Die Gartenlaube (1874)/Heft 18
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No. 18. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Ich hab’ sie lieb gehabt,“ fuhr Frau Löhn fort, „so recht herzlich lieb, als wär’ sie mein Kind; aber gerade deswegen mache ich ein Kreuz d’rüber und sage: ‚Gott sei gelobt! die Qual in von ihr genommen‘. … Heute Morgen im Frühstückssaal, da kamen mir die Thränen, und ich meinte, ich müßte gleich ersticken vor Freude, wenn ich nicht aufschreien dürfte – sehen Sie, das war’s! Ich bin dann ’rüber gegangen in das Haus, das so viel Marter und Herzeleid mit angesehen hat, und da hab’ ich mich so recht von Herzen ausgeweint – nun darf ich’s ja. Nun heißt’s nicht mehr Komödie spielen und der Gesellschaft da drüben ein X. für ein U vormachen; nun wird die Larve in die Ecke geworfen, die ein ernsthaftes Gesicht machen mußte, wenn ich den Spitzbuben, den Halunken am liebsten die Augen ausgekratzt hätte. Nichts für ungut, gnädige Frau, denn heraus muß es! Aber ich befühle mir noch manchmal den Kopf, ob’s auch wahr ist, was ich jetzt erlebte, und nachher kommt mir die Angst, weil der mit dem geschorenen Kopfe die Sache doch wieder dreht wie er will, und wenn der junge gnädige Herr auch den allerbesten Willen hat. Da heißt’s nun schnell sein und zuerst kommen. … Was hab’ ich gesagt, gnädige Frau? Sie sind richtig der gute Engel gewesen, den der liebe Gott geschickt hat – seine Langmuth war zu Ende, und dem jungen Herrn Baron sind endlich die Augen aufgegangen – wie er heute Morgen in den Saal trat und Sie ansah, da wußte ich auf einmal, was die Glocke geschlagen hatte. … Also, um’s kurz zu machen: Ihnen ganz allein verdankt der Gabriel sein Glück, Ihrer Klugheit und Ihrem guten Herzen, und da müssen Sie nun auch die Sache zu Ende bringen. … Mit dem jungen gnädigen Herrn ist’s nichts – nehmen Sie mir’s nicht übel! Aber er ist zu lange böse und hart gewesen, als daß ich und der Gabriel so schnell ein Herz zu ihm fassen könnten. Ich hab’s heute Morgen versucht; aber es ging absolut nicht, der Doctor war auch dabei, und da stand ich wie auf den Mund geschlagen. … Gabriel, gehe einmal hinaus! Die frische Luft ist Dir nöthig wie das liebe Brod, und ich hab’ der gnädigen Frau mancherlei zu sagen.“
Der Knabe, um dessen Schultern die junge Frau tröstend ihren Arm gelegt hatte, stand auf und ging in den Garten, um sich auf die Bank unter das Rosengebüsch zu setzen – von dort aus konnte er durch das zertrümmerte Glasfenster der Thür bis auf das Rohrbett sehen.
„Also der junge Herr Baron läßt den Zettel nicht mehr gelten, den der selige gnädige Herr geschrieben haben soll; warum er das auf einmal thut, weiß ich nicht. Ich kann nur dem lieben Gott danken, daß es so ist,“ fuhr die Beschließerin fort. „Das Schlimme ist nur, daß es nun einen heillosen Krieg mit den – Gott verzeih’ mir’s! – mit den Pfaffen giebt, und daß wir da nicht Recht behalten, das steht so fest wie der Himmel droben. Sie haben’s ja heute vom Herrn Hofmarschall gehört; er lachte dem jungen Herrn geradezu in’s Gesicht. … Nun weiß ich aber was“ – sie dämpfte ihre Stimme zum leisesten Flüstertone – „gnädige Frau, es ist etwas Schriftliches da, auch ein Zettel vom gnädigen Herrn, den er vor meinen Augen, wirklich Buchstaben für Buchstaben, geschrieben hat. Dort“ – sie zeigte auf die linke Hand der Sterbenden – „sie hat es in ihrer Hand. Es ist eine kleine Büchse, sieht aus wie ein Buch von Silber, und da drin liegt der Zettel. … Die arme, liebe Seele – soll Einem da das Herz nicht brechen? Da sagen die Unmenschen, sie sei ihrem Herzliebsten untreu geworden, und da liegt sie nun seit dreizehn Jahren und behütet den armseligen Zettel ängstlicher als ihr Kind und leidet Schmerzen in den kranken Fingern, die sie in der Angst darum klammert, weil es das Letzte ist, was er ihr gegeben hat, und weil sie denkt, Jeder, der ihr nahe kommt, will es ihr nehmen.“
Der Moment trat der jungen Frau vor die Augen, wo der Hofprediger nach dem Schmucke gegriffen hatte. Jetzt verstand sie die folternde Angst des armen Weibes, das kühne Auftreten der Löhn, ihre wildverzweifelte Abwehr, mit der sie sich zwischen die Kranke und den Hofprediger gestellt hatte. Ein Nervenschauer überlief sie bei dem Gedanken, daß dort zwischen den dünnen, blassen, halberkalteten Kinderfingern ein Zeuge auf die Stunde der Auferstehung wartete. Der Priester hatte ihn unwissentlich halb und halb in der Hand gehabt, ohne daß ihn der hülfreiche Geist seines Herrn und Meisters ein „Zermalme ihn!“ zugeflüstert.
„Sehen Sie, gnädige Frau, das Unglück und die Noth mußten erst kommen, ehe das arme Ding dort mich auch nur mit einem Auge ansah,“ sagte die Beschließerin weiter. „Ich bin immer ein häßliches, unfeines Weib gewesen, und da konnte ich’s ja auch gar nicht verlangen. Wie sie der selige gnädige Herr nach Schönwerth brachte, da war’s ein Gethue in dem Schlosse, als dürfte ein anderes Menschenkind zu dem indischen Hause nur auf den Knieen rutschen. Der Herr war ja selbst wie närrisch und verlangte es so von seinen Leuten. Unsereins [284] durfte sie kaum ansehen, geschweige denn anreden, wenn sie wie ein kleines Kind durch die Schloßgänge lief und ihr Reh nachzerrte und sich von ihrem Schatze nicht haschen ließ, und wenn er wie toll hinterdrein brauste, bis sie sich auf einmal wie ein flinkes Bachstelzchen schwenkte und husch mit beiden Armen an seinem Halse hing – da mußte ich manchmal die Zähne zusammenbeißen, um nicht hinzulaufen und das federleichte Ding im rothen Jäckchen und Florkleidchen vor Liebe zwischen meinen groben Händen zu zerdrücken. Sehen Sie sie doch an! So was Wunderschönes sieht die Welt so bald nicht wieder.“
Jetzt brach ihre Stimme; sie stand auf und schob ordnend wie eine zärtlich stolze Mutter an den schweren, schwarzblauen Flechten, die zu beiden Seiten der leise verathmenden Brust niederhingen.
„Ja, die Haare, die hat er manchmal auf der Hand gewogen und geküßt,“ seufzte sie auf – sie blieb am Bett stehen. „Er mag wohl auch gedacht haben wie ich, daß sie schwerer seien, als das ganze kleine Mädchen selbst. Perlen und Rubinsteine und Goldstücke sind nur immer so drüber hingestreut gewesen; das Alles hab’ ich dem Herrn Hofmarschall herausgeben müssen. … Sie hatte eine feine Kammerjungfer, die der Herr Baron aus Paris oder Gott weiß woher mitgebracht hatte; die mußte sie bedienen, und mit der war sie so gut wie ein Engel – die gelbhäutige Hexe hat’s ihr schlecht genug vergolten. … Der gnädige Herr ist einmal früh umgefallen und für ein paar Stunden so gut wie todt gewesen, und nachher beim Aufwachen, da hat es sich gezeigt, daß die Dunkelheit in seinem Kopfe – sie sagen, die Melancholie – die schon vorher angefangen hatte, vollends ausgebrochen ist. Von dem Augenblicke an waren der Herr Hofmarschall und der Caplan, der jetzige Herr Hofprediger, die Herren im Schönwerther Schlosse.
Ich hab’ Ihnen ja schon einmal erzählt, daß die ganze Schloßgesellschaft zu den zwei – Spitzbuben gehalten hat – nichts für ungut, gnädige Frau – und die Schlimmste ist die noble Kammerjungfer gewesen. Sie hat die schändliche Geschichte, daß die arme Frau den schönen Reitknecht Joseph lieb habe, ausgeheckt und dem kranken Herrn weisgemacht. Dafür hat sie auch ein paar tausend Thaler mitgenommen, wie sie nach Hause gereist ist. … Nun bin ich ’nübergegangen in’s indische Haus – heimlich, denn mein Mann durfte es ja nicht wissen. Sie kauerte dazumal hier auf dem Bette, verwildert und halb verhungert; aus Angst vor dem Hofmarschall wollte sie lieber nicht essen und im unordentlichen Bette schlafen, um nur die Riegel nicht wegzuschieben. … Ich weiß bis heute nicht, wie es gekommen ist, aber er hat nie gemerkt, daß sie an mir eine Stütze gehabt hat; vielleicht bin ich doch nicht so dumm, wie er immer sagt. … Sechs Monate lang hat sie wie eine Gefangene hier im Hause gesteckt. Das Jammern und Weinen vor Sehnsucht nach dem Manne, der nichts mehr von ihr wissen wollte, vergesse ich in meinem Leben nicht. … Nachher ist der Gabriel geboren worden, und von da an wurde ‚die harte, grobe, unbarmherzige Löhn‘ als Zuchtmeister im indischen Hause angestellt. … Manchmal bin ich auch bei dem kranken gnädigen Herrn gewesen, wenn mein Mann seine Schwindelanfälle hatte, da mußte ich bedienen, denn ich wußte, wie er’s gern hatte. … Wie oft habe ich da ihren Namen auf der Zunge gehabt, um ihn nur einmal an sie zu erinnern und ihm zu sagen, daß er einen Sohn habe, und daß Alles niederträchtige Lüge sei, was sie ihm weisgemacht hatten, aber es mußte tapfer wieder hinuntergeschluckt werden, denn wenn er auch noch so gut und gescheidt war, sobald seine schwarze Stunde kam, da beichtete er dem Caplan Alles, und da wäre ich ohne Gnade an die Luft gesetzt worden, und die Beiden im indischen Hause hätten gar Niemand mehr auf der Welt gehabt.“
Liane griff nach ihrer Hand und drückte sie innig; diese Frau hatte einen unglaublichen Fond von Liebe, Selbstverleugnung und zärtlicher List für die beiden Unglücklichen entwickelt, wie kaum eine Mutter für ihr eigen Fleisch und Blut. … Sie wurde ganz roth und schlug förmlich erschrocken die Augen nieder, als die schöne Hand sich so weich und lind um ihre groben Fingerknöchel legte.
„Nun ging’s aber bei dem kranken Herrn auf’s Sterben los,“ fuhr sie unsicher, fast bewegt fort. „Der Herr Hofmarschall und der Caplan waren die ganze lange Zeit nicht von seiner Seite gewichen. Einer war immer da und sah d’rauf, daß Alles am Schnürchen ging, wie sie’s eingefädelt hatten, und da mußte es doch passiren, daß der Herr Hofmarschall sich erkältete und krank wurde, und der Caplan mußte in die Stadt, um dem katholischen Prinzen Adolph die Sterbesacramente zu reichen – und das war eine Fügung vom lieben Gott; es mußte Alles so kommen; den wie der geschorene Kopf zum Schloßthore ’naus war, da kriegte mein Mann seinen Schwindelanfall so derb, daß er nicht vom Kanapee aufstehen konnte. Na, ich war ja da! … Ich stand im rothen Zimmer neben dem kranken Herrn und reichte ihm die Medicin – und die dunklen Vorhänge hatte ich von den Fenstern wegziehen müssen; da fiel die liebe Sonne herein auf sein Bett, und da war’s doch gerade, als wäre auch ein Vorhang von seinen Augen weggezogen worden; er sah mich ganz hell an, und auf einmal streichelte er meine Hand, als wollte er mich loben für meine Bedienung – da ging mir’s wie Feuer durch den Kopf. ‚Du riskirst’s,‘ sagte ich mir und rannte fort. Zehn Minuten d’rauf kroch ich mit der armen Frau durch das Maßholdergebüsch drüben beim rechten Flügel und durch die kleine Bohlenthür an der eisernen Wendeltreppe. Niemand sah uns; kein Mensch hatte eine Ahnung, daß da Etwas passirte, wofür die ganze Schloßgesellschaft vom Herrn Hofmarschall ausgepeitscht worden wäre, wenn er’s gewußt hätte. … Ich machte die Thür im rothen Zimmer auf – mein Herz hämmerte ordentlich vor Angst – und sie flog mir voraus – den Aufschrei vergess’ ich nicht, so lange mir die Augen im Kopfe stehen. Das arme Weib! Aus ihrem schönen Herzallerliebsten, aus dem stolzesten Herrn war ein Gespenst geworden. … Sie warf sich über sein Bett hin. Ach, neben seinem gelben, hohlen Gesichte sah man erst, wie frisch und schön sie war; wie eine rothweiße Apfelblüthe lag sie auf den grünseidenen Decken. … Er sah sie zuerst ernsthaft an, bis sie ihre Arme um seinen Hals legte und ihr kleines Gesicht an seines drückte, ganz so wie früher. Da streichelte er ihr das Haar, und sie fing an zu sprechen, in ihrer Sprache – ich verstand kein Wort – und das ging immer schneller, und sie mußte wohl Alles ’runter sagen, was sie auf dem Herzen hatte, denn seine Augen wurden immer größer und funkelten, und das bischen Blut, das er noch in den Adern hatte, trat ihm in die Stirn. … Und was ich auf dem Herzen hatte, das sagte ich auch. … Herr Gott, mir wurde aber doch angst und bange; ich dachte, er stürbe auf der Stelle.
Er wollte mit aller Gewalt sprechen – es ging nicht. Da schrieb er auf ein Papier: ‚Können Sie mir Gerichtspersonen herbeischaffen?‘ Ich schüttelte den Kopf, das war unmöglich; er mochte es wohl selbst am besten wissen. … Da schrieb er nun wieder. Wie mich das dauerte! Die Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und in den Augen hatte er Angst, ich sah’s wohl, wahre Seelenangst um das schöne, liebe Wesen, das ihm fortwährend das Gesicht streichelte und so selig war, daß es wieder bei ihm sein durfte. … Er war fertig, und ich mußte ein Licht anbrennen und Siegellack bringen. Mit dem kostbaren Ringe, den er dem Herrn Hofmarschall geschenkt hat, machte er zwei große Siegel unter das Geschriebene – er that es selbst; aber weil er zu schwach war, so mußte ich seine Hände derb niederdrücken, damit das Wappen ja recht klar und scharf in dem Lacke ausgeprägt wurde. Er sah es nachher durch ein Glas an, und es mußte recht sein, denn er nickte mit dem Kopfe. Er hielt mir den Zettel hin; ich sollte die Aufschrift laut lesen; und da buchstabirte ich denn auch heraus: ‚An den Freiherrn Raoul von Mainau.‘ Und da übergab er mir das Papier zur Besorgung; aber sie sprang auf und riß es mir weg und küßte es in einem fort; nachher schüttete sie das, was in dem kleinen, silbernen Buche lag, auf die Erde und legte den Zettel dafür hinein. … Wie ein Lachen ging es dabei über sein Gesicht, und er winkte mir zu, als wollte er sagen, es sei da einstweilen gut aufgehoben. Er hat sie nachher noch geherzt und geküßt – zum letzte Male auf Erden; er hat’s gewußt, aber sie dachte es nicht. … Sie wollte auch nicht fort, als er mir ein Zeichen machte, daß ich sie heimbringen sollte. Sie fing zu weinen an wie ein Kind; aber sie war ja so sanft und folgsam – er sah sie nur ernsthaft an und hob den Finger, und da ging sie hinaus. … Wenn sie nur immer so gefolgt hätte! [285] Aber nun, wo sie ihn wiedergesehen hatte, sehnte sie sich krank; sie sah nicht einmal den kleinen Gabriel an, so sehr setzte ihr der eine Gedanke zu – und da geschah’s eben. Sie entwischte mir und war ohne mich in das Schloß gelaufen, und der Herr Hofmarschall hat sie im Gange vor dem Krankenzimmer ertappt. … Wie es dann gekommen ist, ob sie hat schreien wollen, und er hat ihr deshalb die Kehle zugedrückt, oder ob er’s in der wüthenden Eifersucht gethan hat, das weiß Niemand, und an die Sonne wird’s auch niemals kommen; aber gethan hat er’s; ich weiß es von ihr selber, denn ich verstand ihr Wesen und ihre Augen so gut, als ob sie spräche. Im Anfange war ja ihr Kopf auch noch ganz klar, bis der Hofprediger gekommen ist und immer so in sie hineingeredet hat – da schrie sie endlich einmal auf, so gräßlich, wie Jemand, der gefoltert wird. Herr Gott, der ist gelaufen! Er hat’s nicht wieder probirt; aber sein Schönthun verfing auch nicht mehr – das arme Gehirn war nicht wieder in Ordnung zu bringen. … Nun habe ich Alles gesagt, und nun bitte ich Sie, nehmen Sie die Kette mit dem silbernen Büchelchen an sich –“
„In diesem Augenblicke doch nicht?“ rief Liane entsetzt. Sie trat an das Bett und bog sich über die Sterbende. Aus den geöffneten Lippen wehte es ihr schon wie aus einer Gruft entgegen; aber der Busen hob und senkte sich immer noch fast gleichmäßig. „Ich würde mich nie beruhigen, wenn sich ihre Augen im Momente der Berührung doch noch einmal öffneten und die Wegnahme ihres Kleinods als letzten Eindruck in sich aufnähmen,“ sagte die junge Frau zurücktretend. „Wenn Alles vorüber ist, dann holen Sie mich und sei es in tiefster Nacht. Ich will ihr das Document aus der Hand nehmen; Sie haben Recht, das muß ich selbst thun; aber bis dahin darf diese arme Hand nicht berührt werden. … Frau Löhn, es thut mir leid, allein ich muß Ihnen einen Vorwurf machen: Sie mußten damals den Zettel auf alle Fälle an die Adresse abgeben.“
„Gnädige Frau!“ fuhr die Beschließerin fast wild empor. „Das sagen Sie jetzt, wo Alles gut ausgeht – aber damals? Ich stand mutterseelenallein; die ganze Gesellschaft hatte ich gegen mich. Männern, wie dem alten Herrn und dem Pfaffen, war ich nicht gewachsen, da werden gescheidtere Köpfe als ich zu Schanden – und der junge Herr, der die Sache hätte ausfechten sollen? Du lieber Gott! Ja, wenn man sie, wie den blauen Schuh, unter die Glasglocke hätte legen können!“ Eine tiefe Gluth schoß der jungen Frau in die Wangen, und die Beschließerin verstummte erschrocken. „Ach, was schwätz’ ich da! Es ist ja Alles gut gemacht,“ verbesserte sie sich kleinlaut. „Aber damals war’s schlimm. Gnädige Frau, Sie haben’s ja heute selbst gehört, daß er den armen Jungen, wie einen Hund aus dem Wege gestoßen hat. … Ich will Ihnen sagen, wie die Sache gekommen wär’: Der gnädige Herr hätte mir den Zettel aus der Hand genommen und ihn den beiden anderen Herren gezeigt; die hätten hellauf gelacht und ihm gesagt, daß sie das besser wissen müßten, denn sie seien Tag und Nacht um den Kranken gewesen. Und der Betrug wär’ auf mir sitzen geblieben, so gewiß, wie zwei mal zwei vier ist, so gewiß, wie sie mich zum Schloßthore ’nausgepeitscht hätten. … Nein, nein, da hieß es, aufpassen und warten. … Ja, wenn ich müßte, was auf dem Zettel steht, das wäre noch anders; aber ich stand dem sel’gen Herrn nicht so nahe beim Schreiben, und wie er mir das Papier hinhielt, da hatte ich vollauf zu thun, um die Adresse herauszubuchstabiren. … Es ist noch gar nicht lange her, da hab’ ich der Frau einmal in ihrem tiefsten Morphiumschlafe das Büchelchen abgenommen, um mir die Sache anzusehen; aber das Ding ist nicht aufzubringen; man mag es ansehen, wo man will, es ist wie zusammengehämmert; kein Schloß, kein Drücker ist zu finden – ich glaube, es wird aufgebrochen werden müssen.“
„Desto besser,“ sagte Liane. Sie trat an die Glasthür und winkte Gabriel herein. Es war spät geworden, viel zu spät für die junge Frau, um Mainau noch eine Mittheilung zu machen, bevor er zu Hofe ging, und er hatte ihr ja gesagt, er müsse aus besonderen Gründen der Einladung folgen. Fast war es auch für sie zu spät, noch Toilette zu machen. Ihr ganzes Gefühl empörte sich: schmücken sollte sie sich, vor dem Spiegel stehen in diesen furchtbaren Stunden, wo alte, verschollene Sünden zum Austrag kommen mußten. … Sie verließ rasch das indische Haus, um dennoch Mainau aufzusuchen und ihm in flüchtigen Umrissen das Nöthigste mitzutheilen; aber er war nicht zu finden, und ein Lakai sagte ihr, der gnädige Herr sei in Folge der Wolkershäuser Nachrichten noch einmal fortgegangen, wohin wisse er nicht, vielleicht zum Schloßgärtner. Sie ging mit schwerem Herzen in ihr Ankleidezimmer.
Auf dem weiten Parterre vor dem Schönwerther Schlosse hielt die Equipage mit den Apfelschimmeln, und dicht am Portale stand der Glaswagen des Hofmarschalls. Dem wohlgenährten, gesetzten Kutscher auf dem Bocke machte sein Gespann keine Mühe. Es waren schöne, sanftmüthige Pferde; sie standen wie die Lämmer, während die Apfelschimmel drüben wildschnaubend Funkenregen aus dem Kies stampften.
„Die Bestien!“ knurrte der Hofmarschall, der sich im Rollstuhle die Treppe hinabtragen ließ. Er hätte gehen können, allein im Hinblicke auf so manche anhaltende Stehmarter in Gegenwart der allerhöchsten Herrschaften mußte er mit seinen Kräften haushalten.
Drunten im Vestibül ging Mainau wartend auf und ab, und in dem Augenblicke, wo die Lakaien den Rollstuhl auf dem Mosaikfußboden niedersetzten, kam auch ein Mann aus einem Seitencorridor. Als er den alten Herrn erblickte, verdoppelte er seine Schritte und verließ das Schloß durch die große Glasthür.
Der Hofmarschall reckte sich in seinem Stuhle empor, als traue er seinen Augen nicht. „Wie, war denn das nicht der Lump, der Dammer, der Knall und Fall fortgejagt werden mußte?“ rief er zu Mainau.
„Ja, Onkel.“
„Nun, in des Kukuks Namen – wie kommt denn der Mensch dazu, so sans façons hier durchzugehen?“ wandte er sich scheltend an die Lakaien.
„Gnädiger Herr, er hat in der Domestikenstube sein Abendbrod gegessen,“ antwortete einer derselben zögernd.
Der Hofmarschall schnellte empor; er stand kerzengerade auf seinen kranken Beinen. „In meiner Domestikenstube? An meinem Gesindetische?“
„Lieber Onkel, über diese Domestikenstube und diesen Eßtisch habe ich doch vielleicht auch ein klein wenig zu verfügen – wie?“ sagte Mainau gelassen. „Dammer hat mir Nachrichten aus Wolkershausen gebracht; er kann erst morgen zurück reiten; soll er inzwischen hier in Schönwerth hungern? … Es war eine Tactlosigkeit von ihm, daß er Deinen Weg gekreuzt hat; im Uebrigen war er mit meiner Erlaubniß da.“
„Ach so, ich verstehe! Du bist ja Philanthrop und hast jedenfalls aus Wolkershausen eine Besserungsanstalt, eine Art Verbrechercolonie gemacht – sehr gut!“ Der Hofmarschall ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen.
„Dammer hat den Respect Dir gegenüber aus den Augen gesetzt. Es war selbstverständlich, daß er aus Schönwerth entfernt wurde.“ Mainau sprach mit unerschütterlicher Ruhe. „Aber man hatte ihn auch zu verschiedenen Malen furchtbar gereizt. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es mit einem Menschen, nicht aber mit einem Hunde zu thun haben, den wir für eine natürliche und gerechte Opposition peitschen.“ Die hohe Röthe, die bei diesen letzten Worten seine Wange bedeckte, bewies, daß er sich recht gut des Momentes erinnere, wo er sich durch seinen Jähzorn hatte hinreißen lassen, die Hand so unwürdig gegen einen Menschen zu erheben. „Zudem litt ein Anderer, Unschuldiger, sein alter Vater, unter der allzu harten Strafe der sofortigen Entlassung. Er hat einen strengen Verweis erhalten und ist nach Wolkershausen versetzt worden. Damit war wohl die Sache ausgeglichen.“
„So? meinst Du? Ein famoser Ausgleich zwischen dem Hofmarschall von Mainau und einem Halunken! Gut – es rollt sich eben Alles ab, wie es muß, und der längste Faden hat ein Ende. … Willst Du die Güte haben, diesmal den Vortritt zu nehmen? Ich möchte Deine wilden Bestien nicht im Rücken haben.“
„Ich warte auf meine Frau, Onkel.“ Fast zugleich mit diesen Worten erscholl das Rieseln einer seidenen Schleppe vom [286] Säulengange her, und Liane trat in das Vestibül. Mainau hatte ihr gesagt, daß die Damen in großer Toilette befohlen seien; deshalb erschien sie im silberstoffenen Brautkleide. Die einzelnen großen Smaragden ihres Brauthalsbandes funkelten als Nadeln im Haare und hielten da und dort einen kleine Schneeglöckchenstrauß in den zurückgeschlagenen rothblonden Wellen fest.
„Ah, welche Ueberraschung für unsern Hof!“ stieß der Hofmarschall heraus; er war wüthend. Der Gedanke, daß sie mitkommen werde, hatte ihm augenscheinlich vollkommen fern gelegen. „Allez toujours, Madame!“ sagte er, nach dem Ausgange winkend und seinen Stuhl mittelst eines Ruckes selbst zurückschnellend, als sie zögerte, an ihm vorüberzugehen.
Mainau reichte ihr den Arm und führte sie hinaus. „Meine Braut ist lieblich wie Schneewittchen, aber über ihrem holden Gesicht liegt ein Trauerflor,“ flüsterte er ihr zärtlich zu.
„Ich habe Dir viel Ernstes mitzutheilen; mir ist, als schritte ich über glühende Kohlen,“ sagte sie hastig und angstvoll. „Wären wir nur wieder daheim!“
„Geduld! Ich werde meine Mission am Hofe möglichst rasch durchführen, und dann, dann fliege ich, Feinsliebchen im Arm, in die weite, weite Welt hinein.“
Er hob sie in den Wagen. Die Apfelschimmel brausten davon, und in gemächlichem Trabe folgten die Braunen des Hofmarschalls.
In der Residenz hatte man sich daran gewöhnt, die zweite Heirath des Baron Mainau – trotz der hohen Abkunft der jungen Frau – als eine Art Mésalliance anzusehen. Man erzählte sich, sie sei eigentlich nur Beschließerin und Gouvernante; die schwarzseidene Schürze vorgebunden, den Schlüsselkorb am Arme, wandere sie durch Küche, Keller und Waschhaus; das sei ihr Element – abscheulich! Eine Baronin Mainau, die Gemahlin eines der reichsten Herren im Lande! … Gott, welche reizende Naivetät und Unwissenheit in solchen Dingen hatte doch das ganze Wesen der ersten Frau so anziehend, so unbeschreiblich distinguirt gemacht! Sie war nicht die Frau, sondern die Fee des Hauses, die echt aristokratische „Lilie des Feldes“ gewesen. Sie war nur auf Erden gewandelt, damit man kostbare Spitzenhüllen für sie klöppele, der feinste Champagner für ihre kleine Kehle perle und zahllosen Händen und Füßen das Glück werden sollte, ihr zartes, flaches Körperchen zu tragen, zu pflegen und zu schmücken. Hätte sie Jemand gefragt, wo die Küche in Schönwerth sei, sie würde dem Unverschämten im allerliebsten Zorn mit der Reitpeitsche Eins hinter das Ohr versetzt haben; dagegen war sie in den Pferdeställen zu Hause gewesen, wie in ihrem Boudoir, und der berühmte Jasminduft hatte oft das Stallparfüm in ihren Kleidern nicht zu decken vermocht; aber das war ja eben so undefinirbar aristokratisch, so köstlich originell gewesen. Die zweite Frau hatte von allen diesen guten Leuten noch keiner gesehen; man wußte aber, daß sie groß und rothhaarig sei, und fügte nun diesen zwei Eigenschaften als nothwendige Folge robuste Schulterbreite, derbe Füße, rothe Hände und die intensivsten Sommersprossen hinzu. … Weiter war man gewöhnt, den Baron Mainau als Garçon in der Residenz, am Hofe erscheinen zu sehen, und bei der letzten großen Soirée hatte er auf die boshafte Frage, wie es seiner jungen Frau gehe, achselzuckend geantwortet: „Ich vermuthe, gut – seit drei Tagen bin ich nicht in Schönwerth gewesen.“ … Es war ferner unumstößlich festgestellt, daß seine Abreise das Signal zur Scheidung sein werde – und nun, nun trat er auf einmal in den Concertsaal des herzogliche Schlosses, und an seinem Arme hing ein junges Wesen, schneeig weiß von der Stirn bis auf die feine atlasbedeckte Fußspitze, von so bleicher, ernster, aber auch kalter Schönheit, als habe er sich die schneeüberrieselte Eiskönigin von den Gletscherbergen herabgeholt.
Die Frau Herzogin hatte einen ganz besonderen Glanz zu entfalten gewünscht; es war das erste Hofconcert seit dem Tode des Herzogs und, wie man sich freudig zuraunte, auch der erste, kleine, scheinbar improvisirte Ball, mit welchem sie die hoffähige Jugend zu überraschen gedachte. Der Concertsaal mit der anstoßenden Reihe von kleineren Sälen schwamm in weißem Tageslicht. Es troff von den mächtigen Gaskronen am Plafond, den Candelabern an den Ecken, und im fernen Wintergarten, der die Zimmerreihe beschloß, schossen Lichtfontainen aus riesigen Lilienstengeln, aus Maiblumenglocken von weißem Glas, die sich gleichsam aus der fremdländischen Pflanzenwucht der Boscage emporrangen. Was die hoffähigen Damen an Juwelen aufzubringen vermochten, es lag hingestreut auf Locken, Busen, auf schwerniedersinkendem Atlas und in hochgepuffter Gaze. Und die Seidenpracht rauschte; die flimmernden Fächer schwirrten, und alte wie junge, schöne wie häßliche Lippen flüsterten und kicherten in den Tönen der Medisance, der Schmeichelei, der heimlichen Liebe und des versteckten Neides. Dieses verworrene Geräusch verstummte einen Augenblick vollständig beim Eintritt „der Schönwerther“. … So sah sie aus, die fast mythenhaft gewordene zweite Frau? So eigenartig stolz und gelassen? So wenig berührt und eingeschüchtert durch die versammelte glänzende Hofgesellschaft? Und was war das nun wieder für eine neue Marotte des Sonderlings, des Phantasten, der sie führte? Er hatte diese Gräfin Trachenberg durch die Scheinehe in ein abscheulich schiefes Licht gebracht; er hatte sie, als schäme er sich ihrer, bisher scheu versteckt; sie war der Gegenstand mitleidiger Spöttereien gerade bei Hofe gewesen, und weil dadurch das Verhältniß nachgerade ein unhaltbares geworden, so befand sich die Bitte um Lösung desselben bereits auf dem Wege nach Rom. Da gab es keinen Zweifel mehr, und gerade da führte er sie bei Hofe auf, mit einer Ostentation, als wollte er sagen: „Seht, so schlecht ist mein Geschmack doch nicht gewesen! Selbst zum Zwecke meiner Komödie habe ich es nicht über mich vermocht, meinen Schönheitssinn ganz zu verleugnen. Seht sie Euch noch einmal an, die Vielbespöttelte, ehe ich sie – heimschicke!“ Und die Herren meinten, er sei geradezu toll geworden vor Uebermuth und Eitelkeit; etwas Harmonischeres als diese zwei hohen Gestalten nebeneinander lasse sich nicht denken. Die erste Frau sei stets wie ein Schmetterling vor ihm hergegaukelt, und wenn sie ja einmal um der Etiquette willen ihre Fingerspitzen auf seinen Arm gelegt und ihr schmales Figürchen an ihm in die Höhe gereckt habe, so sei das ein fast lächerlich gezwungener Anblick gewesen. Ehe die zweite Frau noch ihren Weg durch den ungeheueren Saal vollendet, war es bereits festgestellt, daß sie eine Lorelei-Erscheinung und er – ein blinder Narr sei.
Man sah freilich nicht, wie er plötzlich den schönen, weißen Arm fester an sich drückte, als überkomme ihn die Reue, sein junges Weib diesen sie gierig anstierenden Augen ausgesetzt zu haben; man hörte nicht, daß es zärtliche Worte, Worte einer jäh erwachenden, heftigen Eifersucht waren, die er ihr zuflüsterte; man verstand ihn nicht, als er sie so feierlich betonend mehreren alten Damen als seine Frau vorstellte – es war eine Farce, eine neue Caprice, in der er sich gefiel und bei welcher das arme Opfer an seiner Seite und der ganze Hof wohl ober übel mitwirken mußten – wie immer.
Die einzelnen Töne aus dem Orchester herüber schwiegen plötzlich; die Anwesenden standen wie die Statuen, und sämmtliche Augen richteten sich auf die Seitenthür, durch welche die Herzogin kommen mußte. Die Flügel wurden feierlich zurückgeschlagen, und Serenissima, gefolgt von den beiden kleinen Prinzen und mehrere Damen und Herren, trat in den Saal.
In diesem Augenblicke suchte Liane unwillkürlich Mainau’s Gesicht. Eine dunkle Flamme lief ihm bis über die Schläfen, und ein böses Lächeln flog um seinen Mund.
„Ah, in gelber Seide, und Granatblüthen in den Locken!“ sagte er leise, ohne den Blick der jungen Frau zu erwidern. „Liane, sieh Dir diese schöne Fürstin genau an! So sah sie aus an dem Ballabende, an welchem sie mir versprach, mein zu werden. Himmlische Reminiscenzen, die sie, wie es scheint, gerade heute aufzufrischen wünscht!“
Die Herzogin sah in der That überraschend schön aus. Das feurige, glänzende Gelb, das um die tief entblößten Schultern wogte, die gluthvollen, ungezwungen aus den schwarzen Locken auf die Stirn fallenden Blumenkelche hoben das blutlose, wachsartige Weiß ihrer Haut in fast dämonischer Wirkung; dazu die geschmeidigen, schlangenhaft weichen Bewegungen, der seltsame, lustathmende Zug um die blaßrothen Lippen, um die leicht bebenden Nasenflügel, das Flammen der großen Augen – Liane mußte unwillkürlich an die Willis denken, die den Gegenstand ihrer Leidenschaft zu Tode tanzen. … Wenn er diesem Zauber abermals verfiel? … Die junge Frau bebte in sich hinein; sie legte ihre schönen, schlanken Finger enger um seinen Arm und [287] schmiegte sich so fest an ihn, daß er den unruhigen Schlag ihres Herzens fühlen konnte.
„Raoul!“ flüsterte sie zu ihm hinauf, ihn erinnernd, daß sie da sei. Er fuhr überrascht herum; dieser zärtlich weiche Herzenston von ihren Lippen traf zum ersten Male sein Ohr; zum ersten Male lag ihre ganze Seele unverschleiert in den großen stahlfarbigen Augen, welche die seinigen suchten – angesichts der eintretenden Herzogin, des ganzen Hofes verrieth ihm ein einziger angstzitternder Laut, daß seine Liebe erwidert werde.
Vor wenigen Wochen beging in Wien der österreichische Ingenieur- und Architekten-Verein sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum, nachdem nur sieben Tage vorher der Präsident desselben durch eine neue außerordentliche Leistung in seinem Berufe abermals dargethan, daß er seiner Stellung an der Spitze eines so bedeutenden Vereins vollkommen
würdig sei. Die letztere Leistung ist das bereits vielbesprochene und oft abgebildete Eissperrschiff, welches den Wiener Donaucanal vor Vereisung und die Vorstädte Wiens an der Donau vor Ueberschwemmung beschützen soll und das am dreizehnten December vorigen Jahres seiner Bestimmung übergeben worden ist. Da nun derselbe Mann nicht blos wegen seiner Präsidentschaft bei dem genannten Verein, sondern zuerst wegen der von ihm construirten Gebirgslocomotive für die Semmeringbahn, dann als Mitglied der Donauregulirungs-Commission und als Chef-Ingenieur der Wiener Weltausstellung sich längst einen geehrten Namen erworben, so kommen wir gern dem Seitens unserer Leser mehrseitig ausgesprochenen Wunsche entgegen, diesen hervorragenden Meister der Ingenieurkunst, Wilhelm Ritter von Engerth, in Wort und Bild hier darzustellen.
Engerth ist nicht vom Glück verhätschelt, sondern vom Schicksale zeitig auf sich selbst angewiesen worden. Ein Preußisch-Schlesier deutscher Abkunft, 1814 in Pleß geboren, widmete er, der frühverwaiste Sohn eines armen Malers, sich der Baukunst, gab aber die bereits erlangte Stellung als Architekt auf, um sich mit ganzer Kraft auf das Maschinenfach zu werfen. Als Professor der Mechanik an dem Wiener Polytechnikum und seit 1848 in gleicher Würde am Joanneum in Graz trat er bald in Beziehungen zu den ersten Capacitäten der Landwirthschaft und Industrie, wurde Vorstand einer Abtheilung des damals eben im Aufblühen begriffenen österreichischen Gewerbevereines und fungirte bei der Weltausstellung in London sowie bei der Münchener deutschen Industrieausstellung als Preisrichter. Auf der Pariser Weltausstellung (1855) zeichnete er sich schon durch seine eigenen Leistungen im Maschinenwesen aus und erhielt die große goldene Ehrenmedaille.
Noch während er die Lehrkanzel beherrschte, wurde sein Rath in Fragen des Eisenbahnwesens häufig begehrt. Als nun Ghiga die Semmeringbahn gebaut hatte, fehlte der zweite und wichtigste Factor, die berganfahrende Locomotive. Man schrieb Concurse aus, aber die Praxis spottete der Theorie; keine der preisgekrönten Constructionen vermochte vollständig zu entsprechen. Da traf mit sicherem Blicke Engerth das Richtige. Durch Vergrößerung der Heizfläche und des Adhäsionsgewichtes löste er das Problem, welches seit Jahren die Maschinen-Ingenieure beschäftigt hatte. Frankreich zuerst bestellte in deutschen Fabriken Locomotiven des Engerth-Systems und bald standen dieselben in der ganzen Eisenbahnwelt in erfolgreicher Verwendung. Engerth’s stetige Leistungen als Rathgeber der Regierung ist den wichtigsten wissenschaftlichen und volkswirthschaftlichen Fragen, seine Wirksamkeit als General-Director der österreichischen Staatseisenbahn-Gesellschaft, eines Schienencomplexes von nahezu zweihundertfünfzig Meilen, sein fachlicher Einfluß als Vorstand des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines, sein humanes Wirken zur Verbesserung des Looses der Beamten und der Arbeiter sind mehrfach öffentlich besprochen und gewürdigt worden. Auch in der Donauregulirungsfrage (vergleiche Gartenlaube 1870, Seite 378) leistete er Tüchtiges. Von ihm hat man ein meisterhaftes „Exposé“, das namentlich auf Kaiser Franz Joseph, hinsichtlich der sofortigen Ausführung der Donauregulirung in ihrer heutigen Gestalt, bestimmend eingewirkt haben soll.
Engerth’s wesentlicher Antheil an der Beplanung und Durchführung der Wiener Weltausstellung ist seiner Zeit von der Tagespresse nach Verdienst gewürdigt worden und es bedarf hier nur der Hinweisung darauf, da uns der Raum dieses Blattes nicht gestattet, seine desfallsige Thätigkeit in’s Einzelne zu verfolgen. Dagegen möge noch ein Blick auf seine jüngste, oben bereits erwähnte Leistung geworfen werden. Als es sich nämlich darum handelte, für den Wiener Donaucanal eine Absperrvorichtung herzustellen, um den Eintritt der Eismassen in denselben abzuhalten und so die eigentliche Ursache der jährlichen Ueberschwemmung eines der bevölkertsten und dem lebhaftesten Verkehre angehörigen Theiles von Wien zu heben, war Retter in der Noth abermals Engerth, und zwar durch das Project des Schwimmthores, welches, wie ebenfalls oben bereits bemerkt, im letzten Winter seine Probe zu bestehen hatte.
Um den Eintritt der Eismassen in den Donaucanal zu verhindern und doch das Durchfließen der normalen Wassermenge zu gestatten, sperrte Engerth den Canal mittelst eines schwimmenden eisernen Schiffes, das er querüber vor der Mündung des Canals unweit Nußdorf aufstellte und an zwei an den Ufern angebrachten [288] Widerlagsflächen anlegte. Dieses Schiff, von Cockerill in Seraing ausgeführt, wiegt über siebentausend Centner, ist hundertfünfzig Fuß lang, achtzehn Fuß hoch, hat eine größte Breite von dreißig Fuß und einen normalen Tiefgang von vier Fuß. Die Seitenwände desselben sind nicht unten zum Kiel hin geschweift, sondern fallen senkrecht ab, bilden also gleiche Deck- und Bodenflächen. Nach beiden Seiten sich, wie ein Weberschiffchen, verjüngend, kann das Sperrschiff, um durch Tiefersinken den Durchgang des Eises zu verwehren, mittelst Stein- oder Wasserlast, die in’s Innere des Schiffes eingelassen und wieder ausgepreßt werden kann, beschwert werden. Ist der Eisandrang vorüber, so wird das Sperrschiff oder Schwimmthor aus seiner Querlage mittelst Winden und Ketten gedreht, so daß es, vom Wasser stromabwärts getrieben, den Canal öffnet und den noch oberhalb desselben anschwimmenden Eismassen den Durchgang gestattet. Ein in der Nähe der Widerlager hergestellter Hafen giebt dann dem Sperrfahrzeuge Schutz bis zum nächsten Winter.
Solche Siege der Technik unserer Tage, welche zur Verminderung menschlicher Leiden und Gefahren beitragen, verdienen Kränze des Dankes von allen Völkern.
Das Auffangen von Correspondenzen und das Erbrechen von der Post anvertrauten Papieren war eine Ueberlieferung des alten Regimes, die schon unter Ludwig dem Elften bestand. Dieser hatte überhaupt den Grundsatz aufgestellt, daß die königlichen Couriere nur solche Briefe befördern dürften, welche die Behörde vorher durchgelesen hätte, um sich zu überzeugen, daß dieselben nichts enthielten, was der Regierung Nachtheil bringen könne. Von einem Monarchen seines Schlages darf das nicht Wunder nehmen.
Als der Cardinal Richelieu den Postendienst, der bis dahin den Universitätsboten reservirt war, den königlichen Courieren zuwandte, hatte er einen Hintergedanken, welcher den Ausspruch Montesquieu’s erklärt: „Die Conspirationen im Staate sind schwieriger geworden, weil seit der Einrichtung der Posten die Privatgeheimnisse ein öffentliches Geheimniß geworden sind.“ Der fromme Cardinal nannte das Oeffnen der Briefe ganz einfach „Das Aufweichen des Siegellacks“.
Ludwig der Vierzehnte vervollkommnete das Werk Richelieu’s, indem er ein politisches Polizeibureau errichtete, das speciell mit der Ueberwachung der Correspondenzen betraut war. Er nannte dasselbe „das geheime Cabinet der Posten“, woraus sich später die Bezeichnung „schwarzes Cabinet“, „cabinet noir“, bildete, welche Benennung sich seit jener Zeit bis auf unsere Tage erhalten hat. Man versteht darunter das in despotisch regierten Staaten mit der Postverwaltung in Verbindung stehende, zu dem Zwecke errichtete Cabinet, durch Erbrechen und geschickte Wiederverschließung der Briefe der Regierung Einblicke in die Geheimnisse der Privatcorrespondenz zu eröffnen. Ludwig’s des Vierzehnten berüchtigter Minister Louvois war die Seele des geheimen Spionir- und Brieferbrechungssystems. Die verschiedenen Abtheilungen des „geheimen Cabinets der Posten“ gingen erblich auf die Glieder derselben Familie über, welche eigens für dieses saubere Geschäft erzogen wurden. Diese geheimen Beamten waren ebenso verschwiegen, wie geschickt. Sobald eine politische Persönlichkeit ihrer Controle unterworfen war, nahmen sie einen Abdruck ihres Siegels, erbrachen und verschlossen deren Briefe mit einer solchen Gewandtheit, daß der betrügerische Verrath selbst nicht geahnt werden konnte. Mit diesem einfachen Mittel spionirte die bourbonische Monarchie nicht nur Frankreich, sondern auch ganz Europa aus. Sie durchbrach alle Mauern und drang bis unter die Dächer; sie durchforschte die stolzesten Paläste wie die elendesten Hütten. Sie entdeckte Alles, geheime Pläne, Complote und diplomatische Intriguen. Prinzen von Geblüt, die höchsten Würdenträger des Staates, Gesandte, Hohe und Geringe unterlagen der Controle des cabinet noir. Das „Ochsenauge“ im „schwarzen Cabinet“ spähete nach der ganzen Welt aus.
Ludwig der Fünfzehnte amüsirte sich mit dieser ungeheuren Spionage. Unter ihm hatte dasselbe jedoch mehr den Zweck, den Schleier vom Privatleben zu ziehen, und ist nicht mit jener politischen Agentur zu verwechseln, deren Zweck die Enthüllung diplomatischer Mysterien war, und als deren Directoren Prinz Conti und Graf Broglie functionirten. Eine Kammerfrau der Marquise Pompadour, Madame du Hausset, erzählt darüber Folgendes in ihren Memoiren: „Der König ließ dem Herzog von Choiseul das Geheimniß der Post, das heißt, den Auszug aus den geöffneten Briefen mittheilen, eine Gunst, deren der Herzog von Argenson, sein Vorgänger im Ministerium, sich niemals erfreut hatte. Choiseul mißbrauchte aber die Bevorzugung und amüsirte seine Freunde durch die Erzählung von launigen Geschichten und Liebesintriguen, die er auf diesem Wege erfahren. Ein halbes Dutzend Beamte im Hôtel der Post nahmen von den Briefen, deren Eröffnung ihnen anbefohlen war, einen Abdruck des Petschafts mit einer Quecksilberkugel, legten das Siegel über einen Becher mit warmem Wasser, bis das Wachs schmolz, öffneten den Brief dann, machten den Auszug und schlossen ihn wieder. Mit den Auszügen kam der Intendant alle Sonntage zum Immediat-Vortrage, ganz wie ein wirklicher Minister.“ Madame du Hausset hat hier Wahres mit Falschem gemengt; der Wasserdampf kann nicht Harz, sondern höchstens Oblaten auflösen, und was das Quecksilber anlangt, so ist eine Mischung aus Quecksilber und Silber gemeint, die sehr geschmeidig ist, schnell hart wird und einen Druck so klar wiedergiebt, daß sie ganz gut als Petschaft gebraucht werden kann. Seither hat die Entdeckung neuer Metalle diesem letzteren Theile des Geschäfts eine große Ausbildung gegeben, und Chemiker ersten Ranges haben es unter der Restauration, wo überhaupt das „schwarze Cabinet“ in der höchsten Blüthe stand, nicht verschmäht, die Kunst der „Siegelerweichung“ zu einer so hohen Vollendung zu bringen, daß dadurch auch der Mißtrauischste getäuscht werden kann.
Ludwig der Sechszehnte wollte in seiner Ehrenhaftigkeit dem Scandale, der den beliebtesten Zeitvertreib seines Vorgängers gebildet hatte, ein Ende machen und erklärte in einem Decrete vom 18. August 1775 „die geheime Correspondenz der Bürger für ein Heiligthum, das sich den Blicken der Gerichte wie der Privatpersonen entziehen müsse“.
Allein man wußte den schwachen König sehr bald zu überreden, daß die Staatsklugheit die Wahrung des Briefgeheimnisses nicht gestatte, und bald war das schwarze Cabinet wieder so thätig wie zuvor. In den Cahiers, welche die Wähler ihren Repräsentanten für die Generalstände 1789 mitgaben, spielte das stürmische Verlangen nach Beseitigung der Beschwerden über Verletzung des Briefgeheimnisses und nach strenger Bestrafung jedes Postbeamten, der sich dazu hergebe, Briefe zu öffnen, eine Hauptrolle. Allein schon in der Sitzung vom 25. Juli 1789 hatte Robespierre, der bekanntlich seine Ansicht wechselte, wie es ihm paßte, Mirabeau entgegnet: „Gewiß sind die Briefe unverletzlich; aber wenn eine ganze Nation in Gefahr schwebt, wenn man sich gegen ihre Freiheit verschwört, dann wird, was sonst ein Verbrechen ist, zur lobenswerthen Handlung. Schonung der Verschwörer ist Verrath am Volke.“
Am 8. Juli 1790 strich die Nationalversammlung auf Biron’s Bericht die Fonds für die Spionirdienste des schwarzen Cabinets, und am 22. August ward beschlossen, daß die Administratoren und Beamten der Post in die Hände der Richter den feierlichen Eid abzulegen hätten, für die gesammte Correspondenz des Königreichs die dem Briefgeheimnisse schuldige Achtung zu bewahren und durch alle in ihrer Macht befindlichen Mittel zur Geltung zu bringen. Trotzdem wurden fast um dieselbe Zeit, in welcher die Emigranten allseitig gegen die Nation conspirirten, die Depeschen des Grafen von Artois an Herrn von Castelnau, den französischen Minister zu Genf, confiscirt. Ein Deputirter der Constituante verlangte, daß alle seit dem Beginne der Unruhen in Paris aufgefangenen Briefe in einem sichern Depot zu verwahren seien, um der Nationalversammlung vorgelegt zu werden, wenn diese es passend finden werde; aber Mirabeau erhob sich gegen den Antrag.
„Paßt es für ein Volk, das frei werden will,“ ruft er in die Nationalversammlung hinein, „Maximen und Proceduren [289] von der Tyrannei zu entlehnen? Kann es einem Volke passend erscheinen, die Moral zu verletzen, nachdem es so lange ein Opfer Jener war, welche sie verletzten? Was werden wir durch die schmähliche Briefinquisition erfahren? Elende und schmutzige Intriguen, scandalöse Umtriebe, verächtliche Frivolitäten. Wie, das letzte Asyl der Freiheit sollte von Jenen selbst verletzt werden, welche die Nation zur Wahrung ihrer Rechte abgeordnet hat? Die geheimsten Seelenmittheilungen, die geheimsten Geistesconjecturen, die Ausbrüche eines grundlosen Zornes, die oft im nächsten Momente berichtigten Irrthümer sollten als Zeugniß gegen Parteien verwendet werden dürfen? Der Bürger, der Freund, der Vater und Sohn würden so, ohne es zu wissen, zu gegenseitigen Richtern werden. Sie könnten gelegentlich Einer den Andern verrathen. Und die Nationalversammlung sollte zur Basis ihrer Urtheilserkenntnisse zweideutige Mittheilungen machen, die sie sich nur auf dem Wege des Verbrechens verschaffen konnte?“
Mirabeau weist mit der Beredsamkeit eines empörten Geistes einen Antrag zurück, welcher die Versammlung entehren würde, und diese geht unter Beifallsrufen zur Tagesordnung über. Sie thut noch mehr: sie wandelt den von Mirabeau ausgesprochenen hochherzigen Grundsatz in ein Gesetz um, und schon am 14. August 1790 proclamirt sie die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses. Am 26. August decretirt sie, daß fortan „die Postverwalter und Beamten den Eid zu leisten hätten, das Briefgeheimniß unverbrüchlich zu bewahren und alle Verletzungen, die zu ihrer Kenntniß kamen, sofort anzuzeigen“. Gleichzeitig verhängt sie gegen die Zuwiderhandelnden strenge Strafen, als Geld-, Freiheitsstrafen und Verlust der bürgerlichen Rechte etc. Nach der Varenner Flucht wurden die Bedenken der Versammlung auf eine entscheidende Probe gestellt. Zwei an den König adressirte Briefe waren in den Tuilerien aufgefangen worden. Diese beiden Briefe konnten werthvolle Aufschlüsse über die Absichten, Beziehungen und etwaigen sträfliche Unternehmungen Ludwig’s des Sechszehnten geben. Sie waren außerdem erbrochen. Allein die Versammlung weigerte sich, von deren Inhalt Kenntniß zu nehmen, und verfügte, daß diese Briefe wieder versiegelt und dann dem Adressaten zugestellt werden sollten. So scheiterte das Uebermaß des Verraths an der anerkennenswerthen Ehrenhaftigkeit der Versammlung.
Derselbe Robespierre, der 1789 noch für Verletzung des Briefgeheimnisses eingetreten war, hatte am 28. Januar 1791, als es sich um gewisse Correspondenzen, welche der Nationalversammlung zur Prüfung unterbreitet waren, handelte, entrüstet ausgerufen: „Wie ist man zur Kenntniß dieser Schriften gegen die Nationalversammlung gelangt? Man hat also das Briefgeheimniß verletzt. Das ist ein Attentat gegen die öffentliche Sittlichkeit.“ Daß später das Sicherheitscomité solche freisinnige Auffassung wieder dementirte, versteht sich von selbst. Nach dem 9. Thermidor wollte der Convent von der Staatsraison zur Ehrlichkeit zurückkehren und beschloß am 9. December 1794: „Das Briefgeheimniß darf im Innern der Republik nicht verletzt werden, und die über die Verwaltung der Posten gemachten Bemerkungen werden dem Transportcomité zugewiesen.“
Indessen die Sittenlosigkeit der Thermidorianer, die Geriebenheit und Käuflichkeit ihrer Polizei ist wohl zu bekannt, als daß jener Resolution in der Praxis große Bedeutung beizulegen wäre. Daß das schwarze Cabinet unter dem Consulate und unter dem ersten Kaiserreiche wieder arbeitete, unterliegt wohl keinem Zweifel. Napoleon der Erste nahm die von Ludwig dem Vierzehnten eingeweihte Briefinquisition wieder auf. Der Despotismus griff wieder zu seinem finstern Geschäfte. Der Gedanke, gleichviel in welcher Form er auftrat, ob gedruckt oder handschriftlich, war der polizeilichen Ueberwachung unterworfen.
Die Präfecten konnten alle ihnen verdächtig scheinenden Briefschaften auf der Post in Beschlag nehmen lassen. Die seltsamsten und interessantesten, die amüsantesten und ernstesten wurdest dem Herrn und Meister rapportirt. Als Verbannter freilich war Napoleon anderer Ueberzeugung geworden. Auf Sanct Helena sprach er sich dahin aus, daß das Cabinet noir eine schlechte Institution sei, die mehr Uebles anrichte, als Gutes stifte. – „Ich benutzte das schwarze Cabinet,“ äußerte er sich öfter, „hauptsächlich um die geheime Correspondenz meiner Kämmerlinge, meiner Minister, meiner Großofficiere, Berthier’s, selbst Duroc’s kennen zu lernen.“ Uebrigens mißbilligte der Kaiser die Einrichtung des schwarzen Cabinets nicht, weil es unsittlich, sondern weil es unwirksam sei. Er beklagte sich darüber, daß seine gefährlichsten Feinde dieser Spionage entronnen seien, und sagte mit einem Seufzer das unerhörte Wort: „Es gab einen meiner Minister, von dem ich nie einen Brief auffangen konnte.“
Las Cases meldet über das schwarze Cabinet unter dem Kaiser Napoleon dem Ersten: „Sobald Jemand auf dieser wichtigen Ueberwachungsliste eingetragen war, ließ das Bureau sofort seine Wappen und seine Siegel graviren, so daß seine Briefe nach erfolgter Durchlesung und Wiederverschluß ruhig und ohne das leiseste Merkmal an ihre Adresse befördert werden konnten. Die Kosten des Bureaus beliefen sich auf sechshunderttausend Franken. Die Correspondenz von Privatleuten hielt der Kaiser eher für schädlich als für nützlich.“
Selbst ein Mensch wie der Polizeiminister Savary, der Vollstrecker so vieler geheimen Missionen, z. B. der gegen den Herzog von Enghien, verdammt vom Nützlichkeitsstandpunkte aus das schwarze Cabinet in den entschiedensten Ausdrücken. „Mehr als einmal hat man sich gerade dieses Mittels bedient, durch das der Chef des Staates die ungefälschte Wahrheit zu erfahren hofft, um wohlpräparirte Lüge bis unmittelbar zu ihm dringen zu lassen,“ schreibt Savary. „Mit Hülfe dieser Einrichtung kann ein Individuum einer beabsichtigten Denunciation doppelte Wahrscheinlichkeit verleihen; es braucht nur einen Brief auf die Post zu geben, welcher geeignet ist, die Meinung, um deren Verbreitung es sich handelt, zu unterstützen. Der ehrenwertheste Mann kann so durch einen Brief compromittirt werden, den er nie zu lesen bekommt und den er auch nicht verstehen würde. Ich spreche aus Erfahrung,“ fügt er hinzu.
Desgleichen erklärt Bourienne die offenbare Ungnade, die während des ganzen Empire auf General Kellermann lastete, in nachstehender Manier: „Der General-Postdirector Delaforest arbeitete oft mit dem ersten Consul, und man weiß wohl, was das heißen will, wenn ein General-Postdirector mit dem Staatsoberhaupte arbeitet. In einer dieser Sitzungen nun las Napoleon einen Brief Kellermann’s an Lasalle, worin es hieß: ‚Glaubst Du, mein Freund, daß Bonaparte mich nicht einmal zum Divisions-General gemacht hat – mich, der ich ihm die Krone auf’s Haupt gedrückt habe?‘ (Anspielung auf die Schlacht bei Marengo.) Der Brief ging an seine Adresse ab; Bonaparte aber hat den Inhalt des Briefes dem General Kellermann nie vergessen.“
Die Bourbonen behielten das von Napoleon dem Ersten wieder eingeführte Cabinet noir bei. Es ward wie bisher mit sechshunderttausend Franken aus den geheimen Fonds des Auswärtigen Amtes erhalten und von zweiundzwanzig Beamten verwaltet, unter denen sich sehr vornehme Personen befanden.
Bei dem Sturze Villèle’s (1828), der den Polizei-Präfecten Dolevan mitriß, erklärte das neue Ministerium officiell, „das schwarze Cabinet existire nicht mehr in der Postverwaltung“, eine Zweideutigkeit oder besser eine Lüge; denn man hatte es einfach verlegt. Nach der Julirevolution hatte man keine Mühe, es aufzufinden oder den Beweis zu führen, daß es bis zum letzten Augenblicke functionirt hatte. Der Name eines Beamten, den man damals entdeckte, gab zu einem berühmten Processe Veranlassung.
Eine junge Dame aus bester Familie hatte 1821 einen sehr hohen Postbeamten, eine einflußreiche, direct mit den Tuilerien in Verbindung stehende Persönlichkeit geheirathet. Der Gemahl mußte fast jeden Abend auf seinem Bureau sein, oft einen großen Theil der Nacht daselbst zubringen. Die Julirevolution klärte das Räthsel auf: der Biedermann war einer der Vorsteher des „schwarzen Cabinets“. Empört über diese Ehrlosigkeit, klagte die Frau auf Trennung ihrer Ehe vor dem Seine-Tribunal. Sie verlor indessen ihren Proceß, obgleich derselbe von einem der talentvollsten Advocaten geführt wurde; aber die öffentliche Meinung gab ihr Recht und nie hat sie der Mann wiedergesehen, der sie um eines sehr hohen Gehaltes willen mit in seine Schande hinabgerissen.
Selbst der Bürgerkönig Ludwig Philipp unterhielt diese Briefspionage, und noch im Jahre 1847 waren hierfür unter dem Titel „Pensionen für Beamte des ehemaligen schwarzen [290] Cabinets“ auf die geheimen Fonds des auswärtigen Amtes fünfundsechszigtausend Franken angewiesen.
Unter der Regierung Ludwig Philipp’s und zwar unter dem Ministerium Guizot im Jahre 1847 ereignete es sich, das dem schwedischen Gesandten in dem Couverte seiner Regierung die für den preußischen Gesandten bestimmten Depeschen übergeben wurden, während der preußische die Depeschen des schwedischen Gesandten erhielt. Die Dunkelmänner des schwarzen Cabinets hatten die Depeschen der beiden Regierungen einfach verwechselt. Correspondenzen, welche auf der Post mit Beschlag belegt waren und für die Anklageacten benutzt wurden, spielten in politischen Processen mehrmals eine Rolle. Indessen scheint unter Ludwig Philipp’s Regierung die Verletzung des Briefgeheimnisses mehr eine Waffe gewesen zu sein, deren man sich ausnahmsweise in gefährlichen Momenten bediente, als eine permanente Instruction; wenigstens hat die Februar-Revolution keine Aufschlüsse zu Tage gefördert, welche das letztere bewiesen.
Nach dem Staatsstreiche gelangte man zur napoleonischen Tradition zurück, und namentlich die Briefe der Verbannten oder nach dem Auslande Entflohenen wurden regelmäßig erbrochen. „Was gilt,“ so schreibt ein von Napoleon’s des Dritten Regierung Verbannter, „die Verletzung des Briefgeheimnisses für eine Regierung, die so Vieles verletzt hatte! Ein frecher Einbruch mehr oder weniger, was liegt daran? Wenn man eine Constitution zerrissen, die Thüren einer Nationalversammlung erbrochen, bei Nacht die Volksvertreter aus ihren Betten ausgehoben, mit Kanonenschüssen die Häuser eines Boulevards in Grund und Boden geschossen, Paris mit Blut besudelt, die Provinzen ausgeplündert hat, sollte man da ein Bedenken haben, einen Briefumschlag zu entsiegeln? Soll man fürchten, gegen Leute indiscret zu sein, die man mit Kartätschen niedergemetzelt hat? Man wird von der Regierung zu Grunde gerichtet, deportirt, ausgetrieben, des Daches, der Familie, der Heimath, des Vermögens, des Glückes beraubt, und diese Regierung sollte ein Bedenken haben, die geheiligte Völkercorrespondenz zu unterschlagen?“
Die ehrlichen Briefträger jenseits des Canals waren anfangs ob des scandalösen Vorgehens der kaiserlichen Post äußerst entrüstet; allmählich gewöhnten sie sich aber daran. Dieser briefliche Verkehr hat allerdings Jahre hindurch gewährt, und Jahre lang hat die bonapartistische Polizei die intimsten Geheimnisse des Privatlebens der Verbannten ausspionirt. Auf Grund eines Beschlusses des Cassationshofes vom 21. November 1853, in dem es hieß, daß „die Correspondenzen, durch welche Attentate gegen den öffentlichen Frieden, gegen das Eigenthum und gegen die Sicherheit der Bürger angezettelt und begangen werden, nicht in die Classe derjenigen gehören, die durch das Gesetz geschützt werden müssen,“ hat die bonapartistische Partei nicht abgelassen, die an die Verbannten adressirten und von diesen geschriebenen Briefe einer geheimen Auslese zu unterwerfen. Und dürfte man sich deshalb wundern, daß seiner Zeit der Briefwechsel des nach Belgien geflüchteten Herausgebers der „Laterne“ ganz besonders die Neugierde der französischen Regierung erregte? Der künftige Seinedeputirte sagte damals ganz witzig, das sicherste Mittel, eine Petition an Herrn Vandal gelangen zu lassen, wäre, diese an Heinrich Rochefort zu adressiren. Der Generalpostdirector Vandal wurde von seinem Eifer so weit getrieben, daß er durch ein besonderes Circulair anordnete, die unter den Behörden Frankreichs vorkommenden Correspondenzen zu controliren, da er auf einen Brief des Grafen Chambord fahndete. Zum Spott wurde dieser Eifer „Vandalismus“ genannt.
Vandal, in Folge dieses Circulairs in der Presse heftig angegriffen, suchte in einer Vertheidigungsschrift Etienne Arago, welcher 1848 Postdirector war, zu beschuldigen, indem er behauptete, daß dieser im Interesse des Fiscus ähnliche Maßregeln getroffen hätte. Arago entgegnete dem General-Postdirector, er möge nur das zu jener Zeit erlassene Circulair veröffentlichen, woraus zur Genüge hervorgehen würde, daß nur die Karten oder sonstige portopflichtige Gegenstände enthaltenden Briefe nicht an die Adressaten bestellt, sondern in deren Gegenwart geöffnet worden seien. Den Beamten sei übrigens auf’s Strengste untersagt gewesen, derartige geöffnete Briefe zu lesen. Es dürfte sonach schwer sein, irgend eine Verwandtschaft zwischen dem Circulair Arago’s und dem des Vandal anzunehmen. Nichtsdestoweniger versuchte Rouher, wenngleich vergeblich, Vandal als gerechtfertigt hinzustellen; er behielt ihn auch trotz seines Entlassungsgesuches als General-Postdirector, und es verblieb im Bereiche der Postverwaltung beim Alten. Das Publicum wurde indessen durch diese Vorkommnisse vorsichtiger.
Uebrigens war das Circulair Vandal’s, welches so großes Aufsehen verursachte, nicht das erste; Vandal hatte deren vielmehr fünfzehn an die Postdirectionen erlassen. Man hatte eine peinliche Untersuchung unter den Beamten angestellt, um zu ermitteln, auf welche Weise Vandal’s geheimes Circulair in die Oeffentlichkeit gelangt sei, und dies geschah so auffallend, daß die Presse, der das Verfahren nicht verborgen blieb, die Vandal’sche Inquisition derartig geißelte, daß von jeder weiteren Untersuchung Abstand genommen werden mußte.
Man muß übrigens anführen, daß das schwarze Cabinet Napoleon’s des Dritten am wenigsten geheimnißvoll bei dem Oeffnen der Briefe zu Werke ging. Vandal beging somit ein großes Unrecht, dies in seiner Vertheidigung nicht anzuführen; vielleicht wäre es ihm gelungen, den Glauben an das Vorhandensein eines schwarzen Cabinets wenigstens unter dem leichtgläubigsten Theile der Franzosen zu zerstreuen. Und in der That hatten schon Personen das Vorhandensein des schwarzen Cabinets bezweifelt, wie aus einem Artikel Ducamp’s hervorgeht, an dessen Schlusse es wörtlich heißt: „Giebt es in der jetzigen Zeit noch ein Cabinet noir?“ Ducamp antwortet mit „Nein“, Montaigne sagt, er wisse es nicht, und Rabelais „vielleicht“. Es ist uns ein Leichtes, durch eine Reihe von Thatsachen zu verbürgen, daß unter Louis Napoleon das schwarze Cabinet in vollster Blüthe stand.
Der Gesandte des Kurfürsten von Hessen bediente sich des schwarzen Cabinets, um der französischen Regierung gewisse Nachrichten, welche er schicklicherweise derselben nicht wohl mittheilen konnte, zur Kenntniß zu bringen, indem er an seine Regierung eine Depesche des Inhalts richtete, daß er Dieses oder Jenes nicht thun dürfe. Diese Depesche übergab er der Post zur Beförderung. Da nun die Späheraugen des schwarzen Cabinets am allerwenigsten diplomatische Correspondenzen und Actenstücke verschonten, so kam der Inhalt selbstverständlich sofort zur Kenntniß der französischen Regierung. Während er dieses einfache Mittel anwandte, die französische Regierung irre zu leiten, ließ er die wirklich geheimen Nachrichten von anderen deutschen Courieren über die Grenze bringen.
Im Jahre 1865 empfing Baron Rothschild in Paris per Telegraph von seinem Londoner Hause die Nachricht, daß ein mit Wechseln beladener Brief an seine Adresse per Post abgesandt worden sei. Die Post kam an, aber nicht der Brief für den Banquier der Rue Lafitte. Baron von Rothschild sandte einen seiner Vertrauten zu dem General-Postdirector Vandal, nach dem Verbleib des avisirten Briefes zu recherchiren. Vandal entgegnete, es sei kein derartiger Brief von London eingetroffen. Der Secretair Rothschild’s zeigte das von London gekommene, das Eintreffen des Briefes anzeigende Telegramm und drohte, wegen des eigenthümlichen Verfahrens bei der britischen Regierung Beschwerde zu führen. Dies wirkte. Vandal begab sich in ein angrenzendes Gemach und kehrte in wenigen Minuten mit dem erwähnten Briefe zurück.
Eine nach Napoleon’s Sturz aufgefundene, mit Randbemerkungen Napoleon’s versehene Note lautet wörtlich: „Die Briefträger Henocq, Decisy, Basson, Hondé, Thibault, welche die Straßen Varennes, Celle, Chasse, St. Nicolas, d’Antin, Caumartin, die Chaussee d’Antin bedienen, sind für Geld der geheimen Polizei im Ministerium des Innern gewonnen, die von Saintomer geleitet wird. Ihr Dienst besteht darin, die Correspondenz der ihnen bezeichneten Personen abzuliefern. Sie werden dabei von Thürhütern unterstützt, die ebenfalls für die Einrichtung gewonnen sind. Sie treten bei der Briefvertheilung in die Loge dieser Thürhüter, geben dort ihre etwaigen Briefe ab und holen sie bei der nächsten Vertheilung wieder. Auf diese Weise entgehen sie dem Verdachte; denn sie können ja zu dem Thürhüter zu kommen haben, um Briefe für die Bewohner des betreffenden Hauses zu bestellen.“
Das Laster hatte unter Louis Napoleon sogar die Hülle abgestreift und liegt in seiner ganzen Nacktheit vor unseren Augen. Jeder Präfect und der Polizeipräfect von Paris hatten, [291] nach dem schon erwähnten Beschlusse vom 21. November 1853 das Recht, sich von der Post durch einen gewöhnlichen Commissar, dem sie ein Mandat für den speciellen Fall mitgaben, die Correspondenz an ein näher bezeichnetes Individuum ausliefern zu lassen. Erhielt die Post die Briefe später zurück, so wurden sie vor der Absendung an die Adresse mit einem Stempel versehen: „Geöffnet auf Befehl der Justiz.“ Was die Justiz mit dieser Procedur zu thun hatte, bleibt dabei freilich ebenso ein Rätsel, wie auf welche Art der Cassationshof sein Verdict mit Artikel 187 des Strafcodex in Einklang brachte, worin „jeder Beamte oder Agent der Regierung oder Postverwaltung, der bei Unterschlagung und Erbrechung von Briefen hülfreiche Hand leistet, mit sechszehn bis fünfhundert Frcs. Geldstrafe, mit Gefängniß von drei Monaten bis zu fünf Jahren und mit Entziehung der Fähigkeit, ein Amt zu bekleiden, auf fünf bis zehn Jahre“ bedroht wird.
Daß neben dieser brutalen Maßregelung des Briefgeheimnisses übrigens noch außerdem das schwarze Cabinet arbeitete, haben wir schon bewiesen. Man bediente sich desselben hauptsächlich in den Fällen, in denen man die Oeffentlichkeit scheute oder erst allmählich den Urhebern mißliebiger Mittheilungen in der auswärtigen Presse auf die Spur kommen wollte. Die meisten Berichterstatter ausländischer Blätter wußten ein Lied davon zu singen.
Ebenso ist die Thatsache bekannt, daß das schwarze Cabinet ganz vorzüglich in Thätigkeit war, wenn die Legitimisten nach Frohsdorf oder die Orleanisten nach Claremont wallfahrteten. Die beliebteste Methode der Brieferbrechung war, wie wir schon angedeutet, das Aufschneiden einer Seite des Couverts mit einem Rasirmesser. Nachdem der durchgelesene Brief wieder in das Couvert gesteckt war, wurde die aufgeschnittene Seite mit einer aufgelösten Papiermasse bestrichen, welche schnell trocknet und nicht die leiseste Spur des Verbrechens zurückläßt.
Nun, das kaiserliche Gebäude ist ist Trümmer gelegt; das schwarze Cabinet aber glaubte selbst der große Republikaner Gambetta nicht entbehren zu können. Derselbe hatte während des deutsch-französischen Krieges ein schwarzes Cabinet in Tours errichtet. Demselben stand ein „Prévòt Civil“ vor. Das Document, worin derselbe zur Verletzung des Briefgeheimnisses ermächtigt wurde, lautet: „Kriegsministerium. Herr Dutré, der der Residenz der Regierung attachirte Prévôt Civil, ist ermächtigt, auf der Post die Auslieferung aller Briefe zu requiriren, deren Adresse er angiebt. Tours, 17. November 1870. Der Minister des Innern und des Krieges.“
Daß sich auch die Commune des schwarzen Cabinets bediente, auch dafür haben sich in Paris nach ihrer Niederwerfung die Beweise vorgefunden. Im Posthôtel wurde das Geschäft in großartigem Maßstabe, gerade wie unter dem zweiten Empire, betrieben. Ja, bei der Mehrzahl der Briefe gaben sich ihre Beamten nicht einmal die Mühe, sie wieder zu verschließen; man warf sie einfach zu Hunderten und Tausenden in’s Feuer.
Der zunehmenden Immoralität der französischen Regierung des zweiten Kaiserreichs gegenüber blieb den Regierten nur der Eine Trost, daß die riesigen Proportionen, in denen der Briefverkehr zunahm, am Ende den Kunststücken das Cabinet noir und der geheimen Polizei in Bezug auf Schändung des Briefgeheimnisses eine Grenze ziehen müßten. Da die Post von Frankreich schon unter Louis Napoleon jährlich über siebenhundert Millionen Stück Briefe beförderte, so stand die Spionage zuletzt rathlos vor einer physische Unmöglichkeit; sie würde selbst nicht mehr Kenntniß von dem Inhalte der Briefe nehmen können, wenn dieselben, wie unter Ludwig dem Ersten, offen zur Post gegeben werden müßten.
Wenn wir in Berlin durch die Leipziger Straße gehen, so bemerken wir in der Nähe des Kriegsministeriums zwei große Gebäude, denen man trotz ihres stattlichen Aeußeren schwerlich ihre hohe Bestimmung ansieht. Das eine dieser Häuser war einst im Besitze der mit Geist und Glücksgütern so reich gesegneten Familie Mendelssohn. In denselben Räumen, worin einst der geniale Felix seine ersten Compositionen vor einem auserlesenen Familienkreise aufgeführt, wo die Elite der Berliner Gesellschaft, Männer wie Zelter, Alexander von Humboldt und der junge Heine, Frauen wie Rahel, Bettina und die schöne Herz, verkehrt hat, hält jetzt das preußische Herrenhaus seine Sitzungen und statt der musikalen Harmonien, statt der Ouverturen zum „Sommernachtstraum“ und zu den „Hebriden“, statt der geistreichen, humanen Gespräche über Kunst und Literatur hört man jetzt die oft verletzenden Dissonanzen der politischen Debatte und die nichts weniger als humanen Reden des Herrn von Kleist und des Grafen Brühl. Weit bedeutender ist das daran stoßende Haus, worin sich noch vor Kurzem die königliche Porcellan-Manufactur befand, da in demselben gegenwärtig der deutsche Reichstag provisorisch sich niedergelassen hat, nachdem durch einen nothwendigen Umbau ein der hohen Würde der Versammlung einigermaßen entsprechender Sitzungssaal hergestellt worden ist.
Erst wenn wir, mit der nöthigen Eintrittskarte versehen, durch das hohe Portal in das Innere treten, wo uns der Portier und Constabler empfangen und die in den Gängen aufgestellten Diener uns zurecht weisen, erkennen wir die öffentliche Bedeutung des Hauses, das sich äußerlich wenig oder gar nicht von der Wohnung eines reichen und angesehen Privatmannes unterscheidet. Wir steigen zunächst einige Treppen zu der bereits mit Zuhörern überfüllten Tribüne empor, von der aus wir den noch leeren Sitzungssaal mit Bequemlichkeit übersehen können. Derselbe ist höchst einfach, aber mit Geschmack decorirt. Die Wände sind dunkelblau, ohne allen Schmuck, außer einer großen schwarz-weiß-rothen Fahne mit in Gold gestickter Inschrift, einem Geschenk der deutschen Frauen in Amerika, und einer gerade dem Präsidentenstuhle gegenüber befindlichen Uhr. Für Beleuchtung und Ventilation ist hinlänglich gesorgt, weniger für die Akustik, welche vieles zu wünschen übrig läßt.
In der Mitte der durch einige Thüren mit den verschiedenen Bureaus verbundenen Hauptseite erhebt sich der erhöhte Präsidentenstuhl mit den Sitzen der Schriftführer; vor demselben sehen wir die Redner-Tribüne und die Tische der Referenten und Stenographen, woran sich die Bänke für die Vertreter des Bundesrathes anschließen. An ihrer Spitze sitzt gewöhnlich Bismarck’s rechte Hand, Herr Dr. Delbrück, einer der bedeutendsten Regierungsmänner, ein organisatorisches Talent ersten Ranges und auch ein sachgemäßer Redner, der den Reichskanzler in allen wichtigen Verhandlungen zu vertreten pflegt, wenn dieser am Erscheinen verhindert ist. Rings um den Saal ziehen sich von drei Seiten die Tribünen für die Zuhörer, welche jedoch nur selten ausreichen, die königliche und Diplomaten-Loge, die Tribüne der Abgeordneten und der Journalisten, in der die Vertreter der Presse den Verhandlungen mit gespannter Aufmerksamkeit folgen und dieselben mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und möglichster Genauigkeit wiedergeben, was nur durch die ausgezeichnete Organisation und Theilung der Arbeit möglich ist. Als Vertrauensmann der Presse fungirt Herr Moritz Gumbinner, der besondere Reichstags-Correspondent der Kölner Zeitung, neben welchem Herr Oldenberg, der Herausgeber der lithographirten Reichstags-Correspondenz, als einer unserer geistreichsten Journalisten vorzugsweise unsere Beachtung verdient.
Nach und nach erscheinen einzelne Abgeordnete in dem leeren Saale, während die Mehrzahl noch ist den Gängen und in der großen, mit sinnigen Sprüchen gezierten Halle in eifrigem Gespräche auf- und niedergeht oder in der anstoßenden Restauration behaglich frühstückt, um sich für das schwere Werk zu stärken. Hier findet man die Mitglieder aller Parteien, die sich feindlich [292] gegenüberstehen, jetzt friedlich an demselben Tische, wo Centrum- und Fortschrittsmänner, Nationalliberale und Conservative die bekannte, gemüthliche Fraction Müller oder Rubin bilden, welche ihren Namen keinem berühmten Führer, sondern dem jedesmaligen Wirth der Restauration verdankt. Hier werden auch die Neuigkeiten des Tages harmlos erzählt, gute und schlechte Witze gerissen, aber auch manche ernste und bedeutende Worte gesprochen. Zur bestimmten Stunde erscheint der Präsident des Reichstags in Begleitung der Schriftführer, welche seinen Generalstab bilden. Herr von Forckenbeck, der statt des Jubiläums-Präsidenten Simson augenblicklich diese hohe Würde bekleidet, ist eine allgemein beliebte, von allen Parteien hochgeachtete und auch den maßgebenden Kreisen angenehme Persönlichkeit, ein angehender Fünfziger, mit intelligenten, freundlichernsten Zügen. Bekannt als einer der vorzüglichsten freisinnigen Redner im preußischen Abgeordnetenhause, zeichnet er sich in seiner jetzigen Stellung durch seine seltene Unparteilichkeit sowie die parlamentarische Sicherheit und Geschicklichkeit, womit er die oft schwierigen Debatten leitet, vortheilhaft aus. Bewunderungswürdig sind die Klarheit seiner Fragestellung, der Aufbau und die lichtvolle Anordnung, die er dem oft kaum zu bewältigenden Stoffe zu Theil werden läßt. Forckenbeck ist ein scharfsinniger Jurist, ein bedeutendes organisatorisches Talent; früher Rechtsanwalt in Elbing, ist er seit 1873 Oberbürgermeister von Breslau und als solcher Mitglied des preußischen Herrenhauses.
In diesem Augenblicke ordnet er mit den Schriftführern die eingegangenen Anträge und nimmt die Wünsche der verschiedenen Abgeordneten und Regierungsbevollmächtigten entgegen, bevor er mit der Glocke das Zeichen zum Beginne der Sitzung giebt. Unterdessen suchen auch die Abgeordneten ihre Plätze auf. Bekannte begrüßen sich; Parteigenossen treffen Verabredungen, und es vergeht noch einige Zeit, bevor die nothwendige Ruhe und Sammlung eintritt. – Die Sitze der Abgeordneten bilden gewissermaßen einen großen unregelmäßigen Fächer, dessen Stäbe die schmalen Gänge darstellen, in denen man sich frei bewegen und leicht von einer Bank zur andern gelangen kann. Vor jedem Sitze befindet sich ein besonderes Pult zum Schreiben. Die Parteien und Fractionen sind so vertheilt, daß auf der rechten Seite des Saales die Conservativen und die deutsche Reichspartei, in der Mitte das Centrum und die Polen, auf der Linken die Nationalliberalen, die Fortschrittspartei und Socialdemokraten ihre Plätze haben, obgleich diese Ordnung nicht immer streng beobachtet wird.
Wenden wir zunächst unsere Blicke nach der linken Seite, so begegnen wir manchem alten Bekannten und lieben Freunde unserer Gartenlaube. Gleich in der vordersten Reihe sehen wir Schulze-Delitzsch in eifriger Unterhaltung mit Löwe-Calbe. Der berühmte Vater der deutschen Genossenschaften zeigt noch immer in seiner kräftig gedrungenen Erscheinung die unverwüstliche Kraft und Frische seines Geistes, so daß die Jahre spurlos an ihm vorüberzugehen scheinen. Auch sein Organ hat nicht gelitten und nichts von seiner hinreißenden Gewalt verloren, wenn er auf der Tribüne steht. Ebenso hat sich Löwe-Calbe wenig oder gar nicht verändert, höchstens daß sich die Spitzen seines dunklen Haars und Bartes ein wenig grauer färben. Beide gleichen zwei sturmerprobten Eichen, um die sich der jüngere Nachwuchs schaart. Dort jener interessante Kopf mit langem, weißem Haar und Bart, die seltsam mit dem noch jugendlichen, scharf geschnittenen Gesichte contrastiren, gehört dem bekannten Herausgeber der Volkszeitung, die soeben ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert hat, dem Vorsitzenden des großen Berliner Handwerkervereins – Franz Duncker, In seiner Nähe sitzen der Präsident Kirchmann, ebenso ausgezeichnet als tüchtiger Jurist, wie als philosophischer Schriftsteller, und der frühere Bürgermeister Ziegler aus Brandenburg, der populäre Verfasser des „Landwehrmann Krille“, ein echter Märker, zäh und elastisch, spitz und stachlig wie die Kiefern der Mark, wovon so mancher Gegner, und vor Allem der verstorbene Cultusminister von Mühler ein Lied zu singen weiß. Mit Vergnügen sehen wir unsern alten Freund Moritz Wiggers, den Mitbefreier Kinkel’s, und Herrn von Hoverbeck, den treuen Ekkard der Fortschrittspartei. Aber auch der junge Nachwuchs ist in die Höhe geschossen, vor Allen der stattliche Eugen Richter, früher das enfant terrible der Fraction, jetzt aber ein gefürchteter Gegner der Regierung, der durch seine gediegenen Sachkenntnisse in allen Finanzfragen, besonders bei der Feststellung des Budgets und neuerdings bei der Militärvorlage sich verdientermaßen die größte Anerkennung erworben hat; ferner der ehemalige Kreisrichter Ludolf Parisius, bekannt durch seine geistvolle Broschüre: „Ein Minister, der seinen Beruf verfehlt hat“, der humoristische Hausmann, der dem kleinen Fürsten von Lippe auf die Finger sieht, Herz aus Baiern, den der dritte Berliner Wahlkreis an Hoverbeck’s Stelle gewählt, ein sprechender Beweis, daß Nord und Süd sich die Hand zum Bruderbunde reichen, der gute Eberty, ein feingebildeter Publicist und Kenner der italienischen Literatur, und last not least der liebenswürdige Dichter der Gartenlaube Albert Traeger, dessen mit vielem Beifalle angenommene Jungfernrede den Beweis liefert, daß unser Freund nicht nur ein vortrefflicher Dichter, sondern auch ein ausgezeichneter parlamentarischer Redner ist.
Auf dem eigentlichen Berge der Linken thronen die Herren Socialisten Hasenclever, Hasselmann, Vahlteich etc., meist noch junge und ganz manierliche Leute, die bis jetzt durch ihre Reden und besonders durch ihre geschichtlichen Citate nicht gerade Furcht erregt haben. In ihrer Mitte bewegt sich der elegante Herr Sonnemann aus Frankfurt am Main, ein interessanter Kopf mit sorgfältig frisirtem Scheitel und dichten Bartcoteletten à l’anglaise, der Aristokrat seiner Partei, der mehr nach Eau de Colgogne als nach Petroleum zu riechen und lieber Champagner als Blut zu vergießen scheint, weshalb er den Namen eines Social-Aristokraten mit vollem Rechte verdient. Ursprünglich Kaufmann, vertauschte später Herr Sonnemann den Courszettel mit der Feder, wurde ein geistreicher und pikanter Journalist und gründete als solcher die Frankfurter Zeitung, welche gegen die preußische Regierung eine scharfe Opposition unterhält. Außerdem wirkt Herr Sonnemann für den Deutschen Arbeiterverband und für Elsaß-Lothringen im föderalistischen Sinne. Consequenter Weise stimmte er, obgleich er Israelit ist, mit den Ultramontanen gegen den bekannten Kanzelparagraphen und das Jesuitengesetz.
Auch unter den zahlreich vertretenen Nationalliberalen begrüßen wir manchen alten Bekannten, den unermüdlichen, redegewandten und durchaus braven Lasker, den Schrecken aller modernen Gründer, die beiden unzertrennlichen Dioskuren Bennigsen und Miquel und den berühmten Professor Gneist, gleich ausgezeichnet als geistvoller Jurist wie als parlamentarischer Redner. Unter den jüngeren oder neugewählten Notabilitäten der Partei bemerken wir Herrn von Treitschke, der, abgesehen von seinem schriftstellerischen Ruf, unwillkürlich unser Interesse in Anspruch nimmt. Obgleich er an schwerer Taubheit leidet, folgt er mit Hülfe seines Nachbars und Freundes, des Doctor Wehrenpfennig, der ihm fortwährend schriftliche Mittheilungen über die stattfindenden Verhandlungen macht, dem Gange der Debatte mit gespannter Aufmerksamkeit. Zuweilen ergreift er selbst das Wort und entwickelt eine unter diesen Verhältnissen doppelt überraschende Beredsamkeit. Zwar zeigt sein Organ eine gewisse Schwerfälligkeit, seine Sprache etwas Monotones, man möchte sagen Accentloses; auch stören die eigenthümlichen, fast krampfhaften Bewegungen seines sonst nicht unschönen Kopfes, aber nichtsdestoweniger fesseln seine stets gedankenreichen, gediegenen Worte, wenn sie auch mehr den Eindruck geistvoller Essais als parlamentarischer Reden machen. Jener hochblonde blasse Herr ist Ludwig Bamberger, eine Autorität in allen volkswirthschaftlichen und Finanzangelegenheiten, da er, früher Advocat, als Flüchtling in Paris ein großes Bankhaus leitete, worin er sich die nöthigen praktischen Kenntnisse erwarb, um als Redner und Schriftsteller in allen socialen Fragen eine entscheidende und beachtungswerthe Stimme abzugeben. Ein gleiches Ansehen genießt auf dem Gebiete der kirchlichen Gesetzgebung Professor von Schulten aus Bonn, der eifrige Freund und Verteidiger des Altkatholicismus, dem würdig der jüngere Professor Hinschius aus Berlin zur Seite steht. Der Letztere hat im Bunde mit dem süddeutschen Abgeordneten Völk, der einer der muthigsten Streiter in dem großen Culturkampfe gegen die römische Kirche ist, das neue Ehegesetz eingebracht. Außerdem besitzt gerade die nationalliberale Partei einen Ueberfluß an bedeutenden Talenten, [293] zu denen außer den Genannten der ausgezeichnete Jurist Wolfsen aus Hamburg, Friedrich Kapp, der Geschichtsschreiber der Deutschen in Amerika, Professor Tellkampf aus Breslau, bekannt als juristisch-politischer Schriftsteller, der geistvolle Publicist und Biograph Waldeck’s Heinrich Bernhard Oppenheim und „unser Braun“ gehören.
Wenden wir uns jetzt dem schwarzen Centrum zu, so zieht sogleich eine der interessantesten und bekanntesten Persönlichkeiten des Reichstages unsere Aufmerksamkeit auf sich. Gerade gegenüber dem Präsidentenstuhle sitzt auf der ersten Bank in Gedanken versunken ein kleiner untersetzter Herr mit kahlem Kopfe, kleinen kurzsichtigen, unter der stark gewölbten Stirn sich gleichsam versteckenden Augen und einer eigenthümlich herabhängenden Oberlippe, so daß ihn, wie man zu sagen pflegt, gerade die Schönheit nicht erdrückt. Aber auch hier gilt die französische Redensart: C’est sa laideur qui fait sa beauté, da ein gewisser geistreicher Ausdruck der nichts weniger als durch Schönheit blendenden Physiognomie einen eigenen Reiz verleiht, besonders wenn im Laufe der Debatte sich sein gewöhnlich scheinbar ruhiges, aber still lauerndes Gesicht belebt. Dann funkeln die kleinen Augen; die schlaffen Züge spannen sich, und um die herabhängende Lippe zuckt ein ironisches, spöttisches Lächeln. Plötzlich unterbricht er den Redner auf der Tribüne und schleudert eine sarkastische Bemerkung in die Versammlung, welche gewöhnlich die allgemeine Heiterkeit erregt, oder auch zuweilen ein unwilliges Murren hervorruft. Der kleine, originelle Mann ist kein Anderer, als „die Perle von Meppen“, der Abgeordnete von Windthorst, früher hannoverscher Staatsminister des Königs Georg und gegenwärtig der Führer und das Haupt der Centrumspartei. Zum großen Redner und Staatsmann, der er gewiß gern sein möchte, fehlt ihm vor Allem die Kraft der Wahrheit und die Wärme der Ueberzeugung, welche die Hörer unwillkürlich fortreißt. Dafür besitzt er einen scharfen Verstand, schlagenden Witz und die kühnste Rücksichtslosigkeit im Kampfe mit seinen Gegnern. Er erinnert vielfach an die Manier der französischen Fechtmeister mit ihrem spitzen, elastischen Fleuret. Wie sie, erspäht er mit scharfen Blicken jede Blöße seines Gegners und führt mit schlangenartiger Gewandtheit blitzschnell seine fein berechneten Stöße. Am interessantesten wird der Kampf, wenn er dem Fürsten Bismarck, seinem intimen Feinde, gegenübersteht. Dann verdoppelt sich seine Kühnheit und Rücksichtslosigkeit; seine kleinen Augen sprühen von Malice, und sein Witz wird immer beißender und schneidender. Aber trotzdem erliegt gewöhnlich der kleine Windthorst den wuchtigen Keulenschlägen des großen Bismarck, dem er mit seinem französischen Fleuret nicht gewachsen ist. Immerhin bleibt die Perle von Meppen ein gefährlicher Gegner, da er nach allen Seiten bis in die höchsten Regionen einflußreiche Verbindungen unterhält und in der Wahl seiner Mittel echt jesuitischen Grundsätzen huldigt. Bald reicht er den Elsässern die Hand, bald sieht man ihn Arm in Arm mit dem Socialaristokraten Sonnemann, bald lächelt er den Conservativen und Particularisten zu, bald coquettirt er selbst mit den Nationalliberalen und der Fortschrittspartei, wenn es sich darum handelt, der Regierung und besonders dem verhaßten Reichskanzler eine unangenehme Verlegenheit zu bereiten, ein schlauer Plänkler, ein unermüdlicher Parteigänger, ausgezeichnet im kleinen Kriege, aber kein Feldherr, der welthistorische Schlachten schlägt.
Sein nächster Nachbar ist der auch geistig ihm nahestehende und verwandte Herr von Mallinckrodt, ein begabter Redner, dem ebenfalls die Waffe des Witzes, wenn auch nicht in demselben Maße wie seinem Freunde Windthorst, zu Gebote steht, den er noch an Fanatismus, aber auch an Ehrlichkeit übertrifft. Beiden zur Seite sitzen die Brüder Reichensperger, gleichfalls Mitglieder der streitenden Kirche, sonst ebenso begabte wie achtungswerthe Männer, von denen der ältere, August, durch seine Arbeiten aus dem Gebiete der christlichen Kunst sich einen Namen erworben hat, während Peter, Mitglied des Obertribunals und scharfsinniger Jurist, auch als parlamentarischer Redner einen bedeutenden Ruf genießt, obgleich seine Reden an einer gewissen Breite und salbungsvollen Selbstgefälligkeit leiden. Aber jener junge, schlanke Mann in schwarzem Talar, dessen blasses, glattes Gesicht mit den bald zu Boden gesenkten, bald keck herumschweifenden und herausfordernden Blicken den unverkennbaren Typus des jüngeren katholischen Clerus zeigt, jene seltsame Mischung von seminaristischer Demuth und ultramontaner Streitlust, von römischem Uebermuthe und jesuitischer Schlauheit, kann wohl kaum ein Anderer sein, als der vielgenannte Herausgeber der „Germania“, Paul Majunke, der Journalist im Priesterkleide, der den Ton und die Taktik der auswärtigen ultramontanen Zeitschriften und Jesuitenorgane mit anerkennenswerther Geschicklichkeit in’s Deutsche übersetzt und mit seinen französischen und italienischen Vorbildern an Feindseligkeit gegen den protestantischen Staat wetteifert. Auch als Redner zeichnet er sich mehr durch eine gewisse kecke Schlagfertigkeit aus, als durch Reichthum an Gedanken und priesterliche Würde. Der helle Klang seiner Stimme hat etwas Schreiendes, Herausforderndes und erinnert im Vereine mit seiner ganzen demonstrativen Haltung an die Disputationsübungen junger Theologen im Convicte.
Ebensowenig kann der Herr Domcapitular Moufang aus Mainz den katholischen Geistlichen verleugnen, wenn er auch einen ganz andern Typus repräsentirt. Eine untersetzte, gedrungene Gestalt mit kahlem, auf dem kurzen Nacken sitzendem Kopfe, an dessen breiter, flacher Stirn man das berüchtigte „Non possumus“ zu lesen, den Consultor der römischen Curie und Vertheidiger der päpstlichen Unfehlbarkeit zu erkennen glaubt, ebenso starr und unnachgiebig wie sein College Majunke elastisch und beweglich erscheint, der Eine ein mittelalterlicher Ketzerrichter, mit dem Scheiterhaufen, der Andere ein moderner Jesuitenzögling, mit dem socialistischen Petroleum drohend. Unter den übrigen schwarzen Herren, welche diesmal im Reichstage stark vertreten sind, bemerken wir noch den bekannten geistlichen Rath Müller aus Berlin, einen äußerlich gemüthlich aussehenden, blonden, wohlgenährten Herrn mit rosigen Wangen, der besonders auf socialem Gebiete unter den katholischen Arbeitern und Gesellen für den Ultramontanismus Propaganda macht; ferner den Stadtpfarrer Westermaier aus München und den Prinzen Radziwill aus Beuthen, eine elegante hocharistokratische Erscheinung, halb vornehmer Dandy, halb frommer Priester und ganz von dem Holze, woraus man in Rom gefügige Werkzeuge, deutsche Bischöfe und Kirchenfürsten zu machen pflegt.
Einen seltsamen Contrast mit diesen geistlichen Elementen bilden die weltlichen Herren des Centrums, unter denen man vorzugsweise den hohen Adel der Rheinprovinzen, Schlesiens, Westphalens, Baierns, Badens und Württembergs findet, die Grafen Stollberg-Stollberg, von der bekannten katholischen Linie, die Freiherren von Aretin, von Heeremann-Zuydwyk, von Landsberg und von Hafenbrädl, die Grafen Nayhauß, Ballestrem, Praschma, Chamaré, Galen, Preysing, Bissingen-Nippenburg[WS 1] und Waldenburg-Zeil, meist junge, lebenslustige Herren, die im ultramontanen Lager ohne besondere Auszeichnung dienen, zum Theil Schüler der Jesuiten, kaiserlich-königlich österreichische Kammerherren und Ritter päpstlicher Orden, von denen Einer oder der Andere sogar unter Lamoricière die Waffen für den heiligen Vater getragen, moderne Kreuzfahrer, die jedoch bis jetzt keine nennenswerthen Eroberungen gemacht haben.
Bedeutender sind dagegen die beiden Diplomaten des Centrums, die Herren von Savigny und von Kehler; Ersterer, der frühere Bevollmächtigte und Minister Preußens bei der Bundesversammlung in Frankfurt am Main bis zur verhängnißvollen Katastrophe am 14. Juni 1866, schloß sich später aus Unzufriedenheit mit der Politik des Fürsten Bismarck den Ultramontanen an, obgleich er ein Sohn des bekannten preußischen Justizministers und Rechtsgelehrten von Savigny ist. Ebenso stand auch Herr von Kehler als Legationsrath in preußischen Diensten; gegenwärtig aber gilt er für einen besonders eifrigen und in alle Geheimnisse eingeweihte römischen Emissär. Außerdem zählt die Partei noch einige bemerkenswerthe Persönlichkeiten, wie den Inspector der königlichen Erzgießerei in München, Herrn von Miller, der sich durch den schwierigen Guß der „Bavaria“ einen Namen und den Adel erworben hat, den Historienmaler Baudri, dem die neuere Glasmalerei manche gelungene Arbeit verdankt, und den Professor Herrn von Buß aus Freiburg im Breisgau, Verfasser verschiedener staats- und kirchenrechtlicher Schriften.
Umgeben von diesen Mitgliedern des Centrums erblicken wir einen alten Herrn, dessen weißes, würdiges Haupt uns statt
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ korrigiert, Vorlage: Vissingen-Nippenberg
[295] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [296] Ehrfurcht nur Mitleid einflößt, wenn wir seinen Namen hören, der einst einen so guten Klang in Deutschland hatte. Es ist der oft genannte Professor Ewald, einer der sieben Göttinger Kämpfer gegen die Willkür des Königs Ernst August von Hannover, jetzt der wüthendste und verbissenste Particularist, dessen tragikomische Erscheinung und Reden unwillkürlich Heiterkeit erregen, eine traurige Ruine, in der statt des früheren Geistes der Freiheit jetzt nur das Gespenst des Welfenthums spukt. Mit dem Centrum mehr oder minder verbunden sind die Polen, unter denen der Abgeordnete Dr. Niegolewski durch Geist und Rednergabe hervorragt, ferner die reichsfeindlichen Elsasser, welche eine ganz besondere Beachtung verdienen. An ihrer Spitze steht der Bischof Räß von Straßburg, ein kleiner, klug aussehender Greis mit scharfen Zügen, der in seinem violetten Talare und mit dem gleichfarbigen Käppchen auf dem weißen Kopfe einen recht würdigen Eindruck macht, obgleich ihn Herr About wegen des bekannten Protestes gegen den Antrag seines Collegen Teutsch für einen verkleideten Weinhändler hält. Ein nicht gewöhnliches Redetalent entwickelte der Canonicus Gerber oder Guerber aus Hagenau, der mit vielem und rührendem Pathos den Klagen seiner Landsleute Worte lieh, und sein College, der Pfarrer Winterer aus Mühlhausen, welcher in ähnlichem Sinne mit jener leidenschaftlich theatralischen Rhetorik sprach, welche die französische Rednerschule charakterisirt. Ihre zum Theile begründeten Vorwürfe gaben dem Fürsten Bismarck die Gelegenheit, eine seiner glänzendsten Reden zu improvisiren, gegen die ihre französische Rhetorik sich nicht behaupten konnte, obgleich sie sichtlich Eindruck machten.
Auf der rechten Seite des Hauses herrscht wieder entschieden das aristokratische Element vor, das sich auch äußerlich durch die hohen, eleganten und vornehmen Gestalten kund giebt. Mitten unter diesen Herren zeichnet sich Graf Moltke durch seine schlichte, bescheidene Erscheinung aus. Der weltberühmte Stratege hat sich auch als bedeutender Redner mehrfach gezeigt, obgleich er sich nur selten hören läßt und es vorzieht, gedankenvoll zu schweigen. Sein schlanker Nachbar mit aristokratischem Gesichte und blondem Vollbarte ist der Prinz Wilhelm von Baden, Bruder des regierenden Großherzogs, früher Commandeur der badischen Truppen im Jahre 1866, gegenwärtig preußischer General der Infanterie und Commandeur der ersten badischen Infanterie-Brigade im Feldzuge gegen Frankreich, ein fein gebildeter und allgemein beliebter Herr. In seiner Nähe sitzt der Fürst von Lichnowski, der Bruder des genialen, unglücklichen Felix, mit dem er jedoch wenig oder gar keine Aehnlichkeit zu haben scheint. Interessanter sind die nächsten beiden Abgeordneten, die als Führer der sogenannten deutschen Reichspartei gelten, der bekannte Graf Bethusy-Huc, ein gewandter Redner, der nur mitunter allzu kühne Bilder braucht, und Herr von Kardorff, jener schlanke Herr mit feinen intelligenten Zügen. An Beide schließt sich der frühere Landrath Friedenthal an, zwar kein Aristokrat von Geburt, aber ein reicher Gutsbesitzer, der sich um die neue Kreisordnung entschiedene Verdienste erworben hat und dessen Rath in allen ähnlichen Fragen von der Regierung gern gehört und beachtet wird. Hinter demselben erblicken wir die beiden Herzöge von Ratibor und Ujest, den Fürsten von Pleß und den – Cultusminister Falk, einen angehenden Vierziger, dessen schlichte äußere Erscheinung keineswegs den energischen Gegner aller kirchlichen Uebergriffe vermuthen läßt. Das Gleiche gilt von seinem Collegen, dem Handelsminister Achenbach, dem Nachfolger des vielberufenen Grafen Itzenplitz. Eine besondere Gruppe bilden die alten Excellenzen, unter denen man manche interessante und bedeutende Persönlichkeit findet, wie den früheren Reichsminister für Justiz im Jahre 1848 und jetzigen Präsidenten der Oberrechnungskammer von Mohl aus Karlsruhe, der die deutschen Grundrechte verkündigt hat, ferner von Bernuth, gleichfalls Justizminister der neuen Aera in Preußen unter dem Ministerium Hohenzollern und endlich noch den ehemaligen bairischen Ministerpräsidenten Fürsten von Hohenlohe-Schillingsfürst, den Nachfolger des Herrn von der Pfordten, Vicepräsidenten des Zollparlaments und des deutschen Reichstags, bekannt durch seine echt patriotische Gesinnung.
Die aus so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzte Versammlung bietet natürlich dem Beobachter ein ebenso interessantes wie bewegtes Schauspiel, das an manchen Tagen, wenn eine besonders wichtige Verhandlung vorliegt, einen bedeutenden Eindruck macht. Im Ganzen herrscht meist ein ruhiger, gemessener Ton vor, der nur selten durch einen stürmischen Auftritt unterbrochen wird und den Ordnungsruf des Präsidenten nöthig macht. Die politischen Gegensätze haben im Laufe der Zeit von ihrer Schärfe verloren und sich aneinander abgeschliffen; auch finden sie in den Commissionssitzungen hinlängliche Gelegenheit, sich auszusprechen und zu bekämpfen. Nur in den religiösen Fragen verrathen die Heißsporne des Centrums eine große Reizbarkeit, die sich zuweilen in scharfen Worten oder unarticulirten Lauten Luft macht. Auch fehlt es nicht an Rednern, welche eine unwillkürliche Heiterkeit erregen oder durch ihre bloße Erscheinung eine wahre Panik verbreiten, indem sie den Saal leeren und die Fraction Rubin füllen.
Dagegen giebt es Momente der höchsten Spannung und einer wahrhaft heiligen Stille. Dies ist stets der Fall, wenn bei einer großen Verhandlung sich ein besonders hervorragender Redner zum Worte meldet, oder wenn gar Fürst Bismarck sich von seinem Sitze erhebt, um in seiner bekannten Weise sich selbst oder eine Maßregel der Regierung gegen die Angriffe eines Abgeordneten zu vertheidigen. Meist beginnt er mit leiser Stimme, von der Tribüne kaum vernehmbar, stockend und zögernd, bis er wärmer und erregter Schlag auf Schlag immer dichter und vernichtender auf das Haupt seiner Gegner niederfallen läßt, bald mit würdigem Ernste und staatsmännischer Größe, bald mit vernichtendem Spotte und schlagendem Witze ihre Gründe widerlegend, trotz Krankheit, Schmerzen und sichtlicher Schwäche die Hörer fesselnd und mit sich fortreißend, kein eigentlicher kunstvoller, schulgerechter, aber ein geborener, genialer Redner, den wir unwillkürlich bewundern müssen, auch wenn wir nicht mit seiner Politik immer einverstanden sind.
Ein ganz besonderes Interesse erregte in der letzten Zeit die große und wichtige Debatte um die Militärvorlage, wobei es sich eigentlich um das Budgetrecht handelte. Wenn auch die Mehrzahl der Versammlung die Nothwendigkeit einer starken Heeresmacht anerkannte und auch bereit war, aus diesem Grunde die Forderungen der Regierung zu bewilligen, so war doch selbst ein großer Theil der Nationalliberalen nicht geneigt, sich für ewige Zeiten durch die Annahme des Gesetzes binden zu lassen und auf das Bewilligungsrecht der nöthigen Kosten für immer zu verzichten. Von Neuem drohte daher ein sowohl für die Regierung wie für den Reichstag und das ganze Land höchst gefährlicher Conflict, der durch den bekannten Compromiß beseitigt wurde.
Während der schwebenden Verhandlungen herrschte die größte Aufregung, die sich auch in den Debatten des Hauses kund gab und leider eine Spaltung der Fortschrittspartei herbeiführte, indem zehn Mitglieder derselben unter der Führung von Löwe-Calbe, wie wir hören, mehr aus persönlichen als aus sachlichen Gründen ihren Austritt aus der Fraction erklärten, ohne deshalb ihre politische Gemeinschaft mit derselben aufzugeben. Obgleich durch die vorher erfolgte Vereinbarung, woran sich hauptsächlich der kranke Reichskanzler und die Herren von Forckenbeck und Bennigsen lebhaft betheiligten, dem Kampfe die Spitze abgebrochen war und der Erfolg sich mit Gewißheit voraussehen ließ, so waren doch die Tribünen bis auf den letzten Platz besetzt und die Abgeordneten selbst leidenschaftlich bewegt. In den Gängen und der großen Halle des Hauses machte sich schon früher eine fast stürmische Unruhe bemerkbar; alte Freunde und Fractionsgenossen begegneten sich in heftigem Streite und schieden als Gegner, da sie sich über ihre Stellung zu der Militärvorlage nicht vereinigen konnten. Selbst ist dem Lager der Nationalliberalen drohte ein Zwiespalt auszubrechen, weil Lasker mit anerkennungswerther Festigkeit das Budgetrecht gewahrt wissen und sich höchstens zu der siebenjährigen Frist verstehen wollte. Unterdessen fanden an dem Lager des leidenden Fürsten Bismarck in der Wilhelmstraße fortwährende Besprechungen mit den bereits genannten Herren und selbst ernste Berathungen unter dem Vorsitze des greisen Kaisers statt, deren Resultate die Abgeordneten jetzt mehr oder minder erregt besprachen.
Unter so gespannten Verhältnissen wurden die höchst interessanten Verhandlungen über die Militärvorlage mit einem durchaus objectiven und klaren Bericht des Abgeordneten Miquel [297] eröffnet, an den sich eine überaus lebhafte Debatte knüpfte. Mit schneidender Schärfe griff Windthorst das Gesetz an, welches von Bennigsen in einer seiner glänzendsten Reden vertheidigt wurde, wobei er der Perle von Meppen mit gleicher Münze zahlte und die politische Vergangenheit des früheren hannöverischen Ministers einer geistreichen, fein ironischen Kritik unterwarf. Mit wahrhaft bewunderungswürdiger Beredsamkeit kämpfte Richter von der Fortschrittspartei für das Budgetrecht des Reichstags, von dem häufigen und wohlverdienten Beifall seiner Parteigenossen unterbrochen. Auch das Centrum schickte außer Windthorst noch seine besten Redner, Mallinckrodt und Reichensperger in’s Gefecht, während von Seiten der Nationalliberalen Treitschke und Lasker das Wort ergriffen. Obgleich der Sieg der Regierung, nachdem sie in den Compromiß gewilligt, nicht länger zweifelhaft sein konnte, entbehrte doch die Debatte und die namentliche Abstimmung nicht eines hohen dramatischen Interesses.
So erscheint der deutsche Reichstag in seiner jetzigen Gestalt und Wirksamkeit ungeachtet mancher Mängel und Schwächen als eine der bedeutendsten und großartigsten Schöpfungen der Neuzeit, als der verkörperte Ausdruck des deutschen Volkswillens, als die Arena, in welcher die Geister auf einander platzen und die großen Fragen der Zeit in friedlicher Weise gelöst werden, als eine Bürgschaft für die Einheit und Größe unseres Vaterlandes, wenn es auch nicht an manchen feindlichen und trüben Elementen fehlt, welche die großen Errungenschaften der letzten Jahre bedrohen. Nichtsdestoweniger scheiden wir mit der Ueberzeugung, daß das deutsche Volk und die deutschen Regierungen mit Hülfe des Reichstags über alle inneren und äußeren Feinde triumphiren und in dem großen Culturkampfe gegen Ultramontanismus und Socialismus stets ihre Pflicht thun werden.
Erinnerungen an Heimgegangene. Nr. 1. Es sind eigentlich nur kleine, meist unbedeutende Charakterzüge, die ich den Lesern hier mittheile, ja sie würden wohl kaum die Mühe des Aufzeichnens lohnen, wenn es nicht Erinnerungen an bedeutende Menschen wären, die eben dadurch, daß sie nicht mehr unter den Lebenden weilen, an Werth und Wichtigkeit gewinnen. Als „Menschen-Bädecker“, wie mich Freund Auerbach nennt, bin ich auf meiner vielbewegten Lebensbahn mit den meisten der hervorragenden Zeitgenossen in Berührung gekommen, und so mögen denn diese einfachen Mittheilungen über jüngst Heimgegangene hier eine Stelle finden.
Einen unruhigeren Zimmernachbar, als ich ihn 1872 in Cairo, im Hôtel du Nil hatte, kann man sich wohl nicht denken. Von zehn Uhr Nachts bis zur Morgendämmerung lief er mit der Unruhe eines Raubthieres in seinem Käfig auf und ab, laute aber unverständliche Selbstgespräche führend, ohne Pause, ohne Rast. Erst wenn es in dem prächtigen Garten unseres braven deutschen Wirthes lebendig wurde, die Gäste aus den Thüren traten, um unter dem breiten Blätterdache der Bananen das Frühstück zu genießen, herrschte ist meiner Nachbarstube eine tiefe, geisterhafte Stille; wahrscheinlich hatte sich der Bewohner derselben, nach dem rastlosen zehnstündigen Marsche erschöpft, auf’s Lager geworfen.
„Kennen Sie schon Ihren neuen Nachbar?“ frug mich am nächsten Abende der bekannte und gelehrte Dr. von Laurent, der Afrika und Asien nach allen Richtungen bereits durchkreuzt hatte zu einer Zeit, wo diese Passion noch mit weit mehr Gefahren und Unbequemlichkeiten verknüpft war, als jetzt, wo das Reisen in fremde, ferne Welttheile fast Modesache geworden ist.
„Meinen Nachbar?“ antwortete ich, „vom Ansehen kenne ich ihn nicht, aber ‚die Blinden in Genua kennen seinen Tritt‘. Sagen Sie mir um Gottes willen, was treibt denn der Mann die ganze lange Nacht?“
„Ich glaube, er ist nervenkrank. Es ist der bekannte Orientreisende, Baron von Maltzan,“ entgegnete Laurent.
Bei Tische stellte er mich meinem seltsamen Nachbar vor. Hier wurde dieser, wenn auch nicht besonders redselig, doch mittheilsamer und freundlich. Er hatte die Absicht, demnächst nach dem sogenannten „steinigen Arabien“ zu gehen und die dortigen unbekannten Stämme zu studiren, zunächst aber dachte er sich über die Zustände in Cairo zu informiren. Wie er das Letztere anfangen werde bei seiner Manier, Tag und Nacht sich in die vier Wände einzuschließen, blieb uns allerdings ein Räthsel. Außer unserem liebenswürdigen, für alle wissenschaftlichen Fortschritte lebhaft sich interessirenden deutschen Generalconsul von Jasmund besuchte er Niemand. Dem Vicekönig von Aegypten ließ er sich von dem Vertreter Deutschlands auf den dringenden Wunsch des Ersteren vorstellen. Der Vicekönig empfing ihn, wie uns Maltzan selbst erzählte, mit der Liebenswürdigkeit und Gastlichkeit, mit welcher alle Europäer von einiger Bedeutung an seinem Hofe aufgenommen werden, eine Eigenschaft, die nur zu oft von den Fremden mißbraucht wird.
In seiner Lebensweise änderte mein Nachbar nichts; ich hörte ihn in stiller Verzweiflung noch einige Tage neben mir auf- und niedergehen und laute Selbstgespräche führen. Unsere Bekanntschaft im fernen Welttheile beschränkte sich auf eine freundliche, aber nicht sehr lebhafte Conversation. Eines Tages hatte der Ruhelose sein Zelt abgebrochen und war wieder hinausgewandert in ferne unbekannte Wüsteneien. Eine Karte, mit „Heinrich Freiherr von Maltzan“ und P. pr. c. bezeichnet, wurde mir von ihm übergeben. Er war spurlos verschwunden. Niemand hatte er in Kenntniß gesetzt, wohin er reisen würde. Und das war vorsichtig gehandelt, denn seine in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ kurz darauf veröffentlichten etwas wunderlichen „Briefe aus Cairo“ wirbelten viel Staub auf und würden jedenfalls zu Rencontres geführt haben, die den nervenkranken Mann unangenehm aufgeregt hätten.
Ab und zu las ich einen und den andern seiner brillant geschriebenen Berichte aus entlegenen Erdstrichen über Ereignisse, die ich nicht kenne und über deren Richtigkeit ich kein Urtheil habe. – Vor wenigen Tagen erfuhr ich mit Erschütterung die Nachricht von seinem freiwilligen Ende. In Pisa, wo die tödtliche Langweile auch dem Gesunden verderblich werden kann, hat er das Dasein abgeschüttelt, welches, nach dem kurzen Einblicke zu urtheilen, der mir in dasselbe geworden, wohl schon seit Jahren für ihn ein qualvolles gewesen sein mag. –
Nur dunkel weiß ich mich noch auf Hoffmann von Fallersleben zu erinnern, aber zusammengetroffen bin ich auch mit ihm. Wir fuhren, wenn ich nicht irre, ein paar Tage und Nächte lang im Coupé des Eilwagens als gute Reisecameraden von Cassel nach Bremen, damals eine lange Tour, die noch kein Schienenweg berührt hatte. Ein Gespräch war bald in Gang gebracht und wohl unterhalten, denn gar viele Anknüpfungspunkte für dasselbe Thema fanden wir beiderseitig, und doch konnte Keiner von uns aus dem Andern klug werden. Ich suchte eher Alles in ihm, dem fidelen Kumpan, dem alle, alle deutschen Volkslieder so geläufig waren und so frisch aus der vollen breiten Brust erschollen, als den Dichter, den Gelehrten. Auf jeder Station – und an wie vielen Stationen hielt damals die deutsche Postschnecke! – ließ er sich einen Schoppen Wein schmecken, roth oder weiß, wenn er nur gut war; zu jedem Glase hatte er ein heiteres Liedel parat, das er ungenirt zum Besten gab. Dazwischen erzählte er mir, dem eifrig Zuhorchenden, an allen bekannten Orten alles, was in Sage und Geschichte sich an die betreffenden Punkte anknüpfen ließ, aber ohne Schulmeisterei, ohne alle Pedanterie, aus reinem Mittheilungsdrang. Ich zerbrach mir den Kopf, wer der Mann sein könne, der so frisch und heiter in der Welt herumcariolte, und ihm ging es, wie er mir später erzählte, ebenso mit mir. Kaufmann war ich nicht, wie ich auf sein Befragen mittheilte – auf einen Commis voyageur hatte er zuerst gerathen. Dann war er irre geworden, weil ich die ganze moderne Literatur kannte, und persönlich wohl auch die bedeutendsten Träger derselben. Plötzlich platzte er los: „Ich heiße Hoffmann von Fallersleben. Wie heißen denn Sie?“
„Franz Wallner.“
Ein Name, fremd seinem Ohre, wie seinem Herzen. „Sind Sie auch Schriftsteller?“
„Leider nein.“
„Nun, in drei Teufelsnamen, was sind Sie denn?“
„Schauspieler.“
„Schauspieler?“ gab er lang gedehnt zurück; ich las in seinem Innern, daß er dachte, was Scholz einst von den Böhmen sagte: „Nun, wissen Sie, es ist zwar keine Schande, aber hübsch ist es gerade auch nicht.“
„Ja, ich bin Schauspieler,“ sagte ich etwas trotzig, „und reise zum Gastspiele an das neue Theater in Bremen.“
„Da werde ich Sie sehen, obgleich ich selten in’s Theater gehe.“
Er hielt Wort. Nach meiner ersten Rolle als Valentin in Raimund’s Verschwender lauerte er mir an einer Straßenecke auf, sagte mir kurz und derb einige treuherzige, anerkennende Worte über meine Leistung und lud mich ein, mit ihm „einen Schoppen“ zu trinken, da er morgen verreise. Wir verlebten eine recht fröhliche Nacht miteinander.
Das war mein erstes und letztes Zusammentreffen mit Hoffmann von Fallersleben.
Ein amerikanischer „Reichsfechtmeister“. Wir haben hier in Amerika etwas Aehnliches, freilich nicht so Respectables wie der „deutsche Reichsfechtmeister“ (Gartenlaube Nr. 49, 1873), einen „großen Bettler“, wie man Rev. F. Jues von Auburn zu benennen pflegt. Derselbe spielt seine Rolle aber amerikanisch, indem er sich sein Bettelgenie – sehr anständig bezahlen läßt. Die Specialität dieses bettelnden Reverend ist, Gelder zusammen zu betteln, um die Schulden von Kirchengemeinden tilgen zu helfen. Solcher Bettel pflegt jedes Mal beim Einweihen oder vielmehr bei der „Widmung“ eines Kirchenbaues loszugehen. Der „große Bettler“ Amerikas hat schon für mehr als achthundert Kirchen auf diese Weise mit gutem Erfolge sein Talent verwerthet. Gewöhnlich bedarf er nur einige Tage, um seine Vorbereitungen zu treffen. Es werden Zusammenkünfte gehalten, Operationspläne besprochen und verabredet und endlich einflußreiche Männer in’s Interesse gezogen, die sich schließlich zur Zeichnung erklecklicher Summen verstehen müssen. Ist Alles gehörig vorbereitet, so erklärt der Reverend „das Deck klar für die Action“. Das Auditorium darf freilich nicht hinter die Coulissen sehen.
In ein paar Stunden hat der große Bettler bei solchen Festivitäten sein Werk gethan, und steht ihm hierbei ein reicher Schatz von Anekdoten, Schnurren und Possen zu Gebote, um die Leute in die passende Stimmung zu bringen. Ist Alles in guter Laune, dann thut er, als wisse er nicht, wie er gleich beginnen solle, und schlägt vor, lieber gleich mit den Eintausenddollars- oder jenachdem mit den Fünfhundertdollars-Subscriptionen
[298] anfangen zu wollen. Hierauf geben die Männer, welche (schon voraus) sich zur Subscription solcher Beträge verbindlich gemacht haben und die sehr geschickt unter dem Auditorium vertheilt sind, mit sonorer Stimme den erforderlichen Bescheid. Und ist der Stein auf solche Weise in’s Rollen gekommen, so sorgt schon das große Bettlertalent, daß er gleich anfangs tüchtige Sprünge macht, bis er endlich bis unter den Hunderten herunter um nichts weniger lebhaft hüpft und zuletzt unter einer Masse von Fünfdollarsbeiträgen verrinnt. – Ein solcher Bettel wurde erst neulich auch in Brooklyn (bei New-York) bei der Wiedereröffnung des abgebrannten und wieder aufgebauten „Tabernacle“, der bekannten „fashionablen“ Kirche Henry Ward Beecher’s in Scene gesetzt. Von dem „großen Bettler“ wurden Subscriptionen im Betrage von fünfunddreißigtausend Dollars zu Stande gebracht. Der Reverend erhält für seine „Arbeit“ zweihundertfünfzig bis tausend Dollars per Sonntag, je nach der Höhe der aufgebrachten Summe. Er steht einzig und unübertroffen da in seiner Sphäre und soll – sehr beschäftigt sein.
„Gegen Rom!“ Die Dichtung soll ein Spiegelbild ihrer Zeit sein. Dieser Forderung ist die deutsche Lyrik namentlich in den letzten Decennien in erhöhtem Grade gerecht geworden. Als vor nunmehr vier Jahren Frankreich Alldeutschland bedrohete, da trat unsere patriotische Dichtung, zuerst anspornend und dann verherrlichend, in die Reihen der Vaterlandsvertheidiger ein und half den großen Kampf glorreich entscheiden.
Heut heißt das Feldgeschrei: „Gegen Rom!“ Der alte Krieg zwischen Kaiser und Papst, der ehedem Jahrhunderte hindurch Deutschland im Harnisch erhielt, ist auf’s Neue entbrannt, und wie damals die Dichter unserer ersten classischen Literatur-Periode, unter ihnen vor Allem ein Walther von der Vogelweide, die Stimme erhoben für Kaiser und Reich, so stellt angesichts der allgemeinen Schilderhebung auch heute die deutsche Lyrik ein streitbares Contingent in die Schlachtlinie und liefert dadurch, wie schon oft, den Beweis, daß ihr die heiligsten Interessen der Nation nicht fremd sind.
„Gegen Rom!“ ist der Titel einer von Ernst Scherenberg in der Bädeker’schen Buchhandlung in Elberfeld herausgegebenen Sammlung von Gedichten reichstreuer deutscher Poeten. Das Buch verdankt die erste Anregung zu seinem Entstehen zunächst dem in Nr. 4 unseres Blattes abgedruckten und mit so allgemeinem Beifalle angenommenen Liede „Wem gilt unser Krieg?“ von Ernst Scherenberg, welches an der Spitze dieses kriegerischen Aufgebots geharnischter Lyrik einhermarschirt. Ihm folgen auf hundertelf Seiten Gedichte von 65 meist namhaften Poeten, scharfe Abkanzelungen des Jesuiten- und Pfaffenthums und bissige Epigramme auf den Papst und seine Schildträger, flotte Fehde-Lieder und schneidige Satiren auf die Unfehlbarkeit und das ganze römische Regiment, kecke Humoresken aus der Geschichte der Zeit und weihevolle Apotheosen der Freiheit in Staat und Leben. Neben anderen trefflichen und einigen matteren Producten enthält das Buch hervorragende Beiträge von Emanuel Geibel, Robert Hamerling, Rudolf Gottschall, Friedrich Bodenstedt, P. J. Willatzen, Friedrich Hofmann, Hermann Lingg, Emil Rittershaus, Hoffmann von Fallersleben, Albert Traeger, Ernst Ziel, Julius Große und dem Herausgeber selbst. Durch das Ganze weht ein so frischer Geist der Propaganda für die Ideen der Freiheit und des Lichts, daß alle Freunde von Kaiser und Reich die Verbreitung dieses echt patriotischen Buches als eine nationale Sache betrachten sollten.
Noch einmal „Unsere schlechten Dienstboten“. Die so gesunden und frischen Aeußerungen der Frau Heyne über dieses Thema (in Nr. 15 der Gartenlaube) sollen im Folgenden durch die Ansichten eines Mannes ergänzt werden, der in der Sache wahrlich ein Wort mitzusprechen befugt ist.
Der im Jahre 1797 verstorbene württembergische Pfarrer J. Fr. Flattich, in Folge seines eigenen großen Haushalts und wiederholter an ihn gebrachter Klagen oft und viel mit der Dienstbotenfrage beschäftigt, that eines Tags einen Ausspruch, der sich an die beherzigenswerthen Haushaltungsregeln unserer Frau Heyne ungesucht anreiht, als ein gar kräftiges Hausmittel gegen allerlei Schäden, die dort in jenem Damenkreise zu Berchtesgaden auf’s Tapet kamen. „Gegen Fehler,“ sagte er aus Anlaß einer solchen Klage, „die wir an unseren Dienstboten wahrnehmen, muß man mit Nachsicht und Geduld verfahren; denn Fehler haben wir Herrschaften alle auch an uns; Fehler dürfen sie wohl haben, wenn es nur keine Laster sind.“
Ich meine, dieser Ausspruch ist ein trefflicher Wegweiser für viele Fälle des häuslichen Lebens, ein Führer zum Frieden, wie ihn gleichfalls Flattich auch sonst als die einzig richtige Sorte von Wegzeigern bezeichnet, der nicht blos wie ein hölzerner Stock am Wege über dem Graben steht, sondern auf dem Wege uns zur Seite bleibt und, wenn man ihm Gehör schenkt, täglich und stündlich viel Gutes stiftet. Auch Frau Heyne wird ihn willkommen heißen und ihm zugestehen, daß er ihr einen der Grund- und Ecksteine bezeichnet, auf dem der wohlgefügte Bau eines guten Hauswesens, wofür sie so gediegene Materialien liefert, zu ruhen hat.
Auch für die Frage, welche doch gleichfalls bei dieser Angelegenheit von Bedeutung ist: wie man es mit auffallend gedankenlosen Dienstboten zu halten habe, liegt die Antwort in diesem Ausspruche. Ein Anderes ist es jedoch, wenn man solche schon hat, ein Anderes, was bei der Wahl neuer Knechte und Mägde zu thun sei; ob man dann lieber auf Leute sein Absehen richten soll, die vor allen Dingen unbedingt, ohne selbst zu denken, sonder Wider- und Hinrede gehorchen, wie man das so häufig als erstes Erforderniß eines guten Dienstboten verlangt, und nicht vielmehr solchen den Vorzug zu geben hat, die eigenes Nachdenken zu den Arbeiten mitbringen. Die gewiß richtige Entscheidung giebt ein anderes Vorkommniß im Haushalte desselben Flattich. Er bedurfte eines neuen Haus- und Gartenknechtes. Eines Morgens erscheint ein Liebhaber zu der Stelle in seinem Studirzimmer. Schweigend tritt er mit ihm an ein Fenster, vor dem ein im besten Alter befindlicher Birnbaum steht. „Der Baum wirft mir zu viel Schatten in’s Zimmer,“ sagt er zu dem Burschen, „geh’ hinunter in den Garten und haue ihn um, damit ich sehe, wie Du arbeiten kannst.“ Ohne etwas zu erwidern, trollt der Angeredete fort, wird aber auf der Schwelle zurückgerufen mit den Worten: „So, jetzt weiß ich schon, daß Du mir nicht taugst. Ich brauche viele Leute im Hause und kann nicht überall dabei sein, wenn sie arbeiten; sie müssen also selbst mit Verstand schaffen. Wer aber ohne Widerrede sich heißen läßt, einen solchen kräftigen Baum umzuhauen, zeigt, daß er selber gar nicht nachdenkt.“
Instinct oder Ueberlegung? Als ich vor längerer Zeit eines Abends einen Spaziergang durch den Garten machte, hörte ich in dem nahen Hühnerhofe ein Toben und Lärmen von den betreffenden Insassen, daß ich auf den Gedanken kam, es könnte vielleicht ein hungriger Iltis in den Stall gedrungen sein. Ich öffnete also rasch, aber doch ziemlich leise die Thür und gewann bald die Ueberzeugung, daß in diesen kleinen Staat keine äußere feindliche Macht gedrungen sei, merkte aber eben so schnell, daß das Reich hier mit sich selbst uneins geworden sei. Auf dem Querbalken des Hühnerhauses saßen oder vielmehr standen sechszehn bis zwanzig Hühner in der größten Aufregung. An dem Ende des Balkens stand der stolze Herrscher, der Hahn, und theilte mit seinem Schnabel einem Unterthan seines Reiches solche empfindliche Schläge aus, daß derselbe gezwungen wurde, das Weite zu suchen. Unten standen sechs Küchlein, die durch ihre kläglichen Stimmen zu erkennen gaben, daß sie der Mutter entbehrten, und augenblicklich ruhig wurden, als sie in der verstoßenen Henne die eigene Mutter erkannten. Letztere mochte es für überflüssig erachten, ihre schützende Decke noch länger über die Jungen auszubreiten, und in der Voraussetzung, daß die Kleinen folgen würden, hatte sie den alten Platz oben wieder eingenommen. Der Hahn suchte nun der lieblosen Mutter durch seine handgreifliche Vermittlung die Mutterpflicht wieder zum Bewußtsein zu bringen. Jedoch kaum war die Henne unten, so suchte sie an der entgegengesetzten Seite einen neuen Platz für sich aus, und unten entstand natürlich derselbe Lärm wieder. Der Hahn machte sich nun zum zweiten Male mit noch derberen Schnabelhieben über die Henne her, so daß die Federn davon flogen. Natürlich mußte die Henne wieder hinunter, kam aber eben so rasch wieder nach oben und gab durch solches Benehmen ihrem Gemahle zu verstehen, daß sie unter keiner Bedingung gewillt sei, auf seine Anforderungen einzugehen. Was that nun der Hahn? Er handelte, wenn auch unbewußt, nach dem Sprüchwort: „Nachgeben stillt den Krieg“, flog hinunter, stellte sich in eine Ecke des Hühnerhauses und lockte mit seiner groben Baßstimme so lange, bis er die ganze Nachkommenschaft unter seine Flügel gebracht hatte, und Alles war ruhig.
Bei denjenigen Vögeln, welche paarig leben, wo also Männchen und Weibchen für die Jungen sorgen, wird solches Handeln nicht sonderlich auffallen, wohl aber muß es wunderbar erscheinen bei den Vögeln, welche nicht paarig leben, wo also die Pflege der Jungen ausschließlich der Mutter überlassen ist.
Für die Roderich Benedix-Dotation gingen noch ein: Polyhymnia 1 Thlr. 1 Ngr.; Gesellschaft Eintracht in Markneukirchen 2 Thlr.; durch Aufführung des „Doctor Wespe“ in der Liebhabertheatergesellschaft in Lenzburg (Schweiz) 80 Thlr. (300 Franken); Gesellschaft Fidelio in Essen, durch Theatervorstellung zum Besten der Benedix-Stiftung 47 Thlr. 1½ Ngr.; Kränzchen in Preußisch-Stargard 10 Thlr.; ein Kriegsreservist des dritten sächsischen Reiterregiments 5 Thlr.; vom Bürgervereine und Vereine Paradies in Zerbst, Nettoertrag einer Vorstellung des „Steckbriefs“ 30 Thlr.; Dilettanten-Verein Victoria in Frankfurt a. M. 60 fl.; Ertrag einer Aufführung des „Doctor Wespe“ durch den dramatischen Verein Thalia in Elsfleth 33 Thlr. 10 Ngr.
Die Gesammtsumme der Benedix-Dotation beträgt nunmehr:
über deren Empfang ich hiermit im Namen des Comités nochmals dankend quittire. Das Comité wird sich später selbst über die Verwendung der Gelder des Weiteren aussprechen.
- In der Verlagshandlung der „Gartenlaube“ sind erschienen:
Marlitt, E., | Goldelse. Illustrirt von Paul Thumann. Salon‑Ausgabe. | Imp.-8. Eleg. geb. mit Goldschnitt 3½ Thlr. |
– | Goldelse. Volksausgabe. 9. Auflage | Eleg. geb. Preis 1 Thlr. 8 Ngr. brosch. 1 Thlr. |
– | Das Geheimniß der alten Mamsell. 6. Auflage. 2 Bände. | brosch. 2 Thlr. |
– | Thüringer Erzählungen. 3. Auflage. brosch. | 1½ Thlr. |
– | Die Reichsgräfin Gisela. 4. Auflage. 2 Bände. brosch. | 2⅔ Thlr. |
– | Das Haideprinzeßchen. 2 Bände. | 3 Thlr. |