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Die Gartenlaube (1873)/Heft 39

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[623]

No. 39.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Künstler und Fürstenkind.

Von August Lienhardt.
(Fortsetzung.)


8.

Noch einen Brief erhältst Du, Gottfried, aus der alten Vaterstadt, und zwar aus folgenden Gründen. Unsere Abreise bleibt auf morgen früh bestimmt, obgleich heute Nachmittag die Fürstin Löwenheim durchaus darauf dringen wollte, die Abreise zu verschieben, bis ihr großer Ball vorüber sei. Der Herzog lehnte entschuldigend, aber sehr entschieden ab, und so ging die alte Dame unverrichteter Sache heim, nicht eher jedoch, als bis sie von Hedwig das Versprechen erhalten hatte, mit dem Bruder den Abend bei ihr zuzubringen. Von mir noch an den Wagen geleitet, wo ein warmer Händedruck, ein fröhliches „Wie freue ich mich auf morgen!“ mir gespendet wurde, fuhr sie fort. Es ist der erste Abend seit lange, Gottfried, den ich fern von ihr zubringe. Wie ich nach und nach hier im Hause den ganzen Kreis von Bekannten kennen lernte, wurde ich auch mit eingeladen, und so kam es, daß alle meine Abende nicht vom Lampenlichte, sondern von ihrer sonnigen Gegenwart beleuchtet wurden. Wie einsam fühle ich mich nun in meinem Zimmer! Der mir sonst willkommene Feierabend ist mir unerträglich, und zur Ruhe gehen kann ich auch nicht, ehe die Räder im Hofe rollen, die sie sicher unter dieses Dach bringen.

Verzeihe es also dem Freunde, wenn er dieses eine Mal nicht, um den Drang des Herzens zu stillen, an Dich schreibt, sondern – um sich die Zeit zu verkürzen. Ich habe Alles versucht – zu lesen, zu zeichnen nichts will mir gelingen, denn meine Phantasie malt mir stets ihr Bild vor Augen; in den Ohren erklingt ohne Unterlaß ihre Stimme. Schreibe ich an Dich, so darf ich doch hier und dort ihrer erwähnen, darf ihren Namen auf Papier zeichnen, und kann ihrer dabei gedenken.

Habe keine Angst, daß ich Dir nichts als den heutigen Brief wiederhole. Ich werde von anderen Dingen sprechen, werde dessen gedenken, was sich dieser Tage außer uns zugetragen, für einen Augenblick mich erinnern, daß neben mir und ihr noch eine Welt besteht. Als ich vor einigen Wochen die letzten Pinselstriche an meinem Bilde machte, trat unangemeldet zu meinem größten Erstaunen Graf von Werdau ein. Noch nie hatte er sich in mein Atelier verirrt, ich weiß nicht, ob freiwillig oder weil ein Verbot ihm die Thür desselben schloß.

Nachdem er, das Auge mit dem unausbleiblichen Zwicker bewaffnet, eine Zeitlang auf das Bild geblickt, sagte er schmunzelnd:

„Ein reizendes Mädchen, fürwahr! Welche Rundung und dabei welche Finesse! Wirklich eine Seltenheit! Und Sie haben sie zum Entzücken gemalt, junger Mann, genossen und doch geschmeichelt. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank!“

Er mir danken, weil ich meine Sonne, meines Lebens Idol, mit schwachen Strichen auf die Leinwand gebracht! Es war empörend, Gottfried, nicht wahr? Ich frug ihn, indem ich ruhig weiter malte:

„Hat Ihnen vielleicht Herzog Ernst das Bild zum Geschenke zugedacht?“

„Mir? Nein! Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?“

„Weil Sie mir dafür danken.“

„Ach, das müssen Sie nicht so genau nehmen!“ sagte er näher tretend. „Ich sprach so in einem allgemeinen Familiengefühle, habe nämlich meine Absichten, endlich muß doch geheirathet sein, und Prinzessin Hedwig ist wunderbar.“

Das mir!!

„Sie sind ein charmanter Mensch,“ fuhr er, offenbar etwas in Champagnerlaune, nach kurzer Pause fort; „schon dieses Bild zeugt dafür, und daß Sie Sich so ganz unentbehrlich gemacht haben hier im Hause, spricht wohl auch nicht dagegen. Sie sehen, daß ich bon enfant bin, trage Ihnen gar nicht nach, daß Sie mich damals bei der Ali-Geschichte so gänzlich ausstachen. Apropos, wo haben Sie denn reiten gelernt?“

„Auf meines Vaters Pferden, Herr Graf.“

Er biß sich die Lippen, sprach dann aber doch gelassen:

„Ach, gerade wie ich auch! Sie nehmen gleich Alles übel und haben doch Unrecht. Wenn Sie mich zum Beispiel vorzüglich malen sehen würden, so wäre es ganz natürlich, wenn Sie die Frage an mich richteten: Wo haben Sie das gelernt?“

„Nicht im Entferntesten! Man kann ganz gut ausschließlich Künstler sein und dennoch nebenbei ein wildes Thier bändigen; das macht sich mit Courage. Aber man kann nicht ausschließlich Tänzer und Cavalier sein und ganz nebenbei noch vorzüglich malen.“

„Ach, Sie glauben nicht!“ Nun, das bringt mich auf die Sache, welche mich hierher führte. Ein ganz ordinäres Sprüchwort sagt: ‚Man muß mit den Wölfen heulen.‘ Das habe ich nun auf meinen Fall angewendet und gedenke es auszuführen. Mir liegt außerordentlich viel daran, Prinzessin Hedwig zu gefallen. Um dies zu bewerkstelligen, ist es vor Allem nöthig, die Sympathie des Geistes und der Seele festzustellen. Prinzessin Hedwig geräth seit einiger Zeit vor jeder zerfetzten alten Leinwand in Ekstase. ‚Gerathen wir auch in Ekstase‘ sprach ich zu [624] mir, und that’s auch richtig, indem ich mich so fest vor ein Bild in der Ausstellung hinpflanzte, daß man mich kaum davon loszureißen vermochte. So weit gut! Doch nun verfällt Prinzessin Hedwig auf den Gedanken, mit Passion zu zeichnen. Was bleibt mir übrig, als ebenfalls mich der bildenden Kunst zu widmen? Denn eingehende Gespräche hierüber sind die einzigen, welche die Dame zu fesseln vermögen. Dazu sind nun Sie der Mann, Herr Impach; lehren Sie mich die Anfänge! Das Resultat ist mir gleichgültig, wenn ich nur einige technische Kunstgriffe wegbekomme.“

„Sie erweisen mir zu viel Ehre, wenn Sie glauben, ich könnte Ihnen die Kunst auf diese Art beibringen,“ sprach ich kühl.

„Mein Gott, man weiß ja, daß Sie es sind, welcher der Prinzessin diese Kunstmanie beigebracht; wenden Sie bei mir dieselben Mittel an, welche bei ihr so gute Resultate erzielten!“

„Wissen Sie, daß ich abreise?“

„Sie reisen? Wohl gar mit dem Herzog und Prinzessin Hedwig? Ha, ha, ha! Warum hat man mir das verschwiegen, warum überhaupt nicht davon gesprochen?“

Ich würdigte den Grafen keiner Antwort, und er mußte einsehen, daß ihm das Recht zu fragen hier nicht zukam. Gute Miene zum bösen Spiele machend, sprach er endlich:

„Sie müssen irgendwo mit ehernen Banden gefesselt sein, sonst getrauten Sie sich nicht in die Nähe einer Schönheit wie Prinzessin Hedwig. Sind Sie verheirathet?“

„Nein!“ antwortete ich, zum ersten Male aufblickend. Des Grafen Gesicht hatte einen wunderbar schadenfrohen, hämischen Ausdruck angenommen, einen Ausdruck, als ob er etwa sagen wollte: „Na warte nur, bis ich die Zügel in die Hand bekomme! Dann weise ich Dir schon die Thür!“

Da er diese Zeit aber doch nicht als schon angebrochen erachten konnte und ich im Augenblicke mich der größern Gunst erfreue, nahm er mit cameradschaftlicher Bewegung meine Hand, drückte sie heftig und wünschte mir eine recht glückliche und genußreiche Reise.

„Wiedersehen,“ schloß er, „werden wir uns viel eher, als Sie es glauben; denn sobald ich nur kann, eile ich auf Flügeln des Dampfes Euch Kunstfreunden nach. Hoffentlich hat sich die Prinzessin bis dahin satt gesehen und ist etwas, das meinem Geschmacke minder widerstrebt, en vogue.“

Noch einen Händedruck, und ich war, Gott sei Dank, allein.

Nein, Gottfried, ich schwöre Dir’s bei allen Göttern, dieser Mensch darf Hedwig nicht sein nennen; ihm schenkt sie sich nicht. Wohlverstanden, hütet er sich sehr, sich ihr zu zeigen, wie ich die Ehre hatte ihn kennen zu lernen. Ist sie gegenwärtig, so ist Graf Werdau immer nur in Ekstase.

Wie ich sie kenne, muß am Probestein ihres Geistes dieser Mensch als Knecht erkannt werden. Siehst Du, Gottfried, wüßte ich das nicht so sicher, wie ich an mein Dasein glaube, ich liebte sie nicht mit dieser Alles verzehrenden, vielleicht Alles vernichtenden Liebe. Ich habe deshalb nicht die geringste Angst vor diesem stürmischen Bewerber, und die Andern stellen es zu ungeschickt an, um jemals ihre Gunst zu gewinnen. Sie müßte denn eine Conventionsheirath eingehen, und dessen halte ich sie nicht fähig. Wenn aber doch! Ach, Gottfried, so lange die Reise dauert, wird wohl mein Glück noch aushalten. So lange wird mir sie Keiner rauben.

Ich höre einen Wagen in’s Thor rollen – sie ist’s, schnell muß ich auf den Vorplatz eilen, von wo ich ihre Gestalt ungesehen beobachten kann, ihre Stimme vielleicht höre, und wäre es auch nur ein sanftes: Gute Nacht, Ernst! Ich denke mir den Walter dazu. Noch nie hat sie meinen Namen ausgesprochen. Warum sollte sie auch? … Kannst Du Dir die Seligkeit vorstellen, mit ihr unter einem Dache zu schlafen?

Dein Walter.

9.
Florenz.

          Süße Amalie!

Ich habe eine erste, einzige, eine Zauberwoche in Dante’s und Raphael’s Vaterland, in der wunderholden Blumenstadt verlebt. Wie in einem goldenen Traum flogen die Stunden dahin, Alles nur Freude, nur Entzücken. Nie noch in meinem Leben war ich auch nur einen Moment so glücklich, wie ich es hier acht Tage lang sein durfte. Wäre mein Traum nicht vorüber und die Wirklichkeit einigermaßen wieder vorhanden, Du bekämst vielleicht noch lange keinen Brief. Wie ich in Abwesenheit meines Bruders so selig sein konnte, begreife ich heute noch nicht, denn daheim wurden mir die Stunden oft endlos lang, wenn er im Abgeordnetenhause saß, oder ihn sonstige Beschäftigungen von mir fern hielten. Aber Du weißt ja noch gar nicht, wie es kam, daß er mich auf so lange verließ. Laß Dir Alles erzählen.

Trotz Cousine Dorothea’s schrecklicher Umständlichkeit gelang es uns doch, am bestimmten Tage die Residenz zu verlassen. Ueber den Brenner und Mailand sollte es ohne viel Aufenhalt nach Turin gehen. Ernst hatte beschlossen, nur seinen Secretair, einen Kammerdiener und meine Fanny, die auch für Cousine Dorothea hinreicht, mitzunehmen. Im Waggon hatte Ernst seinem Secretair viele Briefe zu dictiren, wozu er sich denn mit diesem abseits setzte. So waren Herr Impach und ich auf Cousine Dorothea’s Gesellschaft angewiesen. Wenn Du sie nicht kenntest, die gute Cousine, es wäre mir rein unmöglich, Dir ihre Aufführung zu beschreiben. Herrn Impach’s ritterliche Artigkeit gegen eine alte Dame schreibt sie einzig und allein ihren Reizen zu; sie wirft ihm so viele zarte Blicke und vielbedeutende Worte hin, daß dieses jungen Mannes Zartgefühl dazu gehört, um seiner Heiterkeit Einhalt zu thun. Hätte er ein einziges Mal gelacht, ich müßte sicherlich mit lachen, aber meine Achtung für ihn hätte dann nicht zugenommen, wie sie es wirklich gethan.

Als wir uns vorbereiteten, die Nacht in der Eisenbahn zuzubringen, kam Ernst mit seiner rührenden Sorgfalt und hüllte mich in Pelze und Tücher, als wenn ich noch sein kleines Kind gewesen. Cousine Dorothea wollte, wie ich, von einem Bette nichts wissen, und nachdem sie sich’s behaglich gemacht, winkte sie den eben einsteigenden Maler, mit einer Miene, als verschenkte sie ein Königreich, an den Platz ihr zur Seite. Herr Impach nahm ihn mit einer Verbeugung an, die nur die gute Cousine für Ernst halten konnte. Als wir abfuhren, bückte ich mich nach meinem Schemel, der mir gar zu niedrig vorkam. Trotz dieses Mangels befanden sich meine Füße ohne mein Zuthun später in einer angenehmen, weil erhöheten Lage. Erst am nächsten Morgen entdeckte ich die mir bis dahin unerklärliche Ursache dieser Metamorphose: der junge Maler hatte seine Füße unbemerkt unter das Schemelchen geschoben und dasselbe dann die ganze Nacht hindurch in dieser erhöheten Stellung erhalten. Er hat gewiß kein Auge zuthun können, der Aermste! Wohl wissend, daß ich ihm dadurch den größten Gefallen erwies, schwieg ich über die ganze Geschichte.

Den folgenden Tag brachten wir in einem reizenden Thälchen zu, dessen Name mir entfallen. Ernst hatte Briefe erhalten, Cousinchen Dorothea mußte von der Anstrengung des vergangenen Tages ausruhen; mir blieb also nichts übrig, als vom Balcon des Bauernwirthshäuschens aus sehnsüchtig die Berge zu betrachten, welche im Kranze herumlagen und die ich um die Welt gern bestiegen hätte. Ich mag schließlich recht traurig ausgesehen haben, eine unverzeihliche Sünde, denn Sonnenschein und die rötlich-gelben Blätter einer noch nicht entlaubten Weinrebe umgaben mich an diesem herrlichen Wintertage.

Da trat Ernst zu mir: „Traurig, Schwesterchen? Bist wie der Vogel im Käfig, den der Sonnenschein hinauslockt in’s Freie. Aber sieh, Herz, ich kann Dir nicht helfen, denn ehe die Post abgeht, müssen gewisse Geschäfte erledigt sein. Warum willst Du nicht die Begleitung Herrn Impach’s annehmen, der mich eben frug, ob ich ihn nicht nöthig hätte, da er in diesem Falle eine kleine Excursion in die Berge machen wolle?“

„Darf ich, Ernst?“ war mein freudiger Ausruf, und wie ein Reh flog ich davon, um von Fanny Pelzjacke und Hut zu verlangen. Als ich wieder in’s Wohnzimmer trat, um von Ernst Abschied zu nehmen, stand Herr Impach schon, mit meinem Sonnenschirm und einem Plaid bewaffnet, an der Thür.

Wie Dir den wonnevollen Gang in die Berge schildern? Auf ungebahnten Wegen, über Steingeröll und kurze Grasstrecken allmählich höher steigend, erreichten wir den Kamm eines Berges. Auf des jungen Malers Geheiß hatte ich während der zwei Stunden langen Steigung mich nicht umgesehen. Jetzt lag ein Anblick vor mir, wie ich ihn noch niemals genossen.

Mein Bischen Kunststudium hat mich nicht allein das von Menschenhand geschaffene Bild genießen gelehrt, nein, auch von [625] der Natur zog es den Schleier hinweg, den meine Unkenntniß über dieselbe gedeckt. Schon hundert dem Ruhme nach schönere Gegenden zogen an meinem Auge vorüber, keine spiegelte sich so in meiner Seele, keine erfüllte mich mit reinerer Freude, mit enthusiastischeren Gefühlen als diese Alpenrundschau.

Beim Anblicke der mit Sennhütten und weidendem Vieh besäeten grünen Matten, des rauschenden Waldstroms, der in dieser Entfernung wie flüssiges Silber in der Sonne glänzte, kam nur ein Gedanke auf: wie wunderschön ist’s doch auf Gottes großer Welt! Und als wir unseren Weg fortgingen, rechts die mit hohen Tannen und manchmal mit einem herabgestürzten Felsen bedeckten Hügel, links die Schlucht, in die ich nicht zu blicken wagte, da fühlte ich mich so glücklich – ich hätte singen und jauchzen mögen wie ein Kind.

Mit einer unermüdlichen Aufmerksamkeit, als müsse er es mit dem Leben bezahlen, wenn ich mir den Fuß verstauchte oder nur ein Tannenzapfen auf mein Haupt fiel, ging Herr Impach neben mir einher. Unser Gespräch war, glaube ich, deshalb so einsilbig, weil er zu ängstlich jeden meiner Schritte beobachtete. Wir kamen an eine Lichtung, wo eine Gruppe von Fichten ein reizendes kleines Bild umschließt. Da ich ermüdet aufseufzte (ich hatte in meinem Leben keine so lange Fußtour gemacht), breitete Herr Impach den Plaid auf einen mit Moos und Epheu ganz bewachsenen Stein. Nachdem ich mich gesetzt, zeigte ich ihm den Platz an meiner Seite; ich mußte unwillkürlich an Cousine Dorothea denken und erstaunte, wie der Maler eiligst von dem ihm angewiesenen Platze Besitz nahm, ohne nur daran zu denken, mir wie der Cousine, eine Verbeugung zu machen.

„Zeichnen Sie dieses Plätzchen! wie?“ sprach ich nach minutenlanger stiller Betrachtung.

Augenblicklich zog er sein Portefeuille hervor, nahm den Bleistift in die Hand, blickte jedoch dabei träumerisch auf das Stückchen Gebirgsgegend vor uns. Seine Hand machte einige Striche, unbestimmte, nichtssagende Linien. Ungeduldig blickte ich ihn an; einem Paare bittender Augen begegneten die meinigen. „Ich kann jetzt nicht zeichnen,“ sagte er plötzlich, „und müßte es um den Preis meines Lebens sein! Fürchten Sie nicht, daß ich einen Zug dieses Ortes vergesse; ich verspreche Ihnen davon ein ganz genaues Bild, nur jetzt nicht!“

Was hatte er nur? Mich sollte der weite Weg doch mehr angestrengt haben als ihn, den starken Mann. Ich nahm ihm Papier und Bleifeder aus der Hand und begann, so gut ich konnte, eine Aufnahme des reizenden Ortes. Glaubst Du, Amalie, ich hätte etwas zu Stande gebracht? Nicht das Geringste! Aus dieser zeitweiligen Leistungsfähigkeit zog ich mir den Schluß: will man nach der Natur zeichnen, so sei der Weg, den man zurücklegt, nicht zu lang, der Begleiter kein Maler, da dieser seinen ganzen Geist, alle seine Fähigkeiten im Anschauen verschwendet und nicht einmal mächtig ist, eine kleine Skizze zu Stande zu bringen. Offenherzig gab ich ihm sein Buch zurück und sprach:

„Es geht mir wie Ihnen – auch ich kann nicht zeichnen. Wahrscheinlich sind unsere Seelen des Genossenen zu voll, als daß ihnen die schwachen Mittel, ihre Eindrücke wiederzugeben, ausreichten. Lassen wir’s sein!“

Der Versuch, diesen Worten einen komischen Anstrich zu geben, mißlang mir gänzlich. Wieder trat Stillschweigen ein. Unser Weg hatte uns weit geführt; denn die Sonne fing an, sich mehr und mehr dem westlichen Horizonte zu nähern. Wie die Motte vom Lichte angezogen wird, so verwandte auch ich kein Auge vom flammenden Himmel. Kein Stückchen der herrlichen Beleuchtung sollte mir verloren gehen! Ob der Maler wie ich that, weiß ich nicht; ich saß so in mich versunken, daß ich aufzuckend in die Höhe schaute, als ein leises „Sehen Sie!“ an mein Ohr tönte. Meine Augen begegneten den in feuchtem Glanze aufleuchtenden des Malers; dann der angedeuteten Richtung folgend, sah ich rückwärts. Welcher Anblick, Amalie, ward mir da! Die Alpenkette in vollstem Glühen, der Schnee in eine rosige Masse verwandelt, die nur mit den Wölkchen ob ihrem Haupte verglichen werden konnte. Solche Pracht war mir ungewohnt, wie vernichtet stand ich da und konnte meinem Entzücken keinen Ausdruck geben. Als ich mich nach meinem Begleiter umwandte, stand er neben mir und blickte mich mit verzehrenden Blicken an, als wolle er die Wirkung der Natur auf ein erst durch ihn auf sie zurückgeführtes Wesen betrachten.

Nun kommt, Amalie, was ich zu gestehen erröthe, und dennoch, wäre ich im gleichen Falle, ich würde es wieder thun. Welch eigenthümlichem Gefühle ich es zuschreiben soll – ich weiß es nicht, aber gewiß ist, daß es mir in dem Augenblicke schien, als hätte ich den Genuß einzig und allein ihm zu verdanken, als gäbe es ohne ihn gar keine Alpen, keinen Sonnenschein auf Erden. In einem Augenblicke überströmenden Gefühls nahm ich eine seiner Hände in meine beiden und blickte ihm dabei ernst und dankbar in’s Auge. Was konnte ich dafür, daß mir zwei große, schwere Thränentropfen auf die Wangen fielen? Ich hatte ihn kaum losgelassen, so wandte er sich ab, und als er zurückkehrte, mußten wir den Heimweg antreten. Wir wurden den ganzen Tag nicht mehr wir selbst. Nicht einmal an gefährlichen Stellen bot er mir den Arm, sondern ging dann rücklings voraus und überwachte auf diese Art meine Tritte. Zu Hause angelangt, wußte er viel zu erzählen von allen möglichen Dingen, von Alpwirthschaft und Streifzügen der Gemsjäger, vom morgigen Fahrtenplane und hundert anderen Sachen, nur von unserem Ausfluge wußte er kein Wort zu sagen. Allerdings beantwortete auch ich Cousine Dorothea’s Fragen mit einem äußerst lakonischen „Sehr schön war es; schade, daß Du nicht mitkamst.“

Ich Heuchlerin – die Cousine hätte mir den ganzen Naturgenuß verdorben! Doch ich muß abbrechen. Mein Florentiner Idyll ein anderes Mal!
Deine Hedwig.


10.

In Wirklichkeit Dir nahe, mein Gottfried, bin ich doch von Deinen Armen, von meinem Ziele ferner, als ich es je war. Hat Dir jemals der Dir neue Ton meiner Briefe ein Lächeln abgelockt, jetzt, Gottfried, lächle nicht mehr, denn im Herzen Deines Freundes sieht es aus zum Grauenerregen. In einem und demselben Momente preise ich mich glücklich, hier zu sein, und wünsche mich tausend Meilen weit hinweg; in einem und demselben Augenblicke segne ich den Tag, wo ich mich bereden ließ, die Reise mitzumachen, und fluche ihm doch. Wenn ich schon selig war, unter ihrem Dache die Nacht zubringen zu dürfen, wie war es erst, als wir Stunden und Tage in gleichem Coupé saßen! Der Herzog muß seine Zeit ausnutzen; die Ehrengarde, eine lächerliche alte Cousine Dorothea, schläft fast stets, und so durften wir ungestört plaudern. Diese Cousine Dorothea, Gottfried, ich müßte ihr in’s Gesicht lachen, wenn sie nicht den Vortheil hätte, Hedwig’s Verwandte zu sein. So betrachte ich sie als eines der nothwendigen Uebel, ohne die ich Hedwig nicht sehen kann, noch unerträglicher, als der dichte Schleier, der mir zu Zeiten der Holden Angesicht verhüllt, doch weniger widerlich, als die Truppe von Bewunderern, die wir stets auf den Fersen haben.

Gottfried, in einem Alpenkessel liegt ein Dorf, vielleicht wie tausend andere; mir dünkt’s ein unbezahlbarer Juwel im herrlichsten Schrein; dort ward mir vergönnt, mit ihr allein durch Berg und Thal zu streifen. Frage mich nicht, wie das kam, ich weiß es nicht mehr – ich weiß nur, daß ich mit ihr auf einem Stein gesessen, daß ich mit ihr dieselben Naturwunder betrachtet, daß sie, von der Schönheit trunken, meine Hand erfaßt und – Gottfried, hörst Du es? – ohne allen Anlaß Thränen aus ihren Engelsaugen vergoß. Die Thränen waren’s, die ich so lange weinen möchte und die stets wieder in der Wüste meiner Verzweiflung vertrocknen, ehe sie durchbrechen, um mir das Herz zu erleichtern. Was sollte ich denken, Gottfried? Einen Augenblick kam’s wie Wahnsinn über mich: du bist ihr nicht mehr der arme Maler, der Schöpfer neuen Glückes bist du ihr. Noch zeitig habe ich mich ermannt und keine Miene zuckte, keine Muskel bewegte sich, so lange ihr feuchtes Auge in das meine sah. Doch war mir’s, als hätte ich der Götter Trank gekostet. Ich wußte nicht mehr, was ich that, noch was ich sprach.

Nachdem wir in Turin kaum einen Tag verweilt, eilten wir auf Hedwig’s Wunsch nach Florenz. Hier verließ uns der Herzog, um zurück nach Turin, wohin ihn wichtige Staatsgeschäfte riefen, zu reisen, seine Schwester der alten Cousine und meiner Obhut anvertrauend. Das waren Tage, Gottfried! Ueberall durfte ich ihr Führer sein; an meinem Arm lernte sie die Kunstschätze des modernen Athens kennen; durch mein Wort ward sie eingeführt in eine neue Welt voll Schönheit und Genuß. Doch wenn die [626] Schale voll ist, so genügt ein hineinfallender Kiesel, um ihren Inhalt zu verschütten.

Wir waren den ganzen Nachmittag im Palast Pitti gewesen und die Madonna del Granduca hatte Hedwig so entzückt, daß sie behauptete, nicht mehr ohne eine Abbildung der lieblichen Mutter sein zu können. Heimkehrend führte ich sie in eine Kunsthandlung, aus welcher Hedwig gar nicht mehr zu bringen war, zur großen Verzweiflung der guten Cousine, die schon im Pitti beinahe eingenickt wäre. Unsere Einkäufe blieben endlich beim dritten Kunstalbum stehen, und glücklich wie eine Königin fuhr Hedwig heim.

Sie war mit der Cousine an diesem Tage bei einer Bekannten ihres Bruders eingeladen, und da es schon fünf Uhr, als wir heimkehrten, mußte sie sogleich an ihre Toilette.

Ich hatte mich kaum zum Schreiben gesetzt, als der Diener kam, um mich in den Salon zu rufen. Alle Thüren standen offen, und als ich eintrat, hörte ich schon Hedwig’s silberhelle Stimme:

„Bitte, Herr Impach, kommen Sie einen Augenblick herüber. Sie haben mir noch nichts von diesem Bilde gesagt, und es ist doch ganz entzückend.“

Ich trat ein, wähnend in ein Boudoir zu kommen, und blieb noch einmal an der Schwelle stehen, als mir der Kerzenglanz von ihrem Toilettentische entgegenstrahlte. Im langen Schleppkleide von Flor saß sie da, die Fülle der goldenen Haare lose herabhängend, während Mademoiselle Fanny Miene machte davon Besitz zu nehmen. Auf den Knieen lag das gekaufte Album; die Füße ruhten trotz des niedrigen Lehnstuhls auf weichem Polster. Auf dem Sopha lag Cousine Dorothea in Morpheus’ Armen. Wahrscheinlich durch mein Zögern ungeduldig gemacht, wandte Hedwig den Kopf nach der Thür. Eine herrische Handbewegung genügte, um mich an ihre Seite zu rufen, brachte mich aber auch wieder zu Sinnen. „Pudel,“ sprach ich zu mir selbst, „nichts als Pudel!“ Die Thränen von letzthin galten dem Glühen der Alpen allein.

„Was ist das?“

„Eine Madonna von Carlo Dolci.“

„Und das? Und dies?“

Wie ich mich herabbeugte, sah sie sich nach einem Sitze um, doch ehe noch Fanny mit einem Stuhle herbeieilen konnte, ward schon das Polster von dem allerliebsten Füßchen mir zugeschoben und eine unnachahmliche Handbewegung sprach deutlicher als Worte: „Couche, Pudel!“ Wie war ich glücklich, indem ich gehorchte, und doch wie lächerlich mußte ich mich ausnehmen, ich der zum ersten Male einer Frau zu Füßen, ja zum ersten Male in einem Frauencabinete saß!

Mademoiselle Fanny hatte jetzt ihr Werk begonnen und Hedwig vertrieb sich die Zeit damit, jedes Bild des Albums aufmerksam zu betrachten, ja ich mußte mit einem kleinen Stiftchen, das sie mir reichte, den Namen unter ein jedes schreiben. Wir waren fertig, doch die Jungfer noch lange nicht; und so wurde ihr befohlen, ein gewisses Album zu bringen, das ich nun mit betrachten sollte. Mit capriciöser Liebenswürdigkeit nannte sie mir all’ die Namen der Leute, die hier versammelt, der halbe Gothaer Kalender erklang an meine Ohren, jeder Name von einer neckischen Bemerkung oder einem „den mag ich nicht!“ oder „den habe ich lieb!“ begleitet. Die Zofe war mit einer Entschuldigung weggegangen; sie kehrte nicht wieder, und schon war das Album zu Ende; schon ruhten die weißen Händchen darauf, und der Blick der schönen Augen sah träumerisch vor sich hin. Ich wagte nicht, mich zu regen; wie gefesselt saß ich da, als sie leise vor sich hin, mehr zu mir, sprach:

„Ist das nicht traurig? Keinen Menschen auf der Welt als meinen Bruder, der mir nahe verwandt. Vettern dieses ganze Buch voll, aber was sind mir die? Meistens weniger als manche oberflächliche Bekanntschaft. Und ich hätte sie so lieb, wäre eine Schwester mir gegeben!“

„Ihre Eltern?“

„Mein Vater starb, ehe ich auf der Welt war, und meine Mutter habe ich nur dunkel in der Erinnerung. Dieses ihr Bild!“ Damit öffnete sie ein Medaillon, das an ihrem Halse an goldner Kette hing. Ihr leichtes Kleid war vorn aufgegangen, so daß der schönste Hals, den die Natur jemals geschaffen, unverhüllt vor mir war. Während ich das Bild der schönen Frau betrachtete, öffnete sie schon die zweite Hälfte des kleinen Herzchens und nahm eine Locke seidner Haare daraus.

Soweit, Gottfried, kann ich noch mit Sicherheit erzählen; was nun folgte – ich weiß nicht, ob ich’s geträumt oder erlebt. Ich fühlte ihre weiche Hand mit der Reliquie ihrer Mutter auf meinem Haupte, als wolle sie einen Vergleich mit der Farbe anstellen; dann rückte sie meine Stirn mit ihrer andern Hand zurück, warf mir einen innigen Blick zu und sprach: „Sie muß so gut wie Sie gewesen sein, meine arme Mutter.“

Gottfried! der härteste Stahl bricht, wenn er zu stark gebogen wird; ich hätte mein Leben, meine Seligkeit verscherzt, ich konnte nicht anders. Ihre beiden Hände mit feuriger Bewegung ergreifend, bedeckte ich sie mit Küssen; keiner der zarten Finger blieb von meinen Lippen unberührt. Dann, wie der Frevler, der ein Heiligthum entweiht, flog ich zum Gemach hinaus, nicht wagend, meiner Seele Licht auch nur anzublicken.


Noch selbige Nacht packte ich meinen Koffer, und nachdem ich erfahren, daß der Herzog am nächsten Tage zurückerwartet wurde, ich sie also nicht ohne Schutz ließ, war der Entschluß, zu Dir nach Rom zu kommen, fest. Ohne Abschied, heimlich wie der Dieb bei Nacht, eilte ich um Mittag zum Hôtel hinaus auf die Bahn. Ich war der ganzen Menschheit gram, daß sie Verhältnisse geschaffen, welche es einem Ehrenmanne unmöglich machen, ja als Frevel anrechnen, wenn er das Mädchen, das er liebt, erringen will. Ich war dem Bruder gram, der mich in diese Lage gebracht, Dir, Gottfried, daß Du mich nicht zu Dir zurückgeholt, mir selbst, daß ich wie ein Gimpel in Fallen lief, die ich mir selbst gestellt. Nur ihr – der Engelsgleichen, machte mein Herz keinen Vorwurf; sie hatte sich nichts vergeben. Als sie mich zu sich rief, folgte sie nur dem Triebe ihrer edlen Natur, die sie in mir einen treuen Freund erkennen ließ. Konnte ich damit nicht zufrieden sein?

*          *
*

Auf dem Perron stehend und wie auf die Seligkeit harrend, blickte ich der Richtung entgegen, woher der Zug kommen sollte. Schon ist er da, schon pfeift es gellend in mein Ohr, da wird dieses plötzlich vom eigenthümlich melodischen Laut einer Stimme berührt.

Gott! sie ist es. Am Arme der Cousine eilt sie auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen. „Hier sind Sie? Also deshalb nirgends zu finden? Warum kamen Sie nicht lieber mit uns den Bruder abholen? Ach, da ist er!“ Ein Freudenruf und sie liegt in seinen Armen. Sag’, Gottfried, wärst Du noch abgereist? Nun fliehe ich nicht mehr, und könnte ein Schritt mich vom Verderben retten. Es soll nicht sein! Ihr, der ich nicht glaubte in die Augen sehen zu können vor Scham, scheint kaum eine Erinnerung von gestern geblieben. Ich glaube, sie schreibt meine gestrige Aufführung einem kleinen Rappel zu, von dem ihre Standesgenossen uns Künstler ja Alle befangen wähnen.

Wie glücklich, daß ich mich nicht vom Impuls des Augenblicks beherrschen ließ und abreiste! Hätte ich auch vor Herzog Ernst mein launisches Verfahren rechtfertigen können, wie bald mußten mich Liebe und Eifersucht wieder zurückrufen, wenn ich vernahm, daß Graf von Werdau und ein anderer Leidensgefährte von mir, ein Fürst Arsent, den der Herzog zu begünstigen scheint, hier eingetroffen.

Hoffe ich auch nichts zu erringen, den Beiden räume ich nicht so freiwillig das Feld. Daß mir die Prüfung noch aufbewahrt sei, einer Entscheidung beiwohnen zu müssen, hätte ich nicht geglaubt. Ich hatte mir diese italienische Reise so schön gedacht, hatte gehofft, daß ich für die ganze Dauer derselben Hedwig für mich haben würde, und nun?! – Gottfried, ich Undankbarer! Bin ich nicht einen Augenblick glücklich gewesen, viel hundert Mal glücklicher, als ich jemals hoffen durfte? Hat sie ihr liebes Antlitz nicht über mich gebeugt, war nicht ich es, der ihre seidenen Haare um Stirn und Wangen fühlte, habe ich nicht ihre geliebten Händchen geküßt, nicht mit höflicher Verbeugung an der Schwelle des Salons, sondern allein mit ihr, mit dem Feuer einer ersten Liebe? Und sie ist nicht böse geworden!

Dennoch, Gottfried, bemerke ich eine Veränderung in ihr, seit die Beiden, mir so Leidigen, angekommen. Mit ihnen kam der ganze leichte, stets heitere Ton des Weltlebens zurück, den wir seit Anfang der Reise verbannt hatten. Kaum daß noch ein Gedanke aufkommt, und dennoch geht das Geplauder ohne Aufenthalt fort. Ich könnte den Grafen besonders um seine

[627]

Ferdinand Stolle.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.


Zungenfertigkeit beneiden, denn es gelingt ihm nicht selten, sie zu fesseln. Nicht Zweck und Bedürfniß sind wir mehr, die Kunst und ich, nur angenehme Zuthaten. Der Herzog sieht diesen Veränderungen ruhig lächelnd zu, als wären sie etwas längst Erwartetes, als hätte er sie vorausgesehen. Ich hatte Hedwig’s Natur für beständiger gehalten; doch ist es nicht zum Erstaunen, denn die ewige Veränderung, die in diesen Kreisen zur Nothwendigkeit wird, möchte Aeltere als sie in die Irre führen.

Da man mich nur manchmal des Vormittags ein Stündchen braucht, werde ich für Herzog Ernst den „Blonden“ Tizian’s malen, der ihm stets so ausnehmend gut gefällt. Schon morgen gehe ich an die Arbeit, ohne etwas zu sagen – will sehen, ob meine Abwesenheiten bemerkt werden.

Jetzt leb’ wohl! Geht Alles so fort, wie es den Anschein hat, dann erwarte häufig Briefe! Hat alle Herrlichkeit auch jetzt schon ein Ende, ich kann doch selig ausrufen: Auch ich war in Arkadien!

Dein Walter.


(Fortsetzung folgt.)

[628]

Dem Gedächtniß eines Heimgegangenen.[1]
Von Theodor Drobisch.


Im Geiste ergreife ich des Lesers Hand, um ihn an das Grab eines Dichters, eines Humoristen, eines wahrhaft edeln Menschen zu führen. Jenes Grab steht nicht im Poetenwinkel der Westminsterabtei zu London; wir suchen es nicht auf dem Friedhof von Ottensen, nicht in der Fürstengruft zu Weimar. Es ist überhaupt kein Grab, zu dem die Nation eine Pilgerfahrt unternommen, um im Gefühl der Dankbarkeit einen Kranz der Verehrung darauf zu legen. Die Welt vergißt ja schnell, namentlich einen Schriftsteller, einen Dichter, wenn er es nicht verstand, sich in Einklang mit der Welt zu setzen.

Das Grab, von dem die Rede, das einfach schlichte Grab, befindet sich auf dem Neustädter Kirchhofe zu Dresden; der müde Schläfer darinnen ist Ferdinand Stolle. Er starb zu Dresden am 28. September 1872, an seinem sechsundsechszigsten Geburtstage. Sein Sohn, so wie ein kleines Häuflein von Freunden und Schriftstellern gaben ihm das Geleit zur Ruhestätte an einem Tage, wo schon der Herbst die Blätter von den Bäumen wehte. Mit Wehmuth standen die Freunde an dem Sarg des Dichters und Schriftstellers, den nun die „Palmen des Friedens“ umschatten.

Bereits im Jahre 1846 schrieb ich für den „Leuchtthurm“ eine kleine biographische Skizze des Verstorbenen. Eine Lithographie, das wohlgelungene Portrait von Ferdinand Stolle, zierte die Skizze, welcher er als Zeichen seiner Handschrift die Worte eines alten Liedes beigegeben. Sie lauteten:

„Wer es gut mit Gott und Menschen meint,
Der sei mein Liebling, sei mein Freund!“

Heute ergreife ich auf Veranlassung seines langjährigen Freundes Keil, des Redacteurs dieser Blätter, die Feder, nicht um ein in sich abgeschlossenes Bild des liebenswürdigen Schriftstellers und Menschen zu entwerfen, sondern lediglich, um dem Verklärten, ihm, dem ersten und ältesten Mitarbeiter der Gartenlaube, einige Worte der Anerkennung, gleichsam als letzte Scholle Erde, in das stille Grab nachzusenden. Eine eingehende Selbstbiographie des Heimgegangenen, auf welche ich hier ausdrücklich hinweise, befindet sich am Schluß seiner sämmtlichen Werke.

Ferdinand Stolle, in der Blüthezeit seines literarischen Wirkens oftmals der Boz, der Paul de Kock in deutschen Landen genannt, wurde am 28. September 1806 zu Dresden geboren. Nur kurze Zeit war es ihm vergönnt, sich in den Strahlen der Elternliebe zu sonnen, denn er verlor Vater und Mutter schon in der frühesten Kindheit. Einsam stand er in der Welt; er wäre in das Waisenhaus gekommen, wenn sich nicht ein Oheim des kleinen Ludwig Ferdinand Anders – dies war sein eigentlicher Name – angenommen hätte. Der Amtscassirer Stolle nahm ihn an Kindesstatt an, und aus Dankbarkeit für die vielen Wohlthaten, welche ihm der Oheim erzeigte, der mit der Gewissenhaftigkeit eines Vaters für ihn sorgte, entsprach der so Beglückte dem Wunsche desselben und bediente sich fortan seines Namens. Auf der Kreuzschule in Dresden für die Universität vorbereitet, wanderte er Ostern 1827 in Leipzig ein, wo ihn der damalige Rector der Universität, der berühmte Polyhistor Christian Daniel Beck, zur Fahne der Themis schwören ließ.

Er besuchte fleißig die betreffenden Collegia. In der Philosophie war der Professor Traugott Krug sein Mann, dem er nach Ablauf des dritten Semesters einen Besuch abstattete. Mit ernstem Denkerantlitz trat ihm der Philosoph entgegen, angethan mit dem bekannten Ueberrock in der Farbe ungebrannten Kaffees, mit bis über die Schultern herabhängendem Kragen, an den Stiefeln große, mit Kreuzriemen und Schnallen versehene Sporen. Mit kühnem Selbstvertrauen überreichte ihm Stolle einen weitläufig ausgearbeiteten „Entwurf zur Abschaffung des Duells auf Universitäten“. – Krug sah ihm etwas verstohlen in’s Gesicht, ob vielleicht so ein paar „Schmisse“ bemerkbar. Da hieß es aber in der That: „Sieh, Kind, kein Engel ist so rein!“ Der Professor legte das Manuscript zu „gelegentlicher Prüfung“ bei Seite – und, seines Sieges schon gewiß, ging Stolle von dannen. Die „Paukereien“ hatten aber ihren ungestörten Fortgang, namentlich unter denen, welche der Burschenschaft angehörten, oder zu den Landsmannschaften der Sachsen, Lausitzer oder Neupreußen zählten. Noch immer floß Blut im Saal der „grünen Linde“, im „Thüringer Hof“ oder bei Weber in der „kleinen Pleißenburg“, wie auch die Universitäts-Pedelle Conradi und Hildemann sich bestrebten, die Paukanten abzufassen.

Mit seinem wohlgemeinten Vorschlag „abgeblitzt“, ackerte Stolle auf einem andern Felde. Die geschichtlichen Collegia des Professor Wachsmuth hatten ihn begeistert. Opus Zwei war fertig; es führte den Titel: „Ueber das Fortschreiten der Menschheit in sittlicher und geistiger Beziehung“. Beide Schriften blieben Pultgründlinge. Dagegen sah man den Verfasser unverweilt in den Hörsälen von Heinroth und Erdmann, wo Anthropologie und Chemie gelehrt wurde. Was sein eigentliches Brodstudium, die Rechtswissenschaft, anbelangte, so waren Günther, Weise, Klien, Otto und Bruno Schilling seine vorzüglichsten Lehrer.

Geistige Speise genug; nur an der leiblichen mangelte es oft, obgleich man damals in der Wirthschaft „Zum schwarzen Brett“ ein warmes Mittagsessen, Fleisch und Gemüse, für zwei Groschen bekam. Um die Wohlthat der Speisung im Convictorio zu erlangen, antichambirte Stolle bei dem Hofrath Pölitz, der wohl keine Ahnung hatte, daß der Bittsteller ihm nach wenig Jahren einen so glänzenden Nekrolog schreiben werde. – Stolle bekam eine Freistelle und speiste jetzt zu Mittag und Abend nebst zweihundertfünfundzwanzig Commilitonen im Convict, nachdem der Inspector Nakonz ihre Ohren zuvor mit Hersagung des lateinischen Vaterunsers bewirthet hatte.

Er fühlte sich indeß nicht zum Advocaten berufen, und die für einige Zeit mit Mühe unterdrückte Vorliebe für schöngeistige Productionen brach mit verstärkter Kraft hervor. Er verhehlte sich nicht, daß Muth dazu gehöre, ein Schriftsteller zu werden, namentlich ein deutscher Schriftsteller. Aber auch bei ihm bewährten sich so recht die Worte des Plato im Phädon: „Was sich unbedingt als das Trefflichste in der Natur des Menschen erweist, ist jener unverwüstliche Trieb der Seele, zu dichten und zu gestalten, der selbst von dem Mißklange und Widerstreite des Weltlaufs nicht überwunden wird.“

Stolle, dessen erstes Gedicht der Buchdrucker Glück zu Leipzig druckte und verlegte und das ihn zu der scherzhaften Aeußerung veranlaßte, daß er seine literarische Laufbahn mit Glück begonnen habe, arbeitete zuerst für die Zeitschrift „Komet“, welche damals der Dr. Karl Herloßsohn redigirte. Große Schätze waren hier nicht zu heben, obgleich sich Stolle’s Beiträge den Beifall der Leserwelt errangen. Es kamen aber Stunden, wo die Anschaffung eines neuen Rockes, eines neuen Beinkleides sich für ihn zu einer Weltfrage gestalteten. Weltumfassende Gedanken im Kopfe, aber nichts in der Tasche, saß er eines Tages auf seinem Zimmer. Die Thür öffnete sich, und es erschien der bekannte Hofrath Dr. Ferdinand Philippi, der Besitzer des Verlags-Comptoirs, der sich von Dresden nach Grimma gewendet hatte.

Beide unternahmen einen Spaziergang nach Schönefeld, und hier richtete Philippi an Stolle die Frage, wie hoch sich die Summe seiner Schulden belaufe. Dieser zögerte mit der Antwort; endlich aber rückte er mit dem Bekenntniß heraus: „Achtzig Thaler!“ Philippi versprach ihm, ein Verständniß mit den Gläubigern zu treffen und die Schulden zu bezahlen, wenn er ihm seine literarische Thätigkeit widmen und zu diesem Zwecke nach Grimma übersiedeln wolle. „Sie scheinen mir Noth zu leiden; allerdings gut, denn – sie erweckt den Genius; das Behagen aber ist sein Erhalter. Wechsel des Standorts schlägt neue Triebe; Sie werden in ruhige, geordnete Verhältnisse kommen.“

Stolle war mit diesem Vorschlage zufrieden und – „Federleicht ist mein Gepäcke“ – kam im Februar 1834 in Grimma an. Gleichzeitig mit ihm erschien noch ein Schriftsteller, Namens Rohde. Beide speisten an Philippi’s Tische, und die Bekanntschaft mit Professoren der Fürstenschule, die schöne Natur des [629] Muldenthales, Alles wirkte wohlthätig auf Stolle’s Geist, Herz und Gemüth ein. Anderthalb Jahre lang schrieb er hier den „Literarischen Hochwächter“ und unterstützte den Herausgeber verschiedener Journale durch mancherlei publicistische Arbeiten.

Nebenbei erschienen aus seiner Feder eine Sammlung von Novellen und Erzählungen, ein Bändchen „Poesie und Humor“, sowie eine lyrische Anthologie, die sich Leipziger Verlagshandlungen aneigneten und gut honorirten. Großen Beifall errang sich der dreibändige Roman „1813“, sowie später „Elba und Waterloo“, nicht minder der Roman „Der Weltbürger“. An denselben reihte sich „Der neue Cäsar“, ein Gegenstück zu „1813“, welcher die Jahre 1804 und 1805 behandelt. Von sämmtlichen vier geschichtlichen Tableaux sind holländische Uebersetzungen erschienen; ein Theil derselben wurde in’s Französische und „1813“ in’s Englische übertragen. Ein Nachdruck der „Ausgewählten Novellen und Erzählungen“ entstand zu Philadelphia in Nordamerika. Von 1838 an führte Stolle die Redaction des Leipziger Modeblattes „Eilpost für alle Moden“, und der Humor, welcher sich bereits in vielfachen Erzählungen, Novellen und Phantasiestücken kundgegeben, brach in vollem Glanze hervor, als 1841 seine „Deutschen Pickwickier“ erschienen. Es war dieses dreibändige Werk nach Analogie des englischen Werkes von Boz abgefaßt, und der allgemeine Beifall, den sich der Verfasser mit demselben errang, war wohl Ursache, daß das Publicum seine im Jahre 1844 gegründete Zeitschrift „Der Dorfbarbier“ mit einem wahren Jubel aufnahm. Das Blatt erschien anfänglich in Grimma, „grau wie alle Theorie“, auf Löschpapier gedruckt. Dies hemmte aber nicht seine Beliebtheit, und in Sachsen, wie namentlich auch in Schlesien, gab es keine Dorfschenke, wo nicht der „Dorfbarbier“ zu finden war. Er wanderte ebenso gut auf das Rittergut und in die Pfarre, wie in das Forsthaus und in die Hütte des Landmannes.

Mit Freuden erinnere ich mich noch einer auf den Dorfbarbier bezüglichen kleinen Scene. Ich verweilte zu jener Zeit einen Tag lang zum Besuche in Oberspaar bei Meißen, wo ich mit einem Winzer ein Gespräch anknüpfte. Dieser äußerte den Wunsch, daß er sich glücklich schätzen würde, einmal den Schreiber des „Dorfbarbier“ zu sehen. „So spaßig, so gemüthlich und politisch, wie man’s gern hat; – ’s is in der Schenke zu Zaschendorf für uns allemal ein Festtag, wenn’s Blättel ankommt.“

Ich mußte ihm das Aeußere und Wesen des so Verehrten beschreiben, und als ich geendet, brach er in die Worte aus:

„Ach, ich möchte ihm gern eine Freude machen, so ein Plaisir! Sie haben heute Mittag die große schöne Weintraube an meinem Geländer gesehen, ein wahres Wunder, seit Jahren nicht dagewesen. Ich wollte sie dem Herrn Amtmann in Meißen zum Präsent machen; wenn ich aber wüßte, daß der Herr Dorfbarbier sie von mir als ein kleines Geschenk annehmen würde, ach, dies … würde mich unendlich freuen!“

Ich drückte dem einfach schlichten Manne die Hand und versprach ihm, die Absendung zu übernehmen. Kaum war das letzte Wort über meine Lippe, als er seine Holzpantoffeln abstreifte und sich seiner baumwollenen Aermeljacke entledigte. Eilenden Fußes entfernte er sich stillschweigend und kehrte erst nach Verlauf von zwei Stunden zurück. Er hatte zum Transport in Meißen eine große, weiße Holzschachtel gekauft. Die Weintraube von seltener Größe wurde abgeschnitten, sauber in Blätter gehüllt und – schon am andern Tage traf das Geschenk in Grimma ein. Ein mitfolgender Brief von meiner Hand gab vollständigen Aufschluß. Der Empfang bereitete dem „Dorfbarbier“ wahrhaft glückliche Momente.

Stolle gedachte des kleinen Intermezzos noch, als von Leipzig aus ihm etliche seiner Freunde einmal einen Besuch abstatteten. Ein lustiger Kumpan und Freund der schönen Literatur hatte in der Lotterie fünfzig Thaler gewonnen. Diese bestimmte er zu einer Fahrt per Omnibus nach Grimma, um den „Dorfbarbier“ zu überraschen. Früh um sieben Uhr bestiegen in höchst gemüthlicher Laune der Dichter und Romanschreiber Karl Herloßsohn, Eduard Maria Oettinger, Redacteur des „Charivari“, Adolf Böttger, der bekannte Byron-Uebersetzer und lyrische Dichter, Nicolay, der Componist der „lustigen Weiber von Windsor“, welcher sich zufällig in Leipzig befand, sodann Ballmann, der Komiker des Leipziger Stadttheaters, ein Maler, ein Tonkünstler und meine Wenigkeit den Wagen. Es war eine heitere Fahrt. Jeder fechtende Handwerksbursch, welcher des Weges kam, empfing ein Viergroschenstück und eben so viel jede arme, alte Frau. Den besten, unerwarteten Fang machten in der Schenke zu Pomßen zwei reisende Harfenmädchen. Als sie die frohe Schaar einkehren sahen, lüfteten sie schnell die graue Leinwandhülle ihrer Instrumente und fingen an zu spielen. Bei den ersten Tönen begann unter uns eine allgemeine Heiterkeit; es erklang das Lied: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n!“ Die Harfenistinnen ahnten nicht, daß sie den Dichter dieses Liedes, Karl Herloßsohn, vor sich hatten, der jetzt vorschlug, daß man einer Jeden für diese „wahrhaft künstlerische Leistung“ einen Gulden aus der bewußten Lotteriecasse verabreiche.

Zu Grimma angekommen, stiegen wir sämmtlich im Rathskeller ab; es wurde ein splendides Mittagsmahl bestellt und ein Bote an Stolle abgeschickt. Unterdessen – wir befanden uns Alle im obern Saal – verfiel Einer in toller Laune auf den Gedanken, die im Vorsaal stehende lange Bank hereinzuholen, und Mann an Mann mit Servietten um den Hals darauf zu setzen, wie Leute, die barbiert sein wollen. So sollte der „Dorfbarbier“ empfangen werden. Lustig ging es an die Ausführung. Anstatt einer Serviette hatte aber Ballmann ein weißes Betttuch übergehangen; noch Einige ahmten dies nach, was die Veranlassung zu einem ungeahnten Scherz gab. Ab- und zugehend waren die Verhüllten in dieser Costümirung an die Fenster getreten, was die Neugier Aller erweckte, die unten vorübergingen. Die Schaar wuchs von Minute zu Minute und – war es Combinationsgabe oder Laune eines Spaßvogels? – es ging die Kunde: „Die Beduinen, welche auf dem Leipziger Theater Vorstellungen gegeben, sind in Grimma angekommen; sie tanzen morgen auf dem Rathskeller. Seht nur, dort oben, da stehen so ein Paar Kerle mit schwarzen Bärten.“ Als sie nun den Dr. Stolle ankommen sahen, den Zeitungsschreiber, da war kein Zweifel mehr vorhanden. Bei Stolle’s Eintritt saßen wir sämmtlich auf der Barbierbank. Die freudige Ueberraschung läßt sich kaum mit Worten schildern; er erlebte einen seiner glücklichsten Tage und wir Alle mit ihm. Zur Tafel ließen wir den Stadtmusikus Hesse mit seinen Leuten kommen. Musik und ein wahrer Sprühregen von kleinen, witzerfüllten Toasten würzten das Mahl.

Allesammt spazierten wir später nach dem Hause des alten Freundes, das er sich als Eigenthum erworben. Wir sahen im Garten den Apfelbaum, dessen Blüthezeit sein Besitzer oftmals so dichterisch geschildert. Ruhig strömten die Wellen der Mulde an dem Gärtchen vorüber; ein wahrhaft seliger Friede beherrschte das kleine Tusculum. „Ja, hier ist Klima für das Herz!“ flüsterte Herloßsohn. Er dachte vielleicht an das Geräusch und den Trubel in der Hainstraße zu Leipzig, an die lästigen Besuche fremder Künstler, an die Heimsuchungen fahrender Literaten und was sonst noch Alles den Frieden des Hauses und der Seele behelligt. Wir genossen später auch die schöne Aussicht von der Gattersburg. Ein wahrhaftes Stück Idylle! Von Allen, die damals auf jener Höhe weilten, lebt außer dem Schreiber dieser Zeilen nur noch Einer.

Wenn der Wein reift und ich eine Frucht desselben in seltener Größe erblicke, gedenke ich jener freundlichen Gabe, die den wackern Stolle mehr erfreute, als wenn er eine goldene Tabaksdose empfangen hätte.

Stolle war Humorist in des Wortes schönster Bedeutung und mir ist es schon oftmals begegnet, daß irgend Einer die Frage aufwarf: „Wie kann Einer, der religiöse Lieder dichtet, auch anderwärts in seinen Schriften humoristisch sein? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht schwer. Nur der Religiöse kann, wenn ihn der Blitz des Muthwillens entzündet, wahrhaft witzig sein. Nur dem reinsten Ernste ist reiner Scherz möglich, weil sich im reinsten Menschen, das heißt im Dichter, die scheinbaren Gegensätze in uralter Liebe umfassen und Ernst und Scherz, Andacht und Muthwille nicht feindlich widerstrebende Stoffe sind.

Wer dies nicht beobachtet, der wird frivol, wie dies leider in unserer ätzenden und zersetzenden Zeit unter Schriftstellern vorkommt, von denen etliche nicht unterlassen, das Gefühl lächerlich zu machen. Hiervon blieb Stolle fern, und wenn sein Witz auch einmal auf Abwege gerathen sollte, bösartig war er nie. Wie vortrefflich war überhaupt sein Charakter! Seine Herzensgüte hatte stets eine Thräne für den Leidenden, einen Rath für [630] den Freund und eine Gabe für den Hülflosen. Im schönsten Lichte steht hier seine „Marienstiftung“, ein zur Unterstützung der armen Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges veranstaltetes Unternehmen, deren Ertrag ein unerwartetes Resultat erzielte. Wie oft hat er sein „Weihnachtsbäumchen“ für jene Armen angezündet! Ihm wurde keine Anerkennung dafür als das Bewußtsein, eine gute That vollbracht zu haben, und eher setzte er sich der Undankbarkeit aus, als einem Bedürftigen gegenüber sich einer Unterlassung schuldig zu machen.

Nach neunzehnjähriger Thätigkeit, die er dem „Dorfbarbier“ gewidmet, welcher seit 1852 in Keil’s Verlag als „Illustrirter Dorfbarbier“ erschien und sich rasch einen Leserkreis von 22,000 Abonnenten errang, gab er 1864 ein Werkchen heraus, das gleichsam als Abschieds- und Erinnerungsbüchlein für die „Kundschaft“ des „Dorfbarbiers“ galt: „Der Frühling“. Das Buch hatte hauptsächlich den Zweck, den Frühling in seinen unterschiedlichen Wandlungen und zwar vom ersten Veilchen bis zur letzten Rose vorzuführen. Wie voll Gemüth sind darin die Capitel: „Erwachen des Frühlings“ – „Waidmannsheil“ – „Ein weinumranktes Fenster“ etc.! Einige Jahre früher hatte er die Freude, eine Gesammtausgabe seiner Werke erscheinen zu sehen, welche in verschiedenen Auflagen die weiteste Verbreitung unter den Deutschen aller Länder gefunden hat.

Mitte der fünfziger Jahre war Stolle nebst Frau und Kind nach Dresden übergesiedelt. Hier traf ihn vor einigen Jahren ein schwerer Schlag durch den Verlust seiner geliebten Gattin. Von jener Stunde an umflorte der Kummer seine Seele. Ihm fehlte die treue, sorgsame Hausfrau, denn zwei brave, in Allem übereinstimmende Eheleute gleichen zwei alten, in einander verwachsenen Bäumen, die sich gegenseitig vor Wind und Wetter schützen. Knickt der eine, hat auch der andere keine rechte Dauer mehr. Als die ersten Veilchen des Jahres 1872 sich zeigten, fing Stolle an zu kränkeln, und im August suchte er Trost in frischer Bergesluft. Gut situirt – denn er hielt das mit seiner Feder verdiente Geld redlich zusammen – fand er auf seinen Wunsch in der Heilstätte auf den Loschwitzer Höhen ein Asyl, das ihm allen Comfort gewährte.

Hier besuchte ich ihn zu Anfang des Septembers. Auf meinen Arm gestützt, schritt er mit mir hinaus in das helle Sonnenlicht. Wir ließen uns auf einer Bank im Blattgesäusel der alten ergrauten Ulmen, der ehrwürdigen Eichen nieder und lenkten noch einmal den Blick auf vergangene Zeiten, gedachten der alten werthen Freunde, die noch lebten oder eingegangen waren in ein schöneres Leben. Oben in lichter Himmelshöhe prüften die Staare ihren Flug, um baldigst nach dem Süden zu ziehen. Die Astern, die Blumen des Herbstes, blickten von den Beeten zu uns herüber; ich sah mit stiller Wehmuth in das bleiche Antlitz des alten Freundes und flüsterte mir zu: auch Dein Herbst ist gekommen. Als der Abend zu dämmern begann, als die letzten Strahlen der scheidenden Sonne noch einmal drüben über dem Elbstrom die Wipfel der Schiller-Linde im Garten zu Blasewitz rötheten, reichten wir uns die Hände. „Kurz ist der Abschied für die lange Freundschaft!“

Sieben Tage vor seinem Tode empfing ich noch ein Brieflein von seiner Hand; es waren die letzten Schriftzüge, die er gethan. Ich bin kein Autographensammler; aber zwei an mich gerichtete Briefe, welche seltsamer Weise die letztgeschriebenen zweier edeln Menschen sind, verwahre ich mit inniger Pietät. Der erstere stammt von Herloßsohn, der ihn aus dem Jacobshospital zu Leipzig vom 29. November 1849 schrieb. Er schließt mit den Worten: „Auch mein Himmel ist trübe, lieber Freund! ich kann keinen neuen Planeten entdecken. Ich glaube, es ist Schlafenszeit!“ Nach Verlauf einer trüben Decemberwoche trat der Genius mit der umgekehrten Fackel an sein Lager. Der zweite Brief, das letzte Lebenszeichen von Stolle, lautet am Schluß: „Ich wünsche Dir, lieber Drobisch, alles Glück zu Deinem Eintritt in die Redaction der ‚Dresdner Presse‘. Ein freisinniges Blatt thut uns in Sachsen Noth. Kämpfe muthig mit Deinen Collegen für das Bessere, ich kann’s nicht mehr!“

Er kämpfte bald den harten Kampf mit dem Tode. Seine reine, unbefleckte Seele schwang sich empor – uns blieb nur die Erinnerung an ihn, an einen Mann von stets heiterer Gemüthsstimmung, von regem Gefühl für Recht und Gerechtigkeit und einer über sein ganzes Wesen und über alle seine Handlungen sich verbreitenden Humanität. Bekannt war seine Gefälligkeit und Bereitwilligkeit, jede kleine häusliche Freude und Feier mit seinen Talenten zu unterstützen. Seine stets frischen und gesunden Gedichte reden die Sprache des Herzens. Besonders günstig waren ihm die Musen in seinen launigen Poesien wie in seinen volksthümlichen Schriften. Die in denselben enthaltenen scherzhaften Beziehungen und Anspielungen mögen nicht selten dem tiefsten Hypochonder ein Lächeln des Beifalls abgewonnen haben. Seine Stiftungen, dereinst von ihm zum Wohl der Armuth in’s Leben gerufen, werden noch lange in unserer Erinnerung fortleben, gleich wie seine Schriften, namentlich die „Palmen des Friedens“. Mag auch Manches, was er geschaffen, im Laufe der Zeit schwinden, bleiben wird das, was er dem Allgemeinen geweiht hat.

Dies als Gedenkstein auf das Grab des Todten, der, wenn er noch lebte, mit manchem Geistesverwandten der Worte Gutzkow’s im „Baum der Erkenntniß“ gedenken würde: „Ein Weiheaugenblick ist es, zu entdecken, daß unser Leben im Herzen eines Freundes gebucht wurde, und daß bei ihm Dinge, Handlungen und Aeußerungen verzeichnet bleiben, an die wir uns selbst im Drang des Weiterlebenmüssens kaum noch würden erinnert haben.“




Eine Soirée bei Andrassy.[2]


Oft werden unsere Leser in den Berichten der politischen Tagesblätter aus und über Oesterreich-Ungarn von einer „Politik am Ballplatze“ lesen, ebenso wie aus Berlin von einer „Politik der Wilhelmsstraße“. Diese Localisation der amtlichen politischen Vorgänge und Kundgebungen hat in den Wohnungen der betreffenden Lenker der auswärtigen Politik ihre Bedeutung. Wie in Berlin durch die Wilhelmsstraße, so ist in Wien durch den Ballplatz die auswärtige Politik Oesterreich-Ungarns bezeichnet und die Richtung, nach welcher der derzeitige Vertreter derselben, zugleich als Ministerpräsident für die beiden Reichshälften, Stellung genommen hat.

Wenige von den Weltausstellungsreisenden werden ihre Schritte nach dem Ballplatze lenken. Da lehnt sich an das in großem Stile erbaute Liechtenstein’sche Palais ein Gebäude an, stattlich mehr nach den Seitenfronten zu, die nach zwei vom Ballplatze ausmündenden Straßen gelegen sind, als gerade nach der Façade, die sich nur etwa mit sechs Fenstern Front nach dem Platze vorschiebt. Von diesem Gebäude aus, der früheren Reichs- und Staatskanzlei, das dem Fürsten Kaunitz von seiner dankbaren Souverainin Maria Theresia gebaut war, leitete der staatskluge Reichskanzler das deutsch-österreichische Staatsschiff durch die Stromklippen der Zeit; hier ersetzte ihn der schlaue, aber schwache Graf Cobenzl, der bald dem plebejischen, aber energischen und mit den Erfolgen der Rücksichtslosigkeit arbeitenden Minister Thugut weichen mußte, bis dann der schönste, glänzendste und schlaueste aller Diplomaten, der junge Wenzel Metternich vom Rheine, in die Säle einzog. An vierzig Jahre hielt er hier Salon und in den untern Räumen installirte er seine Gentz, Adam Müller und Pillat und wie sie alle hießen, diese Sumpfpflanzen der faulen Restaurationsperiode, die sich und den Fürsten in den Wahn einlullten, daß man mit Artikeln der Allgemeinen Zeitung der Zeit ihre geistige Richtung vorzeichnen könne und daß das moderne über die Geschicke der Völker entscheidende Fatum – die Polizei sei, bis dann der alte vornehme Herr, der Anbeter alles schönen Weiblichen, von einer Dame ausgemietet wurde, die nicht nach seinem Geschmack und der er nie [631] den Hof gemacht hatte – von der Revolution. Dann ging es eine Weile recht toll in diesem Hause zu; die Parteien spielten hier ihr „Kämmerchenvermiethen“. Vom Abgange des einen Ministers bis zum Einzuge des andern, seines Nachfolgers, brauchten nicht einmal frische Kerzen auf die Kronleuchter gesteckt zu werden. Das Princip der Stabilität war einzig durch den Portier vertreten, bis Felix Schwarzenberg mit seinem Pallasch kam, diese militärisch-aristokratische neue Auflage des seligen oder vielmehr unseligen Thugut. Dann brach für das Haus wieder eine Zeit an, wo man nicht jeden Monat eine andere Equipage mit anderer Livrée durch das Portal fahren sah, wo die aus den Fugen gegangene Zeit wieder eingerenkt wurde, wo Schmerling und dann Rechberg und zuletzt Beust die Vertreter der auswärtigen Mächte in den Salons empfingen, und wenn man jetzt des Morgens gegen zehn Uhr die Löwelstraße passirt, so kann man den Grafen Andrassy in leichter Sommertoilette von dem Gärtchen, wo er an schönen Sommermorgen frühstückt, nach seinen Amtsgemächern gehen sehen, um dort den Vortrag seines Sectionschefs entgegen zu nehmen.

An den Abenden macht die Gräfin Julius Andrassy geb. Gräfin Kendesy an demselben Platze zwischen den beiden Marmorsäulen die Honneurs, an welchem der alte Fürst Metternich Tag für Tag nach dem Diner seinen Whist zu machen pflegte.

Die Gräfin ist eine Siebenbürgerin. In ihrem Aeußern ist deutsches Sachsenblut ganz unverkennbar. Sie hat den zarten rosigen Teint und das aschblonde Haar einer Niederdeutschen, jedoch die großen lebendigen geistvollen Augen und die feine graciöse Gestalt scheinen Product ihres Adoptivvaterlandes Ungarn zu sein. Sie spricht das Deutsche, wie alle Siebenbürgerinnen, sehr rein, wenn auch mit scharfem Accent, und in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Sprechen, ihrem Lächeln, ihren Blicken, den weichen Linien ihrer Bewegungen liegt ein unendlicher Liebreiz, ein bezaubernder Ausdruck des echt Weiblichen ausgegossen. Das Alter jeder Frau richtet sich nach den Empfindungen, die von ihr auf Andere ausgehen; darnach ist die Gräfin in jenem unbestimmbaren Stadium ewiger Jugend. Ihr Liebreiz ist ein zwingendes Verbot, den Gothaer Kalender nicht zu befragen. Wenn sie einst fünfzig Jahre alt sein wird, wird man sie noch für fünfundzwanzig halten. Dabei ist sie die glücklichste Gattin, die ihren Mann anbetet, ihren Kindern die zärtlichste, sorgsamste Mutter, Eigenschaften, die nicht ausschließen, daß sie am Abende in ihrem Salon die vollendetste Weltdame sein kann. Um sie stehen die Damen in weitem Kreise, zunächst die des diplomatischen Corps. Da ist Madame de Banneville, die Gemahlin des französischen Botschafters, das Urbild einer Französin des zweiten Empire, klein, brunett, lebendig, und wie jede Persönlichkeit der Ausdruck einer Farbe, so ist sie auf Kirschroth angelegt. Da ist in der Nähe die Gräfin Dönhoff, eine Prinzessin Campo Reale aus Florenz, die Verehrerin der deutschen musikalischen Richtung Richard Wagner’s. Diese kleine, schöne, graziöse Frau mit dem blassen Antlitze und den großen Augen, mit der jungen geistigen Lebendigkeit des Südens im Ausdrucke und im Wesen ihrer Persönlichkeit, sie war es, die den deutschen Componisten einst in Paris mit der Fürstin Metternich bekannt gemacht und die Aufführung des „Tannhäuser“ in der großen Oper zu Paris in Folge einer Wette der Fürstin Metternich mit dem Kaiser Napoleon veranlaßt hatte. Sie hält das Banner Richard Wagner’s gegenüber romanischer Musik noch immer tapfer aufrecht, und aus dem geistvollen und schönen Haupte sprechen alle Eigenschaften dafür, daß sie im Vereine mit der Baronin von Schleinitz in Berlin die Sache des modernen Reformators zu einem triumphirenden Ende führen werde. Sie steht mit ihrer Sympathie für seine Werke nicht allein in diesem Salon; sie hat noch eine sehr mächtige Bundesgenossin in der Gemahlin des einflußreichsten Mannes in der ganzen österreichisch-ungarischen Monarchie, des ersten Oberhofmeisters des Kaisers, des Fürsten Constantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Die Fürstin ist die Tochter jener Fürstin Wittgenstein, die so lange Zeit ein inniges Freundschaftsverhältniß mit Liszt unterhalten hatte; sie war als Prinzessin Marie Wittgenstein der ideale Mittelpunkt des damaligen Weimarer Musenkreises, von Dichtern wie Geibel als Fee Abunda besungen, von Kaulbach als solche gemalt – nun eine hohe vornehme Gestalt, von jenem brunetten Ausdrucke, der auf erhöhte Nervosität deutet, dabei im Sprechen und Sichbewegen voll geistiger Superiorität und an diesem Abende in reiche gelbe und braunrothe Atlasgewänder gekleidet. Unter den preußischen Damen bemerkt man die schöne Gräfin Eugenie von Fürstenberg-Stammheim, vom Rheinlande, eine volle imponirende Erscheinung mit wahrhaft katholischen Augen; sie ist eine geborene Oesterreicherin, eine Tochter aus dem Hause Auersperg, und wenn sich confessionelle und nationale Unterschiede in Persönlichkeiten darstellen lassen, so möchte im Gegensatze hierzu eine Frau aus einer der ersten Bürgerfamilien Berlins, Frau Ravené, ein geborenes Fräulein voll Kusserow von der Ostsee, durch ihre lichten hellen Augen, ihr volles blondes Haar und ihre zarte Gestalt eine protestantische Erscheinung zu nennen sein.

Wo etwa achtzig Damen in zwei großen Salons, alte und junge, versammelt sind, da kann man wohl keine Kirchhofsstille erwarten – um so weniger, je lebhafter, voller und natürlicher sich das südliche Naturell giebt. Das lacht und spricht mit dem Munde, den Augen und Händen; das schwirrt und rauscht und glänzt in diesen Räumen, wie ein von der Abendsonne beglänzter Wasserfall, der sich über Felsentrümmer stürzt. Ein Herr in ungarischer Husarenuniform muß sich durch diese ellenlangen Schleppen, durch dieses Meer von Garnirungen einen Weg bahnen – und wehe ihm, wenn er das Unglück hätte, eine einzige dieser Falbeln oder Blumen mit seinen Sporenstiefeln zu knicken! Unauslöschlicher Haß würde ihm geschworen, viel mehr, als wenn er der feudal-föderalistischen Partei in Oesterreich den Daumen auf’s Auge drückte – er, der Leiter der Geschicke der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Minister des kaiserlichen Hauses und der Auswärtigen Angelegenheiten, Graf Andrassy – dieser scharfgezeichnete Typus seines Landes mit der zähen Widerstandskraft in der geschmeidigen Gestalt, mit der geistigen Ueberlegenheit und der kalten Ruhe in dem so leidenschaftlich gezeichneten Gesichte. Er giebt der Gräfin einen Wink, und sie folgt ihm durch die Salons hindurch bis zum Ausgang derselben, bis an die Treppe, auf deren Absätzen rechts und links ungarische Husaren in lichtgelber, mit Silber verschnürter Livrée und hellgrauen Pelzmützen aufgestellt sind.

Durch ein Glockenzeichen war der Herr des Hauses verständigt worden, daß eine Persönlichkeit aus der kaiserlichen Familie oder aus einem souveränen Hause im Anzuge sei, und derartige vornehme Herrschaften müssen vom Hausherrn am Fuß der Treppe, von den Damen des Hauses auf dem obersten Podeste empfangen werden. Zwei Kammerdiener in schwarzem Anzuge, Schuhen und Strümpfen, mit silbernen Armleuchtern in der Hand, gehen voran bis zum Eingang in die Salons, und am Arme des Grafen oder der Gräfin betritt die betreffende Fürstlichkeit die Gesellschaftsräume. So muß an diesem Abende das gräfliche Paar sehr oft diesen Weg machen – der Besuch der deutschen Kaiserin in Wien markirt die Höhe der Weltausstellungssaison, und es ist so viel fürstlicher Besuch am kaiserlichen Hofe, daß es hier – um scherzhaft zu reden – auf eine Ausstellung von Fürstlichkeiten abgesehen zu sein scheint.

Die Gräfin hat ihren Gast mit Uniform oder Robe in ihren mit rothem Atlas decorirten Salon eingeführt. Ihr Gemahl ist im ersten Saale gleichsam auf Vorposten. Der stattliche Raum ist von dem männlichen Theile der Gesellschaft dicht gefüllt. An dieses Gemach stoßen zwar noch zwei größere Säle, ein länglicher Tanzsaal, der aber heute nicht seinem eigentlichen Zwecke zu dienen scheint, und weiter ein reich mit Blumen und dunkelrothen Sammetvorhängen drapirtes Gemach – aber diese Gemächer sind noch leer; die Gesellschaft der geladenen Herren drängt sich lieber im ersten Salon zusammen, durch diesen müssen auch die Damen ihren Eintritt nehmen – und der Reiz eines derartigen Abends liegt ja zumeist im Schauen. Unter den Herren ist die Uniform in Minderheit, nur die militärische ist vertreten; sonst herrscht die Uniform der civilisirten Erde, die weiße Binde und der schwarze Frack, wenn auch mit den verschiedenartigsten Kreuzen, Sternen und Bändern geschmückt und ausgezeichnet. Da sind sämmtliche Collegen Andrassy’s, das heißt die beiden Reichshälften gemeinsamen und die österreichischen Minister; bald drückt er Adolf Auersperg die Hand; bald tritt er dann zu der Gruppe Banhans, Glaser und Unger, begrüßt im Vorbeigehen einige Diplomaten und läßt sich später Mitglieder verschiedener Weltausstellungs-Commissionen, [632] und namentlich deutsche, vorstellen. Darunter befinden sich die hervorragendsten und weitklingendsten Namen deutschen Gewerbfleißes und deutschen Unternehmungsgeistes – die Fürsten der Arbeit – die großen Bürger des deutschen Reiches. Das deutsche Element steht, wie bereits bemerkt, an diesem Abende im Vordergrunde, wenn auch die deutschen Laute in Minderheit gehört werden. In welcher Sprache die Conversation fortrollt? In allen Zungen. Da hört man französisch, englisch, italienisch, spanisch, russisch – da hört man Laute, die man in keines dieser Idiome einrangiren kann, und die sich anhören, als ob die Sprechenden immerwährend niesten.

Die Flügelthüren des ersten Empfangszimmers öffnen sich in einer Weise, die einen Gast von hohem Range ankündigt. Ein alter Mann erscheint – mittelgroß und mager von Gestalt; diese selbst ist vom Alter gebeugt; der Kopf hängt etwas nach vorne. Der Ankömmling trägt einen schwarzen, einreihigen Rock mit Stehkragen, um den Hals eine goldene Kette mit einem großen goldenen, mit Brillanten besetzten Kreuze, mehrere Ordenssterne, rothe Strümpfe, rothe Handschuhe, über dem Zeigefinger der rechten Hand den Fischerring und auf dem Haupte ein rothes Käppchen, unter welchem schneeweiße Haare spärlich hervorschauen. Wer unter der Gesellschaft kennt ihn nicht, diesen hohen Würdenträger der römischen Kirche, einen der in Oesterreich und dessen Verfassungskämpfen am meisten genannten Namen – den Erzbischof von Wien, Cardinal von Rauscher? Eine Persönlichkeit, die auch ohne den Purpur, ohne den Nimbus, der diesen tapfern General der Streitmacht der Kirche umgiebt, die Aufmerksamkeit des physiognomischen Beobachters auf sich ziehen würde. Der Cardinal sieht nichts weniger als vornehm aus; seine ganze Erscheinung weist auf seinen Ursprung aus dem Volke zurück: der knochige Bau des Körpers, die Bewegungen, die den Landpfarrer noch nicht überwunden haben, und namentlich der Kopf mit den blassen, welken Zügen. Die Bedeutung desselben liegt weniger in den oberen Partien, in der Sphäre der geistigen Kraft, als in dem Unterbaue, namentlich in dem mächtigen Kinn, das auf ganz eminente Eigenschaften des Charakters schließen läßt. Es liegt in der ganzen Erscheinung etwas von dem Machtbewußtsein einer Partei, von der Rücksichtslosigkeit eines Principes; der Sohn des Volkes ist stärker betont, als der Sohn der Kirche; in dem Cardinal ist die demokratische Seite der römischen Kirche herausgekehrt. Er macht keine sehr tiefen Bücklinge vor allen den Excellenzen der Geburt oder des Geistes, die hier unwillkürlich einen Kreis um ihn bilden; er hat nicht das süßliche, kokette Lächeln der meisten seiner Collegen, und noch weniger die einschmeichelnden Mienen und die graziösen Manieren, in denen namentlich der Erzbischof von Posen Meister ist; er steht da wie Einer, der auch in der größten Gesellschaft einsam ist, ernst, in sich gekehrt, ja fast mürrisch. Selbst die Nähe der Sonne der Macht, die doch selten auf die Physiognomien der Menschen ihres Eindrucks verfehlt, selbst diese bringt in seinen Zügen keine Wandlung hervor.

Graf Andrassy hat seinen Souverain, den Kaiser von Oesterreich und König von Ungarn, in die Gemächer geleitet und Franz Joseph sich mit dem Cardinal, seinem Lehrer, in den Tanzsaal zurückgezogen, wo beide in dem weiten Raume ganz allein sich befinden und, wie es scheint, in lebhaftem Zwiegespräch. Der Cardinal steht ehrerbietig vor seinem Kaiser und Herrn, aber aus seiner ganzen Haltung spricht es deutlich, daß er der Macht zu Liebe auch nicht ein Titelchen seines starken Bewußtseins hinopfern möchte. Nicht wie ein Unterthan steht er vor dem Kaiser, sondern wie ein Gleichberechtigter, der zu dem souverainen Herrscher gleichsam nur in einem Vertragsverhältnisse steht.

Auch der eifrigste Republikaner würde den anmuthenden Eindruck nicht wegleugnen können, den die Persönlichkeit des Kaisers Franz Joseph macht. Trotz der schweren Bürde einer Krone, wie er sie trägt, hat er sich eine gewisse Frische und Jugendlichkeit bewahrt; sein Wesen, in dem er sich giebt, ist einfach und natürlich, und in der Art und Weise, wie er zuhört, wie er das Gehörte innerlich verarbeitet und wie er die Antwort in sich vorbereitet, daraus spricht ein tiefer bewußter Ernst der ihm obliegenden Pflichten und ein eifriges Wollen des Guten.

Je mehr die Zeit vorrückt, desto mehr leidet die gesellschaftliche Bewegung und Unterhaltung unter dem Drucke der Erwartung und Spannung. Graf Andrassy spricht unterdeß viel und lebhaft mit einem Herrn von vielleicht fünfzig Jahren. Seine Züge sind kalt und nüchtern; seine Figur und seine Haltung haben etwas Pedantisches, fast Schulmeisterliches. Er sieht aus wie der prüfende, ordnende Verstand, gegenüber der productiven geistigen Thätigkeit, der aus genialem Geiste entspringenden Idee. Aehnlich ist auch das Verhältniß zwischen dem Grafen Andrassy und seinem geistig bedeutenden und hervorragenden ersten Rathe, dem Sectionschef im Ministerium des Aeußeren, Herrn von Hoffmann. Was der verstorbene Abeken seinem Bismarck war, was der Geheime Rath von Hamburger seinem Gortschakoff, das ist Hoffmann seinem Andrassy. Die Blicke des Grafen Andrassy schweifen von Minute zu Minute nach der Thür. Die Gräfin ist an die Seite ihres Gemahls getreten – endlich ein Zeichen! Der Hausherr begiebt sich nach dem Tanzsaal, um seinem kaiserlichen Herrn eine Meldung zu machen. Franz Joseph und sein Premier verlassen die Säle; die Gräfin folgt ihnen; das Spalier erweitert sich; die Stille der Erwartung lagert sich auf die Gesellschaft; die Thüren fliegen auf, und am Arme des Kaisers und Königs von Oesterreich-Ungarn erscheint die Kaiserin Augusta. Ihnen beiden folgen die Kaiserin-Königin Elisabeth von Oesterreich-Ungarn, das gräfliche Paar Andrassy und der persönliche Dienst der kaiserlichen Herrschaften. So geht der Zug durch die sich verneigende Gesellschaft hindurch nach dem großen Empfangssalon, wo zuerst die Gräfin Andrassy ihre Gäste empfangen hatte. Graf und Gräfin Andrassy machen die Herren und Damen mit einander bekannt; der Cardinal von Rauscher war den fürstlichen Herrschaften nicht gefolgt, sondern da, wo ihn der Kaiser verlassen hatte, einsam und allein geblieben, bis der Graf Andrassy ihn aufsuchte und mit den Worten: „Der Kaiser will Euer Eminenz mit der deutschen Kaiserin bekannt machen,“ den Kirchenfürsten nach sich in den Empfangssalon zog, wo sich die Kaiserinnen inzwischen auf das Sopha niedergelassen hatten. Die kaiserlichen Frauen erheben sich beim Erscheinen des greisen Kirchenfürsten, und die Kaiserin Augusta geht ihm einige Schritte entgegen. Kaiser Franz Joseph hat die Vorstellung übernommen; die Unterhaltung dauert vielleicht zehn Minuten.

Betrachten wir während dieses Ruhepunktes die beiden Kaiserinnen. Beide stammen aus kleinen deutschen Fürstenhäusern und beide schmücken die zwei größten Throne des mittleren Europas, Kaiserin Augusta durch ihre hohen geistigen Eigenschaften, Kaiserin Elisabeth durch den Liebreiz eines Lebensalters, der durch seine Eigenschaften alle Dichter und Philosophen in die Flucht schlägt. Ihre hohe Gestalt ist von einer jungfräulichen Elasticität; der Teint hat die Frische der Jugend behalten, und das dunkelblonde Haar wallt noch voll und reich von dem schönen Haupte nieder. Es gehört eben die Ruhe in dem ganzen Wesen der Kaiserin dazu, um die so flüchtige Jugend zum längeren Verweilen zu vermögen, und diesem Grundzuge entsprechen ihre Bewegungen, die Art zu sprechen, ja selbst sich einfach zu kleiden. In letzterer Aeußerlichkeit begegnen sich die beiden kaiserlichen Frauen. Auch die Kaiserin Augusta scheint keine auffallenden Farben zu lieben; weiß pflegt der Grundton ihrer Toiletten zu sein, aber wie sie sich äußerlich von der Gemahlin Franz Joseph’s durch den dunklen Ton ihres Haares und ihrer Augen unterscheidet, so auch durch die Lebendigkeit ihres Temperaments. Sie spricht schnell, mit einer etwas tiefen Stimmung des Organs und immer gewählt. Wo die Kaiserin Elisabeth die Dinge mehr an sich hinankommen läßt, geht sie ihnen entgegen, die Gabe des richtigen Augenblickes und des richtigen Wortes kommt ihr dabei sehr zu statten; in der Conversation hört die Kaiserin Elisabeth mehr zu, als sie spricht; bei der Kaiserin Augusta ist die Kunst des Zuhörens nicht am Platze; die Kaiserin Elisabeth spricht in privatem Sinne, die Kaiserin Augusta mehr in öffentlichem, mit Beachtung der Dinge, die Zeit und Menschen bewegen. Wie die Gestalt der deutschen Kaiserin durch die imponirende Würde wächst, so erhellt und erwärmt sich ihr Wesen, wenn ein Gesprächsthema, eine Persönlichkeit sie interessiert, wie jetzt der Cardinal von Rauscher.

Graf Andrassy steht während der Unterhaltung der deutschen Kaiserin mit dem Cardinal in Sprach- und Hörnähe. Jetzt, da das Gespräch zu Ende ist, wendet er sich an den Kaiser Franz Joseph. Er sagt einige Worte wie eine Einladung – der Kaiser [633] reicht der deutschen Kaiserin den Arm, und rückwärts bewegt sich der Zug nach dem ersten Empfangssalon, in welchem eine Portière von rothem Sammet bis jetzt von zwei Dienern fast ängstlich bewacht worden war. Beim Nahen des Zuges öffnet sich diese, derselbe passirt einen schmalen Gang, der rechts und links mit rothen goldgestickten Sammetdraperien verhängt ist, es ist eine Brücke, deren Passage so gegen jede Zugluft geschützt ward, und nun befinden sich die Gäste des Grafen im Zaubergarten der Armida, inmitten der Märchenwelt aus Tausend und einer Nacht. Der Garten der Bellaria ist in eine Fluth von Licht getaucht. Um die äußere Umhegung sind Tausende von großen farbigen Ballons und Lampions gezogen; sie gehen in Festons von Baum zu Baum und hängen aus allen Zweigen. „Je braverai la nature,“ hatte Graf Andrassy scherzweise gesagt, als man ihn auf die drohenden Wetterwolken aufmerksam machte, die sein Fest wohl verderben möchten, und gleich als ob die Drohung des Premiers gefruchtet hätte, der Himmel ist jetzt tiefblau und wolkenlos. Aus dem dunklen Aether schauen die funkelnden Sterne, und im leisen Abendwinde wiegen sich die Ballons.

In den Rosen- und Jasminbüschen glühen rothe, grüne und gelbe Glaskugeln wie riesige Leuchtkäfer; am Ende des Gartens ist ein elegantes Zelt mit Sophas und Fauteuils errichtet. Ueber demselben bauen sich hohe Lampenpyramiden auf und werfen ihre blendenden Lichtstrahlen über den ganzen Garten. Horch! diese Cymbalklänge, diese Fiedeln mit ihren bald ausgelassenen, lustigen, bald tiefwehmüthigen Klängen, mit ihren grellen Uebergängen und ihren hinreißenden, sinnfesselnden Melodien – ist diese Musik nicht eine Erinnerung an die ungarischen Pußten, an das Heimathland des Festgebers? Ja wohl! Wer einmal Zigeuner hat spielen hören, der vergißt diese Musik nimmermehr. Da vorn auf dem Rasen ist das Orchester aufgepflanzt. Die schwarzgebrannten Musiker sind in das bunte ungarische Nationalcostüm gekleidet – eine Art blauer und rother Husarentracht –, der Cymbalspieler mitten in der Bande; die Augen der Spielenden funkeln; die Fiedelbogen fliegen; Graf Andrassy hat sie veranlaßt, näher an das Zelt zu treten, in dem sich die kaiserlichen Herrschaften niedergelassen haben. Die Kaiserin Augusta scheint sich des Zaubers dieser Töne nicht erwehren zu können; in eine Fülle von weißen Spitzen gehüllt, lehnt sie in dem rothseidenen Sopha, und die Künstler von der Pußta müssen, sobald sie geendet haben, immer von Neuem wieder beginnen und immer mehr spielen, bis fast der Reichthum ihrer Melodien erschöpft ist.

Auf den Teppichen, mit denen die Wege des Gartens belegt sind, bewegt sich die übrige Gesellschaft. Da plaudert Graf Andrassy vertraulich mit einem hochgewachsenen und stattlichen Herrn, der die preußische Uniform der Generale à la suite trägt; es ist der Botschafter des deutschen Reiches in Wien, General von Schleinitz, und die Art und Weise, wie Beide miteinander verkehren, ist eine Bürgschaft, daß zwischen Deutschland und Oesterreich-Ungarn „All right“ ist. In der Nähe steht der Kaiser Franz Joseph. Er hat die beiden Kaiserinnen auf einen Augenblick verlassen und spricht mit einem Herrn, dessen gedrungene Gestalt im schwarzen Fracke, mehr noch der graumelirte Cotelettenbart diesem ein ausgesprochen amerikanisches Aussehen geben. Es ist der Generaldirector der Weltausstellung, der vielangegriffene Freiherr von Schwarz-Senborn. Um den Kaiser und den Generaldirector hat sich ein Kreis von Herren gebildet. Unter diesen ragt eine Persönlichkeit über alle Anderen um eine Kopflänge hervor. Kennen wir ihn doch! Ja wohl, obwohl er anfängt, dick und grau zu werden, – und das ist immer peinlich für einen so großen Virtuosen der Persönlichkeit wie Franz Dingelstedt, einst Deutschlands Nachtwächter und Heerrufer. Nun ist er Herr von Dingelstedt, Ritter des Comthurkreuzes und anderer Kreuze.

Aber nicht nur der Director des Burgtheaters ist da, auch die Dramatiker des Musentempels am Michaelerplatze befinden sich in der Nähe und einer seiner ältesten und genialsten darstellenden Mitglieder – der treffliche Laroche. Eine Weile später geht es wie ein Lauffeuer durch die Säle: „Laroche! Wo ist Laroche? Die deutsche Kaiserin will ihn sprechen!“ – Der berühmte Künstler war noch unter Goethe in Weimar engagirt und von dort datirt wohl auch die persönliche Bekanntschaft der deutschen Kaiserin mit ihm. Der Mann an seiner Seite mit der gedrungenen Figur, mit dem röthlichen Barte, der Brille und einem kleinen Firmament auf der Brust ist Mosenthal, der Andere neben ihm stehende mit dem schwarzen Vollbarte Weilen. Der Dritte in der Gruppe ist kein Deutscher; dieser Michel-Angelo-Kopf auf einer Gnomenfigur gehört keinem Geringeren an als dem großen französischen Genremaler Meyssonnier. Er wird von einem deutschen Maler, dem Schöpfer des „Triumphzuges der Germania“, von dem hageren Piloty aus München fast um drei Kopflängen überragt.

So ist hier Geist und Geburt, Rang und Verdienst, Jugend und Schönheit einmüthig versammelt. Auf dem grünen Rasen rauschen die bauschigen Schleppen; unter den grünen Laubenbogen blitzen Augen und Diamanten hervor, und um das Früchtebüffet unter dem Lindenbaume hat sich eine Gesellschaft von jungen Herren und Damen gruppirt, die an Reiz und Fröhlichkeit der Jugend an Winterhalter’s Decamerone erinnert. Das wogt und schwirrt, das plaudert und lacht. Dazwischen tönen die Melodien der Zigeuner und flimmern die Sterne und blähen sich im lauen Abendwinde die Ballons an den Bäumen und die Schleier in den halbgelösten Locken. Durch die Blätter geht ein Wogen wie eine leise Mahnung an die Anwesenden, die heilige Ruhe der Nacht nicht länger zu stören und daß es Mitternacht und Zeit sei, nach Hause zu gehen. Die Antwort darauf ist nur ein erneutes Aufwallen der hochgehenden Festeslust. Wer könnte sich von dem Paradeisgärtchen auf der Bellaria, von der Soirée des Grafen Andrassy so leichten Herzens und zu so früher Stunde trennen? Georg Horn.




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 38. Tappfuß.


Selbst aus den Beständen schrankenlos freien Wildes lernt sehr bald der scharf und unablässig beobachtende Jäger die darunter befindlichen verschiedenen Individualitäten heraus erkennen, noch leichter und sicherer aber gelingt ihm dies natürlich in geschlossenen Wildbahnen. Eigenartiges Gebahren, hervorstechende Physiognomie, auffallende Stärke oder besonderer Wuchs an Körper, Geweihen und anderem Gewäff, wie markirte Färbung einzelner Stücke, oder auch in’s Auge springende andere Merkzeichen, die solche etwa durch Schuß- oder sonstige Verwundungen erhielten, wirken hierbei mit.

So lebte unter anderem ein derartiges Exemplar, ein capitales Wildschwein, welches fast alle eben angeführten Eigenheiten zusammen an sich vereinigte, viele Jahre in den eingezäunten Wildgehegen des allbekannten Jagdsitzes zu Moritzburg bei Dresden, wo es seiner Zeit männiglich nur unter dem Namen „Tappfuß“ bekannt war. Dasselbe war nämlich früher einmal, bei einer sogenannten Königsjagd von dem dazu zu Gaste geladenen damaligen Kronprinzen, jetzigem regierenden Herzog von Coburg, lauftlahm angeschossen worden und in Folge des daraus entstandenen tappenden Ganges eben zu jener Benennung gekommen. Außerdem hatte besagter Anschuß dieses Schwein so vorsichtig und schlau gemacht, daß es nicht einmal mehr seines Gleichen traute, vielmehr von beregter Zeit an vom Rudel sich fern hielt und nur noch für sich allein die fernsten und einsamsten Theile des weiten Revieres durchstrich. Nur in dem einen Punkte wich es sonderbarer Weise davon ab, daß es zu der allabendlich stattfindenden Fütterung nach wie vor ganz regelmäßig auf dem Kirrplatze erschien. Hier war der borstige Einsiedler gegen Mensch und Thier sogar dreister, als alles übrige herbeikommende Wild, als wisse der unwirsche Keiler ganz genau, daß das Wild auf diesem Platze, wenigstens während der Fütterung, Gefahren von Menschen, trotz ihrer unmittelbaren Nähe, nicht [634] zu fürchten habe. Dabei war der kecke Bursche gegen seine Genossen stets kampfgerüstet und focht hier nicht selten gar ernstliche Fehden mit ihnen aus, die in Folge seines auffallend starken Gewäffs stets zu Ungunsten seiner ihm sonst selbst ebenbürtigen Gegner ausfielen. Der Sieghafte erlangte dadurch sehr bald eine gewisse Oberherrschaft über den Platz, die wiederum Veranlassung ward, daß der kühne Streiter nicht nur das Meiste, sondern auch das Beste der Fütterung vorweg nahm, ehe die übrige Sippe zulangen konnte, ohne von ihm daran gehindert zu werden. Natürlich nahm der dadurch sich so wohl Nährende immer mehr zu an Stärke und Rauflust, so daß die Jägerei, vom hohen Jagdherrn an bis herab zum Wildfütterer, nur mit freudigem Stolz von diesem Hauptschwein sprach, bei abgehaltenen Saujagden aber jeder dabei betheiligte Schütze mit wahrer Aufregung daran dachte, möglicher Weise auf den „Tappfuß“ zu Schusse kommen zu können, während dem nicht mitschießenden Personal gerade um einen solchen etwa eintretenden Fall bangte, der ihrem Liebling den Untergang bereiten könnte. Doch zur Beruhigung dieser Aengstlichen war es bekannt, daß gerade bei Jagden Mosje Urian entweder gar nicht vorhanden war, oder, hatte er sich ja einmal mit einstellen und in’s Treiben bringen lassen, doch niemals bis an die Schützenlinie vorging, sondern regelmäßig, dabei jeden sich ihm etwa entgegen Stellenden annehmend, wie ich dies aus eigener Erfahrung bezeugen kann, unaufhaltsam und schonungslos durch die Treibercolonnen brach.

So ward der borstige „Schlaumeier“ ein Jahr um’s andere älter und wuchs dabei zu einem selten mächtigen Hauptschwein heran. Dadurch aber hatte sich sein Ruf immer mehr verbreitet und befestigt, so daß selbst der König, kam er nach Moritzburg, jedes Mal nach dem „alten Tappfuß“ wie nach einem lieben Bekannten fragte. Und darauf hin ward nun vollends die humpelnde Bestie von den Waidleuten förmlich gehätschelt. Inzwischen erfreute sich das reckenhafte Schwein der besten Gesundheit, wie man dies eben leicht täglich bei der allgemeinen Fütterung wahrnehmen konnte, und worüber vom alten Piqueur Probsthain – Gott hab’ ihn selig! – förmlich Journal geführt ward. Ja, hätte diesen braven Jägersmann aus der guten alten Zeit seine Gicht nicht daran gehindert und „Tappfuß“ es ihm erlaubt, er wäre sicherlich zuweilen mit diesem zusammen in einen Kessel eingeschoben, um an seines Günstlings harzgepichter Seite ein Schlummerstündchen zu feiern – so lieb hatte der originelle Grünrock den urigen Kumpan.

Wieder einmal war es Spätherbst geworden, zu welcher Zeit die Saujagden begannen. Da erging ein königlicher Befehl, den hinteren, weitesten und selten bejagten Theil des Revieres mit Tüchern, dem sogenannten hohen Zeuge, einzustellen, um darin fürstlichen Gästen zu Ehren eine große Treibjagd abzuhalten. Mit Sorgfalt und rechtzeitig war denn dazu auch alles Nöthige vorbereitet worden, so daß das angesagte Jagen in exactester Weise zur bestimmtesten Frist, und zwar an einem herrlichen, reiffrischen Morgen, beginnen konnte, dem beizuwohnen natürlich auch ich nicht versäumte, allerdings nur als freiwilliger Treiber. Diese Bethätigung hat meiner Ansicht nach oft einen gleich großen Reiz wie selbst die eines Schützen, weshalb ich auch heute noch vorkommenden Falles herzlich gern und mit Vorliebe ein Dickicht als Treiber durchkrieche, und zwar selbst bei tollstem Schneeanhang, mit welcher Zugabe es doch wahrlich kein leichtes Stück Arbeit ist.

Manche Sau war bereits erlegt worden, als in einem neuen Trieb plötzlich der Ruf durch die Reihe der Leute lief: „Tappfuß“ sei flüchtig vor – gerade auf die Schützen los! Wie tönte nun das „Huä, Sau, Sau!“ durch die ganze Treiberlinie hinterdrein, um dem, wie es scheinen wollte, endlich doch einmal in die Falle gegangenen, sonst so listigen Patron die etwaige Umkehr durch solches Lärmen zu verleiden. Und gleichzeitig erdröhnte nun auch schon Schuß auf Schuß durch die Luft, ohne daß selbst hierauf „Tappfuß“ den gewohnten Rückwechsel angetreten hätte. Inzwischen drangen nun auch die Treiber bis dicht an die Schirme der Schützenposten vor und machten hier „ganz“, um dann zunächst die erlegte Beute nach dem dem Jagen folgenden Wildpretswagen zu schaffen, auf Wunsch wohl auch erst ein oder das andere erlegte Stück davon dem betreffenden Schützen zur Besichtigung vorzulegen. Da auch der König einen außergewöhnlich starken Keiler geschossen hatte, so ward natürlich dieser vor allen andern herangebracht und vor die königlichen Füße gestreckt. Wie ward aber die Freude darüber zum Jubel, als der bei Leitung dieses Geschäftes dienstthuende Fasanenjäger plötzlich überglücklich mehr rief als sprach: „Majestät haben den ‚Tappfuß‘ erlegt!“ Und richtig! Da lag der alte mächtige Bursche, eisgrau, wie er war, scharfbewehrt und mit der wohlgekannten Verstümmelung des Hinterlauftes, leibhaftig vor dem königlichen Schützen.

Nun ward die helle Lust allgemein, und auch des Gebieters echtes Waidmannsherz frohlockte über so glücklichen Treffer. Schnell verbreitete sich die Kunde davon nach allen Seiten hin, und die hohen Herrschaften, Jäger und Bauern – Alle, Alle bezeugten gleiche freudige Theilnahme daran. Nur Einer, der alte Probsthain, schüttelte, nachdem auch er mit Hülfe seines Krückstockes heran gehumpelt war, den Kopf und raunte mir, dem er merkwürdig gern vertraute, in seiner originellen Weise zu: „Kein Gedanke, kein Gedanke an ‚Tappfuß‘! Anderes starkes und nur ähnliches Schwein! Kenn’ es schon seit einiger Zeit, mir schon aufgefallen, aber ‚Tappfuß‘? – kein Gedanke, kein Gedanke! Haben dem guten König ’was weis gemacht, muß nun auch dabei bleiben, ja bleiben, können doch Majestät nicht umsonst sich haben freuen lassen – das geht nicht, nein, das geht unter allen Umständen nicht!“ Und er, der Sicherblickende, hatte recht gesehen. Es war eben ein anderes, ebenfalls sehr starkes und dem „Tappfuß“ ungemein ähnliches Schwein, dem der wunderliche Zufall auch noch eine ganz gleiche Verletzung, vielleicht auf einer vorjährigen Jagd oder durch Wildschützen beigebracht, beschieden hatte. Eingeweihte waren denn auch bald, nachdem die erste Aufregung vorüber, klar in der Sache, aber ebenso einig mit Allen darin, daß dem König kein Widerruf gebracht werden dürfe, vielmehr der wirkliche „Tappfuß“ nun, um ihn nie wieder auftauchen zu lassen – auf der Fütterung todtgeschossen werden müsse.

So schloß diese Jagd.

Da die Abfahrt vom Schlosse aus spät zu erwarten stand, so war für diesen Abend an den beschlossenen Abschuß des auch heute wiederum glücklich entwischten echten „Tappfuß“ nicht zu denken, und deshalb der morgige Tag dazu bestimmt worden. Natürlich blieb ich darauf hin da, denn ich versprach mir von dem Gebahren des alten Kraftburschen in seinem letzten Stündlein ein ungewöhnlich interessantes Bild. Mit nicht geringer Erwartung war ich schon bei Zeiten auf dem Fütterungsplatze, der heute zur Arena werden sollte. Auch kamen bald nachher der unermüdliche Piqueur, wie der Fasanenjäger, welcher den Abschuß übernommen hatte, ebenso alle anderen dafür sich interessirenden Jägersleute herzu. Nur der Held des Tages, „Tappfuß“ selber, fehlte noch. Aber auch auf ihn sollten wir nicht lange warten; vielmehr sehr bald kam auch er, der ersehnte Matador, auf seinem gewohnten Wechsel über den vor dem Plane gelegenen weiten Bruch daher getrottet, um seine Abendmahlzeit einzuholen. Bei seiner Ankunft auf dem Platze wichen die bereits Futter hebenden Sauen einen Moment zurück, denn sie wußten, daß namentlich die erste Begegnung mit dem Grämling scharfe Hiebe einbrachte. Diesen Umstand aber benutzte resolut der Fasanenjäger, nahm den Verurtheilten auf’s Korn, als er die erste Kartoffel hob, und gab Feuer. Einen Augenblick mit dem am Boden habenden Gebräche vorwärts fahrend und dabei dem Zusammenbrechen nahe, raffte der bärenhafte Geselle sich doch noch in die Höhe und fuhr stobend in die den Platz unmittelbar umgebende dichtgeschlossene Fichtendichtung hinein, dort jedem weiteren Blick entschwindend. Daß die Kugel getroffen, hatten wir Alle gesehen, ob aber nicht doch eine langwierige Nachsuche daraus erfolgen könne – das war vor der Hand nicht zu bestimmen.

Guter Schweiß fand sich indeß sehr bald vor, und da nach vorsichtiger und sorgfältiger Umkreisung der betreffenden, an und für sich kleinen Dichtung es sich herausstellte, daß der Angeschossene darin sitzen geblieben war und also schwer krank sein mußte oder wohl gar schon verendet sein konnte, so ward beschlossen, sofort, so lange es noch licht war, sich, wenn möglich, von dieser Annahme zu überzeugen.

Einmal dabei, und als Jüngster, wohl auch als Leidenschaftlichster und Behendester unter den anwesenden Jägern bekannt, ward ich ausersehen, auf der Schweißfährte fort ein Stück in [635] die Dickung hinein zu kriechen, um nach dem Verschwundenen auszuspähen. Nicht zwanzig Schritte weit war ich auf allen Vieren vorgedrungen, da sah ich auch schon in der Weite den Kopf des Gesuchten zwischen dichten Fichtenstraupen hervorlugen und mit dem hell hervorblitzenden Gewäff wetzen, daß ihm der weiße Schaum vor dem Gebräche stand. Nach schleunigstem Rückzug von meiner Seite und abgegebenem Bericht kam es zu neuer Berathung.

Tappfuß’s letzte Augenblicke.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

„Na“ sagte endlich der Fasanenjäger zu mir, „na, da kriechen Sie noch einmal vor. Ich werde dicht hinterdrein folgen, und so wie Sie der Teufelsborstwisch annehmen will, werde ich ihm schon die Lust dazu durch eine Kugel benehmen.“

Das wäre allerdings der kürzeste, vielleicht auch der sicherste Weg gewesen, der Jagd ein Ende zu machen, aber, so leicht und weit mich auch sonst die Leidenschaft für Jagdabenteuer trieb, den Dienst eines bloßen Saufinders so schlechtweg nur auf die Unfehlbarkeit meines Freundes Grünrock hin zu übernehmen – das wollte mir in diesem kritischen Falle denn doch nicht in den Kopf, und ich wich daher diesem Ansinnen aus machte aber dagegen den Vorschlag: mir die Büchse geben zu wollen, dann würde ich nochmals die Fährte annehmen und das Schwein auf alle Gefahr hin todtschießen. Für solchen Preis that ich eben Alles. Davon wollte aber mein guter Waidmann wiederum nichts wissen, und es wurde nun, um auf andere Weise zum Ziele zu gelangen vom nächsten Thorwärter ein Dächsel geholt, der das Schwein stellen sollte, wonach der Fasanenjäger das Todtschießen doch noch selber zu besorgen gedachte. Gesagt, gethan. „Waldmann“, das Krummbein, kam an, ward auf die Fährte gesetzt und war auch, wie man an seinem Gebahren hörte, im Nu an das hauende Schwein heran. Darauf hin kroch, gefolgt von mir, der Fasanenjäger dem stellenden Hunde nach. Doch nicht weit kam er, so ward es ihm, steifbestiefelt und mit Schießzeug behangen, wie er war, unmöglich, durch das in der That fast undurchdringliche Gewirr von Geäst vorwärts zu kommen, und mit [636] den Worten: „Können Sie sich durch dieses Satansgesitz ’ranbringen an die Bestie, so schießen Sie sie in Gottes Namen todt!“ reichte er mir nun seine Büchse zu. Wer war über diese Wendung froher als ich!

Vorsichtig, aber unermüdlich wand ich mich nun auf der mir schon bekannten Fährte durch, bis ich die bewußte Fichtenstraupe wieder vor mir hatte, hinter der ich das Schwein hatte sitzen sehen. Doch, so sehr ich auch darnach umblickte, jetzt war es von dieser Stelle verschwunden. Weit davon konnte es jedoch nicht sein, da der Hund fast unmittelbar dahinter noch immer Standlaut gab, also vor dem Schweine stehen mußte. Auf eine darauf gerichtete ausspähende Wendung meinerseits erblickte ich denn auch bald, und zwar förmlich zu meiner Bestürzung schon auf Schußweite und ganz breit vor mir, das gegen den Hund wuthknirschende Schwein in einem verwitterten Kiesloche, am Fuße einer übergehaltenen Fichte sitzen, und über ihm, am Rande der Grube, den stellenden „Waldmann“. Jetzt galt es vorerst, die fieberhafte Aufregung, welche mich ergriffen, wenigstens für Augenblicke zu bannen, um den verhängnißvollen Schuß sichern Auges und fester Hand abgeben zu können. Knieend hinter einem gerade vor mir am Boden liegenden, zwar faulen, aber durch seine Stärke mich vollkommen deckenden Stamme, nahm ich nun mit aller mir noch zu Gebote stehender Ruhe die Büchse an den Kopf und sowie ich das rechte Fleckchen, dicht hinter dem Blatte, auf dem Korne sitzen hatte, machte ich den Finger krumm und sah zu meinem Schrecken – das Teufelsthier ruhig sitzen bleiben. Doch nur einen Moment – in welchem ich über meinen vermeinten Fehlschuß wahre Höllenqual ausstand – dann schob das Ungethüm dem noch immer stellenden Hunde ein Stück entgegen und brach dabei fast bewegungslos zusammen. Da ich kein Schießzeug bei mir hatte, um frisch laden zu können, auch sah, daß dem Getroffenen das Aufstehen schwerlich noch einmal gelingen dürfte, eilte ich schleunigst aus dem Gewirr hinaus, auf den Platz, den dort Wartenden mein Ergebniß kund zu thun. Da diese übrigens schon aus des Hundes Gebahren erkannten, daß das Schwein auf meine Kugel verendet sein müsse, also vom Verjagen desselben keine Rede mehr sein könne, drangen jetzt Alle, geführt von mir, zur Stelle vor, wo denn auch die gehegten Erwartungen sich voll bestätigten. „Tappfuß“, der echte „Tappfuß“ lag in seiner ganzen diesmal nicht anzufechtenden und urwüchsigen Wirklichkeit verendet uns zu Füßen, während „Waldmanns“ wuthgiftiger Zahn die verstruppten Borsten des alten ritterlichen Recken zerzauste.

Rasch waren die Fangleinen an die schaumbedeckten Gewehre des gefällten Thieres geschlungen und dieses mit aller Hände Vorspann heraus bis an den Rand der Dickung geschleift, daß dabei auf der ungebahnten Strecke Stangen und Gezweig unter der mächtigen Last prasselnd zusammenknickten. Haußen aber erwartete uns der einzige auf dem Platze Zurückgebliebene, der alte biedere Probsthain, welcher, als er der massigen Beute ansichtig ward, fast wehmüthig sprach: „Ja, ja, Tappfuß, alter Schwerenöther, hättest ein besseres Loos verdient, besseres Loos verdient, als auf der Fütterung abgeschlachtet zu werden! Aber wegen des fatalen Irrthums, Irrthums mußte es so kommen; konnte eben nicht anders gut gemacht, gut gemacht werden.“ Und dabei stampfte der kernige Waidmann trotz seiner gichtknorrigen Hände den Hirschhornhakenstock, den er stets bei sich führte, gegen den steinigen Boden, daß die große eiserne Zwinge daran wie ein alter Reitersäbel klirrte.

Dann aber machte der sonst eberharte Graubart, als wolle er seine Rührung, die ihn offenbar über den Abschluß dieser Affaire ergriffen, verbergen, kurz rechts um und hinkte, allerseits gute Nacht wünschend und gewünscht bekommend, auf nächstem Waldwege seiner Behausung zu, ohne es noch zu hören, wie der lustige Fasanenjäger ihm, dem Gichtlahmen, nachdeclamirte: „Und Tappfuß geht – doch oft noch kehr’ er wieder!“




Die Irrfahrt eines Hauses.
Von Heinrich Noé.


Es war am 10. Mai 1291, zur Zeit, als Nicolaus der Vierte von Ascoli auf dem Stuhle Petri saß, als einige slavische Bauern, die sich in der Nähe von Fiume nahe am Meeresstrande herumtrieben, an einer steilen Stelle, die man die „Ebene“ nennt, unweit einer kleinen, das „Thälchen“ geheißenen Erdfalte, ein winziges Haus bemerkten, das keiner von ihnen jemals früher gesehen haben wollte. Schon der Ort, auf dem es sich befand, war seltsam – denn die „Ebene“ war so schief, daß sie nicht begreifen konnten, wie das Gebäude darauf festzustellen war. Noch mehr wurden sie in Verwunderung gesetzt durch die Bauart, die Weise, in der die Steine, lauter Ziegelsteine, auf einander geschichtet waren, und durch das uralte Aussehen des Mörtels. Sie gingen hinein und sahen eine hölzerne Decke, blau bemalt und auf den kleinen Vierecken, in die sie abgetheilt war, viele goldene Sterne. Man fand mehrere Gefäße aus Thon darin, einen kleinen Altar, ein byzantinisches Kreuz und eine Bildsäule der heiligen Jungfrau mit dem Kinde.

Das Gerücht von diesem absonderlichen Hause verbreitete sich zunächst nach dem benachbarten Tersato und Fiume. Niemand wußte, was davon zu halten sei, bis Alessandro di Giorgio, der Pfarrer des erstgenannten Ortes, Licht in die Geschichte desselben brachte. Diesem Manne, der todtkrank in seinem Bette lag, erschien die heilige Jungfrau und theilte ihm mit, das Haus sei nichts anderes, als das einst von ihr, ihrem Manne Joseph und dem Jesuskinde zu Nazareth bewohnte. Weiter sprach sie nichts, wohl aber schenkte sie dem Kranken die Gesundheit als ein Zeugniß dafür, daß er die Wahrheit rede, wenn er die nächtliche Vision vor dem Volke verkünde.

Die Meerwalachen des dreizehnten Jahrhunderts mochten aber nicht so blindgläubig sein, wie die Franzosen des neunzehnten, welche auf Aussagen von Gänsehirtinnen und Stallmägden hin zu Hunderttausenden wallfahrten. Wenn dieses das Haus von Nazareth ist, welches auf der „Ebene“ steht, sagten sie, so muß das Haus der heiligen Jungfrau dort nicht mehr zu finden sein. Wo es stand, muß man eine Grube antreffen, da es offenbar mit den Fundamenten hier angekommen ist. Und ob sich das so verhält, das wollen wir nunmehr mit eigenen Augen erforschen.

Damals war Nicolaus aus dem hochberühmten Geschlechte Frangipani Banus von Kroatien und Dalmatien. Dieser stattete drei Männer, unter welchen sich der oben genannte, nunmehr wieder sehr gesunde und muntere Pfarrer befand, zu einer Entdeckungsreise nach Nazareth aus. Man fand es, um die Meerwalachen überzeugen zu können, für nothwendig, genaue Maße des Hauses zu nehmen, um sie mit der im heiligen Lande als vorhanden gedachten Grube und den dortigen Grundmauerspuren zu vergleichen. Wie die Reise ausfiel, das kann man sich denken, wenn man nicht vergessen hat, daß meist gefunden wird, was man mit aller Gewalt gefunden haben will. Alles stimmte auf den Zoll, und von nun an konnten sich die Meerwalachen ungestört der Freude darüber hingeben, daß ihre „Ebene“ solcher Gnade gewürdigt worden war.

Indessen scheint es den alten Häusern zu gehen, wie den Menschen. Wenn einmal die Lust zum Vagabundiren in Einen gefahren ist, so vergeht sie nicht mehr so rasch. Das heilige Haus litt es nicht lange an der Stelle. Bevor wir aber erfahren, wie es dem Hause weiter ging, wollen wir einen Blick auf seine früheren Schicksale werfen.

In diesem Hause hatte die Verkündigung stattgefunden, die unbefleckte Empfängniß, die Grundlage der Vorgänge, welche späterhin die Erlösung des Menschengeschlechtes nach der Behauptung der Theologen bewirkt haben. Dann hört man erst wieder aus der Zeit des Titus Vespasianus etwas davon, wo das Haus von der Verheerung und Plünderung Nazareths befreit blieb. Erst die heilige Helena, welche am Beginn des vierten Jahrhunderts die heiligen Stätten besuchte, erkannte in Mitten der Trümmer wieder das wunderbare Haus. Sie ließ es in dem bescheidenen Zustande, in welchem sie es gefunden hatte, und bereicherte es nur mit dem Altare, auf welchem von den Aposteln Messe gelesen worden war. Im dreizehnten Jahrhundert besuchte es Ludwig der Heilige von Frankreich, an dessen Anwesenheit [637] noch heute die Spuren einer Malerei im Innern des Hauses erinnern sollen. Gegen Ende des nämlichen Jahrhunderts, als Khalil, Sultan von Aegypten, sich Palästinas bemächtigte, wurde die von der heiligen Helena gegründete Capelle niedergebrannt und die Spuren des Christenthums überhaupt nach Möglichkeit vertilgt. Da geschah nun das Wunder. Eine Gottheit, die nicht im Stande war, das Land gegen die Ungläubigen zu schützen und den Mord zahlloser Christen zu verhindern, hatte gleichwohl Engel zur Verfügung, deren Kraft hinreichte, das Haus durch die Luft über Meere und Berge an die kroatische Küste zu tragen.

Wenn im Versetzen aus einem muselmännischen Lande in ein christliches der Beweggrund erkannt wird, das Haus vor unreinen Berührungen zu schützen, so läßt sich doch in dem abermaligen Weiterschleppen desselben ein zureichender Grund nicht mehr erkennen. Die Freude der Männer und Weiber von Tersato dauerte nicht viel länger als drei Jahre. Denn am 10. December 1294 erschienen wieder die Engel und trugen es hinüber an die Küste des alten Picenum, der heutigen „Marken“, in einen Wald, der etwa vier Miglien von der damals, unter den Hohenstaufen, bedeutenden Stadt Recanati entfernt liegt. – Bei dieser Gelegenheit wiederholte sich das Wunder von Bethlehem. Da die Uebertragung in der Nacht vor sich ging, bemerkten Hirten in tiefer Finsterniß ein Licht. Sie gingen der Stelle zu und fanden ein von überirdischem Glanze erhelltes Haus.

Als es Tag wurde, holten die Hirten Leute herbei und nun wiederholten sich die Auftritte des Staunens und der Verwunderung von der „Ebene“ der Meerwalachen. Doch mag es auch hier nicht an Zweiflern gefehlt haben, denn die heilige Jungfrau hielt es für nöthig, abermals schlafenden Menschen zu erscheinen und ihnen die Echtheit des Gebäudes auseinanderzusetzen. Die beiden Schläfer waren der heilige Nicolaus von Tolentino, der damals als Augustinermönch zu Recanati lebte, und der andere ein Waldbruder, genannt Fra Paolo della Selva, der in einer Wildniß, Montorso (Bärenberg) geheißen, in seiner Einsiedelei hauste. Der Erfolg des heiligen Hauses war hier ein viel größerer als drüben in Kroatien, wozu wohl die vielen volkreichen Städte der Nachbarschaft beigetragen haben. Tag und Nacht war das Haus umlagert. Tausende schliefen auf dem Erdboden im Walde. Aus weiter Ferne soll man den Lärm der Heulenden, Betenden und Lobpreisenden gehört haben.

Aber der böse Feind schläft nicht. Er war, wie Horatius Tursellinus, Priester der Gesellschaft Jesu, im ersten Buche seiner Lauretanischen Geschichten uns schildert, eifersüchtig auf den geistigen Segen, der von dem Gnadenorte ausging, und trachtete in seiner Weise, die Frommen davon abzuhalten. – Da sich das Haus nunmehr in einem Walde befand, der einer reichen Dame von Recanati, Signora Laureta, gehörte, so war dem Teufel nichts bequemer, als Räuberbanden herzustellen, die den Pilgrimen, welche oft reiche Geschenke mit sich führten, auflauerten und sie plünderten. In Italien hatte ja der Teufel in solcher Angelegenheit leichtes Spiel. Wegen dieser Gefahren blieben die Pilgrime aus und das heilige Haus verlassen. Doch soll dies mit besonderer Bewilligung der Vorsehung geschehen sein, um Veranlassung zu einem neuen Wunder zu finden. Ein Weltkind möchte dagegen in solchem Hin- und Hergescheuchtwerden einen Mangel an Voraussicht von Seiten der himmlischen Beschützerin des Gebäudes sehen können. Diese Meinung fände weiteren Grund in den folgenden Schicksalen desselben.

Acht Monate nach der Ankunft im Walde flog das heilige Haus wieder fort, diesmal aber nicht weit, auf einen sonnigen Hügel, der sich gegen Recanati hinabsenkt. Besitzer dieses Hügels waren zwei Brüder aus der eben genannten Stadt, welche über die Erscheinung auf ihrem Grundstücke außerordentlich erfreut waren. Aber auch hier dauerte die Herrlichkeit nicht lange. Als die beiden Brüder, welche bisher in Eintracht gelebt hatten, die reichen Gaben sahen, welche herbeigetragen wurden, entstanden Zwistigkeiten zwischen ihnen, die bis zu lebensgefährlichen Drohungen ausarteten. Unter solchen Umständen flog das Haus wieder davon und zwar auf den Platz, auf dem es noch heute steht, Loretto bei Ancona. Es ist wieder ein Hügel mit schöner Aussicht über das nahe Meer. Trotz der Eroberung des Kirchenstaates durch die verfluchten Gewalthaber Italiens ist es dort geblieben. Die heilige Jungfrau, welche einst wegen des Streites zweier schäbigen Wälschen ihren Wohnort wechselte, hat heutzutage von ihrem Hügel aus unbewegt den Kanonendonner von Castel Fidardo mit angehört, dessen Schlachtfeld man von hier aus sieht. Die Zeit der Wunder ist für Italien vorüber.

Wie sieht nun das heilige Haus eigentlich aus? Es steht in einem großen Dome und verhält sich zu dessen Raum wie ein Altar zu einer Kirche. Ein weißes Marmorfutteral, mit Wundern plastischer Kunst bedeckt, liegt wie ein Futteral darüber; so erscheint es, vergleichsweise gesprochen, wie eine kleine in eine größere eingeschachtelte Büchse, welch’ letztere wiederum unter einem mächtigen Behälter steht. Wollen wir die Herrlichkeiten der Kunst, von denen meinen Lesern Manches aus Vasari bekannt sein wird, außer Acht lassen, so empfangen wir beim Eintreten durch das Marmorfutteral in den Backsteinraum als welchen sich das vielgereiste Gebäude ausweist, sofort den Eindruck des Blendwerkes. Es brennt eine Lampe darin, welche das Dunkel zu zerstreuen hat, das in einem so ummauerten Raume ohne künstliches Licht herrschen würde. Im Flimmerschein dieser Lampe fällt zu allernächst das Bildniß der heiligen Jungfrau in die Augen, vom Evangelist Lucas aus Cedernholz geschnitzt. Von diesem Bildniß sind die Umrisse unter Edelsteinen und Gold verborgen, so daß man sich über die künstlerische Begabung des Apostels kein Urtheil bilden kann. Ein Trödler muß in Ekstase gerathen. Die Anhäufung von Brillanten, Smaragden, Topasen, Hyacinthen, Sapphiren und Perlen ist beispiellos. Zu dieser Ausstellung von Steinen haben auch deutsche Fürsten, insbesondere der König Anton Clemens von Sachsen, hunderte von Granen Diamanten beigetragen. Das Bildniß gleißt und glitzert von den Farben, welche die Erdgeister den harten Steinen mitgetheilt haben. So blitzt es roth und grün, blau und veilchenfarben durch den Raum, vor dessen Thüre die Wächter mit gezogenem Säbel auf- und abschreiten.

„Kein heiligerer Ort ist auf dem Erdkreis, wo Titan in die Wogen fällt oder sich aus ihnen erbebt,“ sagt eine Inschrift. Der Mönch, ein Deutscher, reicht uns den heiligen Eßnapf, ein Geschirr aus Thon, zum Kuß – überall umgeben uns Wunder, und dennoch will sich kein Gefühl regen, welches uns mit Scheu durchdränge. Es kommt uns vor, als ob die Menge von Edelsteinen und Gold nur Menschen von niedrigem Sinne zu ergreifen vermöchte, wie etwa diejenigen, welche draußen in das breite Marmorgesims, welches unten unter dem Futterale herumläuft, nach und nach im Laufe der Jahrhunderte durch kniefälliges Herumrutschen um das Haus eine tiefe Furche eingegraben haben, und als ob die Gläubigkeit und Demuth des Priesters nicht echter seien, als der Schrank des Hauses, in welchem die heilige Jungfrau die Bibel und die Apostel die Hostie verwahrten, oder der Hausanzug derselben, welcher gezeigt wird. Unter den Gegenständen, welche das von der Ampel und den Edelsteinen durchblitzte Dunkel zu unterscheiden gestattet, ist mir auch ein Stein aufgefallen, der auf die Unfehlbarkeit der Nachfolger Petri kein gutes Licht wirft. Papst Pius der Fünfte hatte dem Bischof von Coimbra Johann Suarez durch ein Breve erlaubt, einen Stein aus der Mauer herausnehmen und behalten zu dürfen. Kaum befand er sich aber in seinem Besitze, als ihm die heilige Jungfrau befahl, denselben sofort zurückzuerstatten. Jetzt ist er durch ein Eisenplättchen in der Wand befestigt.

Ich konnte es nicht lange in der dicken Luft aushalten. Ich ging ungerührt wieder zur Thüre hinaus, in den Dom hinein, in welchem einige Mönche auf Tischen Ablaßzettel schrieben, und überschritt die Schwelle der großen Bronzethore. Auf Piazza della Madonna und auf der langen Straße, die von ihr bis zu dem Aussichtspunkte führt, von welchem aus man in die Felder und auf die Hügel von Castel Fidardo schaut, war freilich noch keine Erholung von den widerlichen Eindrücken zu finden. Da waren gepuderte Damen, die zum Fenster herausschauten, numerirte Bettler mit Blechtafeln und unnumerirte Wegelagerer, schwarze Säue, die sich herumtummelten, und ein Geruch, daß ich es begriffen hätte, wenn die Madonna mit ihrem Hause vor meinen Augen durch die hohen Lüfte davon geflogen wäre.

Mich ekelte dieses ganze Treiben an, und ich ging wieder hinaus in die helle Nacht. Man bemerkt in dem heutigen Leben wohl die treibende Kraft einer neuen Zeit, die sich dem Lichte zuwendet, aber die Gründe sehen noch todt aus. Noch immer läuft die Menschheit lieber den Ampeln in dunkeln Zauberkammern nach, als dem Glanze des großen Gestirns. Ich hatte mir vorgenommen, [638] noch einmal in das heilige Haus hineinzugehen und die „Schatzkammer“ und Aehnliches zu betrachten. Aber an diesem hellen Abende wurde es mir unmöglich. Und wie einst die Meerwalachen, nachdem das Haus über’s Meer gewandert war, herüberpilgernd riefen: „O Madonna, kehre bei uns ein!“ so sendete ich gleichartige Wünsche der Sonne nach, die mir als Sinnbild einer kommenden Zeit heute zu früh hinter dem blauen Apennin verschwand.




Blätter und Blüthen.


Missionswesen. Wir erhalten vom Cap der guten Hoffnung folgende Zuschrift eines dort lebenden Landsmanns:

Capstadt, 8. August 1873.
An die Redaction der „Gartenlaube“.

Es giebt leider noch viele Menschen in Deutschland, welche aus Unkenntniß der Sache nichts Besseres mit ihrem Gelde anzufangen wissen, als es an Missionsgesellschaften zu geben; Schillinge und Pfennige wandern in die Welt hinaus, um „Heiden zu bekehren“, aber das Elend zu Hause wird darüber vergessen. Wie thöricht dieses Verfahren ist, das sieht man nirgends besser, als in dem nicht fern von hier liegenden Natal, wo ich mich ein paar Jahre lang aufgehalten habe. – Der Zulu-Kaffer, so lange er nicht „bekehrt“ ist, besitzt alle die Tugenden, welche wir oft bei Weißen entbehren: er ist grundehrlich, wahrheitsliebend, streng sittlich, obgleich er nackt ist, sehr stolz auf seine Würde als Zulu, und von feinem Ehrgefühl. Dabei ist er kindlich vergnügt und friedfertig, und einem nackten Kaffer kann man unbedingt Vertrauen schenken. – Sobald er aber bekleidet, das heißt christianisirt ist – denn weiter als auf die Kleidung erstreckt sich die Bekehrung nicht – verliert er in der Regel alle die guten Eigenschaften und schlägt um in das gerade Gegentheil. Das wissen auch die Leute in Natal sehr genau, und sogar diejenigen, welche zu den Frommen zählen, und demnach conventioneller Weise das Missionswesen beschützen müssen, sehen sich sehr vor, einen christianisirten Kaffer in den Dienst zu nehmen, und ziehen stets sogenannte „rohe Kaffern“ vor.

Ich weiß, daß die „Gartenlaube“ Alles thut für die „innere Mission“, das heißt für die wahre innere Mission, indem sie Wahrheit und Licht zu Tage fördert, wo sie es kann, und ich würde Ihnen daher schon längst Einiges über den Gegenstand dieses Briefes mitgetheilt haben, wenn ich nicht gewünscht hätte, Ihnen schlagende Beweise zu senden. Ohne die glaubt man zu Hause doch nicht an die glaubwürdigsten Dinge, und eine ganze Masse Menschen thut’s auch überhaupt nicht.

Ich erlaube mir nun, Ihnen eine Zeitung von Natal („Natal Mercury“) vom 24. Juli zu senden, in welcher ich Sie besonders auf die mitgetheilte Stelle aus der Rede des Bischofs Kolenso aufmerksam mache. Ueber denselben brauche ich wohl kaum irgend etwas hinzuzufügen; sein Name ist nicht in Südafrika allein, sondern auch in Europa rühmlichst bekannt, und es unterliegt keinem Zweifel, daß er zu den allergescheidtesten und aufgeklärtesten Mitgliedern der englischen Kirche gezählt werden muß. – Um den Missionaren volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, möchte ich noch hinzufügen, daß sie allerdings um Sprachforschungen sich wohl überall sehr verdient gemacht haben. Indessen ist dies doch wohl nicht der eigentliche Zweck, weswegen sie Gelder sammeln und in die Welt geschickt werden.

Ich hoffe, mein kleiner Beitrag ist Ihnen willkommen für Ihr Blatt und zeichne mich hochachtungsvoll

W. S.

Der Auszug aus der Rede des Bischof Kolenso lautet:

„Alle diese Missionen wirken nur an den Grenzlinien unserer eingeborenen Bevölkerung. Wir müssen unsere Schulen in die Mitte der Stämme verlegen, unter die Augen der Häuptlinge, und sie unter den Schutz des obersten Häuptlings stellen. Nicht nur auf das gewöhnliche Lernen, sondern hauptsächlich auf industrielle Fertigkeiten soll sich der Unterricht erstrecken. Ich fürchte, daß, wenn wir die Erziehung des Kopfes zu sehr bevorzugen und die der Hand darüber vernachlässigen, die Sorge für ihren Unterhalt uns große Schwierigkeiten machen wird. Zur Erläuterung will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, welche in einem Nachbarlande (Zanzibar) stattfand, das vor Kurzem noch an dem Betrieb des Sclavenhandels thätigen Antheil nahm.

Es giebt dort eine Erziehungsanstalt unter dem Schutze der Kirche von England, wo die jungen Bursche mit viel Mühe und Zwang so weit dressirt werden, als es ihr Kopf nur erlaubt. Fünf von ihnen, welche man für genügend unterrichtet hielt, um das Licht, welches sie empfangen, unter ihren dunkeln Mitbrüdern weiter zu verbreiten, wurden auf das Festland hinüber gebracht, um dort als Missionäre zu wirken. Nach einiger Zeit erfuhr man zum größten Schrecken der Mission, daß die fünf Bursche in die Sclaverei verkauft worden, und nach weiteren Nachforschungen stellte sich heraus, daß die missionare Erziehung so herrliche Früchte getragen hatte, indem die zwei älteren Katecheten ihre jüngeren Collegen verkauft hatten. (Großes Gelächter.)

Nun, ich glaube, daß unsere Schulen hier derart sein müssen, daß sie unsere Eingeborenen anleiten, fleißig und ehrlich zu sein, die Wahrheit zu reden, einander freundlich und gutherzig zu begegnen, den Gesetzen zu gehorchen und die Regierung zu achten, und wenn wir diese Erfolge erzielen, so glaube ich, daß wir noch etwas mehr gethan haben, als wenn wir ihnen nur die ersten Anfangsgründe des Christenthums beibringen, denn Leute von solchem Charakter sind gewiß nicht fern vom Reiche Gottes – näher vielleicht als Diejenigen, welche durch ihr Geschrei und Toben die Ruhe unserer Stadt störten.“ (Bezieht sich auf Ruhestörungen, welche von den frommen Besuchern einer Capelle in den anstoßenden Straßen verübt wurden.)



Kleiner Briefkasten.


Antwort auf vielfache Anfragen, betreffend Nicol’sches Prisma und Crythroskop. Anläßlich meines Aufsatzes über die Farben der Landschaft in Nr. 33 der Gartenlaube sind eine Reihe von Anfragen über die Bezugsquellen der darin erwähnten Vorrichtungen an die Redaction gelangt, auf die ich Nachstehendes zu erwidern habe. Das Nicol’sche Prisma ist durch jedes größere Geschäft für physikalische und optische Instrumente zu beziehen, in Berlin zum Beispiel durch die Firma Rohrbeck, Neustraße. Der Preis wird sich auf drei bis zehn Thaler stellen. Das Crythroskop ist in zweierlei Combinationen für einen halben Thaler von Herrn Optiker Immisch in Görlitz zu beziehen, die beide einen sehr schönen Effect gehen. Der von ihm als Crystrophytoskop I bezeichnete Apparat zeigt das Pflanzenlaub korallenroth, Nr. II carminroth. Wer nur eines wählen will, möge das Erstere vorziehen. Die von Herrn Immisch als Crythroskop und Melanoskop bezeichneten Instrumente sind weniger effectvoll. Im Uebrigen kann sich Jeder die erstgenannte Vorrichtung selber anfertigen, wenn er zwei dunkelblaue Kobaltgläser mit zwei dazu passenden gelben Eisengläsern (wie sie sich in jeder Glaserwerkstätte finden werden) in einem brillenartigen Pappgestell, welches das Seitenlicht abhält, anbringt. Als ich mich mit dieser Zusammenstellung beschäftigte, hat sich mir eine bisher noch nirgend beschriebene Combination ergeben, die ohne Zweifel von allen genannten die merkwürdigste ist. Wenn man nämlich verschieden intensiv gefärbte Stücke von Kobaltglas mit goldgelbem Eisenglase vereinigt, so findet man bald eine mittlere Nüance, welche mehr gelbgrüne Strahlen hindurchläßt, als die zum Crythroskop geeignetste. Das Pflanzengrün sieht, durch dieselbe betrachtet, nicht korallenroth, sondern schmutzig leberbraun aus. Eine aus solchen sorgfältig gewählten Gläsern gefertigte Brille verwandelt die im lachendsten Grüne prangende Landschaft (welche von der Sonne beschienen sein muß) sofort in ein Spätherbstbild mit gänzlich fahlem, entfärbtem Laube, wobei indessen verschiedene gelbliche und röthliche Töne gerade wie in der Natur hervortreten. Dabei zeichnet sich mein Herbstglas noch ganz besonders dadurch aus, daß die Farben aller übrigen Gegenstände fast gar nicht verändert werden; der Himmel erscheint blau, die Wolken weiß, die Erde grau, die Blumen in ihren natürlichen Farben; solche Verwandlung eines Frühlingsbildes in ein Herbstbild geschieht wie durch plötzlichen Zauber.
Carus Sterne.




Habsburg und Hohenzollern.
Zum neunundzwanzigsten September.[3]


Sechshundert Jahr’ ist’s heut! Ein Hohenzoller,
Held Friedrich, Nürnbergs Burggraf, kündet laut:
„Habsburg, Dir ist die Krone anvertraut,
Wie keine aller Lande ehrenvoller!“ –

5
Sechshundert Jahr’! Ein Feind, ein ehrentoller,

Wie grimmig er an’s alte Reichsthor haut!
Da bändigt ihn und züchtigt ihn und baut
Sich einen Kaiserthron ein Hohenzoller.

Zwei Kaiserstädte! Traun, ein kühnes Wagen!

10
Im Süden, stolz des alten Purpurs, Wien,

Im Norden, stramm im Jugendschmuck, Berlin –

Und doch, es ist kein Trug in diesen Tagen:
Zu solcher Höh’ ist deutsche Kraft gediehn –
Fürwahr – sie kann zwei Kaiserkronen tragen!

Fr. Hfm.




Nicht zu übersehen!
Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.


Außer dem Schluß der Erzählung von Lienhardt: „Künstler und Fürstenkind“, erscheinen im nächsten Quartale noch:
Erzählungen von L. Schücking und A. Godin.

Aus der Reihe der unterhaltenden und belehrenden Artikel heben wir hervor: „Aus den amerikanischen Gefängnissen“, von Franz von Holtzendorff. – „Vor fünfundzwanzig Jahren in Frankfurt a. M.“ – „Eine deutsche Malerherberge im Sabinergebirge“ und „Der Eingekerkerte von Hohen-Urach.“

Die Redaction.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Redacteur der Gartenlaube, der vierunddreißig Jahre inniger Freundschaft mit Ferdinand Stolle verlebt hat, behält es sich vor, binnen Kurzem noch einige weitere Erinnerungen an den Heimgegangenen folgen zu lassen.
    D. Red.
  2. Obwohl Schilderungen von Hof- und diplomatischen Festen nicht zu den Aufgaben der Gartenlaube gehören, so glauben wir doch, daß es unsern Lesern Vergnügen bereiten wird, an der Hand unseres geistvollen Mitarbeiters Georg Horn, dessen vortreffliche Kriegsberichte noch in gutem Andenken stehen, einmal ausnahmsweise durch die Säle einer Weltausstellung von Fürstlichkeiten und Diplomaten zu flaniren.
    D. Red.
  3. Am 29. September 1873 sind sechshundert Jahre vergangen, seit Rudolf von Habsburg zum deutschen Kaiser gewählt wurde und der Hohenzoller, Burggraf Friedrich von Nürnberg, die Wahl betrieb und dem Gewählten zuerst verkündete.