dunkel alles sich des Ziels bewußt.
Aus der Gottheit durch den Menschen, Thier und Pflanze bis zum Stein
Sinkt es nieder zum Verderben hier im schreckenvollen Sein,
Um, in tausend von Geburten ringend nach der Wiederkehr,
Endlich wieder zu verrinnen in dem einen Gottesmeer.
So erhaben diese Vorstellung anmuthet, die Folgen ihrer Anwendung auf das Leben waren furchtbar. Nun galt der Zustand, den das Volk angenommen in einem Moment der ewig umschmelzenden Geschichte, für einen Zustand Gottes und sollte als geheiligte Verfassung erstarren für die Ewigkeit. Die Stände und ihr Beruf wurden unantastbare Schranken der Weltordnung; das Menschengeschlecht bestand aus zunächst viererlei Arten von Geschöpfen, mindestens eben so sehr von einander verschieden wie etwa Pferd und Esel. Die Geschichte sollte still stehen, und bald that sie es wirklich – für die Indier.
Vollendet haben die Brahmanen die Unterjochung des Volkes durch ihre Lehre von den Schicksalen der Seele nach dem Tode. Sie lehrten Unsterblichkeit als Strafe, Aufhören gesonderter Fortdauer als Belohnung. Die Unheiligen können selbst der Umkehr zur Richtung nach Brahma hin erst würdig werden durch vieltausendjährige Pein in einer heißen Hölle. Da werden ihnen die Köpfe täglich mit Hämmern eingeschlagen; auf glühendem Eisen schreitend müssen sie lebendige Kohlen verschlucken und geschmolzenes Kupfer trinken. Nach Verbüßung dieser Strafen begann die neue Wanderung der Seele, die ganze Stufenleiter des Thierreichs empor, und ein umfangreiches Gesetz bestimmt genau nach den vormaligen Sünden die Zahl und Art der Wiedergeburten als Wurm, als Schlange, Krokodil, Ratte etc., bis sie wieder anlangt beim Dasein als Mensch der niedrigsten Kaste, von wo sie es, unter tausendfach größerer Wahrscheinlichkeit des Rückfalls, zuletzt wieder bis zum Brahmanen bringen kann, um endlich nach richtigen Bußübungen als unterschiedsloser Tropfen in Brahma selbst zu zerfließen. Die Gottheit ist ein thatenloses Wesen, nur erfüllt vom einsamen Wohlgefühle ihrer unvermischten Reinheit. Aber sie träumt einen bösen Traum, und was sie träumt, wird wirklich als die sichtbare Schöpfung. Alles Dasein ist Verbannung und Verfinsterung, zu der sie sich in freiwilliger Selbstqual verurtheilt. Das höchste Ziel des Strebens ist, so schnell wie möglich wieder abgedampft zu werden zu jenem unvermischten Spiritus. Dem sittlichen Fortschritte des Menschen ist der Nerv abgeschnitten. Sein Gott hat nichts mehr von einem Ideale menschlicher Vollkommenheit, dessen Freiheit der Mensch durch seine Kraft, dessen Schönheit er durch seine Kunst, dessen Allwissenheit er durch seine Wissenschaft, dessen Allmacht er durch arbeitende Bewältigung der Natur, dessen Allgüte und Gerechtigkeit er durch Erziehung und Rechtsordnung in stetiger Annäherung nachzuahmen hätte. Sie ist nur noch ein erhabenes, aber inhaltloses Nichts jenseits alles Stoffes, zu dem der Mensch nur gelangen kann durch gedankenloses Starren in’s Leere. Das Ziel, das sie ihm vorschreibt, ist die leibliche und geistige Selbstvernichtung.
[838] Im sechsten Jahrhunderte v. Chr. Geburt war das Dasein des Volkes wirklich geworden, was es nach der Brahmanenlehre sein sollte: die Reise durch ein Jammerthal voll scheußlichster Tyrannei ebenso entnervter wie verruchter Despoten und voll grauenhafter Selbstqual des religiösen Wahnsinns, zu dem es die Priesterkaste planmäßig vergiftet hatte, um über dem allgemeinen Elende in göttlichen Ehren zu thronen.
Ja, auch die Poesie ist eine weltgeschichtliche Macht, und die Lieder Homer’s haben das Völkergeschick mindestens ebenso wirksam bestimmt wie die Eroberungszüge des großen Alexander. Aber sie ist eine Macht nicht nur des Heiles, sondern auch des Verderbens. Sie vermag Nationen zu schaffen und aus der Zersplitterung herzustellen; wie denn auch Uns die Möglichkeit, durch Blut und Eisen wieder eine Nation zu werden, erst hergestellt worden war durch die Poesie unserer Lessing, Goethe und Schiller. Aber sie kann die Nationen auch vergiften zu unheilbarem Siechthum, wenn sie sich hergiebt zur schminkenden Helferin der Despotie und des geistesknechtenden Priesterdünkels; wie wir auch davon eben jetzt ein Beispiel erleben in dem hoffnungslosen Todeskampfe eines der höchstbegabten Völker, das auch seine Philippe zusammt der Inquisition so gänzlich zu verderben nimmer im Stande gewesen wären, wenn nicht seine Lope de Vega und Calderon geholfen hätten, es in den Abgrund des Elends hinunter zu dichten.
In den brasilianischen Urwäldern wächst eine Liane, welche als zarte Ranke das junge Bäumchen umschlingt. Emporgehoben von seinem Wachsthum wächst sie mit ihm in die Höhe. Dann läßt sie prachtvolle Guirlanden von seiner Krone bis auf den Boden herunterhängen und schmückt ihn über und über mit einer Blüthenfülle von prächtigem Farbenschmelz und berauschendem Duft. Zuletzt aber raubt sie dem Baume, den sie ziert, so Luft wie Licht. Ihre zarten Ranken verwandeln sich in ein Gewirr von armdicken Tauen, das erdrückend und erstickend auf ihm lastet und, eigene Wurzeln in die Erde krallend, auch den stärksten Riesenbaum endlich als Leiche zu Boden reißt. Man nennt sie daher den Matador, das ist den Mörder.
Diese Liane ist ein treffendes Bild der indischen Poesie, welche ihr Volk zum geschichtlichen Tode geführt hat, weil sie treulos wurde ihrem obersten Amte, das heilige Erbe der Heldensage lebensfähig zu bewahren, weil sie sich selbst dazu hergab, es zu fälschen im Sinne der Despoten und Priester, weil sie die epische Kunst, große Menschen handelnd zu veranschaulichen, verweichelte zur Gefühlsschwelgerei einer weltfeindlichen Bußeromantik und so das Epos freventlich verunstaltete, vernichtete.
Wir kehren zurück zu dem Morgen, welcher an jenen blutigen Sonntag sich anschloß. Ich ging also nicht in meine Klosterschule nach Grimma, sondern hinaus auf den Beiersdofer Mühlhof.
Welch eine Menschenmenge war hier versammelt! Sogar auf den Dächern der Mühlgebäude und auf den umstehenden hohen Bäumen saßen Leute. Von einigen Reitern begleitet kam der Wagen mit den drei Gefangenen an. Der Müller und die Kleinemagd verhielten sich ruhig, nur die Müllerin sprach noch hitzig vom Teufel, von Aposteln, von Jesus, Abraham, Isaak, und der bekannten Opferfabel.
Als die Drei in ihren Ketten an die Gerichtstafel gestellt waren, die man im Hofe errichtet hatte, sprach der Untersuchungsrichter einige Worte mit dem Amtswachmeister. Dieser trat an den Wagenkorb, welcher am Abende vorher über den Leichnam gestülpt worden war. Stille herrschte an der Gerichtstafel, Stille ringsum. Die drei Gefangenen mußten die Augen auf den Korb richten. Der Wachmeister und der dabeistehende Wächter hoben den Korb empor und legten ihn zur Seite. Ein Schrei des Entsetzens ging jetzt durch die Menge – die drei Gefangenen blickten ruhig, ohne jegliches Zeichen einer innern Bewegung hin.
Kaum war der Korb abgehoben, da stürzte sich jammernd die Frau des Todten nieder auf den Leichnam; die Kinder, größtentheils Knaben, schrieen weinend: „O, der Vater, der Vater, der gute Vater!“ Und als nun die Kinder den todten Vater jammernd herzten, da ging ein Wehklagen durch die Menge und tausend Augen wurden naß. Die drei Gefangenen aber blickten ruhig und getrost auf Alles.
Das Verhör war kurz. Die Gefangenen legten volles Geständniß ab und rühmten sich ihrer That. Die Müllerin besonders gab zu den Acten: „Gott wollte es so haben. Ich wußte, was ich that, und da ich allein zu schwach war, mußten mein Mann und die Magd mir helfen.“
Bald wurden die Uebelthäter wieder zurückgefahren in ihre Gefängnisse – wohl Tausende begleiteten sie auch heute. Ich blieb längere Zeit noch in der stattlichen Mühle, welche überall von Wohlstand zeugte. In der Wohnstube setzte ich mich müde und ergriffen auf das Sopha, bis ich wieder hinaus mußte, denn man brachte den Leichnam zur gerichtlichen Section herein. Die weinende Wittwe kam hinterdrein mit den Kindern. Die Letzteren hatten einige Blumen aus dem Mühlgarten geholt und sie auf ihren Vater gestreut, auch eine Rose trug er in einem der Knopflöcher seines Leinwandkittels. Durch die Fenster aber fiel der Glanz der Himmelsrose – die Julisonne beschien die Mutter, die Kinder, den todten Vater.
Ich ging nach Leisnig zurück, hier und da auf einige Reiter stoßend, welche, um dem Häckerlingsschneider nachzuspüren, in die umliegenden Dörfer ritten, von denen man wußte, daß sie für denselben Partei nahmen.
Ein entschiedener Parteigänger, bei Meißen wohnend, hatte ihn auch wirklich versteckt; der Prophet war in dem Gute seines Beschützers in den Backofen gekrochen. Noch an demselben Tage aber kroch er wieder hervor und stellte sich freiwillig in dem Justizamte zu Meißen, von wo er später in das Leisniger Amt abgeliefert wurde. Hier offenbarte sich dann, daß er an dem blutigen Morde nicht die eigentliche, nicht die schwerste Schuld trug. Wohl hatte er einige Male seine „Vermahnungen“ in der Mühle gehalten und sonst noch die Müllersleute in ihrer finsteren pietistischen Richtung befestigt, ihnen vorgelesen, mystische Tractätchen gegeben, mit ihnen gefrömmelt und geschwärmt. Noch zehn Tage vor dem blutigen Ereignisse hielt er mit den Müllersleuten eine der „Betstunden“ ab, die sich von den „Vermahnungen“ dadurch unterschieden, daß sie nicht öffentlich, sondern in der Familie stattfanden und dabei nur gesungen und knieend gebetet wurde. Dennoch war es ein Anderer, der diese Leute auf die eigentliche Höhe der Geistesnacht trieb, auf welcher sie den Mord verübten.
Bald nach der eröffneten Criminaluntersuchung wurde dieser Andere verhaftet und in das Arresthaus zu Leisnig eingesetzt.
Der Hufschmied Goldammer, einundvierzig Jahre alt, in dem Dorfe Alt-Leisnig wohnend, war dieser andere Mann.
Wir bemerken, ehe wir weitergehen, daß wir, wie bisher, auch jetzt nur den Kern, nur die Hauptsachen aus den ungemein dickleibigen Acten geben. Wollten wir auf die Nebensachen eingehen, dann müßte der gegenwärtige Artikel, selbst wenn man sich dabei nur an den vor dreißig Jahren gedruckten Auszug aus den Acten halten würde, doch zu einem starken Buche werden. Unser Artikel ist eine getreue Skizze aus der Acten.
Goldammer hatte den Häckerlingsschneider oft gehört, in nähere Bekanntschaft aber kamen Beide erst gegen Fastnacht 1818, wo Kloß nun auch eine „Vermahnung“ in Goldammer’s Wohnung hielt. Letzterer hatte das gewünscht, denn er wollte den Schein gewinnen, als sei er nun auch ein warmer Kloßianer. Unter dieser Verschmitztheit gedachte er die wohlhabenden Müllersleute auszubeuten, deren pietistischer Hang ihm bekannt war. Geld aber brauchte er, denn Ambos und Hammer reichten nicht aus, ihn bei seinem wüsten Leben zu ernähren. Ueberdies hatte er eine Frau und sieben Kinder – also Geld wollte er schaffen um [839] jeden Preis. Mit Kloß wurde innige Freundschaft geschlossen, ebenso mit den Fischer’schen Eheleuten, bei denen er leicht Eingang fand, da sie in naher Verwandtschaft zu einander standen.
In kurzer Zeit war er im Müllerhause der beste „Herzensfreund“ geworden; er sang und betete mit diesen Leuten und tauchte sie immer tiefer und tiefer in den mystischen Sumpf, wobei ihm nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine vierzehnjährige Tochter Rosine Marie Beihülfe leistete. Die Tochter besonders mußte an dem finsteren Werke mitarbeiten. Als scheinbare Hellsehende erklärte sie die Fischer’schen Eheleute für „Auserwählte“, die den Teufel aus der Welt schaffen sollten. Dabei wahrsagte die Tochter, wie es der Vater ihr vorher eingab. Mit prophetischem Tone verkündete sie das nahende Weltgericht, redete mit Gott und dem Heilande, gab den Müllersleuten Verhaltungsregeln, – und die Getäuschten warfen sich gläubig vertrauend und mit innigster Liebe in die Arme der Hellsehenden. Letztere verschrieb auch in ihrem Wunderschlafe allerhand Wurzeln und Kräuter, welche der Schmied zur Heilung kranker Menschen und Thiere verkaufte, – kurz er trieb Monate lang seinen Betrug in und außer dem Müllerhause mit großem Vortheile. Kloß, ebenfalls getäuscht, hat an dem Betruge nicht mitgeholfen, er glaubte aber an die Tollheiten, die das Wundermädchen aussagte.
Wir übergehen hier viele einzelne Sprossen, aus welchen der Schmied die finstere Leiter erbaute, auf der er die „Auserwählten und Begnadeten“ immer höher steigen ließ, bis dieselben, was er sicher nicht wollte, sich in ihrem Wahne auch auf die letzte Sprosse stellten und von da herabstürzten in die Menschenblutlache.
Das konnte aber der Schmied nicht gewollt haben. Damit hätten ja all die Vortheile und Genüsse für ihn aufgehört, die er von den Müllersleuten zog. Lieh doch Fischer noch am 16. Juli, drei Tage vor der Blutthat, willig und gern seinem „Herzensfreunde“ vierzig Thaler mit der Bemerkung, daß er ihm das Geld nicht wiederzugeben brauche. – Zum Morde sollte es also nicht kommen. Zwar hatte er den in geistige Nacht Gestoßenen auch Wurzeln und Thee gebracht, wovon sie trinken mußten, aber in der Untersuchung wurde nachgewiesen, daß dieselben nicht besonders schädlich waren. – Vielleicht auch wäre der Mord unterblieben, wenn die vom Teufelswahne Erfüllten die Rosse hätten abschlachten können, welche der Mühlknappe rettete.
Da aber kam der arme Häusler Flohr. Er wollte einen Sack Mehl aus der Mühle abholen, – er that das für den Schulmeister, da er für seine Kinder nur ein knappes Schulgeld zahlen konnte. Als er in die Wohnstube trat, fragte Fischer: „Das ist ja wohl Flohr?“
„Nein, der ist’s nicht,“ rief die Müllerin, „es ist Verstellung; es ist der Teufel.“
Mit diesem Zuruf warf sie einen Plättstahl nach ihm, was sie unter demselben Schrei heute schon gegen drei Andere gethan, ohne gerade hart zu treffen.
Flohr aber war hart getroffen; er taumelte zu Boden, und schnell versetzte die Müllerin ihm einige Stiche mit dem Degen. Dennoch raffte Flohr sich auf und sprang in den Hof. Unter dem Geschrei: „Der Teufel! Der Teufel!“ eilten die drei Rasenden ihm nach, erreichten ihn auf der Mitte des Hofes, wo der Verfolgte stürzte und nun die gräßliche Blutarbeit an ihm vollendet wurde.
Wir haben diese Arbeit angeschaut, haben den armen Mann gesehen, auch sein Weib und die Kinder, theils am Sarge auf dem Friedhofe, theils an der Blutstätte auf dem Mühlhofe, wo sie den Leib des Todten mit Blumen bedeckten und eine Julirose ihm in’s Knopfloch seines Kittels steckten – genug denn haben wir gesehen von der schauerlichen Tragödie. Auch erkannten wir genug. Nicht physisch, sondern weit mehr psychisch erklärten wir uns den Zustand jener drei Unglücklichen. Durch den von Kloß, hauptsächlich aber von Goldammer ihnen beigebrachten Wahn, daß man die im Alten Testamente vorgeschriebenen Opfer ehren, den Teufel bannen, sich und Andere mit Gott aussöhnen müsse durch Blut, kamen sie zur schrecklichen That. Und nun das Gebet dazu! Fischer sagte vor Gericht aus, daß er mit seiner Frau täglich dreimal knieend gebetet habe. Ganz recht, man werfe die eingekapselten Funken nur geschickt in pietistische Gemüther – und wie leicht werden die Flammen des Fanatismus aufsprühen!
Die Untersuchung dauerte weit über ein Jahr hinaus. Die Urthel, welche damals in Sachsen noch von der Leipziger Juristenfacultät oder dem Schöppenstuhle gefällt wurden, geben uns einen Gradmesser der verschiedenen Schuldhöhe.
Der Hufschmied Goldammer wurde mit mehrjähriger Zuchthausstrafe ersten Grades belegt. Damals befand sich in Sachsen das strengste Zuchthaus noch in Zwickau. Goldammer, so kräftig und stark er von Natur war, hielt die harte Zuchtstrafe nur kurze Zeit aus; er erlag ihr bald. – Seine Kinder sind brave Leute geworden.
Die Müllersleute Fischer kamen nicht als Verbrecher, sondern als Wahnsinnige nach Waldheim, wo zu jener Zeit theils Armen- und Krankenanstalt, theils Irrenhaus und milderes Zuchthaus bestand. Sie wurden auf unbestimmte Zeit daselbst untergebracht. Späterhin, als das Irrenhaus nach Colditz verlegt wurde, mußten sie auch mit dorthin. Erst nach dreizehn Jahren konnten sie entlassen werden. Trotz der großen Proceßkosten war ihnen das Mühlengrundstück erhalten geblieben. Sie kehrten dorthin zurück und lebten noch lange in der Mitte ihrer Kinder, die sie zu wackern Menschen erzogen. Jetzt ruhen sie auf demselben Friedhofe, wo das Kirchlein steht und wo auch der in finstrer Geistesnacht von ihnen getödtete Flohr ruht.
Die Kleinemagd Christine Birke, mehr als Verführte und zur Unthat mit Gezwungene verurtheilt, bekam nur ein halbes Jahr Gefängnißstrafe. Sie lebt heute noch und ist glückliche Mutter und Großmutter.
Auch die Tochter des Hufschmiedes Goldammer, welche, genöthigt durch ihren Vater, die Somnambule spielte, erhielt nur mäßige Strafe, die Mutter derselben aber ein halbes Jahr Zuchthaus. Beide sind gestorben. Endlich der Häckerlingsschneider Kloß. Er mußte nur auf ein einziges Jahr in’s Spinnhaus wandern – damals die mildeste Strafanstalt in Sachsen. Als er entlassen war, heirathete er noch und wohnte nun bei seiner Schwester, auf einem Dorfe in der Nähe von Roßwein. Zwar war ihm das Abhalten von Vorträgen streng untersagt, aber zuweilen versammelten sich die ihm treu gebliebenen pietistischen Querköpfe doch hier und da in einem Gehöfte, wo er seinem alten Berufe gemäß den Tag über Häckerling aus Stroh schnitt, am Abend aber sinnverwirrenden Katechismushäckerling aus seinem Kopfe darbot und sich freute, wenn für ihn der Zinnteller herumging. Er starb ziemlich arm und liegt auf dem Friedhofe zu Roßwein begraben. – –
Und wie wurde es mit mir? Wie ging es mir in Grimma? Der Rector zürnte sehr, aber ich mußte erzählen, und da die alte Frau Rectorin mit zuhörte und heimlich dann mit ihrem Manne sprach, so ging Alles gut – Strafe sollte nicht erfolgen.
Mit den übrigen Professoren, bei denen ich mich als Eingetroffener melden mußte, ging’s nun viel leichter, denn ich konnte sagen: „Der Herr Rector hat erkannt, daß ich nicht kommen konnte.“
Einer der Professoren, der Lehrer der Mathematik – es war der stramme, feueräugige Professor Töpfer mit gepudertem Haupte und dickem Zöpflein, an den gar Viele sich gern erinnern werden, die zu jenen Zeiten als Fürstenschüler dem Manne nahe standen – fragte mich, nachdem ich erzählt hatte:
„Was sagt Er zu dieser Geschichte? Hat Er darüber nachgedacht? Was trieb die Leute zu dieser schändlichen That?“
„Religiöser Wahnsinn,“ antwortete ich.
Er schritt in seiner derben Weise auf mich zu, schlug mich auf die Schulter und sagte: „Da hat Er Recht. – Und nun marsch in die Zelle!“
„Religiöser Wahnsinn“, er war es, unter dessen grausiger Gewalt die Müllersleute Fischer und ihre Magd die schaurige That vollbrachten. Wir sahen, daß dieser Wahnsinn sie nicht urplötzlich ergriffen hatte, sondern daß die pietistische Richtung, die ihnen schon eigen war, durch den Häckerlingsschneider gesteigert und dann durch die unsinnigen, mystischen Belehrungen von Seiten Goldammer’s zur höchsten Höhe getrieben wurde.
Von Stufe zu Stufe baut sich die geistige Nacht fast [840] immer auf. Anfangs das starre, dunkelgläubige Lesen in Katechismus und Bibel, dann das Hören davon und die Belehrung in Schule und Kirche: das macht, wenn die Vernunft nicht dagegen arbeitet, den Pietisten fertig. Aus dem Pietisten – das lehrt tausendfach die Erfahrung – entpuppt sich leicht der Mucker; die Muckerei erzeugt den Fanatismus, und nun ist’s ein kleiner Schritt nur zum völligen religiösen Wahnsinn. Also die Grundlage, die dunkle Schule und die dunkle Kirche, hinweg – und selten nur wird ein Pietist aufwachsen. Mit dem Pietismus fallen die weiteren Nächte.
In solch eine Nacht schauten wir durch die obigen Mittheilungen. Wäre die, welche im Jahre 1818 das Muldenthal umschattete, die letzte gewesen! So ist’s nicht. Im Jahre 1819 zog sie schaurig durch den Canton Zürich in der Schweiz. Der Anfang war Pietismus, das Ende religiöser Wahnsinn mit blutigem Verbrechen. Auch dort lag die Nacht auf einer wohlhabenden Bauernfamilie; zur „Ueberwindung des Teufels“ kreuzigte Margarethe Peter ihre Schwester und ließ sich dann selbst an’s Kreuz schlagen. Bei dem Anschauen dieser zwei Leichen riefen andere Tolle aus: „O, könnten wir auch sterben, wie diese Heiligen!“ – Im Jahre 1855 vollzog sich eine gleiche Blutarbeit in Chemnitz in Sachsen. Da war es der Schuhmacher Vogt, der den Verein „Die heiligen Männer“ stiftete. Zwei Mütter, die zu dem Verein gehörten, wurden beredet, ihre kranken Kinder abzuschlachten, weil sie „vom Teufel besessen wären“. – Hunderte von Beispielen ließen sich aufführen. Man lese darüber den geistreichen Culturhistoriker Johannes Scherr!
In allen Ländern gab und giebt es blutige Thaten des „religiösen Wahnsinns“, auch, wie die „Gartenlaube“ erst neulich mittheilte, gräßliche Stücke in Amerika. – Und immer, in alter und neuer Zeit, stiegen die pietistischen Nächte, die frommen Seuchen, der ganze religiöse Wahnsinn aus der altkirchlichen Pandorabüchse. Tausende von Beweisen giebt es dafür.
Aber verzagen wir nicht! Lüge und Wahn werden auch auf diesem Felde weichen. Tüchtige Männer heben ja jetzt fleißig das Erz der Wahrheit aus den Schächten der Naturwissenschaft; tüchtige Männer sitzen an den Schmelzöfen; tüchtige Männer prägen die gewonnenen Goldbarren zu Münzen, und rolliren diese Münzen nur erst frei in den Volksschulen, dann – zehn Jahre kaum, und das ganze Volk wird mehr und mehr die Wahrheit erkennen.
Nichts auf der Welt hat beharrlichere Feinde und unverdrossenere Verfolger, als das Geheimniß. Alle Reize der verbotenen Frucht gesellen sich zu dem verlockenden inneren Drange, absichtliches Dunkel mit der Leuchte zu beschleichen, Verborgenes zu enthüllen, Unbekanntes auf den Markt zu ziehen. Noch gesteigert wird aber diese Spürlust nach dem Geheimniß in dem Grade, als es in höheren Regionen spielt, je dichter sein Schleier ist und je sorglicher er zusammengehalten wird. Ein solches Geheimniß ist nur in den seltensten und eben darum denkwürdigen Fällen für immer zu retten; in der Regel ist seine Enthüllung nur eine Frage der Zeit, und sehr häufig hebt ein Zufall den dichtesten Schleier vor Augen, die nach nichts weniger, als derlei Geheimnissen, ausgelugt haben.
Letzterer Fall ist der unsere wenigstens für die ersten Blicke auf den uns vorliegenden Gegenstand.
Die Schneewölfe leuchteten trotz der nahenden Lenzsonne noch an den Hügeln meiner mitteldeutschen Heimath, als der Besuch eines von einer Geschäftsreise heimkehrenden Freundes mich aus meiner Winterruhe aufstörte. Er hatte die Alpen in ihrer Eispracht gesehen und erging sich über die Herrlichkeit der Gebirgsnatur unter dem starren Schmucke des Winters und über die Urgemüthlichkeit des Lebens in den zur Sommerszeit von den „Saison“-Gästen überschwemmten Gebirgsorten in so verlockenden Schilderungen, daß ich hastig fragte: „Wäre wohl noch jetzt Etwas von der Pracht zu erhaschen?“
„Ei, satt und genug,“ antwortete der Freund, „nur dürfen Sie sich unterwegs nicht von etwaigen Sehenswürdigkeiten aufhalten lassen.“
Sofort wurde zur Fahrt gerüstet, ein lieber Verwandter, F. M. in München, telegraphisch und Freund S., der Künstler und Alpenkenner, mündlich zur Mitfahrt aufgefordert, und fort ging’s schon am nächsten Morgen. In Augsburg trafen wir mit F. M. zusammen und hier setzte die nun volle Reisegesellschaft fest, über Kempten, Füßen, Hohenschwangau und Reutte bis Partenkirchen vorzudringen.
Das Glück war mit uns auf die Reise gegangen. Wir kamen zur Abendzeit wohlgeborgen im „Mohr“ zu Füßen an und hatten schon einige Stunden bei Licht gesessen, als S., von einem kurzen Ausgang zurückkommend, uns von der wundervollen Gebirgslandschaft im Mondenscheine so viel vorschwärmte, daß wir seiner Verführung zu einer so späten Lustwandlung im Freien nicht widerstehen konnten. Mit Sturmschritt ging’s in die Mondnacht hinein. Es schlug zehn Uhr im Städtchen, als S. uns auf der Lechbrücke zum Stillstand brachte. – Ja, das war ein Bild, ein Winterpracht- und Mondnacht-Panorama, das allein die ganze Reise lohnte. Aber wer will da mit Schildern und Beschreiben anfangen! Selbst wer das Sommerbild dieses Gebirgswinkels vor Augen hatte, kann es mit der Phantasie allein nicht zu diesem Winterprachtstück umwandeln. Dort entzückt jährlich Tausende von Augen das Grün im Sonnenglanz – und hier ist’s das Weiß im Mondenstrahl, aber welche Mannigfaltigkeit von glitzernden Lichtern bis zum tiefsten Schattenschwarz ist über Thal und Wälder ausgegossen bis zu den aufstarrenden Zackenkronen der Felskolosse am bald scharf abgegrenzten, bald durch Wolkengebilde verschwimmenden Nachthimmel! Unsere Herzen schwärmten so lange durch die Augen in der überraschenden Herrlichkeit, bis die Füße beim Kopf anfragten, ob sie noch nicht kalt genug seien, um wieder von der Stelle zu kommen.
Voller Lust schritten wir drauf los, waren bald vom reif- und schneebedeckten, wie verzuckert glänzenden Parkwald Hohenschwangaus umfangen und wandelten hier bald zwischen dichtem Gehölz, bald an Walddurchschnitten und von den silberglänzenden Bäumen eingerahmten Durchblicken und Fernsichten dahin. Schon waren wir dem Schlosse so nahe, daß wir es bei einer Wegbiegung bis zum Erkennen der einzelnen Bautheile deutlich vor uns sahen, da wurden alle Augen und Ohren plötzlich nach einer Richtung hingelenkt. Sprühendes Fackellicht und Rossestampfen kam eilends uns entgegen.
„Das ist der König,“ rief S. „Geschwind hinter die Bäume!“
Meine Frage: „Na, warum denn?“ kam zu spät, Jeder hatte schon seinen bergenden Stamm und auch ich suchte gedeckte Stellung. Abermals hatte das Glück uns geführt. Wir standen im Winkel einer Biegung, die uns auf längere Strecke nach beiden Seiten hin den Weg zu überschauen gestattete.
Noch eine Zeitlang leuchten die Fackelflammen blitzartig zwischen den Stämmen und dem dichten Unterholze der Waldung her. Jetzt bricht es hervor; die Fackelträger sind Vorreiter; die grelle Beleuchtung spielt auf bortenreicher Livrée. Hutform und Kleiderschnitt gehören vergangener Zeit, gehören den Tagen Ludwig’s des Vierzehnten an. Hinter ihnen biegt ein Viergespann von weißen Rossen in goldstrotzendem Geschirre auf die Bahn herein, auf den Sattelpferden Reiter in derselben schimmernden Tracht. Hinter ihnen ist, sie Alle hoch überragend, eine goldene Krone, wie in der Luft schwebend, sichtbar. Je näher, je prachtvoller wird das Bild. Amoretten sind es, die an und zwischen den zu einem hohen Bogen emporsteigenden Schlittenkufen die Abzeichen des Königthums tragen; wir erkennen deutlich Scepter, Reichsapfel und Schwert; bald wird auch die Muschelform des Schlittenkastens sichtbar; er ist auf Tritonen gestützt; eine Nereide hält die Schlittendecke, alles goldstrahlend – und im Schlitten – von zwei Laternen hell beleuchtet, in Pelze gehüllt, ganz allein, sitzt der König. Gar zu rasch rennen die Rosse; fest halten möchte man die feenhafte Erscheinung, denn nicht der geringste Schmuck derselben ist das Antlitz des in sich gekehrten Mannes, der nur der schweigenden Nacht einen solchen Anblick [841] vergönnt. Unsere Augen hängen an dem Zuge, so weit sie ihm folgen können. Baum um Baum erglüht im Widerscheine des dahineilenden Fackellichts, als wäre das der Waldgruß für den einsamen Gebieter, und endlich ist’s wieder nur die Krone, die noch erleuchtet schwebt, bis Roß und Mann dem Gesicht entschwinden und das verhallende Geräusch der nächtlichen Stille ihr Alleinrecht zurückgiebt.
Man wird es uns nicht verdenken, daß das seltene Erlebniß uns mächtig aufregte. Wir hatten das Kunstwerk von Schlittenbau und plastischer Zierde gesehen, dessen Lobpreisung längst durch alle Blätter gegangen war, ohne daß sich damit eine nähere Beschreibung desselben verbunden hätte; ja wir hatten den vielbesprochenen jungen Monarchen in einer seiner bevorzugtesten Eigenthümlichkeiten, im geheimnißvollen und einsamen Genusse der Natur und königlicher Pracht zugleich gesehen. In aller Weise hochbefriedigt, eilten wir nun unserer Nachtherberge zu.
S. entwarf noch vor dem Schlafengehen die Skizze dieser königlichen Nachtfahrt; mir gelang es während unserer Gebirgswinterreise, ihm eine genaue Abbildung des Prachtschlittens dazu zu verschaffen – wie und von wem, muß mein Geheimniß bleiben. Nach dieser Zeichnung ist der Schlitten in künstlerischer Beziehung von hohem Werthe. Die beiden Tritonen, welche mit dem langen, gewundenen und mit Schwanzflossen endenden Fischleibe, auf die Kufen gestützt, die Muschel auf den Schultern tragen, sind ebenso Vertrauen erweckend kräftige Gestalten, als die die Decke mit emporgehobenen Armen haltende Nereide sich durch reizend schöne Körperformen auszeichnet. Die bedeutungsreichste Zierde bilden aber offenbar die Emblementräger an den zu ansehnlicher Höhe emporragenden Kufenbogen. Es sind deren neun. Drei stützen in der Stangenhöhe der Kufen ein Blatt, aus welchem zwei Amoretten stehen, von denen der eine das Schwert, der andere etwas nicht genau Erkennbares trägt; über diesen schwebt ein sechster, gleichsam dem im Schlitten Sitzenden den Siegerkranz darreichend; noch höher erhebt sich der Scepter- und über diesem der Reichsapfelträger, und zuoberst kniet auf dem in Form eines Krummstabes geschwungenen Bogenende die beflügelte Kindesgestalt, welche eine Krone auf der linken Schulter emporhebt. Eine vollständigere Verherrlichung des Königthums in mythologischem Rococostil ist schwerlich noch einmal in der Welt zu finden.
Ich darf nicht verschweigen, daß, so wenig wir auf unserer Reise durch Baiern bis Füßen an die Person des Landesregenten gedacht hatten, so sehr seit der Schlittennachtfahrt er unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Unwillkürlich brachten wir mit ihm Alles in Beziehung, was wir in und um Hohenschwangau sahen, und benutzten von da an jede Gelegenheit zu Nachforschungen nach den so verschieden beurtheilten Eigenthümlichkeiten des ungewöhnlichen Mannes. Um so überraschender war es für uns, daß wir in dem bis dahin sehr schweigsamen F. M. den genauesten Kenner und gewissenhaftesten Forscher auf diesem subtilen Gebiete besaßen, als er endlich in Reutte in die Stimmung kam, das Schloß vom Munde zu nehmen.
In Reutte nämlich, wo, wie Schaubach sagt, „der Bildersaal des Lechthals“ sich aufthut und wo unsere Gebirgswinterlandschaftssehnsucht von Neuem lohnendste Befriedigung fand, folgten wir der Führung M.’s. Nachdem er in dem Gasthause, welches er uns angewiesen, mit der Wirthin gesprochen, mußten wir ihm in ein Zimmer folgen, in welchem wir nichts als die einfachste Einrichtung vorfanden. „Sehen Sie sich dieses Stübchen recht genau an!“ sagte er; „in diesem bescheidenen Raume bringt König Ludwig manche Stunde ernster Arbeit zu, denn hier, und in guter Jahreszeit an einem Tisch im Freien, da drunten im Hausgärtchen, vollzieht er sehr oft seine Staatsgeschäfte, und zwar mit der musterhaftesten Gewissenhaftigkeit. Ich muß meinem Herzen die Freude machen, Ihnen vor Allem ein unbedingtes Lob des Königs auszusprechen. Minister und Andere berichten geradezu Staunenswerthes aus den Audienzen: wie rasch der König auffasse, wie lange er sich genau erinnere, mit welcher Schärfe er unterscheide, mit welcher Raschheit und Bestimmtheit, ohne das bei seinen Vorgängern so oft beklagte Schwanken, er sich entschließe. Nie sind im Ministerium die königlichen Entscheidungen, trotz der häufigen Abwesenheit des Königs im Gebirge, so rasch eingetroffen, nie war der Geschäftsgang in dieser Hinsicht ein so geordneter, wie unter ihm. Das sind sehr schätzenswerthe Regenten-Eigenschaften, Ihr Herren, und darum war es mir seit Jahren eine sehr ernste Sache, über Leben und Wesen dieses Fürsten, und namentlich die Contraste, welche dasselbe für die gewöhnliche Auffassung so unklar erscheinen lassen, mir durch vielseitigste Forschungen volle Klarheit zu verschaffen Ich habe dies nicht gethan, um Beiträge zu einer bekannten ‚Geschichte der Höfe‘ zu liefern und der unlautern Gier nach Pikantem zu fröhnen, sondern der Wahrheit zu Ehren und um einer Partei, welche aus Haß gegen Deutschland und jeden Fortschritt so gern – und das ist ein öffentliches Geheimniß in ganz Baiern – die Krone des Landes auf einem andern Haupte sähe, in der Presse um so entschiedener entgegentreten zu können. Was ich erforscht, hat mich bald mit Freude, bald mit Wehmuth und oft mit Schmerz erfüllt, und nun sollen Sie es hören, und zwar in diesem Zimmer.“
Stundenlang saßen und lauschten wir, aber – aber – wie übel bin ich gestellt, aus dem vielen nicht Mittheilbaren das wenige Mittheilbare auswählen zu sollen! Die Gesetzgeber auf den Thronen wissen nicht, welch Unheil sie angerichtet haben, als sie aus der schlimmsten Zeit des römischen Reichs den Begriff der „Majestätsbeleidigung“ hervorzogen und den schreckhaften Paragraphen fortführten bis ist die jüngsten Preßgesetze. Wie viele unschätzbare Wahrheit ging dadurch für Diejenigen verloren, für die sie gerade von der höchsten Bedeutung ist! Die Lehren der Geschichte sind, wie Jeder an sich erkennen muß, gleich „fremden Erfahrungen“, von denen nur Wenige lernen, und so geht fort und fort das Leiden durch die Welt, daß über die Fürsten die Wahrheit zu spät für sie selbst an das Licht kommt, erst wenn sie todt sind. – Nur an Unverfängliches, Harmloses darf die Feder sich wagen, und das sei hier geboten.
Will man ein irgend gerechtes Urtheil über Jemanden ermöglichen, so ist es nothwendig, nicht bloß die Erziehung etc., sondern auch erbliche Familienanlagen in’s Auge zu fassen. Bekanntlich vereinigten sich bei Ludwig dem Ersten die widersprechendsten Anlagen und Eigenschaften: Er war „teutsch“ gesinnt und hartnäckigst particularistisch; in Kunstdingen liberal, in Politik despotisch; leutselig und rücksichtslos, ja grausam verletzend; gescheut und jesuitenfeindlich und doch pfäffisch-ultramontan. Auch Max der Zweite offenbarte sehr schroffe Contraste: er war pfaffenfeindlich und doch „hat er mehr für die katholische Kirche gethan, als irgend ein bairischer Fürst“ (Geschichte vom Archivrath Dr. Söltl); scrupulös gewissenhaft als Monarch, und doch vor Verfassungsverletzung nicht zurückscheuend; er liebte aus Gesundheitsrücksichten die Jagd, ließ sich aber überall bequeme Reitwege bauen, um zu den Jagdplätzen hinaufreiten zu können, setzte sich dann auf einen Feldstuhl und las in überall mitgeschleppten Büchern, bis sein Büchsenspanner ihn anstieß und auf die Gemse zeigte. Liebenswürdig im Umgang, errichtete er Abendgesellschaften mit Rauchzimmer, aber ein Wort eines Geladenen, zum Beispiel Bluntschli’s, konnte ihn dabei so verletzen, daß er ihn, den vorher Gerufenen, wieder zum Lande hinausjagte; den Abgeordneten Völk hielt er sehr werth, bis dieser einmal sagte, es helfe nichts, von „deutscher Gesinnung“ immer zu reden, man müsse auch, Souveränetätsrechte opfernd, handeln: da fiel er in mehr als Ungnade.
Was nun Erziehung und Unterricht betrifft, so hat namentlich bei König Ludwig dem Zweiten die außerordentliche Begabung und der Privatfleiß Vieles gut machen müssen, was von Seiten des Vaters hierin versäumt worden war. König Max hielt ihn und den Prinzen Otto mit einer auffallenden Kälte und Unnahbarkeit von sich ab, wohl weil er sicher auf längeres Leben hoffte und daher glaubte, es käme für ihn noch die Zeit, an die Erziehung seiner Söhne zu gehen. Wenn er aber Klagen hörte, war er sehr streng und züchtigte. Die ebenso herzensgute als, wie sie während des Kriegs bewies, auch opferbereite Königin schmerzte dies so tief, daß sie sehr bald deshalb das Verschweigungssystem vorzog.
So schon in zarter Jugend viel auf sich selbst angewiesen, gewann der junge Prinz sehr bald eine Selbstständigkeit, die ihn in den Stand setzte, sich eigene und ganz eigenthümliche Ziele zu stecken und sie später als König mit überraschender Energie zu verfolgen. Bis jetzt sind es zwei Richtungen seines Geistes, [842] welche die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen und der Presse Jahre lang Stoff zu den verschiedenartigsten Beurtheilungsweisen dargeboten haben.
Das Nächstliegende ist sein Verhältniß zu Richard Wagner. In der That identificirte der König sich so vollständig mit diesem Musikfürsten, daß er ihn völlig wie seinen „geistigen“ Vater verehrte. Er las halbe Nächte lang nur Wagner’sche Schriften, spielte auf dem Clavier nur Wagner und wollte nur Wagner hören; dies ist übrigens noch heute der Fall, wenn auch Schauspiele mit Beziehungen auf Louis den Vierzehnten oder den Fünfzehnten neben jene Vorliebe getreten sind. Von den Ansprüchen des geliebten Maestro an die königliche Civilliste wird so unglaubliches berichtet, daß wir es hier nicht nacherzählen wollen. Allbekannte Thatsache ist es aber, daß die Eitelkeit und Anmaßung Wagner’s es so weit trieb, bis der Unwille von allen Seiten gegen ihn losbrach und sein König selbst ihn in München nicht mehr halten konnte.
Von allen Werken Richard Wagner’s äußerte die Oper Lohengrin den stärksten Eindruck auf den König, obwohl er auch zu anderen Opern Wagner’s sich von Künstlern eigene Bilder und Cartons fertigen ließ, um einzelne Scenen immer vor Augen haben zu können. Der Schwan (welcher übrigens auch bei Max dem Zweiten im Hohenschwangau eine große Rolle spielte) wurde für ihn eine Art Sinnbild, und die schmeichlerische Geschäftigkeit Dritter brachte ihn überall an.
Eine große Vorliebe faßte der König für die Schweiz, in Folge der nothgedrungenen Uebersiedelung Richard Wagner’s dahin, und im Zusammenhange damit ließ er sich kostbare Decorationen vom Vierwaldstätter See durch deshalb eigens an Ort und Stelle geschickte Theatermaler herstellen. Die Sammlung derselben ist so reich und trefflich, daß der König nicht selten für sich allein bloße Decorationsvorstellungen geben läßt.
Für das Decorations- und überhaupt für Theaterwesen hat übrigens der König auch an sich und abgesehen von jedem Zusammenhange mit Richard Wagner ein leidenschaftliches Interesse. Er kennt einzelne Theaterstücke von Schiller auswendig und ließ sich oft theils Schauspieler, theils Schauspielerinnen (unter Anderen die Frau von Buljowsky) in die Residenz kommen, um sich Stücke vorlesen oder einzelne Partien einer Rolle vorrecitiren zu lassen. Wenn hierbei dem Recitirenden einmal der Faden zerriß, so vermochte der König stets sofort aus dem Gedächtniß ihm einzuhelfen. – Die Vorliebe für Decorationen ging so weit, daß der König in der grandios-lieblichen Natur Hohenschwangaus sich bekanntlich selbst in seinem Schlafzimmer eine Gebirgsdecoration herrichten ließ, hinter welcher er durch einen vom Bette aus dirigirbaren Zug den Mond aufgehen lassen konnte.
Ueberhaupt ist Romantik ein Grundzug im Geistesleben des Königs, und sie ist von Richard Wagner wohl am meisten gesteigert worden. Man denke sich diese Einwirkung und die Jugend des so ganz unvorbereitet zur königlichen Macht gelangten Fürsten, und man wird selbst bedenkliche Excentricitäten ganz erklärlich finden. Greife doch Jeder in sein eigenes Herz und Gedächtniß, versetze er sich in seine Jugendzeit zurück und denke, wohin sein dieser Zeit entsprechender romantisch-schwärmerischer Zug gekommen sein würde, wenn er ihm mit achtzehn Jahren frei wie ein König hätte nachgehen können! Selbst der greise König Johann von Sachsen äußerte bei einer gelegentlichen Anwesenheit in München, er begreife vollständig den Einfluß Richard Wagner’s auf den jugendlichen König von Baiern, habe doch er selbst sich kaum von dem Zauber, welchen Wagner auf ihn ausgeübt, zu befreien vermocht.
Der angeborene Kunsttrieb wurde durch dieselbe hohe Anschauung des Königthums, von welcher der Schlittenschmuck Zeugniß giebt, auch auf die Baukunst übergeleitet. Das Bergschloß Hohenschwangau, das stolze Werk des Vaters, soll durch einen nach Lage und Stil noch romantischeren und prachtvolleren Bau übertroffen werden. In der Nähe desselben strebt ein steiler Fels aus düsterem Waldesdunkel hoch empor. Auf diesem fast unzugänglichen Felsen, auf welchem nur schwer ein Untergrund künstlich herzustellen war, ersteht auf des Sohnes Geheiß ein zweites Königsschloß: Neu-Schwanstein. Ein anderes Gebirgsschloß ließ sich der König unweit von Oberammergau bauen: den „Linderhof“. In tiefster Einsamkeit erhebt sich ein mit Luxus gebautes und besonders im Innern mit den reichsten, aber auch geschmackvollsten Möbeln ausgestattetes und mit Frescomalereien geschmücktes wahrhaft königliches Schloß.
Noch prachtvoller ist das auch weit romantischere Schloß „Am Schachen“. In der Abgeschiedenheit eines wahrhaft kolossalen Gebirgsstockes (Wetterstein) im Rain-Thale, zwischen Zugspitz und Karwendel, schwebt hoch oben auf schwindelnder Höhe die mit wahrhaft orientalischem Luxus ausgestattete Königsburg. Maurische Säulen und Springbrunnen à la Alhambra, zwischen und über duftenden südlichen Gewächsen plätschernd, zaubern auf kalter Bergeshöhe ein Bild von „Tausend und eine Nacht“ voll südlicher Gluth herbei.
Diese Freude an der Nachahmung der Natur durch die Kunst und ebenso der durch die Kunst geschmückten Natur ließ in dem König sogar den Wunsch auftauchen, auch den Vulcan in seine Alpen hereinzurufen. Vom Schachen aus sieht man einen Bergkegel, welchem gegenüber der König gern schöne Mond- oder Sternennächte bald im Freien, bald in einem Pavillon, immer aber allein und mit möglichst entfernter Dienerschaft, zubrachte. Dieser Bergkegel entfaltete nun in einer Nacht eine kunstreiche vulcanische Thätigkeit: sein Haupt warf Feuer aus und ließ glühende Lava rinnen. Es soll ein schönes Schauspiel gewesen sein, wurde aber, der Kostspieligkeit wegen, nicht oft wiederholt.
In diesen Feensitzen weilt der junge König größtentheils „mutterseelenallein“, wie das Volk die tiefste Einsamkeit so herzig bezeichnet. Nur mit dem nothdürftigsten Personale von Dienern, welche zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet sind, bezieht der Fürst möglichst ungesehen, wo möglich bei Nacht und Fackellicht, diese Bergasyle. Früher ritt der König, später ließ er sich eigene kleine Wagen bauen, in welchen er auf den Reitwegen auf die Höhen fahren kann. Niemand darf die neuen Bergschlösser betreten, gleichviel ob der König gerade darin weilt oder nicht. Eine auffallende Ausnahme ist es, wenn der König einmal einen andern Sterblichen auf sein Bergschloß einladet. Auch ein solcher wird nur zur Nachtzeit hinauf- und nach kurzer Audienz wieder herabgeleitet.
Selbst der Diener braucht zur Servirung des Tisches des Königs Zimmer nicht zu betreten. In Linderhof ist dazu eine Art „Tischlein deck’ dich“ eingerichtet, welches von einem untern Stockwerke unsichtbar in das obere emporgehoben und auf ein Zeichen herabgelassen und mit der nächsten Speise versehen wieder nach oben befördert wird.
In neuester Zeit äußert sich die Liebe zur Abgeschlossenheit besonders darin, daß der König selbst seine Leidenschaft für das Theater mit jenem Triebe in Einklang bringt. Er läßt ziemlich häufig im Residenztheater oder selbst im großen Hoftheater für sich ganz allein Theaterstücke oder Opern aufführen. Dieselben beginnen erst zu einer vorgerückten Stunde und endigen meist spät nach Mitternacht. Ueberhaupt übt gerade die späteste Nachtzeit auf ihn ihren Reiz aus. Früher machte der König im Gebirge insbesondere zur Nachtzeit große Ritte, nur von einem Stallknechte begleitet. Auch jetzt liebt der König noch vorzugsweise zur Nachtzeit zu reisen, nur geschieht es seit den letzten Jahren immer zu Wagen oder Schlitten wie wir ja selbst gesehen haben.
Als das Verhältniß zu Richard Wagner gelockert und der Wunsch der nächsten Verwandtschaft des Königs durch Entfernung Wagner’s von München erfüllt war, trat unseres Wissens alsbald eine gewisse Vorliebe für Louis den Vierzehnten und sein ganzes Wesen ein. Insofern lag hierzu schon eine Anlage vor, als der junge König, unvorbereitet zum Throne wie er war, das Königthum in einer gewissen subjectiven Weise auffaßte. Zu verwundern ist es darum nicht, wenn, auch nachdem die constitutionelle Auffassung des Königthums ihm heiliger Ernst geworden war, mitunter der Gedanke durchbrach: es wäre denn doch recht hübsch, zur Zeit Ludwig’s des Vierzehnten gelebt zu haben, oder – er selbst gewesen zu sein. Gewiß ist, daß diese Vorliebe zu einem sehr hohen Grade gedieh. Trotz der königlichen Abneigung gegen das republikanische Frankreich wurde plötzlich nach Paris und Versailles gereist und das Musterschloß des vierzehnten Ludwig in Augenschein genommen, obwohl Baiern in dem königlichen Lustschloß Nymphenburg bei München bereits eine Stylnachahmung und eine sehr schöne Copie des berühmten Versailler Theaters in dem sogenannten Residenztheater besitzt. Auch der Literatur über die
[843][844] fragliche Zeit wendete der König nun seine ganze Aufmerksamkeit zu. Eine Uebersetzung von einem Theaterstücke ließ er eigens unter seiner Oberleitung verfertigen, andere wurden aus den Bibliotheken zusammengesucht, und so erscheint, mit aller Liebe behandelt, nun jene Zeit vor Allem auf den „Brettern“; auch große Galatafeln im Costüme von Louis-Quatorze und schon, jedoch ebenfalls nur vom König allein, abgehalten worden.
Wie man nun auch über diese Verwirklichungen von Phantasieen, welche bei anderen gleichbegabten Menschen stumme Wünsche oder wachende Träume bleiben, denken möge: Jeder, der dem König Ludwig dem Zweiten um seiner vielen trefflichen Eigenschaften und um seiner ungewöhnlichen Begabung willen von Herzen zugethan ist, kann für ihn nur den einen Wunsch hegen, daß Gott ihm recht bald das höchste Glück auf Erden, ein braves Weib und einen redlichen Freund schenke und dadurch ihn aus seiner auf die Länge gewiß unerträglichen Vereinsamung erlöse – zum Heil nicht bloß Ihm, sondern auch Baiern und Deutschland.
Ist es nicht etwa geboten, wegen des Hervorziehens eines solchen Gegenstandes an die Oeffentlichkeit uns zu entschuldigen? Müssen wir einem Manne, der auf den höchsten, dem Menschen in unserem Staatsleben erreichbaren Höhen weilt, nicht das Recht einräumen, als Mensch sein Haus und sein Leben sich frei nach eigener Weise einzurichten? Und wenn Beides von der gewohnten und gewöhnlichen Art der Zeitgenossen abweicht, darf es deshalb schon der öffentliches Besprechung verfallen?
Darüber mögen die Meinungen so verschieden sein, wie die Stellung der Einzelnen auf den Rangstufen der Gesellschaft von der Ebene des Bürgerlebens bis zu den Thronen hinauf. Unsere Meinung darüber ist diese: die Gegenwart hat mit vielen Vorrechten und Vorurtheilen der Vergangenheit gebrochen und namentlich den ehemaligen Abstand zwischen Kronenträger und Unterthan ausgefüllt mit neuen, der Erhabenheit der Stellung entsprechenden Pflichten des ersteren. Geblieben ist aber das höchste Recht der Krone, daß ihr Träger im Leben wie in der Geschichte sein Volk repräsentirt. Tausende von Männern, als Menschen von gleichem und oft von weit höherem Werthe, als der Fürst, verschlingt die Zeit, ihre Spur geht dahin, wenn sie nicht durch eigene Kraft ihren Namen für die Nachwelt retten: der Fürst allein steht von selbst ewig im Lichte der Geschichte. Dieses ungeheure Vorrecht wird nur durch die Pflicht des Fürsten ausgeglichen, daß sein Leben nicht ihm, sondern seinem Volke gehört. Er steht auf der höchsten Höhe, um von Allen gesehen zu werden, und darum hat er nicht die Freiheit des Privatmanns, sich und sein Leben beliebig von seinem Volke abzusondern und vor ihm zu verhüllen. Dieses unbestreitbare Volksrecht auf das Fürstenleben erachten wir als entschuldigend genug für unser Unterfangen, über Dinge zu reden, von denen man seit Jahren nur flüstert und die bisher wohl das Heraustreten an die Oeffentlichkeit nur scheuten, weil sie längst öffentliches Geheimniß sind.
Wer erinnerte sich nicht von seiner Jugendzeit her mit Vergnügen jener Seeromane, in welchen neben ritterlichen Piraten und kühnen Strandräubern, die meistens ehedem bessere Tage gesehen hatten, ein tüchtiger Seesturm niemals fehlte? Berghoch schwollen die Wogen an und rissen das Schifflein, welches den Helden der Erzählung trug, bald hoch in die Lüfte empor, bald schleuderten sie es in den Abgrund des Meeres hinab. Dabei rabenschwarze Nacht, die nur von Zeit zu Zeit durch das grelle Licht zuckender Blitze erhellt wird, prasselnder Regen und dumpfes Geheul des Windes. Wahrlich, es ist nicht zu verwundern, daß solche Bilder – und sie entsprechen innerhalb gewisser Grenzen durchaus der Wirklichkeit – auf das jugendliche Gemüth einen unauslöschlichen Eindruck hervorbringen und eine nicht selten schwärmerische Begeisterung für jene Seefahrer erzeugen, die mitten im Gewühl der entfesselten Naturgewalten, kühl bis an’s Herz hinan, ihre Barken weiter steuerten. Dieser persönliche Muth und eine gewisse, im Verlaufe jahrelangen Herumstreifens auf den „fröhlichen Wassern“ erlangte individuelle Erfahrung waren die hauptsächlichsten Requisite eines Seefahrers von ehedem, als noch das Licht der Wissenschaft die Dunkelheit der Sturmnächte nicht durchleuchtet hatte und die Gesetze noch nicht aufgefunden waren, denen die Orkane gehorchen. Heute ist das Alles anders. Neben der persönlichen Erfahrung berücksichtigt der Seefahrer vor allen Dingen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, ja er nimmt für weite Reisen ganz bestimmte Segelanweisungen mit, welche ihm genau vorschreiben, wie er zu steuern hat, um am schnellsten und gefahrlosesten sein Ziel zu erreichen.
Daneben ist die Wissenschaft bemüht, den aus dem Hafen auslaufenden Schiffer vor etwa im Anzuge befindlichem Unwetter zu warnen und die draußen befindlichen Fischerboote zur Heimkehr zu mahnen. Alles dies ist lediglich eine Folge unserer heutigen Kenntnisse vom Wesen und Verlauf der Stürme und der Art und Weise, wie diese sich ankündigen. Die Sturmwarnungen bedürfen dazu noch der Mitwirkung des elektrischen Telegraphen, der, schneller als der Wind, die bedrohten Punkte von dem noch in weiter Entfernung befindlichen Unwetter unterrichtet. – Daß der Wind nichts als ein Strömen oder Fließen, überhaupt eine Bewegung der Luft ist, weiß heute Jedermann; weniger allgemein bekannt dürfte dagegen die Thatsache sein, daß die Heftigkeit des Windes allein von der Geschwindigkeit abhängt, mit welcher sich die Luft bewegt. Beträgt die Luftströmung blos ein oder zwei Fuß in der Secunde, so ist sie dem Gefühle kaum merklich und man spricht von angenehm säuselndem Winde; ist ihre Geschwindigkeit fünfzehn bis sechszehn Fuß in der Secunde, so nennt der Schiffer diesen Wind eine frische Brise; bei dreißig Fuß hat er einen guten Segelwind; bei fünfzig Fuß ist der Wind schon stark; bei siebenzig bis achtzig Fuß hat man bereits Sturm, und bei einer Schnelligkeit von hundertzwanzig bis hundertfünfzig Fuß in der Secunde tobt der wüthendste Orkan. Diese Geschwindigkeiten mögen Manchem gering vorkommen, es würde aber sehr schlimm um unsere Bauwerke aussehen, wenn Luftströmungen von hundertfünfzig Fuß Geschwindigkeit in der Secunde bei uns häufig vorkämen. Ein Orkan von dieser Schnelligkeit drückt nämlich auf die Fläche eines mäßigen Hauses mit einer Kraft von etwa eintausendfünfhundert Centnern, und wenn man bedenkt, daß dieser Druck nicht gleichförmig und andauernd, sondern ungleichmäßig und stoßweise wirkt, so wird man begreifen, daß die stärksten Mauern ihm nicht Stand halten. Dem entspricht die Erfahrung in jenen Gegenden, welche bisweilen von Orkanen heimgesucht werden, vollständig.
Die in Westindien tobenden Stürme, welche die Engländer Hurricanes, die Spanier Tornados nennen, verwüsten bisweilen ganze Ortschaften. Der Orkan vom 10. October 1780 zerstörte im Vereine mit den Wogen des rasendes Meeres die ganze Stadt Saint Pierre auf der Insel Martinique, stürzte in Port Royal die Kathedrale, sieben Kirchen und vierzehnhundert Häuser um und begrub sechszehnhundert Kranke unter den Ruinen des Hospitals. Auf der benachbarten Insel Sanct Lucia zerstörte er die stärksten Gebäude bis auf ihre Fundamente und riß Menschen und Thiere vom Erdboden empor. Die Stadt Kingstown auf Sanct Vincent wurde ganz zerstört. Auf des Leeward-Inseln zog sich, als der Sturm heftiger wurde, die Familie des Gouverneurs in die Mitte des Hauses zurück, welches wegen seiner drei Fuß dicken Mauern hinlänglich Schutz versprach; dennoch brach der Wind durch; man floh in den Keller, aber hier stieg das Wasser vier Fuß hoch; man rettete sich nach der Batterie und suchte unter den Kanonen Schutz, aber einige Zwölfpfünder wurden vierhundertzwanzig Fuß weit fortgetrieben. Als der Tag anbrach, glich die Gegend einer Winterlandschaft – kein Blatt, kein Ast war an den Bäumen zu sehen. So furchtbar aber auch der Sturm auf diesen Inseln gewüthet haben mochte, so waren die Verheerungen, welche er auf offner See an den dort befindlichen Schiffen anrichtete, womöglich noch schrecklicher. Eine französische Flotte von zwei Fregatten und fünfzig Transportschiffen mit fünftausend Mann [845] Truppen befand sich damals gerade an der Südküste der Insel Martinique. Alle diese Schiffe wurden bis auf deren sechs oder sieben, die dem Untergange entrannen, vernichtet. Aber auch die englische Kriegsflotte, unter Sir Georges Rodney, wurde zerstört.
Von dem Sturme, der am 10. August 1831 auf der Insel Barbados wüthete und von hier in sechs Tagen bis nach New-Orleans hinschritt, berichtet ein Augenzeuge Folgendes. Der Orkan begann um neun Uhr Abends mit mäßigem Nordwinde. Bald folgten einige Windstöße, die durch ruhige Pausen getrennt waren. Nach Mitternacht flammten die Blitze furchtbar und der Sturm brauste aus Nord und Nordost. Um ein Uhr Morgens raste der Wind mit furchtbarer Wuth und wandte sich plötzlich von Nordost in Nordwest. Gegen zwei Uhr war das Heulen des Orkans so arg, daß keine Sprache es zu beschreiben vermag. Lieutenant Nickle hatte unter einem Fensterbogen Schutz gesucht und hörte wegen des Sturmes nicht das Einstürzen des Daches und des obern Stockwerkes. Um drei Uhr nahm der Wind ab; auch das Flammen der Blitze hörte einen Augenblick auf, und eine schreckliche Finsterniß hüllte die Stadt ein. Das dumpfe Geräusch des Windes sank zu einem majestätischen Gemurmel herab. Nach einer halben Stunde, während deren das elektrische Feuer zwischen den Wolken und der Erde eine großartige Thätigkeit entwickelt hatte, brach der Orkan wieder aus, dieses Mal aus Westen, tausend Trümmer als Wurfgeschosse vor sich her treibend. „Die festesten Gebäude erbebten in ihren Grundmauern, ja die Erde selbst zitterte, als der Zerstörer über sie hinwegschritt. Kein Donner war zu hören, als das gräßliche Geheul des Windes, das Brausen des Oceans, dessen mächtige Wellen alles zu zerstören drohten, was die anderen Elemente etwa verschonen möchten; das Gerassel der Ziegel, das Zusammenstürzen der Dächer und Mauern und die Vereinigung von tausend anderen Tönen bildeten ein Entsetzen erregendes Geräusch. Nach fünf Uhr ließ der Sturm einige Augenblicke nach, und da hörte man deutlich das Fallen der Ziegel und Bausteine. Um sechs Uhr war der Wind Süd, um sieben Uhr Südost, um neun Uhr schönes Wetter. Der Anblick der Gegend war der einer Wüste, nirgends eine Spur von Vegetation, einige Flecke welken Grüns ausgenommen. Der Boden sah aus, als wenn Feuer durch das Land gegangen wäre, welches alles versengt und verbrannt hätte.“
Wie furchtbar aber auch in Westindien, Frankreich, Holland und anderen Gegenden die Gewalt der entfesselten Naturkraft auftreten mag, so verschwinden ihre Schrecken doch vollständig vor jenen, mit welchen Sturm und Fluth gelegentlich die nordfriesischen Inseln an der Westküste Schleswigs bedrängen. Theils friedlich, theils in tobendem Kampfe hat hier seit Jahrhunderten die See das Land fortgeführt, und wo einst Dörfer und Kirchen standen, rollen nun die Wogen der unermeßlichen See. Allein seit dem elften Jahrhunderte haben die wackeren Friesen auf jenen Landfetzen einhundertundfünfzig Sturmfluthen ausgehalten. Mancher Schiffer, der heimkehrte aus entlegenen Zonen, fand die grüne Wiese um den Wurthügel, der sein Haus trug, vom Wasser des Meeres bedeckt; ja, dort gab es, wie Weigelt in seinem wundervollen Buche über die nordfriesischen Inseln sagt, Leute, welche ihr Heimathland überlebten. Nicht leicht läßt sich etwas Schreckhafteres denken, als eine Sturmnacht auf einer kleinen Erdscholle mitten in der See, wenn schäumende Wogen die Mauern durchbrechen und die Bewohner im Giebel des Hauses Schutz suchen müssen. Und damit auch das Schauerliche dem Schreckensvollen nicht fehle, so erzählt man aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts von dem Pastorat der Hallig Gröde, daß damals eine Sturmfluth die Särge aus den Gräbern riß; sie stießen mit den Wogen gegen die Wände des Hauses und drangen in’s Zimmer. „So kamen im Geheule des Sturmes die Todten, um die Lebenden zu rufen.“
Wenden wir uns nun von den Erscheinungen, welche die Stürme im Einzelnen darbieten, zu den allgemeinen Gesetzen, denen sie bei ihrem Auftreten gehorchen. Wir begegnen dabei gleich der merkwürdigen Thatsache, daß ein Sturm sich stets durch ein mehr oder weniger rasches Fallen des Barometers, also durch eine Abnahme des Luftdruckes ankündigt. Schon der Magdeburger Bürgermeister Otto von Guerike, der Erfinder des Barometers, hatte die Bemerkung gemacht, daß, wenn das Wettermännchen in seiner mit einer Flüssigkeit angefüllten und oben verschlossenen Glasröhre am tiefsten stand, sehr heftiger Wind aufzutreten pflegte; er schrieb daher an den tiefsten Punkt derselben das Wort „Sturm“. Gegenwärtig bildet die Beobachtung des Barometers für den Seefahrer eine wichtige Arbeit. Der berühmte Nordfahrer Scoresby erklärt, daß er in Folge der aufmerksamen Beobachtung der Warnungen des Barometers mehrmals drohenden Stürmen entgangen sei.
Im Allgemeinen kann man annehmen, daß ein Sturm um so heftiger sein wird, je rascher und tiefer das Barometer fällt. Meist dauert es noch einige Stunden nach dem Fallen des Barometers, ehe der Sturm sich einstellt, oft ist er aber auch sehr schnell da. Am 3. August 1837 wurde zu Puerto Rico um vier Uhr Nachmittags angekündigt, daß bei dem ungewöhnlich starken Sinken des Barometers Sturm drohe. Derselbe traf so schnell ein, daß dreiunddreißig vor Anker liegende Schiffe nicht gerettet werden konnten. Der furchtbare Teifun vom 6. October 1831 erschien so rasch nach dem Falle des Barometers, daß die Schiffe im Hafen von Macao nicht die geringsten Vorkehrungen treffen konnten und Tausende von Fahrzeugen sammt ihrer Ladung zu Grunde gingen.
Colonel Copper war der Erste, welcher die Erscheinungen der Teifuns genauer studirte, indem er die an verschiedenen Punkten gemachten Beobachtungen miteinander verglich. Er kam im Jahre 1801 zu dem überraschenden Resultate, daß die ostindischen Orkane ungeheure Wirbelwinde seien, bei welchen die Luft sich kreiselnd um den Ort bewege, an welchem der geringste Barometerdruck stattfindet. Dieses Ergebniß wurde damals allerdings wenig beachtet. Erst als Dove nachwies, daß der große Sturm am Weihnachtstage des Jahres 1818 ein ungeheurer Wirbelwind gewesen sei, dessen Centrum von Brest in Frankreich über den Canal, England und die Nordsee, gegen die Südspitze von Norwegen fortschritt, wurde die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt rege. Drei Jahre später kam Redfield zu dem Ergebnisse, daß auch die westindischen Hurricanes und Tornados Wirbelstürme seien und daß die Luft in ihnen stets in entgegengesetzter Richtung wirbelt, wie sich der Zeiger einer Uhr dreht. Umgekehrt geschieht auf der südlichen Erdhälfte die wirbelnde Bewegung der Luft in derselben Richtung wie die Bewegung des Uhrzeigers. In der Meteorologie sagt man kurz: die Stürme der nördlichen Erdhälfte drehen gegen die Uhr, die der südlichen Halbkugel mit der Uhr. Die Geschwindigkeit der wirbelnden Bewegung, also die Gewalt des Sturmes nimmt von außen gegen den Mittelpunkt des Wirbels hin zu, im Centrum selbst aber, wo das Barometer am niedrigsten steht, herrscht meist völlige Windstille. Sobald daher der Mittelpunkt eines Sturmes über einen Ort hinwegschreitet, verstummt das Geheul des Windes wie durch Zauberschlag. Der Unkundige freut sich dessen und glaubt alle Gefahr plötzlich verschwunden, aber der erfahrene Schiffer benutzt die kurze Rast, um sich für den Eintritt in die zweite Hälfte des Wirbels vorzubereiten. Oft nach wenig Minuten, bisweilen aber auch nach einigen Stunden ist dieser angelangt und der Sturm setzt mit gleicher Wuth wie früher, aber nun aus der entgegengesetzten Richtung kommend, ein. Im Allgemeinen ist die Heftigkeit dieser Stürme um so größer, je kleiner der Durchmesser der wirbelnden Luft ist, und die Stärke des Windes vermindert sich in dem Maße, wie der Orkan seine Wirbel ausdehnt, was im Verlaufe seiner Fortbewegung geschieht. Aus diesem Grunde sind auch diejenigen Stürme, welche, von Westindien kommend, bisweilen die ganze Breite des Atlantischen Oceans überschreiten und sich der europäischen Küste nähern, hier bei weitem nicht mehr so heftig wie in der Nähe der amerikanischen Gestade.
Ich habe bereits bemerkt, daß der Mittelpunkt eines Wirbelsturmes durch den Ort des niedrigsten Barometerstandes bezeichnet wird, und daß dieser Mittelpunkt nicht stehen bleibt, sondern sich über die Erdoberfläche fortbewegt. Wenn man nun, auf Grund der Beobachtungen, untersucht, in welcher Richtung die Fortbewegung dieses Sturmcentrums stattfindet, so ergiebt sich, daß die westindischen Hurricanes, so lange sie in der heißen Zone bleiben, alle von Südost nach Nordwest vorschreiten, sobald sie aber auf diesem Wege in die gemäßigte Zone gelangen, biegen sie sofort um und schreiten nun von Südwest nach Nordost vorwärts. Umgekehrt verhält es sich mit den [846] Mauritius-Orkanen; sie schreiten innerhalb der heißen Zone von Nordost nach Südwest fort, biegen aber beim Uebergange in die südliche gemäßigte Zone um und bewegen sich dann in der Richtung gegen Südost.
Die Kenntniß dieses gesetzmäßigen Verhaltens der Wirbelstürme ist für den Seefahrer, der von einem solchen Orkane überrascht wird, von größter Wichtigkeit. Denken wir uns, ein Schiff würde auf der nördlichen Halbkugel in der heißen Zone von einem Wirbelorkane überfallen. Hier schreitet das Centrum des Sturmes von Südost nach Nordwest fort und die Luft wirbelt gleichzeitig von Süd durch Ost und Nord nach West. Das Schiff muß nun suchen aus der Bahn des Orkans zu kommen und jedenfalls vom Centrum desselben möglichst entfernt zu bleiben. Die Richtung, in welcher dieses letztere zu suchen ist, bestimmt sich leicht aus der Regel, daß, wenn man dem Winde den Rücken zukehrt, das Sturmcentrum sich auf der nördlichen Erdhälfte links, auf der südlichen aber rechts befindet. Wenn in unserem Beispiele der Sturm als Nordost einsetzt und sich durch Ost nach Südost dreht, so befindet sich das Schiff auf der Nordostseite des Wirbels und muß nordostwärts steuern, um aus der Bahn des Orkans zu kommen. Wäre der Wind anfangs nordwestlich und drehte er sich dann durch West nach Südwest, so würde sich das Schiff auf der südwestlichen Seite des Sturmfeldes befinden und müßte nach Südwest steuern, um dem Bereiche der wirbelnden Luft zu entgehen.
Daß ein Schiff, welches der Gewalt eines Kreiselorkans überlassen ist, von diesem in gewaltigen Bogen im Kreise herumgeführt wird, hat unter Anderen die Brigg „Charles Heddle“ erfahren. Sie wurde am 22. Februar 1845 etwa zweihundertzehn Seemeilen nördlich von Mauritius im Indischen Oceane von einem Cyklon erfaßt und nach Verlust ihrer Segel von dem Orkane bis zum 27. Februar fünf Mal um das Sturmcentrum herumgeführt, ähnlich wie eine Motte das Licht umkreist. Sieht man sich auf einer Karte den Weg, welchen das Schiff beschrieb, genauer an, so erkennt man, daß die Kreise, welche dasselbe um das Sturmcentrum beschrieb, immer kleiner wurden, daß also die wirbelnde Luft eigentlich eine spiralförmige Bewegung besitzt. Von außen strömt ununterbrochen Luft gegen das luftdünne Centrum und steigt hier empor. Professor Reye hat berechnet, daß in dem großen Cuba-Orkane vom 5. bis 7. October 1844 in jeder Secunde mindestens vierhundertzwanzig Millionen Kubikmeter Luft einströmten und in der Nähe des Centrums aufstiegen. Wenn diese feuchten und warmen Luftmassen die höheren, kalten Schichten der Atmosphäre erreichen[WS 1], so verdichtet sich dort ihr unsichtbarer Wasserdampf zu ausgedehntem schwarzem Gewölke, aus dem jene ungeheuren Regenmassen herabstürzen, welche die Wirbelstürme begleiten. Die gewaltige Wolkenmasse zeigt sich schon aus weiter Ferne als schwarzes Wölkchen, von den Seefahrern „Ochsenauge“ genannt, das der Unerfahrene kaum beachtet, das aber das Herz des erfahrenen Schiffers mit Besorgniß erfüllt, denn er weiß, daß dieses Wölkchen, aus sich selbst heraus sich ausdehnend, bald den ganzen Himmel überdecken und den Sturm mitbringen wird.
Werfen wir zum Schlusse noch einen raschen Blick auf die Entstehung der Stürme. Die Wissenschaft hat in dieser Beziehung ihr letztes Wort noch nicht gesprochen, jedoch ist es, wie besonders die Untersuchungen von Professor Reye in Straßburg gezeigt haben, außerordentlich wahrscheinlich, daß die ersten Keime zu den gewaltigen Kreiselorkanen der tropischen Meere in dem Emporsteigen von warmen, feuchten, unteren Luftschichten in größerem Maßstabe zu suchen sind. In einzelnen Fällen mag zuerst die rasche Bildung ausgedehnter Gewitterwolken einen starken aufsteigenden Luftstrom hervorgerufen haben. Daß ein kräftig emporsteigender warmer Luftstrom häufig die Ursache heftiger Wirbelwinde wird, ist längst bewiesen. Bei der Ausrodung der Urwälder in Nordamerika durch Feuer hat man häufig das Entstehen furchtbarer Wirbelstürme beobachtet. Im Sommer 1824 ließ Dr. Cowles an einem absichtlich zur Verhütung weiterer Verbreitung des Feuers gewählten heitern und windstillen Tage eine aufgehäufte Masse trockenen Holzes verbrennen. Flammen und Rauch stiegen in Gestalt eines mächtigen Kegels empor, und bald erhob sich ein gewaltiger Wirbelwind, der große Reisigbündel hoch in die Luft führte und an entfernten Stellen wieder niederfallen ließ. Bei einem ähnlichen Feuer zu Stockbridge im April 1783 erhob sich die Flamme zweihundert Fuß hoch, und gleichzeitig entstand ein Wirbelwind, der umgehauene Bäume von sechs bis acht Zoll Durchmesser vom Boden fortriß und zu vierzig bis fünfzig Fuß emporhob. Olmsted berichtet, daß beim Brande eines von Bäumen besetzten Rohrgebüschs am Ufer des Black-Warrior-Flusses bei Tuscaloosa sich Wirbelwinde von großer Mannigfaltigkeit bildeten, bald trichterartig, mit dem Fuße auf Haufen brennenden Rohres ruhend, bald cylinderförmig mit schraubenförmiger Bewegung, wodurch der schwarze Rauch in Windungen gegen den Gipfel der sichtbaren Säule getrieben wurde.
Diese Beispiele ließen sich leicht noch vermehren, doch genügen sie, um in populärer Form die oben genannte Theorie der Entstehung der Wirbelstürme zu illustriren. Natürlich sind bei dieses Orkanen alle Verhältnisse weitaus großartiger. Es ist bekannt, daß der Wind durch die ihm innewohnende Kraft Arbeit verrichten, z. B. die Flügel einer Windmühle drehen kann. Wenn man diese Arbeit mit derjenigen vergleicht, welche durchschnittlich ein Pferd zu leisten im Stande ist, so erhält man die Arbeitsleistung des Windes oder der strömenden Luft in Pferdekräften, und es ist ohne Weiteres klar, daß umgekehrt genau ebenso viel Pferdekraft erforderlich wäre, um die betreffende Luftmenge in strömende Bewegung zu versetzen.
Nach dieser Vorausschickung wird es Jedem verständlich sein, wenn ich hervorhebe, daß nach der Berechnung von Professor Reye der Cuba-Orkan vom 5. bis 7. October 1844 allein zur Bewegung der einströmendes Luft mindestens eine Arbeit von vierhundertdreiundsiebenzig Millionen Pferdekraft während dreier voller Tage aufwendete. Dieser Aufwand von mechanischer Arbeit ist weit größer, als der aller Windmühlen, Wasserräder, Dampfmaschinen, Menschen- und Thierkräfte der ganzen Erde in der gleichen Zeit.
Heidelbergiana. Wer weiß heute noch in der Neckarstadt von dem Nadler Diehl, von Studenten- und Unsinnsgnaden Hof- und Staatsrath? Wie es ein paar lustige Vögel von Studenten in Heidelberg angefangen haben, den harmlosen Nadler Diehl, der sich mit Anfertigen von kleinen Draht- und Messingwaaren redlich und kümmerlich ernährte, um sein bischen Verstand zu bringen, wird wohl niemals ganz aufgeklärt werden und ich am wenigsten will das etwas rüde Gebahren der Studenten entschuldigen. Einige kurze Lichtblicke in das kurze Glanzleben dieses Märtyrers des akademischen Ulks sollen ihn vor dem gänzlichen Vergessen bewahren.
Zum allgemeinen Jubel der tollen Jugend stolzirte der bisher ärmlich gekleidete Diehl, seines Zeichens Nadler und Junggeselle, plötzlich im flottesten Studentenwichse, in Kanonenstiefeln und rother Mütze, umringt von einigen Haupthähnen des Corps der Schwaben, einher. Bald war er bei einer Spritztour nach Mannheim, bald bei einem Ausritte nach Neckargemünd zu sehen; bald saß er im Café Wachter vor einem Schreibtische und versudelte eine Masse Papier mit dem blühendsten Unsinn, den er Gedichte und Staatsschriften nannte – sogar in einem fingirten Duelle mußte er in der Rose in Neuenheim fechten, das ich, damals Gymnasiast, durch besondere Vergünstigung mit ansehen durfte. In einigen Wochen war der maskirte Student soweit, daß er mit der größten Ernsthaftigkeit ein burleskes Doctor- und Staatsexamen machen konnte, nach welchem ihm ein großes illustrirtes, mit sieben Siegeln versehenes Patent behändigt wurde, als „Hof- und Staatsrath in hessen-darmstädtischen Diensten.“ Sein lithographirtes Bild war in allen Wirthschaften zu sehen und wurde auf Pfeifenköpfen gemalt getragen. – Es war damals, Anfangs der zwanziger Jahre, die schönste Zeit der Reaction und Demagogenriecherei, wo die Mainzer Commission wie eine Spinne auf die kleinste Fliege lauerte, um ihr den Lebenssaft auszusaugen.
Der Minister X. in Darmstadt galt als einer der schärfsten Schnüffler auf der Fährte der Verfolgten. Vor der Wohnung dieses Würdenträgers hielt eines schönen Sommerabends eine dreispännige Equipage; neben dem Kutscher saß ein auffällig galonnirter Diener, etwa siebenzehn Jahre alt, mit impertinentem Blicke und gleicher Haarfarbe; es war der später allgemein bekannte rothe Fischer, der hier in seinem ersten Probespiele auftrat.
Der Diener öffnete den Wagenschlag und half einem etwas ungelenken Herrn heraus, dessen untere Gliedmaßen mit hohen Kniestiefeln und Sporen, dessen Leib mit einem viel zu weiten Schnürrock bekleidet, und auf dessen Haupt ein großer Federhut gestülpt war. Wir erkennen unseren Hof- und Staatsrath, der sein Patent in einer großen Kapsel wie einen Marschallsstab in Händen trug.
Mit größter Ruhe und Kaltblütigkeit fragte er das staunende Gesinde nach dem Minister und trat in das ihm bezeichnete Zimmer, natürlich ganz studentenmäßig, ohne anzuklopfen, den Hut auf dem Kopfe.
[847] Der Minister, durch die ungewöhnliche Erscheinung erschreckt, der wohl auch die große, das Patent enthaltende, blecherne Büchse für eine Mordwaffe hielt und unwillkürlich an Kotzebue’s Ende dachte, concentrirte sich rückwärts mit einem gewaltigen Sprunge hinter seinen Schreibtisch, und rief um Hülfe, während die ihn schreckende Erscheinung in eintöniger, ganz leidenschaftsloser, auswendig gelernter Rede sprach:
„Minister X., Du bist abgesetzt, und hast sogleich den unten stehenden Wagen zu besteigen, nach Heidelberg zu fahren und Dich daselbst bei dem Seniorenconvent zu melden, der über Dein künftiges Schicksal entscheiden wird. Ich bin der Hof- und Staatsrath Diehl, übernehme von heute an Deine Stelle, Dein Haus und Deine Familie.“
Unterdessen war auf das wiederholte Rufen des Ministers dessen Familie und Dienerschaft erschienen, die das abenteuerliche menschliche Räthsel anstarrten, das fortwährend mit lauter sonorer Stimme sein eben hergesagtes Sprüchlein wiederholte und keine andere Antwort auf die von allen Seiten heftig gestellten Fragen gab. Nur als der Minister in höchster Aufregung nach Wache und Polizei rief, sagte der Eindringling ganz ruhig: „Ja wohl lasse ich Dich arretiren, wenn Du Dich nicht gleich in den Wagen setzen und nach Heidelberg zum Seniorenconvent fahren wirst.“ Nachdem diese Scene seit der Ankunft des Ministerprätendenten etwa eine halbe Stunde gewährt hatte, erschien wirklich auch die herbeigeholte Polizei und brachte den Hofrath mit Gewalt in den Wagen und in die Haft. Der junge rothe Bediente hatte schnell einen Mantel übergeworfen und war spurlos verschwunden. Führer, Pferde und Wagen wurden vom Traubenwirth als Eigenthum des Kutscher Hormuth in Heidelberg festgestellt und einstweilen entlassen. Bei dem am andern Tage angestellten Verhör war natürlich aus dem Arrestanten nichts herauszubringen, der als einzigen Ausweis sein in den drolligsten und unsinnigsten Ausdrücken abgefaßtes Diplom vorzeigte, fest und beharrlich behauptete, daß er Hof- und Staatsrath sei, und fortwährend seine gestrige Rede aufsagte. Es wurde nun die räthselhafte Persönlichkeit nebst Diplom und Acten, unter scharfer Bewachung, in dem Wagen nach Heidelberg an den dortigen Stadtdirector Wild zur Bestrafung und Ermittelung der Helfershelfer gesandt.
Hier war aber schon vorher der rothe Fischer eingetroffen, der in der Nacht von Darmstadt nach Heidelberg gelaufen war und die Nachricht von der Festnahme des Hof- und Staatsraths gebracht hatte.
Glücklicherweise waren die Veranstalter des Ulks keine Burschenschafter, denen in diesem Falle jahrelange Untersuchungshaft in sicherer Aussicht gewesen wäre. Die muthwilligen Sünder waren Söhne hochgestellter Beamten und Mitglieder des Corps der Schwaben das damals schon im Rufe unverbrüchlicher Regierungsergebenheit stand. Ehe daher der Gefangene in Heidelberg eingeliefert wurde, hatte sich der hervorragendste der Missethäter zum Stadtdirector begeben und Beichte des gespielten Streiches abgelegt, worauf ihm nach einigen Unterhandlungen in Anbetracht des Namens und der Stellung seiner Familie volle Absolution ertheilt wurde. – Der arme um seine Ministerstelle geprellte Hof- und Staatsrath wurde aber bei seiner Einlieferung auf einige Tage in Gewahrsam genommen, und erst nachdem die Aerzte ihn nach genauer Untersuchung für unzurechnungsfähig erklärt hatten, laufen gelassen. Das darüber ausgestellte Zeugniß wurde dem Minister X. in Darmstadt mitgetheilt, und somit die Geschichte begraben.
Mit Schluß des Semesters verließen die lustigen Protectoren des Hofraths, die schon längst bemooste Häupter waren, die Universität und ihren Schützling, der bald seinen Nimbus einbüßte, die Zielscheibe des Nachwuchses der Jugend und endlich vergessen wurde. – Der Hauptanstifter des Ulkes ist zur Vergeltung später badischer Staatsrath geworden und als Präsident eines Ministeriums gestorben.
Goethe’s Jugend. Es liegt ein Zauber in diesem Worte, dem kein gebildeter Mensch zu widerstehen vermag, der verjüngend den Alten in die Seele weht wie Frühlingsodem und duftiger Maienglanz, der die Gemüther der Jungen ergreift und emporzieht wie ein strahlendes Bild aus höherer Welt. Goethe’s Jugend! Wer ihre Geschichte mit sinniger Empfänglichkeit, mit unbefangenem und verständnißvollem Geiste in sich aufgenommen, der hat sein Inneres mit einem Quell bereichert, aus dem ihm Freude und Erquickung, befruchtende und bildende Anregung sprießen wird bis an das Ende seiner Tage. Nicht als ob diese Jugend frei gewesen wäre von den Schatten und Flecken der Creatur, den Fehlgriffen und Verirrungen, dem dunkelen Ringen und unsicheren Tasten alles Menschenstrebens. Eine so übermenschlich makellose, unerreichbar über dem Irdischen schwebende Vollkommenheit würden wir in kalter Bewunderung anstaunen, aber sie würde nicht im Stande sein, die Theilnahme unserer Herzen zu gewinnen. Auch ein Goethe zeigt uns alle Züge eines durch Nacht zum Lichte, aus leidensreichen Kämpfen mühsam zu harmonischem Dasein sich emporarbeitenden Menschenkindes. Die Art aber, wie er schon frühe die Wogen zertheilt, die ihn umbrausten und verschlingen wollten, die Kraft des großen Instincts, mit der er die Stürme beschworen, alles hemmende Nebelgewölk durchbrochen und seine Bahn gelichtet und geebnet hat in sicherer Vorahnung seiner hohen Bestimmung, schon das allein verleiht allem fesselnden Bilderwechsel und aller unruhevollen Gährung dieser bewegten Jugend den Schimmer einer unvergleichlichen Majestät.
Man weiß, daß das Leben Goethe’s Tausenden inner- und außerhalb unseres Vaterlandes ein ebenso erhabener und erhebender Gegenstand liebevoller Betrachtung und hingebenden Studiums ist, wie es seit vielen Jahrzehnten seine Werke sind; man weiß auch, daß Goethe’s Werke nicht voll und ganz erfaßt, genossen und verstanden werden können ohne eine möglichst genaue Kenntniß seines Lebens, namentlich nicht ohne ein Wissen von dem Aufknospen und Erblühen, dem Werden und Reifen, dem Entfaltungs- und Entwickelungsgange dieses außerordentlichen und einzigen Menschen. Dennoch ist es mit jenem Wissen bei sehr Vielen leider noch äußerst schwach bestellt, da bekanntlich unsere Schulen bis jetzt wenig oder nichts zur Ausfüllung solcher Bildungslücken gethan, ja sogar vorschriftsmäßig derartigen literargeschichtlichen Lehrstoff, Hinlenkung auf die Biographien unserer großen Dichter, ihren Zöglingen gänzlich fern gehalten haben.
Die Redaction der Gartenlaube hatte sich daher nicht getäuscht, als sie durch Mittheilung jener Artikelreihe, in welcher Johannes Scherr das Jugendleben Goethe’s geschildert hat, einer Pflicht zu genügen, eine bedeutsame Anregung zu geben, einem lebhaft sich regenden Bedürfnisse entgegenzukommen glaubte. Goethe’s Kindheits- und Jugendgeschichte, in so lebendigen, farbenreichen und streng geschichtswahren Bildern aus der Feder eines unserer hervorragendsten Schriftsteller und Schilderer vorübergeführt, das entsprach erstem stillen Wunsche Unzähliger, das fiel anheimelnd und erwärmend in die Herzen und wurde sichtlich in weiten Kreisen des Publicums mit dankbarster Aufmerksamkeit empfangen. Es bedarf daher auch wohl keiner Rechtfertigung, daß der Verfasser seine zunächst der Gartenlaube überlassenen Schilderungen nunmehr auf eigene Füße gestellt und durch einen besondern Abdruck in die Reihe der selbstständigen Literaturerscheinungen gestellt hat. Unter dem Titel „Goethe’s Jugend, der Frauenwelt geschildert von Johannes Scherr“ ist das zusammenhängende Gemälde soeben in einer dem poetischen Inhalte entsprechenden Buchform als ein mit sauberer Eleganz ausgestattetes Bändchen erschienen und es dürfte überflüssig sein, wenn wir es an dieser Stelle eingehend charakterisiren, den obigen Hindeutungen auf den Werth und die Anziehungskraft des Stoffes noch eine besondere Empfehlung hinzufügen wollten.
Bemerkt sei nur für Diejenigen, welche die Leistung noch nicht kennen, daß Scherr hier zwar nur die Jugend Goethe’s bis zur italienischen Reise (1786) behandelt, aber seine Darstellung durch ein Schlußcapitel weit über diese Perioden hinausgeführt und überhaupt in dieselbe viele bedeutsame Winke auf das spätere Schaffen und Leben des Dichters verflochten hat. Im Uebrigen ist es auch mit der im Titel angedeuteten Begrenzung auf die Frauenwelt so genau nicht zu nehmen. Das anmuthige und charaktervolle Büchlein wird vielmehr eine genußreiche und erfrischende Gabe für Alle sein, die im heißen Gedränge unserer von gewaltigen Bewegungen und Fragen erzitternden, in ihren Neigungen und Stimmungen aber vielfach doch recht kleinsinnig gewordenen, der geräuschvollen Mittelmäßigkeit und Unbedeutendheit huldigenden Zeit gern Stärkung und Erhebung, Sänftigung und Klärung suchen mögen im gesammelten Aufblicke zu einem überreich von dem reinen Lichte unvergänglicher Schönheit durchstrahlten, auf hochgeschwungenen Bahnen das Höchste erreichenden Wirklichkeit.
Die Studentenloge im königlichen Schauspielhause zu Berlin. Denjenigen, welche in der Morgenstunde zwischen acht und neun Uhr den der Jägerstraße zugewandten Theil des Schillerplatzes passiren, wird es nicht entgangen sein, daß dort eine dichtgeschlossene Phalanx junger Leute die Thür des königlichen Schauspielhauses belagert. Mag es regnen oder schneien, mögen die Decemberstürme auch noch so rauh die jungen Wangen peitschen, unbeweglich beharren die Jünglinge auf ihrem Platze, und je näher die Zeiger der nebenanstehenden Kirchen auf die neunte Stunde rücken, um so beträchtlicher wächst das Häuflein der theaterbeflissenen Söhne der Alma mater Berlins. Endlich schlägt es neun Uhr; der Glückliche, welcher der Thür zunächst steht, faßt krampfhaft die eisige Klinke; der fest ausschreitende Schließer verkündet klirrend seine Ankunft; das „Ruhig, ruhig, meine Herren!“ des bärtigen Schutzmanns ertönt, jedoch nur, um ungehört zu verhallen, denn schon stürzt durch die geöffnete Thür die jugendfrische Cohorte unaufhaltsam bis zum Billetschalter vor. Doch hier strecken sich zu gleicher Zeit zehn bis zwölf Hände in die Oeffnung, alle bewaffnet mit der studentischen Legitimationskarte, dem blauen Bon und einem Fünfsilbergroschenstück; der Billetverkäufer weiß natürlich nicht, wem er zuerst gerecht werden soll, bis endlich ein schutzbeflissener Mann des Gesetzes Ordnung in die wogende Schaar bringt, indem er sie „zu Vieren“ abzählt und dann jeden einzeln vor den Schalter läßt. Diejenigen, welche die fortlaufenden Nummern eins bis zwölf – sie bilden die beiden vordersten Bänke der Loge – erhalten haben, eilen freudestrahlenden Antlitzes von dannen; es folgen darauf minder frohe, sogar mitunter verteufelt mürrische Gesichter, denn diese Plätze sind nichts weniger denn gut, bis endlich die letzte Nummer 47 verkauft worden ist. Wenige Minuten nach neun Uhr herrscht tiefes Schweigen in diesen noch soeben wildbelebten Räumen: die Studentenloge ist ausverkauft.
So etwa verläuft jeden Morgen der Hergang am Schillerplatze. Sehr stürmisch, ja zuweilen gefährlich ist es an den Tagen, wo eine Novität oder ein classisches Stück gegeben wird. Auch Lustspiele, in denen Vater Döring und seine getreue Partnerin, die Frieb-Blumauer, beschäftigt sind, erweisen sich als zugkräftig; jedoch der stärkste Magnet für die Studenten ist ein Mann, der von ihnen mit Beifall förmlich überschüttet wird, der auch in Leipzig wohlbekannte Richard Kahle. Ein Stück, in dem Kahle beschäftigt ist, füllt die Studentenloge bis zum letzten Platze, und der Künstler darf dessen gewiß sein, daß ihn nach jedem Actschlusse Hervorruf von Seiten seiner frühern Commilitonen ehrt. Denn Kahle ist Student gewesen, besuchte noch in jüngster Zeit als Schauspieler die Collegien des bejahrten Professors Werder und zeigt überhaupt unverhohlen, daß er ein reges Interesse für die Studentenschaft empfindet. Mag es nun auch immerhin der Fall sein, daß ein großer Theil des Beifalls, der ihm so bereitwillig gespendet wird, dem collegialischen Enthusiasmus der Studenten zuzuschreiben ist, die Kahle wohl immer noch als zu ihnen gehörig betrachten, so ist der Künstler dennoch in der That großartig. Wer Gelegenheit hatte, seinen Narciß, Richard den Dritten, Narr in „Was ihr wollt“, Marinelli und besonders Lear und Franz Moor zu sehen, stimmt gern und willig ein in den Applaus, der donnernd aus der kleinen Parterreloge erschallt.
[848] Neben Kahle sind es Döring und die Frieb-Blumauer, welche in hervorragendem Grade die Gunst der Studentenloge genießen. Doch bei ihnen haben die Studenten mit keiner Opposition zu kämpfen, wie dies bei Kahle der Fall ist. Dieses Veteranenpaar der Hofbühne besitzt die ungetheilte Neigung des gesammten Berliner Publicums, das sich von den aristokratischen Logen bis zum höchsten Gipfel des Olymps beeifert, seinen innigsten Beifall zu zeigen. Hauptsächlich glänzen beide Künstler in den harmlosen Lustspielen von Benedix; doch wem sind nicht außerdem die Musterdarstellungen der Frieb als Amme in „Romeo und Julie“, als Daja im „Nathan“, als Martha im „Faust“, wem nicht Döring’s Nathan, Mephisto und vorzüglich sein Malvolio in „Was ihr wollt“ bekannt?
Ein anderes, in der Studentenloge vielleicht noch geschätzteres Künstlerpaar sind Louise Erhartt und Berndal. Wie die Frieb und Döring die Hauptstützen des heitern Genres sind, so halten die Erhartt und Berndal durchaus das classische Drama aufrecht. Und weil sie gerade die Repräsentanten unserer erhabensten Dichtungen sind, die ohne sie sicher mehr und mehr aus dem einfachschönen Hause am Schillerplatze verdrängt würden, erfreuen sie sich auch des ungetheiltesten Beifalls der Studentenschaft. Einer von diesen beiden in der Geschichte des Berliner Hoftheaters so strahlenden Namen auf dem Theaterzettel genügt schon, um ein oben geschildertes Gedränge zu bewirken; sind Beide in irgend einem classischen Stücke beschäftigt, so ereignet es sich wohl, daß, wie jüngst bei einer Vorstellung des Don Carlos (30. October), vierzig Studenten, ohne ein Billet erhalten zu haben, davon ziehen müssen. Ein classisches Drama, ausgenommen die des großen Briten, die wiederum ungewöhnlich oft vorgeführt werden, ist eben nachgerade eine Seltenheit im Vergleich zu der ungemein häufigen Aufführung von Stücken, die für die Literatur nichts als kurzlebende Eintagsfliegen sind. Don Carlos hat bisher immer noch seinen Platz im Repertoire zu behaupten gewußt, und es ist immerhin dankend anzuerkennen, daß die Generalintendanz des Hoftheaters nicht dem herrschenden Geschmacke derart Rechnung trägt, daß sie das classische Genre gänzlich verabschiedet. Diese trostlose Oede bei classischen Dramen ist unbeschreiblich; während „Mamsell Angot“, „Die Fledermaus“, „Mein Leopold“ und die „Sieben Raben“ das Publicum zu Schaaren in die Räume der Friedrich-Wilhelmstädtischen, Wallner- und Victoriabühne ziehen, zeigt die Clavigofeier ein kaum zur Hälfte besetztes Parquet, der aristokratischen Logen und des ersten Ranges gar nicht zu gedenken. Als decorative Verzierung sind die drei bis vier von Cadetten besetzten Parquetbänke zu erwähnen, deren Insassen sehnsüchtig zum ersten Rang hinaufblicken und sich die holden Stunden im Geiste ausmalen mögen, da sie nicht mehr auf das plebejische Parquet commandirt, sondern ihnen artige Freibillets zum ersten Rang zugeschickt werden.
Bedauernswerthe, schnürbrust-verzierte Söhne des Mars, während euch die behaglich gepolsterten Parquetplätze, auf denen ihr so erbaulich die euch ewig fremden Räume des Schillertempels anschauen könnt, für eure hohe militärische Würde ungeziemend erscheinen, sitzen hinter euch, weit hinter euch, im entlegensten Eckchen, siebenundvierzig Jünger des Apoll, eines weit edlern Gottes, als euer menschenvertilgender Ares es ist, und schwitzen in dem engen Raum wie die Bratäpfel; während ihr gelangweilt – denn die schöne Helena und Ritter Blaubart sind euch capabler – die heiligen Klagen Tasso’s oder Iphigeniens anhören müßt, pochen hinter euch die Herzen der hellenisch gebildeten Jünglinge und in Manches Brust befestigt sich der Entschluß: Du mußt Aehnliches zu vollbringen versuchen.
Erhebend ist es, daß bei der immer mehr und mehr durchgreifenden Apathie der Berliner gegen das classische Drama die Studentenloge fort und fort das regste Interesse dafür zeigt. Freilich ist in den letzten Jahren manches edle Meisterwerk unserer Dichterheroen vom Repertoire geschwunden, und die Reihen der Darsteller classischer Rollen sind sehr empfindlich gelichtet worden. So Frau Jachmann-Wagner und Robert! Welchem altern Studenten – die der jüngern Semester kennen diese Namen wohl nur vom Hörensagen – treten nicht jene Abende vor die Seele, da Fr. Jachmann-Wagner die Iphigenie, die Mutter der feindlichen Brüder, die jungfräuliche Königin und die Antigone, Robert den Max, Mortimer, Romeo oder Don Carlos darstellte! Beide verließen fast zu gleicher Zeit die Berliner Hofbühne, Johanna Wagner gewiß schmerzlich bewegt von einem Publicum scheidend, von dem sie sich so geschätzt wußte, Emerich Robert aus unbekannten, vielleicht unmotivirten Gründen grollend, um unter Laube’s Aegide ein neues Feld für seine seltene Begabung zu gewinnen. Beide werden in Berlin wohl niemals ersetzt werden, und die Parterreloge war sich wohl bewußt, welchem Verlust die Hofbühne entgegen ging, denn die Abende, an denen die Jachmann und Robert zum letzten Male vor das Publicum traten, gehören zu den stürmischsten, die der Verfasser dieser Zeilen erlebt.
Die kleine Parterreloge im äußersten Winkel des Schauspielhauses hat übrigens auch ihre Stammgäste, und die Inhaber der hintersten Parquetplätze wissen manche Geschichte davon zu erzählen. Augenblicklich sind mir und wohl Jedem, der das Hoftheater häufiger besucht, drei Studenten bekannt, welche kaum etwas Anderes als das Theater studiren. Sie lesen jede bedeutende Zeitung Berlins und Wiens, das heißt sie haschen nach den Theaternachrichten, die darin enthalten sind. Wenn irgend ein neues Stück gegeben, oder in irgend einem Repertoirestück eine Veränderung in der Besetzung vorgenommen wird, trifft man sie sicher im Theater. Da sitzen denn die drei theaterstudirenden Söhne der Universität womöglich auf den drei ersten Sitzplätzen des Parterreraumes, die sie sich des Morgens nach langem Harren und mit vielen Rippenstößen sauer erkauft haben, und entwickeln in der Unterhaltung eine Kenntniß der gesammten Theaterverhältnisse, die überraschend ist. Ganz genau kennen sie natürlich jeden Stammgast des Schauspielhauses und wissen auf das Genaueste und Bestimmteste anzugeben, wo Frenzel, Remy, Schmidt-Cabanis, Glaßbrenner, Fontane, Gumbinner, Lindau und all die anderen kritischen Größen Spree-Athens ihren Platz haben. Besonders ereignißvoll ist für sie natürlich ein Novitätenabend. Der Dichter des Stückes kann nicht gespannter sein als die drei Insassen der Loge.
Und wie streng kritisch verfahren sie; ihr Beifall ist durchdringend, denn sie klatschen im Tempo, ihr abweisendes Zischen verhängnißvoll. Rosen’s „Schwere Zeiten“ wurden im jüngsten Frühjahre wohl nicht zum Mindesten von ihnen und ihrem Anhange, denn sie scheinen in der Parterreloge die Hegemonie zu besitzen, mit Donnergepolter zu Grabe getragen und die Iphigenie der Erhartt jeder Kritik zum Trotz mit unzähligen Hervorrufen belohnt. Nicht selten finden sie jedoch in der eigenen Loge – der fortwährenden Meinungsverschiedenheiten mit dem übrigen Publicum gar nicht zu gedenken – energischen Widerstand. Dann glühen die begeisterten Gesichter der Söhne der Berliner Hochschulen, „Hie Welf, hie Waiblingen!“ schallt es in dem engen Raume, und jede Partei sucht auf die durchdringendste Weise ihre Ansicht geltend zu machen. Ein solcher Kampf fand jüngst bei der ersten Aufführung von Brachvogel’s „Alte Schweden“ statt.
Welche Rolle die Studentenloge bei Aufführung des neuesten Lindau’schen Stückes spielte, und welche Conflicte dadurch zwischen der Intendantur und der Universität hervorgerufen wurden, dürfte den Lesern der Gartenlaube aus den Tagesblättern genügend bekannt sein.
Wilhelm Bauer, der arme Kreuzträger in München, hat zu seinem körperlichen noch das tiefste Seelen-Leid erfahren: sein einziges blühend herangewachsenes Töchterchen Constanze, die dem auf der ganzen rechten Seite seit Jahren völlig gelähmten Vater als Briefschreiberin und dadurch als traute Vermittlerin desselben mit der Außenwelt diente, ist nach wenigen Schmerzenstagen gestorben. Das ist das einzige Merkzeichen, welches im Jahre seines fünfundzwanzigjährigen Erfinder-Jubiläums noch zum Schluß sein hartes Schicksal ihm vergönnte. Wir schicken heute, aus Mangel an Raum, nur diese Notiz einem längeren Artikel voraus, welcher seinen letzten Lebenswunsch, daß seine 1849 begonnenen Erfindungen in ihren Modellen, Zeichnungen und Beschreibungen zum Besten seiner Familie öffentlich angekauft und aufbewahrt werden möchten, eingehender aussprechen soll.
Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der zweiundzwanzigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen, und machen ihnen zugleich die erfreuliche Mittheilung, daß im neuen Jahrgang folgende Erzählungen veröffentlicht werden:
- Von den demnächst erscheinenden belehrenden und unterhaltenden Artikeln heben wir vorläufig hervor:
Am Grabe eines Märtyrers. Mit Abbildung. – Eine Künstler-Laufbahn. Mit Abbildung. – Der Wüstenfuchs und das nächtliche Thierleben in der Oase. Von dem Afrikareisenden G. Schweinfurth. Mit Abbildung. – Ein Pionier deutscher Kunst. Von W. Hamm. Mit Abbildung. – Räuber und Wegelagerer im Pflanzenreiche. Von Carus Sterne. Mit Abbildung. – Am Sterbebette eines Kaisers in der Wiener Hofburg. Mit großer Illustration. – Das Urbild der Isolde. Mit Abbildung. – Das deutsche Gaunerthum und seine Gegenspieler. Von Fr. Helbig. – Die Ernährung der Kinder. Von H. v. Liebig (Sohn des Justus v. Liebig). – Theater-Erinnerungen eines Siebzigjährigen. Von Fr. Tietz. – Ein Gang durch die Berliner Stadtvogtei. Von Adolf Rutenberg. etc. etc.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Neujahr aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennige erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennige anstatt 1 Mark 60 Pfennige). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: errreichen