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Die Gartenlaube (1872)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[349]

No. 22.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Diamanten der Großmutter.

Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Miß Ellen zuckte mit den Lippen und sah Max mit einem wie strafenden Blick an; sie schien die leichte Unbefangenheit, womit der Fremde sie anredete, anstößig zu finden!

Valentine mochte dies amüsiren – sie sagte lächelnd: „Es kann doch kein neutraleres Gespräch geben als das über die fünf Sinne. Also fahren wir darin fort. Wir sprachen von Gesicht und Gehör und kommen jetzt zum Gefühl – Deutschland ist das Land des Gefühls, des Gemüths, der Sentimentalität. … Die Herren müssen uns sehr Tiefsinniges und Neues darüber sagen können – über dies deutsche Gefühl von Gußstahl,“ setzte sie mit einer plötzlichen Bitterkeit hinzu.

„Wenn das deutsche Gefühl so gepanzert ist, weshalb es dann herausfordern? Mit Menschen von solchem Gemüth hält man Frieden!“ versetzte Max.

„Wir haben uns eben darin getäuscht – wir haben geglaubt, die jungen Mädchen drüben seien alle Gretchen und die jungen Männer lauter Werther.“

„Und Sie beachteten nicht,“ fiel hier Hartig ein, „daß Werther doch zuweilen und – gut mit Pulver und Blei umzugehen verstand!“

Hartig’s Weise, so etwas vorzubringen, hatte eine gewisse trockene Komik; der mordschlechte Accent, womit er Französisch sprach, mochte hinzukommen, Fräulein Valentine lachen zu machen, selbst Miß Ellen verzog ihre Lippen zum Lächeln.

„Freilich, wir haben das nicht beachtet,“ entgegnete Valentine dann, „und vieles Andere nicht – zum Beispiel daß Ihr anderer Typus deutschen Wesens, der Faust, so brutal den Bruder Gretchens ermordet und nie ausgeht, ohne – den Teufel neben sich zu haben.“

„Und seitdem sehen Sie hinter jedem Deutschen etwas vom Mephisto stehen?“

„O nein, seitdem bedürfen die Deutschen eines solchen Mentors nicht mehr! Seine Lehren sind auf viel zu guten Grund gefallen.“

„Und doch möchte ich ihn jetzt anrufen, wie mein Namensvetter im Freischütz, um mir Ihre bösen Reden widerlegen zu helfen!“

„Sie haben ja Ihren Freund!“ antwortete Valentine, mit einem etwas spöttischen Blick Hartig streifend.

„Im Krieg mit jungen Damen zieht man nicht gern seine Freunde zu Hülfe – das ist eine Hauptregel in diesem ewigen Kampfe der beiden Geschlechter widereinander.“

„Leben sie im Kampfe?“

„Gewiß – anfangs, weil sie sich nicht verstehen, und dann im Aerger des Bewußtseins, unausbleiblich einmal vor einem der Feinde die Waffen strecken zu müssen und von ihm schwach gefunden zu werden!“

„Ah, welche deutsche Idee!“ rief Valentine aus. „Also auch die Liebe trägt in Deutschland die Pickelhaube?“

„Wie bei den Griechen Eros den Helm. Und überall. Unser Planet hat seine Bahn angewiesen erhalten zwischen Venus und – Mars! Das ist sein altes Schicksal. Wird die Liebe wie ein Carnevalscherz betrieben, in dem man sich voreinander maskirt und sich nur Bouquets und Süßigkeiten zuwirft, so kommt der Kampf später, in der Ehe –“

„Wo er dann schlimmer ist,“ warf hier Hartig dazwischen, „wegen der größeren Nähe der Positionen, die unterdeß eingenommen sind.“ …

Die trockene Weise Hartig’s und sein humoristisches Mienenspiel bei dieser Bemerkung weckte wieder das Lächeln der beiden Damen – einer Antwort wurden sie überhoben, denn Herr d’Avelon trat in diesem Augenblick auf die Terrasse, von dem Herrn, der ihn aufgesucht hatte, begleitet. Er war im grauen Sommerrock und weißen Strohhut, sein geröthetes Gesicht deutete darauf, daß er eben von einer ländlichen Arbeit kam; auch nahm er ein großes offenes Gartenmesser in die Linke, um die Rechte sogleich den beiden jungen Leuten zu bieten. Er bewillkommnete sie mit großer Zuvorkommenheit, bat Miß Ellen für Erfrischungen zu sorgen und nach dem Diner zu sehen, daß es mit Rücksicht auf die Gäste arrangirt werde; geschäftig holte er selbst Cigarren herbei, und nachdem er den jüngeren Herrn als seinen Freund Gaston de Ribeaupierre vorgestellt, begann er die Unterhaltung mit Fragen nach den neuesten politischen Nachrichten, welche die Officiere brächten.

„Das muß erst abgethan sein,“ sagte er, „damit man ruhiger zu anderen Gegenständen übergehen kann – und deren haben wir noch viele zu verhandeln; ich hoffe, die fremden Herren machen mir das Vergnügen, ihnen mein Gut, den Betrieb der Landwirthschaft hier in unserem Vogesendepartement zeigen zu dürfen … sie werden Vieles, sehr Vieles anders und auch besser finden, als man es in Deutschland macht. Also zuerst: Sie bringen uns keine Nachrichten von neuen deutschen Siegen?“

„Müssen es denn gerade immer deutsche Siege sein?“ sagte Gaston de Ribeaupierre scharf.

[350] Herr d’Avelon zuckte die Achseln.

„Mein lieber Gaston, was wollen Sie?“ erwiderte er, „Sie müssen einräumen, daß es bisher so ziemlich immer deutsche Siege waren. Sie kennen meine Ansichten darüber, ich halte nicht damit hinter dem Berge, auch bei diesen deutschen Herren nicht; sie werden siegen, die Deutschen, und wir, die Franzosen, werden erliegen trotz aller schönen Reden in den Journalen. Sie kennen die Geschichte nicht, diese Schönredner. Die Franzosen haben einmal große Dinge vollbracht; sie haben einmal einen Italiener in Sold – freilich sehr schweren Sold – genommen, ein Feldherrngenie, wie nie ein größeres war, und das hat ihnen zum Vergnügen die durch und durch morsche, faule, erbärmliche Welt ihrer Nachbarn über den Haufen gestoßen. Seitdem ist das Dogma entstanden, der Franzose sei der erste Soldat der Welt! Und ich, ich sage Ihnen, die Franzosen sind gar keine kriegerische Nation – sie waren es nie und sind es heute nicht. Die Geschichte Frankreichs ist eine Geschichte großer verlorener Schlachten. Von Poitiers und Crecy bis auf Pavia, bis auf Ramillies und Malplaquet, bis auf Minden und Roßbach, bis auf Vittoria und Waterloo, bis auf Wörth und Sedan – welche Niederlagen! Kommen, wenn Sie den ersten Napoleon aus dem Spiele lassen, ihre Siege an weltgeschichtlicher Bedeutung dagegen auf? … Wahrhaftig nicht!“

„Ah – welche paradoxe Behauptung!“ sagte mit einem spöttischen Lächeln Gaston. „Sie behaupten auch, die Deutschen hätten ursprünglich alle Erfindungen gemacht … der Sieg, ist das ebenfalls eine deutsche Erfindung?“ …

„Ich behaupte nur,“ erwiderte d’Avelon achselzuckend, „daß die Nation keine kriegerische sei und in diesem Punkte der deutschen nicht gewachsen …“

„Wenn ich meine Ansicht darüber aussprechen darf,“ fiel hier Max ein, „so dürfen Sie sich dawider nicht auflehnen, wenn Sie die Franzosen eine chevalereske Nation nennen – und diese Eigenschaft werden Sie gewiß in Anspruch nehmen!“

„Heißt chevaleresk denn nicht tapfer?“ rief hier Fräulein Valentine aus.

„Chevaleresk, mein Fräulein, heißt ritterlich. Diese Ritterlichkeit, dies Ritterthum ist am gründlichsten und ausschließlichsten in Frankreich durchgeführt, der Feudalismus hat nirgends unumschränkter geherrscht. Eine der liebenswürdigsten und segensreichsten Seiten dieses Feudalismus aber war es, daß er jeden Roturier (Unadeligen), jeden Vilain auf den Kopf schlug, der es wagte, die Waffe zu führen. Dadurch ist das Volk unkriegerisch geworden …“

„Und war das in Deutschland anders?“ fragte jetzt Gaston, zum ersten Male das Wort direct an Max richtend.

„Leider nicht so viel, wie ich gewünscht hätte. Auch bei uns erdrückte der Feudalismus die Wehrhaftigkeit des Volkes. Einen Rest von der feudalen Ansicht, daß das Volk kein Waffenrecht habe, den Boden des Vaterlandes nicht Jedermann vertheidigen dürfe, finden Sie noch in unserer mir gehässigen Sitte, jeden Franctireur, den wir fangen, zu erschießen. … Aber es war nicht so schlimm in unserem Lande wie in Frankreich, unser Volk hielt seine Rechte, seine Sitten, seine Wehrhaftigkeit zäher fest, es konnten in Deutschland große Bauernkriege entstehen, unser Bürgerthum entwickelte sich trotziger, ungezähmter, selbstbewußter – unser Adel selbst wurde nicht durch einen Richelieu und Ludwig den Vierzehnten überall zum zahmen Hofgesinde dressirt – kurz …“

„Wir Wilden sind doch bessere Menschen!“ unterbrach ihn Hartig auf Deutsch.

Gaston de Ribeaupierre zuckte zu dem Allen nur in einer nicht sehr höflichen Weise die Achseln. Herr d’Avelon nickte aber mit dem Kopfe dabei und erwiderte:

„Darin mag allerlei Wahres liegen; Sie müssen aber Frankreich den Ruhm lassen, daß es diesen mörderischen Feudalismus zuerst gebrochen und damit gründlich aufgeräumt hat; er ist hier mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Sie in Deutschland haben noch einen ganzen Wust dieses mittelalterlichen Unsinns auf sich lasten, Majorate, Fideicommisse, Lehne etc., all diese heillosen Einrichtungen, die Gott verdammen möge, unter denen ganze Geschlechter zu Grunde gehen und die Einzelnen verderben. …“

Herr d’Avelon sprach das mit einer Bitterkeit, einer plötzlichen Erregtheit, die Max betroffen zu ihm aufschauen machte.

Was hatte der Mann? Weshalb starrte er jetzt mit diesem seltsamen Ausdrucke, mit einer Miene wie starren Schreckens die Karte an, die Max Gaston übergeben, die dieser auf den Tisch gelegt und die d’Avelon, während er die letzten Worte sprach, wie zerstreut an sich genommen, so daß erst jetzt sein Blick darauf fiel? Was lag Schreckliches für ihn in dem harmlosen Namen Max von Daveland? Denn etwas Schreckliches mußte es sein. Seine Hand zitterte, als sie die Karte fallen ließ, ein fahles Bleich fuhr über seine Züge. … Max allein sah es, da die Augen der Uebrigen, seine Antwort erwartend, sämmtlich auf ihn, auf Max, gerichtet waren – sie richteten ihre Aufmerksamkeit erst auf den Hausherrn als dieser sich rasch erhob und – Max sah, wie sein Schritt wankte – durch die nahe offene Glasthür, die aus dem Hause auf die Terrasse führte, verschwand.

Valentine nahm, da in seinem Fortgehen, vielleicht um etwas herbeizuholen nichts Auffallendes lag, ruhig die Unterhaltung wieder auf; sie führte sie in dem Tone einer gewissen spöttischen Ueberlegenheit, wie sie ihn schon früher angeschlagen, weiter … es schien überhaupt eine gewisse Dosis von Uebermuth in Valentine zu stecken, wenigstens das Selbstbewußtsein, das sich ungezwungen, natürlich gehen läßt. Sie schien eine andere Erziehung gehabt zu haben als die zu frommer Blumenhaftigkeit angeleiteten französischen jungen Mädchen der höheren Stände, die schweigsamen Musterbilder der klösterlichen Pensionaterziehung. Ihre großen fragenden Augen blickten völlig unbefangen Daveland an. Wenn sie ihr reiches gekräuseltes und dichtgewellt in den Nacken hängendes Haar mit der Hand zurückwarf, so geschah dies mit einer natürlichen Anmuth, in einer Weise, die verrieth, daß sie durchaus nicht daran dachte, beobachtet zu sein, und jetzt es graciöser anstellte, als wenn sie allein gewesen. Max Daveland fand sie entzückend; je länger er sie ansah, desto tiefer fühlte er den verhängnißvollen „Strahl“ dringen – aber auch, daß er ihrem leichten Spott gegenüber bis jetzt nicht die wünschenswerthe „strategische Position“ gewonnen. Mit desto größerem Eifer führte er das Gespräch fort, mit dem demüthigenden Bewußtsein, daß er ein wenig Pedant dabei scheinen werde – es war so schwer, solch einer Französin gegenüber mit der Gabe leichter Conversation zu glänzen, die wahrscheinlich allein Geltung bei ihr hatte.

Im Innern des Hauses hatte unterdeß Miß Ellen, im Begriff, zur Terrasse zurückzukehren, den Salon betreten. Zu ihrer Ueberraschung sah sie d’Avelon im Hintergrunde in einem Fauteuil zusammengesunken und starr den Boden vor sich anblickend. Mit raschen Schritten war sie neben ihm, und vertraulich ihre Hand auf seine Stirn legend, rief sie leise:

„Um Gotteswillen, mein Freund, was ist Ihnen? Sie sehen bleich aus wie der Tod! Sie sind unwohl geworden?“

„Nein, nein, nein,“ versetzte d’Avelon, ihre Hand abschüttelnd und wie nach Athem ringend. „Lassen Sie mich, Ellen! Gehen Sie, gehen Sie – aber in der That, ich bin unwohl – es wird vorübergehen – gewiß, sogleich – nur – senden Sie mir um Gotteswillen diese Deutschen fort – unter einem guten Grunde – lassen Sie sie abziehen – sogleich, sogleich – nein, nein, hören Sie, nicht das, nicht das. …“

Ellen stand verwundert, erschrocken vor ihm und hörte diese widersprechenden Befehle an.

„Gehen Sie,“ fuhr er wie sich mit Gewalt fassend fort, „und bringen Sie heraus, aus welcher Gegend Deutschlands sie sind – behutsam – discret, und dann, dann sagen Sie es mir – sagen es mir sogleich, aber behutsam, ohne daß Ihr Kommen und Gehen auffällt … wollen Sie?“

„Ich gehe – aber weshalb sagen Sie mir nicht, was Ihnen ist – ob Sie krank sind? …“

„Ich bin nicht krank – beruhigen Sie sich – ich fühlte ein wenig Schwindel – es ist vorüber, ganz vorüber; bemühen Sie sich nicht, ängstigen Sie sich nicht, ich werde selber gehen – kommen Sie … schweigen Sie …“

Er sprang auf, fuhr mit der Hand über die Stirn, machte eine Bewegung, als ob er etwas abschütteln wolle, und schritt dann, nur hastiger als gewöhnlich, zum Salon hinaus, auf die Terrasse.

Miß Ellen sah ihm mit der Miene der äußersten Ueberraschung nach und folgte ihm dann.

[351] Als Herr d’Avelon seinen Platz an dem runden Tische wieder einnahm, war hier eben eine Pause in dem Gespräch eingetreten. Max sah sehr zerstreut und wie in Gedanken verloren auf die ruhig an ihrer Stickerei arbeitenden Hände Valentinens; Hartig musterte sein Gegenüber, den Herrn Gaston de Ribeaupierre, der sein hübsches und nur ein wenig verlebtes Gesicht von ihm abgewandt hielt und blasirte Blicke über den unter ihnen liegenden Garten schweifen ließ – er gestand sich, daß er von diesem Herrn Gaston keinen sehr günstigen Eindruck erhalte; der kaum dreißig Jahre zählende junge Mann hatte etwas Weltmüdes und dabei Grämliches, vielleicht Tückisches in den kleinen Fältchen um die Nasenwurzel herum, das keineswegs für ihn einnahm. Der Hausherr warf, als er sich gesetzt, verstohlen einen prüfenden Blick auf die Anwesenden: weder sein Fortgehen noch sein Aussehen schien aufgefallen zu sein; wie beruhigt legte er sich in seinen Sessel zurück und es klang ganz unbefangen, als er nach einer kleinen Pause, den Kopf halb abwendend, so daß er den beobachtenden Augen Ellen’s, die neben ihm Platz genommen, entging, fragte:

„Die Herren haben uns noch nicht gesagt, aus welchem Theile Deutschlands Sie sind … Sie tragen preußische Uniform … aber Preußen ist heute so groß …“

„Ich bin aus Königsberg – weit hinten aus dem echten Preußenlande,“ fiel Max rasch ein – „mein Herr Camerad hier ist sogar der russischen Grenze ziemlich nahe geboren, in Tilsit … wir nehmen Beide dort bürgerliche Stellen ein, mein Camerad ist Schulmann und ich bin der Verwalter eines Amtes in der Administration der Provinz.“

Hartig blickte Max bei dieser Erklärung höchst überrascht an, aber ein bedeutungsvoller, sogar ein wenig drohender Blick, den er von seinem Gefährten erhielt, schloß ihm den Mund … er begann sehr eifrig an der Spitze seiner Cigarre zu wickeln.

„Aber Sie heißen Daveland; ich denke, ich habe Rheinländer gekannt, die diesen Namen trugen?“ fragte d’Avelon still aufathmend weiter.

„Wohl möglich,“ versetzte Max; „ich habe gehört, daß es in der Wesergegend eine Familie des Namens geben soll, mit der die meinige jedoch in keiner Beziehung steht. In alten Zeiten mögen sie zusammengehangen haben … Sie wissen, von jenen westlichen Gegenden Deutschlands aus ist unser ferner Osten in den Zeiten des deutschen Ritterordens bevölkert worden …“

Max Daveland hatte diese Antwort mit derselben Unbefangenheit gegeben, womit Herr d’Avelon anscheinend seine Fragen gestellt. Miß Ellen allein bemerkte an den Zügen des Hausherrn, daß die Worte des fremden Officiers eigenthümlich aufhellend und wie den Druck einer höchst peinlichen Spannung lösend auf ihn gewirkt hatten. Seine Stimme nahm einen hellen, wie freudigen Ton an. Er forderte seine Gäste auf, ihm, bis das Diner servirt sei, auf einem Rundgange durch seine Besitzung zu folgen Seine Besitzung sei sein Stolz, sagte er, er habe sie selber erworben, ja halb selber geschaffen, und seine Gäste entgingen nun einmal dem Schicksal, sie bewundern zu müssen, nicht. – Die Treppe zum Garten schritt er dann mit ihnen so fest und selbstsicher und unbefangen sprechend hinab, daß Miß Ellen ihm höchst erstaunt nachblickte.

Auch Herr Gaston von Ribeaupierre blickte ihnen nach, allen Dreien mit einem keineswegs wohlwollenden Blick.

„Welche Idee,“ flüsterte er dabei sehr ingrimmig, „uns diese widerwärtigen Deutschen auf den Hals zu ziehen!“

„Es ist weniger eine Idee, als ein Ungeschick, was sie uns hergezogen hat, Herr von Ribeaupierre,“ antwortete Valentine ein wenig spitz.

„Wissen Sie das so sicher, daß es ein Ungeschick war, Fräulein Valentine?“

„Ich denke, Sie werden sich gehütet haben, geflissentlich und wie ein Gamin Einen dieser Deutschen zu beleidigen, die jetzt die Herren hier im Lande sind.“

„Sie sind sehr bereitwillig, diese Herrschaft anzuerkennen, Valentine,“ versetzte Gaston geärgert.

„Was kann man an Thatsachen ändern – selbst Ihr tapferes Corps Neufchateauscher Franctireurs ist nicht dazu im Stande, Monsieur Gaston!“ lautete die spitz gegebene Antwort.

„Wir werden dies abwarten, bis das Corps organisirt ist und sich mit denen von Langres verbunden hat … aber freilich, Ihr Vater ist der Ansicht, daß die Franzosen nur zu Niederlagen prädestinirt sind.“ … Gaston lachte bitter auf. „Wir sind zu chevaleresk, um tapfer zu sein!“ setzte er hinzu.

„Das ist freilich ein Vorwurf, dessen Lächerlichkeit schon durch Ihr Benehmen gegen unsere Gäste bewiesen wird.“

„Ich finde eben, daß Ihr Benehmen gegen Ihre Gäste meinen Beitrag von Höflichkeit völlig überflüssig macht. … Sie leisten das Menschenmögliche darin!“

„Mein Gott, Eure ewigen kleinen Gezänke!“ fiel hier Miß Ellen ein, „Du hörst doch, Valentine, aus Herrn von Ribeaupierre redet nur ein Anfall von Eifersucht!“

Valentine zuckte die Schultern und schwieg. Gaston v. Ribeaupierre fand es ebenfalls nicht der Mühe werth, zu antworten. Er stand auf und schlenderte eine Weile die Terrasse auf und ab. Dann verschwand er im Innern des Hauses.

Die beiden Damen hatten unterdeß schweigend ihre Arbeit gefördert. Als Gaston nicht mehr in ihrer Nähe war, sagte Miß Ellen mit einem forschenden Blick auf Valentine:

„Dein Vater wird sich einmal wieder im Deutschreden üben können, jetzt, wo er mit den Herren allein ist! Er muß doch recht lange in Deutschland gewesen sein, um es so gut und so gern zu sprechen?“

„Ein paar Jahre, denk’ ich,“ versetzte Valentine zerstreut. „Seine Vormünder haben ihn hingeschickt, um auf einer landwirthschaftlichen Schule dort den Ackerbau zu studiren.“

„In Deutschland? Seltsam – so viel ich weiß, ist man darin in Belgien viel weiter – auch in England.“ …

„Möglich – aber die Wissenschaft der Sache wird vielleicht in Deutschland besser gelehrt.“

Miß Ellen schwieg eine Weile nachdenklich. Dann hub sie wieder an:

„Und er hat nie irgend etwas verrathen über ein merkwürdiges Erlebniß, eine bedeutungsvolle Erinnerung, welche sich für ihn an Deutschland knüpft?“

Valentine sah fragend zu Miß Ellen auf.

„Wie kommst Du darauf, Ellen?“

„Ich meine nur. Ich glaube, diese deutschen Officiere haben in ihm etwas wachgerufen, ihn an etwas erinnert, was nicht sehr erfreulicher Natur sein muß … seine Erkundigung nach der Herkunft dieses Herrn von Daveland war nicht so unbefangen, wie sie scheinen sollte, aber die Antwort offenbar beruhigend für ihn. Ich würde mich nicht wundern, wenn es zu Tage käme, er hätte in Deutschland ein Fräulein von Daveland geliebt, eine Frau des Namens entführt oder einen Herrn Daveland im Duell erschossen.“ …

„Ach – wie Deine Phantasie arbeitet!“ lächelte Valentine. „Frag’ ihn doch, er hat vor Dir keine Geheimnisse!“ setzte sie mit einem leisen Aufzucken der Lippen, das entweder schmerzlich oder neckend war, hinzu.

„Er hat Eins!“ erwiderte Miß Ellen, gedankenvoll sich über ihre Arbeit beugend.

Ein Diener kam aus dem Salon und brachte eine Botschaft von Herrn Gaston v. Ribeaupierre. Herr Gaston lasse sich bei den Damen entschuldigen, er habe sich eines dringenden Geschäfts, das ihn daheim erwarte, erinnert und sei deshalb nach Hause geritten.

„Ah, desto besser!“ sagte, als der Diener gegangen war, Valentine wie erleichtert aufathmend. „Er war sehr unliebenswürdig heute!“

Miß Ellen warf ihr einen halb verwunderten, halb strafenden Blick zu.

„Du mußt gestehen, daß Du ihn schlecht behandelt hast!“ sagte sie.

„Was schadet es – er kommt ja doch zurück!“ antwortete Valentine mit einem Seufzer.

Nach einer Weile kehrten Herr d’Avelon und seine Gäste vom Hofe her auf die Terrasse zurück. Sie sprachen Deutsch zusammen und waren in eifriger Unterhaltung; es war auffallend, wie gute Freunde der Hausherr und Max Daveland in der kurzen Zeit geworden; sie schienen in den wichtigsten Fragen des praktischen Lebens von einer merkwürdigen Uebereinstimmung; sie redeten von Communal-Verwaltung, von dem Einfluß des Schutzzollsystems, von der Arbeiterfrage und stets hatte der Eine den Grundsätzen des Anderen seine Billigung zu geben. Es war in [352] der That wunderbar, in welch gute Stimmung die Gelegenheit, sich deutsch zu unterhalten, den Hausherrn gesetzt haben mußte … wenn es nicht, wie sich im Stillen Miß Ellen sagte, die Erregung war, die eine glücklich vorübergegangene Gefahr oder ein Schrecken zurückläßt. Die Unterhaltung – jetzt wieder französisch – spann sich während des ganzen nun folgenden Diners, welches in einem einfachen Speisezimmer neben dem Salon gehalten wurde, so fort – viel zu lebhaft für Daveland’s Wünsche eigentlich, der so wenig Zeit dabei fand, sich zu seiner Nachbarin Valentine zu wenden. Desto aufmerksamer hörte diese seinen Reden zu; ihr anfänglicher Ton von spöttischer Ueberlegenheit war vollständig geschwunden, und Max, den ihre jetzt mit einem Ausdruck rückhaltlosen Wohlwollens auf ihn gerichteten Blicke zu elektrisiren schienen, sprach desto mehr, desto fließender und fesselnder.

„Wie gut und gewandt Sie französisch reden!“ sagte Herr d’Avelon mit einem wahren Blick der Zärtlichkeit.

„Finden Sie das? Ich muß Ihnen gestehen,“ versetzte Max, „daß mir heute beim Sprechen zu Muthe ist, wie einem Reiter, der lange gebraucht hat, um sich ein störriges Pferd zu unterwerfen, und plötzlich fühlt, daß er seiner völlig Herr geworden und nun eine Freude daran findet, es in allen möglichen Lançaden und Courbetten zu tummeln … Kunst ist Können, und das Bewußtsein des Könnens kommt uns immer nur in einem Augenblick der Inspiration. Mir wird dabei,“ setzte er, Valentine in’s Auge blickend, hinzu, „offenbar, weshalb man behauptet, daß jede Kunst ihre inspirirende Muse haben müsse.“

„Ah,“ fiel Valentine leicht erröthend ein, „was Sie da sprechen, ist nicht mehr gutes modernes Französisch, sondern Rococo, Siècle de Louis quinze, vollständig veraltet!“

„Möglich,“ antwortete Max heiter, „doch habe ich immer gefunden, daß das Französisch aus jener Zeit klarer, ehrlicher, verständlicher als das heutige ist – ich bitte also um Nachsicht, wenn ich wieder darein verfalle!“

„Doch muß die Mythologie ausgeschlossen bleiben,“ entgegnete Valentine.

„Apropos von Mythologie,“ fiel hier Herr d’Avelon ein „Sie haben sich gestern nach der Entfernung von Domremi erkundigt. Wir haben von hier nach Vaucouleurs noch eine, von dort nach Domremi vier Stunden. Wenn Sie einverstanden sind, werden wir Sie hinfahren.“

„Wir werden leider diese Güte ablehnen müssen,“ versetzte Hartig hier, „von Void aus betrüge also die Entfernung sechs Stunden – für eine so lange Tour würden wir keinen Urlaub erhalten.“

„Es wäre doch auch wohl nicht ohne Gefahr für die Herren,“ meinte Miß Ellen, „Sie wissen, daß Neufchateau, welches zu passiren wäre, von unseren Leuten besetzt ist …“

„Ah,“ rief der Hausherr achselzuckend aus, „von Franctireurs – ich denke, Gaston würde ein Wort mit ihnen reden können. Aber wenn es zu weit bis Domremi ist, so werden Sie wenigstens die Grotte der Jungfrau sehen wollen – die Grotte der Jungfrau ist nur eine Viertelstunde von hier entlegen …“

„Und was ist die Grotte der Jungfrau?“

„Eine in der That sehr sehenswerthe Höhle mit Stalaktitenbildung,“ antwortete Valentine; „im Hintergrunde, in großer Tiefe steht ein kleiner See, an den sich mancherlei Sagen des Landvolks knüpfen. Wenn man an bestimmten Tagen und Stunden Fragen da hinabruft, sollen Geisterstimmen Antwort geben und Jeanne d’Arc soll zu diesem Orakel der Tiefe gewandert sein und es befragt haben … es ist eine der Merkwürdigkeiten der Gegend, die Sie sehen müssen.“

„Ich wünsche nichts mehr als das – ich habe nie größeres Verlangen gefühlt, als eben jetzt einem Orakel eine Schicksalsfrage vorzulegen,“ rief Max aus.

„Wir werden Sie hinführen – die Grotte liegt auf einem Terrain, das zur Ferme des Auges gehört, und wir sind also die besten Führer,“ sagte d’Avelon.

„Für heute würde es zu spät sein – die Dämmerung ist da, und wir müssen heimkehren,“ fiel Hartig ein.

„So bleibt nichts übrig, als daß Sie morgen zu früherer Stunde zurückkehren, damit wir vor Tische den Spaziergang bis dahin machen. Versprechen Sie es, meine Herren?“

Max Daveland suchte Valentinens Auge und da er nichts als eine offene Einladung darin las, antwortete er: „Wenn ich nicht die Furcht hegte, durch solch eine rasche Wiederholung eines Besuchs Ihnen lästig zu werden, würde ich nichts lieber thun als dies Versprechen zu geben.“

„Es ist gegeben und angenommen,“ rief der Hausherr aus, indem er, da Miß Ellen, die überhaupt die Honneurs zu machen schien, eben die Tafel aufgehoben hatte, sich erhob und Max die Hand schüttelte.

Eine Viertelstunde später saßen unsere beiden jungen Männer wieder im Sattel und ritten aus der kleinen Landbucht der Ferme des Auges der Straße zu, welche als Sehne des weiten Bogens, den hier gen Nord-Osten hin die Maas schlägt, schnurgerade über einen Bergrücken nach Void führt. Hartig hatte längst, schon als sie den Hof hinter sich gehabt, ausgerufen:

„Aber nun, bei allen von Ihnen verrathenen Göttern der Cherusker, sagen Sie mir, weshalb haben Sie unser altes Sachsenblut verleugnet und diesen Franzosen vorgelogen, wir wären daheim da irgendwo ganz hinten in der Geographie?“

Max antwortete nicht gleich. Dann sagte er: „Wollen Sie mir versprechen, den Grund auf’s Tiefste verschwiegen zu halten?“

„Gewiß.“

„Nun wohl denn, so sollen Sie ihn einst erfahren. Heut kann ich Ihnen nur sagen, daß er mit einem kleinen und unscheinbaren Ringe in Verbindung steht, den ich am Finger von Fräulein Valentine erblickt habe.“

„Ach, wie geheimnißvoll das lautet … mit einem Ringe?“

„Mit einem Ringe!“


(Fortsetzung folgt.)




Untreue vor Gericht.

Von Hermann Oelschläger.

Wahrlich, weit ist’s nun gekommen,
Denn nun wirst Du vom Gericht
Selber in’s Gebet genommen
Und Du, Hans, Du schämst dich nicht?
Ist von Deiner Lieb’ und Treue
Dies der Schluß? Proceß und Streit?
Hans, zuletzt kommt doch die Reue,
Hans, ich bitt’ Dich, sei gescheidt.

Denk’ doch jener holden Stunde,
Da im blüthenreichen Hag
Die Geliebte Dir am Munde,
Weinend Dir am Herzen lag,
Sie, der längst auf Feld und Wiese
Du gefolgt warst; denn nicht gleich
Und nicht leicht ward Dein die Liese:
Sie war arm und stolz, Du reich.

Doch noch reicher sollst Du werden,
Deine Mutter weiß genau,
Müller’s Wittib sei auf Erden
Und für Dich die beste Frau.
Hier sei Alles zu gewinnen,
Ihr gehören Wald und Feld,
Ihre Schränke sind voll Linnen,
Und die Kasten sind voll Geld.

Daß sie schielt? Wie darf Dich kränken,
Was sie nicht verschuldet hat?
Daß sie keift? Geh’ in die Schenken,
Wie ihr erster Mann es that.
Und wie sparsam ist sie! Butter
Streicht sie nie auf’s Brod und drum
Dreht sie auch wie Deine Mutter
Jeden Groschen sechsmal um.

[353]

Das Heirathversprechen vor Gericht.
Originalzeichnung von Bernhard Woltze in Weimar.

[354]

Lockt Dich das? Sieh, wie die Alte
Ueberredend zu Dir spricht,
Daß Dein Herz nicht Treue halte!
Und wie leuchtet ihr Gesicht!
Haus und Mühle und Gesinde
Fällt Dir zu – da fliegt Dein Blick
Drüben zu dem bleichen Kinde
Mit dem traurigen Geschick.

Liebliche Gedanken neigen
Sich Dir zu in alter Huld –
Laß die Mutter! Heiß’ sie schweigen!
Ehrlich sühne Deine Schuld.
Horch, der Bote! Nun entschieden
Wird der Streit – Hans, hab’ Verstand!
Laß den Amtmann drin in Frieden
Und dem Mädchen reich’ die Hand.




Ueber den Kreislauf des Stoffes durch die drei Reiche der Natur.


Vortrag, gehalten den 19. März l. J. im Amphitheater seines physiologischen Privat-Laboratoriums zu Leipzig


von Prof. Joh. N. Czermak.


(Schluß.)


Die Thierwelt kann also nirgendwo anders als in den organischen Stoffen, welche die Pflanzen gebildet und aufgespeichert haben, das ihr unentbehrliche organische Stoff- oder Nahrungsmaterial finden – und wenn auch in den Säften und Geweben der Thiere eigenthümliche organische Stoffe enthalten sind, welche in den Pflanzen nicht vorkommen, so sind dieselben nicht etwa vom Thiere selbst aus unorganischen Elementen neugebildet worden, sondern nur Modificationen jener organischen Pflanzenstoffe, welche das Thier entweder unmittelbar in seiner Pflanzenkost aufgenommen hat, oder welche das Thier, wenn es, wie die reinen Fleischfresser – Löwen und Tiger z. B. – niemals Pflanzenkost genießt, mittelbar aus solcher erhält, indem es andere Thiere verzehrt, die entweder selbst Pflanzenfresser sind oder sich von Pflanzenfressern nähren.

Kurz also: das Thier entnimmt das ihm unentbehrliche organische Stoffmaterial in Form von Kohlehydraten, Fetten und Eiweißkörpern, mittelbar oder unmittelbar, somit letzten Endes immer nur der Pflanzenwelt.

Auch die unorganischen Stoffe, welche das Thier zur Erhaltung seines Lebens noch weiter bedarf – Wasser und Mineralsalze – findet es zum Theil ebenfalls schon in den Pflanzen, zum Theil eignet es sich dieselben unmittelbar aus der unorganischen Welt an. Unter diesen letzteren Stoffen ist es vor Allem der freie Sauerstoff, welchen das Thier als wichtigstes und unentbehrlichstes Lebenselement der Atmosphäre oder – wie alle im Wasser lebenden Thiere – der im Wasser absorbirten Luft vermittelst seiner Athmungsorgane unmittelbar entnimmt.

Der freie Sauerstoff dringt durch die Athmungsflächen in die Blut- oder Säftemasse des Thieres und wird im ganzen Körper desselben vertheilt; so gelangt er mit allen Bestandtheilen der lebenden thierischen Gewebe, so wie mit den durch die Verdauung modificirten und ebenfalls in und durch die circulirende Blut- und Säftemasse aufgenommenen und im ganzen Körper vertheilten Nahrungsstoffen in innige Berührung.

Die nothwendige Folge davon ist, daß im Thiere alle die organischen Substanzen, die es letzten Endes aus der Pflanzenwelt bezieht, einer langsamen Verbrennung, einer allmählichen Oxydation verfallen und, durch Spaltung in immer einfachere und höher oxydirte Verbindungen zerlegt, endlich die uns schon bekannten unorganischen Zerstörungsproducte der organischen Substanzen liefern, welche fortwährend an die Außenwelt abgegeben werden.

Wie die rasche künstliche Verbrennung und die träge verlaufende Fäulniß, so liefert der Lebensproceß selbst genau dieselben letzten Zersetzungs- oder Zerstörungsproducte unorganischer Natur – nämlich: Wasser, Kohlensäure, Ammoniak und Mineralsalze.

Das Thier scheidet in der That während seines lebendigen Bestehens ununterbrochen nebst Mineralsalzen Kohlensäure, Wasser und stickstoffhaltige, alsbald in Ammoniak und Kohlensäure zerfallende Zerstörungsproducte aus – und Sie erkennen, daß das Thier ein chemischer Apparat ist, welcher, im Gegensatze zur Pflanze, Sauerstoff verzehrt, und die organische Substanz durch die – der Desoxydation und Synthese entgegengesetzten – Vorgänge der Oxydation und Spaltung schließlich in dieselben unorganischen Verbindungen zerlegt, aus welchen sie die Pflanze ursprünglich aufgebaut und erzeugt hat.

Während wir die Rolle und Bedeutung der Pflanzenwelt im großen Haushalt der Natur dahin formulirten, daß sie es sei, welche aus unorganischem Stoffmaterial unter Sauerstoffentbindung organische Substanz erzeugt, sehen wir jetzt, daß die Thierwelt es ist, welche der regressiven Stoffmetamorphose dient, d. h. unter Sauerstoffbindung die organische Substanz zerstört und vernichtet, und aus ihr dasselbe unorganische Stoffmaterial wiederherstellt, welches die Pflanze zur organischen Synthese, zur progressiven Stoffmetamorphose braucht.

Es ist aber auch hier hervorzuheben, daß im Thiere die Vorgänge dieser regressiven Stoffmetamorphose nicht die ausschließlich vorkommenden, sondern nur die überwiegenden und bedeutungsvollsten sind und daß neben diesen auch im Thiere gewisse Synthesen vorkommen; immerhin liegt in der regressiven Stoffmetamorphose die Rolle und Bedeutung des Thierreichs im großen Haushalte der Natur.

In ihren Beziehungen zur Atmosphäre unserer Erde sind Thier und Pflanze daher nothwendig in ununterbrochenem Antagonismus.

Die Pflanze entnimmt derselben fortwährend Kohlensäure, zerlegt dieselbe, behält den Kohlenstoff für sich zurück und erstattet ihr dafür freien Sauerstoff.

Unter dem Einflusse der von der Sonne bestrahlten Vegetation sucht sich die Atmosphäre ihres ganzen Kohlensäuregehaltes zu entledigen und dagegen an freiem Sauerstoff reicher zu werden.

Das Thier im Gegentheil bemächtigt sich des Sauerstoffs der Luft, verbrennt damit die organischen Bestandtheile seiner Körpersubstanz und Nahrung und haucht dafür eine fast gleiche Menge Kohlensäure aus. Durch die Lebensthätigkeit der Thiere wird die Atmosphäre fortwährend sauerstoffärmer und kohlensäurereicher. Nichtsdestoweniger haben genaue und zahlreiche chemische Analysen sichergestellt, daß die Zusammensetzung der Atmosphäre in allen Regionen der Erde merklich dieselbe ist, und daß, wenn das relative Mischungsverhältniß der drei Hauptbestandtheile der atmosphärischen Luft, Stickstoff, Sauerstoff und Kohlensäure, auch nicht absolut constant ist, doch nur Schwankungen innerhalb sehr enger Grenzen vorkommen. Die Entwickelung und Vertheilung der Organismen muß daher heutzutage auf einem Punkte angelangt sein, daß sich die oxydirende Thätigkeit der Thiere und die reducirende der Pflanzen das Gleichgewicht halten, denn aus der Gleichzeitigkeit dieser beiden antagonistischen Thätigkeiten resultirt nothwendig der jeweilige Zustand, in welchem sich die Atmosphäre thatsächlich befindet.

Unzweifelhaft war es nicht immer so wie jetzt mit der Zusammensetzung der Atmosphäre bestellt. In früheren Epochen der Entwickelung unseres Planeten war der Kohlensäuregehalt der Luft ein ungleich größerer als jetzt. Ihn hat nur die anfangs überwiegende und kolossale Entwickelung und Verbreitung des vorweltlichen Pflanzenreichs so bedeutend herabgemindert; und dabei ist der Kohlenstoff, der früher im kohlensauren Gas der Atmosphäre in den Lüften schwebte, in fester Form und vom Sauerstoff befreit in die Tiefen der Erde gelangt, wo wir ihn heute in den ungeheuren Steinkohlenflötzen und Braunkohlenlagern wiederfinden und, indem wir ihn als Brennmaterial benutzen, zum mächtigsten Bundesgenossen für die Entwickelung der Industrie und des Weltverkehrs machen.

[355] Die vorweltlichen Wälder sind nämlich durch die heftigen Katastrophen, welche die Bildungsepochen der jungen Erde kennzeichneten, verschüttet, weggespült und begraben worden und haben im Erdboden unter dem Einflusse der Feuchtigkeit und Wärme jene Veränderungen erlitten, welche der kohlenstoffreichen vegetabilischen Substanz die Beschaffenheit der Braun- und Steinkohle ertheilen. So ist denn der Kohlenstoff durch die innere chemische Arbeit der vorweltlichen Wälder gesammelt und aufgespeichert worden, um heute eine so großartige Rolle in der Geschichte des Fortschritts der Menschheit zu spielen! Welch wunderbarer Zusammenhang!

Die vergleichende Untersuchung der Art und Weise, wie sich Thier und Pflanze dem Stoffmaterial der Außenwelt gegenüber verhält, lehrt also, daß die chemischen Vorgänge in den beiden Reichen der organischen oder belebten Welt im Großen und Ganzen principiell verschieden sind.

Anschauliche Darstellung des Kreislaufs des Stoffes.

Diese principielle Verschiedenheit zuerst hervorgehoben und damit das Dunkel des solidarischen Zusammenhanges zwischen dem Thier-, Pflanzen- und Mineralreich aufgehellt zu haben, das ist Lavoisier’s unsterbliches Verdienst.

Dieser Zusammenhang stellt sich aber als ein in sich geschaffener Kreislauf des Stoffes durch die drei Reiche der Natur dar.

Während die Pflanze einfach zusammengesetzte und hochoxydirte unorganische Verbindungen als Nahrung zu sich nimmt und dieselben unter Desoxydation oder Sauerstoffaustreibung in organische Stoffe verwandelt, verwandelt das Thier, das seine Hauptnahrung mittelbar oder unmittelbar aus dem Pflanzenreiche bezieht, die von der Pflanze erzeugten hochzusammengesetzten und sauerstoffarmen organischen Stoffe durch Oxydation und Spaltung zurück in einfache unorganische Verbindungen. – Die Pflanze eignet sich die Elementarstoffe aus dem Mineralreiche an und macht sie zu Bestandtheilen ihrer organischen Körpersubstanz. Diese organische Substanz und somit die in ihr enthaltenen Elementarstoffe werden Bestandtheile des Thierkörpers, die Bestandtheile und Elementarstoffe des Thieres aber werden wieder zu Bestandtheilen des Mineralreiches und so fort in ununterbrochenem Kreislaufe. Von jedem chemischen Elemente, das die organische Substanz des Thierleibes zusammensetzen hilft, läßt sich nachweisen, daß es, aus dem Mineralreiche von der Pflanze aufgenommen und in ihren organischen Verbindungen fixirt, als Nahrungsstoff in das Thier gelangte, um aus diesem wieder in’s Mineralreich zurückzukehren und diesen Kreislauf immer wieder von Neuem zu beginnen.

Werfen Sie einen Blick auf das große Diagramm, welches ich entworfen habe (siehe den beigebrachten Holzschnitt), um Ihnen den erörterten Kreislauf des Stoffes durch die drei Reiche der Natur einigermaßen anschaulich zu machen.

Die eine Hälfte der Kreisfläche, welche das ganze Universum bedeutet, soll uns die unorganische, die andere Hälfte die organische Welt darstellen; diese letztere zerfällt wieder in einen Quadranten, der das Pflanzenreich, und in einen zweiten, der das Thierreich repräsentirt.

Im Mineralreiche oder in der unorganischen Welt finden sich die vierzehn Elementarstoffe, welche letzten Endes zum Aufbau der organischen Welt dienen, in Form von einigen Mineralsalzen, von Ammoniak (NH3), Wasser (H2O) und Kohlensäure (CO2) vor. Sie finden diese Bezeichnungen in die ausgesparten weißen Täfelchen der rechten Hälfte des Kreises eingeschrieben. Verfolgen Sie nun mit dem Auge in der Richtung, welche die kleinen Pfeile angeben, wie dieses Stoffmaterial unorganischer Natur in den Quadranten des Pflanzenreichs eindringt! Sie bemerken, wie sich die punktirten, die Sauerstoffbahnen andeutenden Linien abtrennen, um wieder in den Raum des Mineralreichs zurückzukehren, wo sie sich in dem Täfelchen, welches mit O bezeichnet ist (d. h. „freier Sauerstoffvorrath der Atmosphäre“), sammeln, während die ausgezogenen Linien, welche die Bahnen des Kohlenstoffs, Wasserstoffs, Stickstoffs etc. bedeuten, ihren Weg fortsetzen und in einen dem Pflanzen- und Thierreichsquadranten gemeinschaftlichen weißgelassenen Streifen gelangen, innerhalb welches die Buchstaben C,H,O,N,S,Ph eingeschrieben sind. Dieser weiße Streifen mit den eingeschriebenen Buchstaben soll uns die hochzusammengesetzten und niedrigoxydirten organischen Verbindungen bedeuten, welche die Pflanze aus dem unorganischen niedrigzusammengesetzten, aber hochoxydirten Stoffmaterial unter Sauerstoffabscheidung erzeugt.

Der weiße Streifen mit den eingeschriebenen Buchstaben greift aber zur Hälfte in den Quadranten des Thierreichs hinein, um Sie daran zu erinnern und Ihnen anschaulich zu machen, wie die dem Thiere unentbehrlichen organischen Nahrungsstoffe und Körperbestandtheile aus der Pflanzenwelt stammen.

Die Bahnen der Elementarstoffe können Sie durch diesen weißen Streifen hindurch in den Thierreichsquadranten verfolgen. Hier jedoch lagert sich die Anordnung der Bahnen wieder um, und, indem die punktirten Linien aus dem freien Sauerstoffvorrath der Atmosphäre, welche in den Thierreichsquadranten eindringen, an die ausgezogenen Linien sich wieder anlegen, kommen die vierzehn Elementarstoffe wieder in Form von Kohlensäure (CO2), Wasser (H2O), Ammoniak (NH3) und Salzen in’s Mineralreich zurück. Dies soll Sie an die Verbrennungs- und Spaltungsvorgänge, durch welche sich im Thiere die regressive Stoffmetamorphose vollzieht, erinnern.

Jeder Elementarstoff vollendet, wie Sie deutlich verfolgen können, eine in sich geschlossene Kreisbahn, welche ihn in ewig wechselnder Vergesellschaftung und Gruppirung mit anderen Elementen durch die drei Reiche der Natur hindurchführt.

So haben Sie denn wohl den Eingangs in Aussicht gestellten tieferen Einblick in die Rolle gewonnen, welche der elementare Stoff bei dem Ablauf der Lebensvorgänge auf unserem Planeten spielt; hineingerissen in einen mächtigen Strom, der aus dem Mineralreich entspringt und seinen Lauf durch das Pflanzen- in’s Thierreich nimmt, um von da wieder in’s Mineralreich zurückzukehren, verändert der Stoff fortwährend seine chemische Anordnung und Gruppirung und seinen Ort im Raum.

Die ganze unendliche Fülle von Erscheinungen des organischen Lebens in der Natur – ja unser eigenes Menschendasein mit seinem ganzen Reichthum an intellectuellen und socialen Erscheinungen [356] ist an diesen Wechsel und Kreislauf des Stoffes erfahrungsgemäß gebunden. Hemmen Sie diesen Wechsel und Kreislauf des Stoffes – und Sie vernichten die Welt! –

Die uralte Vorstellung von der Metempsychose oder Seelenwanderung ist ein phantastischer Traum aus der Kindheit des Menschengeschlechts, aus dem die Mehrzahl der Menschen heute noch nicht völlig erwacht ist. Der ewige Kreislauf des Stoffes hingegen, dessen Detail-Ausmalung in einem der Wirklichkeit auch nur annähernd entsprechenden Bilde der kühnsten und reichsten Phantasie spottet, ist eine großartige nüchterne Wahrheit, welche der herangereiften Menschheit – durch die exacte Naturforschung – unerschütterlich feststehend für alle Zeiten aufgegangen ist.

Mit der Wage und dem chemischen Reagens in der Hand ist der Naturforscher den Stoffelementen nachgegangen und hat sie auf ihren Wanderungen durch’s Universum in ewig wechselnder Vergesellschaftung mit einander Schritt für Schritt verfolgt – aus dem Stoffvorrath der Erde, der Gewässer, der Atmosphäre heraus, durch die pflanzlichen, thierischen und menschlichen Individuen hindurch, wieder in’s Mineralreich zurück, und so fort und fort in geschlossener Kreisbahn.

Es ist daher keine beliebige abenteuerliche Idee[1] mehr, sondern eine ganz nüchterne und sehr reelle Möglichkeit, daß einzelne derselben Stofftheilchen, die einst das geschäftige Gehirn Julius Cäsar’s zusammengesetzt haben, heute in den Getreidekörnern auf dem Felde einer nordamerikanischen Farm oder in einer Leipziger – Nasenspitze stecken, und in hundert Jahren das Herz unseres eigenen Urenkels bilden helfen werden. Denn Das steht über alles Meinen und Glauben fest und sicher, daß die Stoffelemente, welche die organischen Verbindungen des Thier- und Menschenleibes in einem gegebenen Augenblicke zusammensetzen, früher einer Pflanze angehört haben müssen, die sie aus dem Boden, dem Wasser und der Luft entnommen und organisch gruppirt hat, und daß diese Stoffelemente aus den Thier- und Menschenleibern in anderer, unorganischer Gruppirung in den Boden das Wasser und die Luft zurückkehren, aus denen sie nur die Pflanze für das organische Leben wieder zurückgewinnen kann.

Die Kohlensäure, die wir heute hier in diesem Saale ausathmen – sie wird durch die Ventilation der Herren Müller und Kelling der Atmosphäre Leipzigs beigemischt, und über Deutschland und Europa, ja über die ganze Oberfläche der Erde fortgeführt, um nach kürzerer oder längerer Zeit von einer Pflanze aufgenommen, und unter dem Einfluß des Sonnenlichts in Kohlenstoff und Sauerstoff zerlegt zu werden.

Den freigewordenen Sauerstoff athmet irgendwo und irgendwann Thier oder Mensch ein oder es verzehrt ihn ein Hochofen oder eine bescheidene Herdstelle, an der man eben die Mittagssuppe kocht; den freigewordenen Kohlenstoff verbaut die Pflanze in ihre Kohlehydrate, Fette und Eiweißkörper, die wieder Thieren und Menschen zur Nahrung dienen.

Und so können wir dieselben Kohlenstofftheilchen, welche wir heute hier als Kohlensäure ausgeathmet haben, vielleicht schon im nächsten Jahre auf einer Reise durch Italien im Mehl der Macaroni Neapels oder im Fleische einer Apfelsine Sorrents wiedergenießen und so als einen integrirenden Bestandtheil unseres eigenen Blutes und Fleisches zurückerhalten!

Doch – weiteres frappantes Detail dieser Art auszudenken, kann ich füglich Ihrer eigenen Einbildungskraft überlassen, der Sie dabei getrost den kühnsten Flug gestatten mögen, ohne befürchten zu dürfen, die Wirklichkeit an Phantasiereichthum und Erfindungsgabe jemals zu überbieten.

Schließlich nur noch die Frage: Was wohl aus der „Auferstehung des Fleisches“ wird, wenn der Tag der Auferstehung noch lange auf sich warten läßt, und mittlerweile Millionen und Millionen von Generationen durch ihre Entstehung und ihr Leben die Berechtigung erhalten, am Auferstehungstage dasselbe Stoffmaterial als ihr eigenstes Fleisch und Blut zu reclamiren, auf welches frühere Generationen, die ja doch auch zur Auferstehung berufen sind, den gleichen Anspruch erheben werden, da sie absolut denselben, nur noch älteren Besitzrechtstitel darauf haben?! –


  1. Daß der Genius eines Shakespeare den Kreislauf des Stoffes poetisch vorausgeahnt hat, beweist jene Stelle im „Hamlet“, wo es heißt:

    „Der große Cäsar, todt und Lehm geworden,
    Verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.
    O daß die Erde, der die Welt gebebt,
    Vor Wind und Wetter eine Wand verklebt!“




Hundertzwanzigtausend Francs.


Eine Erinnerung aus dem Kriege.     Von Alexander W–nn.


Seit Wochen lagen wir nun schon vor dem mit so großen Erwartungen ersehnten Paris, ohne mehr davon zu sehen als einige nebelhafte Thürme, abwechselnd in erster oder zweiter Linie, es wurde verzweifelt langweilig. Wir waren drei Officiere bei der Compagnie, Hauptmann Hardt, meine Wenigkeit und Vicefeldwebel Wendt. Seit sieben Tagen waren wir in der zweiten Linie, hatten Quartier in einem der reizenden, jetzt verlassenen Landhäuschen, mit denen die Umgegend von Paris so reich garnirt ist, und füllten unsere Zeit abwechselnd mit sehr wenig Dienst, mit mäßigen Mahlzeiten und sehr viel Schlaf aus. Besonders Wendt leistete Hervorragendes in dem letzten Punkt, obgleich er auch den Dejeuners und Diners volle Berücksichtigung zu Theil werden ließ.

Unser Koch, zugleich Bursche des Hauptmanns, Kippke genannt, von Profession Schlächter, machte seine Sache nicht übel und hatte namentlich in der Bereitung der Hammelbraten, an welchen er am meisten Gelegenheit hatte, seine Kunst zu entwickeln, eine bedeutende Virtuosität erlangt, befriedigte aber den Vicefeldwebel, welcher aus Pommern stammte, noch besonders durch die sehr reichliche Zubereitung der Kartoffeln, welche Wendt für das erste und beste Gemüse der Welt erklärte, und für welche er eine so bedeutende Vorliebe hatte, daß er auf die Frage etwa sich vorfindender Hauswirthe, was er zu essen beliebe, stets nur energisch erklärte: „Tout égal, tout égal, mais beaucoup, beaucoup de pommes de terre.“ (Ganz gleich, ganz gleich, aber viel, sehr viel Kartoffeln.)

Französisch sprach er nur brockenweise und behauptete, der Sieger müsse verlangen können, in seiner eigenen Sprache verstanden zu werden. Da wir übrigens fast nie Wirthe trafen, so hatte er wenig Gelegenheit, die Durchführbarkeit seines Princips zu erproben.

Wir lagen in Ermangelung eines Sophas auf den bequemen Betten, von den Strapazen eines halbstündigen Appells auszuruhen. Wendt bewohnte mit mir ein Zimmer, nebenan residirte Hauptmann Hardt, dort war zugleich der Speisesalon. Kippke trat ein und meldete in militärischer Haltung: „Das Dejeuner ist angerichtet.“

Wendt hatte ihm diese bezüglichen Redensarten mühsam beigebracht und warf mir einen triumphirenden Blick zu, um den Eindruck dieser Worte auf mich zu genießen; da ich mich aber in eine acht Tage alte Zeitung vertieft hatte, und dadurch sein Zweck gänzlich verfehlt wurde, räusperte er sich auffallend und fragte, nachdem ich aufgesehen hatte, den Burschen mit heuchlerisch harmloser Miene: „Was sagten Sie, Kippke?“

„Ich sagte man, dat dat Mittag fertig is, Herr Feldwebel,“ sagte Kippke arglos.

Wüthend sprang Wendt auf: „Mensch,“ rief er, „wirst Du das niemals begreifen? Habe ich Dir nicht gesagt, diese Mahlzeit heißt nicht Mittag, sondern Dejeuner? Mittag essen wir um sechs Uhr und das heißt Diner! Was habe ich Dir gesagt, wie sollst Du melden?“

Kippke hatte diesen Anprall mit unerschütterlicher Ruhe ausgehalten und sagte mit einer Miene, deren Ernst unendlich komisch wirkte: „Das Dejeuner ist angerichtet.“

Hauptmann Hardt war eine baumlange Figur mit entsprechender Schulterbreite, etwas aufbrausend, aber im Allgemeinen sehr gutmüthig, mit einer ausgesprochenen Neigung für geistige Getränke.

Das Menu unserer Dejeuners und Diners war seit mehreren Tagen stehend dasselbe: Erbssuppe und Hammelbraten.

Kippke balancirte eine tiefe Schale mit Suppe glücklich bis zu der Seite des Tisches, an welcher Wendt seinen Platz hatte. Letzterer rückte in diesem Moment unerwartet seinen Stuhl etwas [357] zurück und erschütterte dadurch die schwierige Lage unseres Kochs so unglücklich, daß sich ein reichlicher halber Teller Erbssuppe über die Hand des Vicefeldwebels ergoß.

„Gott verdamm’ mich,“ rief Wendt wüthend, indem er die heiße Brühe heftig von der Hand schleuderte, „es ist wahrhaftig nicht mehr auszuhalten mit dem Kerl!“

Es war förmlich wunderbar, wie sich seine Mienen in demselben Augenblick besänftigten, als der zweite Bursche mit dem Hammelbraten und einer mächtigen Schüssel dampfender Kartoffeln eintrat.

„Wieder Hammelbraten? Es ist gräßlich,“ sagte der Hauptmann, „was giebt es morgen, Kippke?“

„Hammelbraten, Herr Hauptmann.“

„Was! wieder Hammel?“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.“

„Läßt sich denn im Dorf gar nichts auftreiben, mal ’ne Ente oder so etwas?“ fragte Hardt unmuthig.

Kippke kniff sein linkes Auge zu, um damit anzudeuten, daß er die Frage für durchaus scherzhaft halte.

Hardt fischte in schlechtester Laune die Speckstücke aus seiner Suppe. „Kommt mir jetzt für’s Erste nicht wieder mit Erbssuppe!“ brauste er auf.

„Zu Befehl, Herr Hauptmann.“

„Mach’, daß Du hinauskommst, und schick’ uns Wein herauf. Na! worauf wart’st Du noch?“ fuhr der Hauptmann ihn an, als Kippke noch stehen blieb.

„Der Wein is alle, Herr Hauptmann.“

Wir sahen entrüstet auf: „was! alle?“ riefen wir einstimmig.

Hardt sah ihn einen Augenblick sprachlos an, dann sprang er zornig auf ihn zu: „Das sagst Du heute erst,“ rief er, „während wir gestern Gelegenheit nach der Stadt hatten? Hinaus jetzt, sage ich Dir, und wenn nicht binnen einer Viertelstunde Wein hier ist, dann Gnade Dir Gott, Bursche!“

Kippke kannte den Hauptmann, und wenn er auch durchaus nicht sicher war, Wein auftreiben zu können, so benutzte er doch die Gelegenheit, um mit Gedankenschnelle aus der Thür zu schlüpfen.

Ich entsann mich, in unserer Stube noch eine angeschenkte Flasche gesehen zu haben, und als Wendt sie auffand und brachte, klärte sich das gewitterschwüle Antlitz Hardt’s wieder etwas auf und wurde ganz heiter, als er den ungeheuern Berg von Kartoffeln sah, den der Vicefeldwebel sich aufgelegt hatte.

„Ich möchte wissen, was die Kerls unten zu klopfen haben,“ sagte der Hauptmann, indem er sich den Löwenantheil aus der Flasche in ein sehr großes Wasserglas schenkte.

In der That hörte man unten ein auffallend lautes Pochen und Hämmern.

Wir sollten nicht lange darüber im Unklaren bleiben. Die angesetzte Viertelstunde war kaum vorüber, als Kippke eintrat, von oben bis unten mit Kalkstaub und Spinnweben bedeckt, unter dem rechten Arm eine Pendule von schwarzem Marmor, unter dem linken Arm einen Armleuchter, in der Hand zwei Flaschen. Unmittelbar hinter ihm folgte der Bursche des Vicefeldwebels mit vier Flaschen und einem Armleuchter unter jedem Arm, dahinter mein Bursche mit einem großen Kasten voller Stearinlichter. Wir sahen erstaunt auf diesen Aufzug.

„Was ist das?“ sagte Hardt.

„Das haben wir gefunden, Herr Hauptmann,“ sagte Kippke triumphirend, „hier ist der Wein.“

„Wie und wo habt Ihr denn das gefunden?“ fragte Hardt ernsthaft.

„Wir suchten nach Waffen, Herr Hauptmann,“ sagte Kippke etwas zögernd, „und da war das im Keller vermauert, es ist noch viel Wein dort,“ sagte er schlau begütigend.

Er erreichte auch seinen Zweck vollkommen, der Hauptmann brach das Verhör sofort ab, und wir eilten hinunter, den Fund zu inspiciren.

Die Burschen hatten wirklich ein großes Loch in eine übrigens sehr dünne Mauer gebrochen, und man sah in einen dadurch verborgenen Theil des Kellers hinein, welcher mit allem möglichen Hausrath angefüllt war.

„Nun, da Ihr das einmal aufgemacht habt, so räumt es aus und tragt es in unsere Stuben, aber seht Euch vor, daß Ihr nichts zerbrecht,“ sagte Hardt, welcher mit Befriedigung ein ziemlich umfangreiches Weinlager entdeckt hatte.

Es dauerte nicht lange, so waren unsere Stuben mit diversen Uhren, Vasen, Leuchtern und Nippsachen decorirt; Wendt brachte sogleich sämmtliche Uhren in Gang und schlug vor, aus unserm Stearinreichthum die Leuchter mit Lichtern zu versehen, die Laden zu schließen, und das Dejeuner, welches durch die Fülle des aufgefundenen Weins noch eine angenehme Perspective bot, bei Licht fortzusetzen. Kerzenbeleuchtung! – Das war ein lange entbehrter Luxus und der Vorschlag wurde beifällig angenommen, ein Effect, den die Vorschläge Wendt’s sehr selten erzielten.

Die künstlich hergestellte Dunkelheit ließ nichts zu wünschen übrig, und das flackernde Kaminfeuer überaus freundlich erscheinen. Es gelang dreißig Lichter anzubringen, und als in ihrem Schein der Wein aus unsern Gläsern uns rubinfarben entgegenfunkelte, die Uhr auf dem Kamin gerade aushob, die volle Stunde zu schlagen, und dabei ganz überraschend mit unglaublicher Geschwindigkeit des Tempos den Walzer aus dem Freischütz spielte, da war vergessen die Erbssuppe und der Hammelbraten, vergessen die langweilige Cernirung von Paris, vergessen das leise nagende Heimweh, und die hellglänzende Gegenwart ließ einen Strahl warmer freundlicher Behaglichkeit in unsere Herzen fallen. –

„Das ist ein reizendes Weinchen,“ sagte Hardt schmunzelnd, indem er den alten feurigen Burgunder mit Kennermiene langsam schlürfte und das Glas freundlich lächelnd gegen das Licht hielt, das funkelnde zitternde Farbenspiel zu betrachten, „lassen Sie uns aber,“ fügte er behaglich spottend hinzu, „die Pflichten der Höflichkeit nicht vergessen und des abwesenden Wirthes als des gütigen Gebers gedenken, widmen wir ihm einen stillen Schluck, meine Herren!“ und er ließ die That den Worten folgen.

Wendt hatte bereits verschiedene stille Schlucke genommen und begleitete den jetzigen mit einem so glänzenden Lächeln, als wenn er wirklich mit der größten Zärtlichkeit des geflüchteten Franzosen dächte.

In diesem Augenblick trat Kippke ein, seine Augen hatten einen verrätherischen Glanz und seine Nase hatte etwas von der Farbe der Morgenröthe. Mit einem höchst vergnügten Lächeln meldete er, es sei ein Bauer unten, der einjährige Freiwillige hätte mit ihm gesprochen und gesagt, es sei der Besitzer dieses Hauses, welcher gern die Herren Officiere sprechen möchte.

„Bravo, der Wolf in der Fabel!“ rief der Hauptmann, „bringt ihn ’rauf, Kippke und schaff’ noch ein Couvert und den Braten her.“

„Und beaucoup de pommes de terre,“ sagte Wendt mit etwas schwerer Zunge.

„Oui, monsieur“, sagte Kippke, um sich dann sofort erschreckt mit einem „zu Befehl, Herr Hauptmann“ zu verbessern.

Auf das zaghafte Klopfen an der Thür donnerte Hardt ein so gewaltiges „entrez!“, daß ich gar nicht überrascht war, die Gesichtsfarbe des alten Franzosen bei seinem Eintritt etwas blaß zu sehen.

Es mochte ein Mann von fünfundfünfzig bis sechszig Jahren sein, eine kleine, aber trotz der blauen Blouse feine und sogar elegante Erscheinung, mit freundlichen Gesichtszügen, welche aber jetzt das deutliche Gepräge des Kummers trugen. Die klaren grauen Augen blickten unverkennbar mit dem Ausdruck lebhafter Besorgniß auf unsere ihn wohl überraschende Situation.

Er machte uns eine verbindliche Verbeugung und lächelte, obgleich er schmerzhaft zusammenzuckte, als Hardt ihm bieder die Hand schüttelte; der Druck mochte für seine Hände wohl etwas zu deutsch gewesen sein.

Es machte ihm augenscheinlich einen eigenthümlichen Eindruck, in seinem eigenen Hause aufgefordert zu werden, Platz zu nehmen und sich als Gast behandelt zu sehen; er folgte indessen der Einladung mit vollendeter Höflichkeit, und bezwang sich sogar, etwas zu essen und auch mit offenbarer Ueberwindung sein volles Glas auf die Anforderung Hardt’s zu leeren.

Wendt hatte ihm nur mit stummem Lächeln die Schüssel mit den Kartoffeln zugeschoben und blickte dann träumerisch vor sich hin.

Ich bemerkte, wie des Alten Auge scheu über die soeben aus ihrem unterirdischen Verließ gehobenen Schätze schweifte. Hardt bemerkte es ebenfalls und war zu gutmüthig, um nicht zu glauben, ihn über die Conservirung seines Eigenthums beruhigen zu müssen. Seine Kenntniß des Französischen beruhte auch nur auf schwachen Reminiscenzen aus der Schulzeit, und [358] er glaubte, seinen Vorsatz vollkommen ausgeführt zu haben, als er mit einer Handbewegung auf die ringsum aufgestellten Geräthe zu dem Alten sagte: „Ce n’a rien à dire, monsieur“ (das hat Nichts zu sagen), und diese Worte mit einem Schütteln des Kopfes und einem gutmüthigen Lächeln begleitete.

Diese Beruhigung erreichte ihren Zweck bei unserm Wirth jedenfalls nicht, er warf wieder einen lebhaft bewegten Blick ringsumher und fuhr mit seinem Taschentuch über die Stirn, auf welcher dicke Schweißtropfen perlten. „Oui, monsieur, bien chaud ici“ (ja, mein Herr, es ist sehr warm hier), sagte der Hauptmann, ihm zunickend. „Ja, Herrschaften,“ wandte er sich zu uns, „es ist eine afrikanische Temperatur hier. Wendt, bitte, machen Sie ein Fenster auf.“

Wendt fuhr zusammen und sah den Hauptmann fragend an; dann sagte er plötzlich: „Ja wohl!“ und stand auf, das Fenster zu öffnen.

Hardt forderte den Alten auf, wieder auszutrinken; als derselbe dankend ablehnte, stampfte er heftig mit dem Fuße auf die Diele.

Der Franzose glaubte wohl, er habe ihn durch seine Weigerung beleidigt, und stürzte erschreckt sein Glas herunter; der Hauptmann aber dachte gar nicht daran, er gab damit nur ein Signal an Kippke, welcher unter uns wohnte, heraufzukommen, und bestellte bei seinem Eintreten den Kaffee.

Dem Alten aber hatte der Wein Muth gemacht, und er fragte höflich den Hauptmann, ob sämmtliche Sachen aus dem Keller geräumt wären.

„Oui, monsieur!“ sagte Hardt gleichmüthig und offerirte ihm eine Cigarre.

Unterdeß trat die Ordonnanz ein, den neuesten Befehl zu überbringen. Er enthielt die Ordre, am nächsten Morgen wieder in die Vorpostenstellungen einzurücken.

„Dacht’ ich’s mir doch,“ sagte der Hauptmann, „sowie unser Nest mal anfängt, warm zu werden, müssen wir heraus; aber Kippke,“ donnerte er, „der Wein wird mitgenommen! Avec votre permission“ (mit Ihrer Erlaubniß), wendete er sich zu unserm Alten.

Der Franzose, welcher die Scene mit großer Theilnahme beobachtet hatte, sah ihn fragend an.

„Nous marchons demain,“ sagte der Hauptmann, „et nous voulons – nous voulons prendre avec nous – quelque chose.“ (Wir marschiren morgen und wollen – wollen uns Etwas mitnehmen.)

„O mon dieu,“ rief der Franzose erschreckt und hob bittend die Hände empor, „o monsieur, ne me rendez pas malheureux!“ (O mein Gott, machen Sie mich nicht unglücklich!)

„Ah,“ sagte Hardt unmuthig, „– argent? – tout bon!“ (Geld? – ganz gut), und machte die Geberde des Geldzählens.

Der Franzose machte eine wahrhaft bejammernswerthe Miene und sprudelte dann seine Angst und Sorge in so lebhafter Weise heraus, daß der Hauptmann ihn ganz erstaunt ansah. „Was will er denn?“ sagte er ärgerlich zu mir. Ich erwiderte, er fürchte, wir wollten alle seine Sachen mitnehmen.

„Gott bewahre,“ sagte Hardt sich zu ihm wendend, „non, non, monsieur, soyez tranquille, pas ces choses“ – und er wies auf die Leuchter – „le vin, le vin!“ (nein, nein, mein Herr, seien Sie ruhig, nicht diese Sachen, den Wein, den Wein!)

Der Alte beruhigte sich sofort. „Ah, monsieur,“ sagte er, „Sie wollen den Wein mitnehmen, ah, mit dem größten Vergnügen, er steht ganz zu Ihrer Verfügung; aber werden Sie mich wieder in den Besitz meines sämmtlichen Eigenthums setzen?“ fragte er zögernd.

„Versteht sich, natürlich,“ sagte Hardt, nachdem er sich die Rede hatte verdolmetschen lassen, „es bleibt ja Alles hier, wir werden ja nicht mit dem Möbelwagen auf Vorposten ziehen, sagen Sie ihm doch das.“

Der Alte sah mich an, ich sagte es ihm.

„Mais, monsieur,“ sagte er, „es werden Andere an Ihre Stelle treten und ich bitte Sie, daß Sie wenigstens das Geld direct in meine Hände legen.“

Ich glaubte, es könne nur von der Bezahlung für den Wein die Rede sein, und sagte das dem Hauptmann.

„Fragen Sie den Knicker, was er haben will,“ sagte Hardt unangenehm berührt.

Ich fragte ihn, wie viel Geld er beanspruche.

„Mais, monsieur,“ sagte der Alte wie befremdet von meiner Frage, „cent vingt mille francs!“ (Aber, mein Herr, hundertzwanzigtausend Franken!)

„Was!“ rief Hardt aufspringend, „ist der Mensch verrückt?!“

Selbst Wendt war aufgestanden, betrachtete den Alten mit feindlichen Blicken und murmelte: „Infame Bande!“

„Das kann ja nur ein Mißverständniß sein,“ warf ich ein und fragte den Franzosen lächelnd: „Hundertzwanzigtausend Franken?“

Der Alte war auch aufgestanden, mit zitternder Stimme, offenbar sehr eingeschüchtert durch unsere Heftigkeit, sagte er, er würde auch mit hunderttausend Franken zufrieden sein, aber er bäte um Himmelswillen, ihm diese Summe zu geben, der Keller enthielte sein ganzes Vermögen und er sei Vater einer zahlreichen Familie

„Aber, Herr,“ sagte ich, „was wollen Sie denn, wir nehmen ja nicht Ihren ganzen Weinkeller, höchstens zwanzig Flaschen, und wenn wir Ihnen zwei Franken für die Flasche geben, so werden Sie mit vierzig Franken reichlich bezahlt sein!“

Jetzt sah der Franzose uns erstaunt an. „Aber mein Gott,“ sagt er, „ich spreche nicht von dieser Bagatelle, ich bitte Sie nur, mir mein baares Geld wiederzugeben.“

„Ihr Geld, Monsieur?“ fragte ich, ich begriff ihn gar nicht. „Aber wir haben ja doch kein Geld von Ihnen!“

„O mon Dieu!“ rief der Alte verzweifelt und fuhr mit beiden Händen in seine kurzen grauen Haare. „Mein ganzes Vermögen, hundertzwanzigtausend Franken befanden sich ja im Keller mit diesen Sachen, welche Sie ausgeräumt haben!“

„Was!“ rief ich überrascht.

Im höchsten Schreck theilte ich dem Hauptmann die Sachlage mit. Hardt wurde sehr ernst, er stampfte mit dem Fuß auf die Erde.

Kippke erschien.

„Wo hast Du das Geld?“ fuhr der Hauptmann ihn an.

Kippke machte ein unglaublich dummes Gesicht. „Was für Geld, Herr Hauptmann?“ fragte er.

„Nun,“ sagte Hardt heftig, „das Geld, welches unten in dem Keller gelegen hat, den Ihr ausgeräumt habt – hundertzwanzigtausend Franken!“

Kippke wurde ganz blaß. „Herr Hauptmann,“ sagte er entrüstet, „ich habe kein Geld genommen.“

Hardt winkte uns in eine Ecke. „Die Kerls sind betrunken,“ sagte er leise, „ich will sie nicht unglücklich machen, ich werde Kippke den Befehl ertheilen, nochmals nachzusuchen, dann werden sie das Geld wohl bringen.“

Er wandte sich zu Kippke und sagte in ernstem Tone: „Da Ihr das Geld nicht gefunden habt, so muß es also noch im Keller liegen, gehen Sie jetzt aber sofort hinunter und suchen Sie mit den beiden anderen Burschen nochmals nach, und wenn Sie es gefunden haben, so bringen Sie es her.“

Kippke machte Kehrt und ging, ich glaube, er war mehr bestürzt darüber, daß der Hauptmann ihn „Sie“ genannt hatte, als über die vermißte Summe.

Wendt flüsterte mir in’s Ohr: „Der Hauptmann ist eine Seele von Mensch.“

Hardt wandte sich zu dem Franzosen, welcher mit der gespanntesten Aufmerksamkeit dem Vorgange gefolgt war und jetzt dem Burschen nacheilen wollte.

„Non monsieur, restez ici,“ sagte er zu ihm, „tout bon, ce n’a rien à dire“ (Nein, mein Herr, bleiben Sie hier. Es ist Alles gut – das hat Nichts zu sagen), und er schob ihm das Tablett mit dem Kaffee zu.

Dem Alten tropfte der Schweiß von der Stirn, „quel malheur!“ (welches Unglück!) sagte er tief seufzend.

„Oui monsieur,“ sagte Wendt in der Absicht, ihn zu trösten.

Wir tranken schweigend unseren Kaffee, es verging eine sehr unbehagliche Viertelstunde, dann kamen schwere Tritte die Treppe herauf, alle drei Burschen traten in’s Zimmer.

„Nun?“ fragte der Hauptmann ruhig.

„Herr Hauptmann,“ sagte Kippke in einem Ton und einer Haltung, der eine gewisse Würde nicht abzusprechen war, „im Keller ist kein Pfennig Geld, also auch nicht hunderttausend Thaler.“

[359] „Gut,“ sagte der Hauptmann und erhob sich. „Rien trouvé, monsieur“ (Nichts gefunden, mein Herr), wandte er sich an den wachsbleichen Alten, „venez maintenant, chercher ensemble (kommen Sie jetzt mit, wir wollen zusammen suchen). Begleiten Sie mich, meine Herren,“ wandte er sich zu uns, „die Burschen kommen auch mit.“

Wir versahen uns jeder mit einem der Armleuchter und so ging die Procession hinunter in den Keller. Einzeln kletterten wir durch das Loch in der Mauer, leuchteten überall umher und stießen den Schutt mit den Füßen bei Seite. Wir sahen nichts. Plötzlich stieß der Franzose einen Schrei aus, warf sich an einer Stelle auf die Kniee, an welcher die Ecke eines farbigen Papierbogens aus dem Schutt hervorsah, und warf die Mauertrümmer hastig mit den Händen auseinander. Ein großes mit Bindfaden zusammengeschnürtes Bündel Papiere wurde sichtbar, mit einem Jubelruf zog der Alte es hervor, Thränen stürzten ihm aus den Augen, „oh messieurs,“ rief er, „hier ist das Gesuchte, unverletzt, o messieurs,“ o welch’ Glück!“

Wir standen erfreut und überrascht. „Pas de l’or?“ (Kein Gold?), fragte Hardt staunend.

„O non monsieur,“ rief der Alte glückselig, „Eisenbahn-Obligationen!“

„Jetzt verstehe ich,“ sagte Hardt erleichtert, „da haben wir den Burschen bitter Unrecht gethan,“ und kletterte mühsam durch die Maueröffnung zurück.

Draußen stand das Burschenkleeblatt.

„Jungens“, sagte der Hauptmann, „das Geld ist da, und zur Entschädigung für Euere Angst bekommt Ihr Jeder eine Flasche Wein und von mir fünfundzwanzig Cigarren extra.“

„Wenn der Herr Hauptmann erlauben,“ sagte Kippke wieder sehr vergnügt aufschauend, „ick möcht’ gern mal die hunderttausend Thaler sehen, so viel Geld wer’ ick nich wieder zu sehen kriegen.“

Der Hauptmann nahm dem Franzosen, welcher einen vergeblichen schüchternen Versuch machte, sich dagegen zu sträuben, das Bündel Papiere aus der Hand. „Da, Kippke,“ sagte er, „faß es an, das sind hundertzwanzigtausend Francs.“

„Wat,“ sagte Kippke enttäuscht, „dat is dat Geld?“ Die Schafsmiene, welche Kippke in diesem Augenblick machte, werde ich in meinem Leben nie vergessen.

Als wir am nächsten Morgen zum Abmarsch antraten, fuhr ein zweirädriger Wagen zu uns heran, von dessen Sitz sich unser Alter von gestern mit jugendlicher Gewandtheit herabschwang.

„Pardon, monsieur,“ sagte er zu dem Hauptmann, indem er den Hut zog, „erlauben Sie mir, Sie zu Ihrem Marschziel mit meinem Fuhrwerk zu begleiten, ich habe mir erlaubt, Ihnen einige Vorräthe zu bringen.“

Als wir in den Karren hineinsahen, waren wir wirklich überrascht. Da standen Körbe mit Hühnern, Enten, Eiern, Kaffee, Zucker, Wein und sogar Citronen.

„Hurrah,“ rief Wendt, „Punsch!“ und bat in seinem Innern dem Franzosen seine heimliche Insulte von gestern ab.

Als wir angelangt waren, und der Alte sich von uns verabschiedete, rief ihm der Hauptmann noch nach: „Aber nicht wieder vermauern, Alterchen!“ Der Alte verstand es natürlich nicht, aber er wendete sich lächelnd zurück und schwenkte grüßend den Hut.




Land und Leute.


Nr. 34. Kreuz- und Klostergänge auf der hohen Rhön.


Wie gut han’s die Leutle da droben auf der Rhön!
Da drückt Kein’ der Schuh: weil sie barfüßig gehn.

Dieser Volksreim und dazu Ortsnamen wie Dürrfeld, Sparbrod, Wildflecken, Wüstensachsen, Schmalenau, Dürrhof, Todtemann, Mordgraben, Rabennest, Rabenstein, Teufelsberg, Kaltennordheim etc. sind ein schlimmes Aushängeschild für das Gebirg, welches unsere Leser soeben betreten sollen. Die „Armuth auf der Rhön“ ist rings um die Berge derselben so sprüchwörtlich geworden wie die auf dem Westerwald und Vogelsberg; diese Armuth ist eine historische, sie gehört zu den „berechtigten Eigenthümlichkeiten“, die man fest hält, weil ihre Beseitigung ungewohnten Kampf kostet und die Natur es ist, gegen welche derselbe gerichtet sein müßte.

Die Rhön ist ein Stückchen Bergwelt, welches in den nördlichsten Winkel des bairischen Unterfranken so hineinschoben ist, daß die Ausläufer desselben gleichsam als Ueberläufer noch weit in die hessische, weimarsche und meiningensche getreue deutsche Nachbarschaft hineingedrängt erscheinen. Ihren höllischen Ursprung verräth die Rhön sofort, denn auf einer Unterlage von buntem Sandstein hebt sie ihre vulcanischen Gesteine, wie Basalt, Phonalith und selbst Trachyt, so keck und hoch empor, daß sie den Berghöhen des Fichtelgebirges nahe kommt und die der übrigen fränkischen Gebirge bedeutend überragt.

Wie das Völkchen der Berge, so trägt auch das Gebirg selbst seinen eigenen Charakter immer und ganz entschieden zur Schau. Dennoch zerfällt es, seiner deutschen Art getreu, in mehrere Parteien, die aber alle ihre Abzweigung vom Urstock, von der Gegend von Brückenau, dem berühmten Stahlbad, und dem Heiligen Kreuzberg beginnen, und deren größte sich vom Kreuzberg bis in das Eisenacher Amt Lichtenberg erstreckt. Das ist, wie gesagt, der größte Gebirgstheil und wird ebendeshalb die Hohe oder Lange Rhön genannt. Das Werrathal scheidet den schroffen und harten Gesellen mit Recht von dem sanften liebreichen Thüringer Wald, und wenn es die Rhön-Kolosse wohl auch bis zu 1900 Fuß Höhe bringen, wie sieht’s dafür auf ihrem Rücken aus! Felsige, kahle Einöden kaum hier und da von dürftigem Gesträuch unterbrochen oder mit einer Moosdecke bekleidet, deren Anblick bei der häufigen Nebel- und Wolkenfeuchtigkeit wahrhaft wohl thut. Von den beiden anderen, kurz nach Norden und Westen laufenden Zügen fällt der letztere mit dem Berge Dammersfeld ab, der eine so grasreiche Alp aufweist, daß die Bischöfe von Fulda eine Schweizerei dort unterhielten.

Trotz einzelner fruchtbarer Thäler und des zum Theil prächtigen Holzbestandes an den Bergabhängen und wenigen hohen Hügelrücken ist doch der Kartoffelbau vorherrschend, neben ihm der Flachsbau, und demgemäß Leinweberei und gröbere Holzschnitzerei Hauptbeschäftigung der Rhön-Leute.

Das ist die Lebensgewohnheit, die von Urväterzeiten her alljährlich, so oft die Kartoffel nicht zureichte, ein wenig Hungersnoth erdulden hieß, und für sich wird’s dort auch nicht anders. Es wird eben doch einmal der Geist der Industrie mit der Kraft des Dampfes auch dort einbrechen müssen, um der Romantik der Armuth endlich Halt zu gebieten.

Auf der höchsten Spitze des Rhöngebirgs erhebt sich ein mächtiges holzgefugtes Kreuz, seit Jahrhunderten knarrend und seufzend, aber voll siegreichen Widerstandes im Kampfe mit dem Sturmwinde, dem mächtigen Alleinherrscher aus jener unwirthsamen Höhe. Die es dahingestellt haben mitten in das Centrum Deutschlands, haben vielleicht mit ihm ein Symbol stiften wollen für des Kreuzes Herrschaft über die deutschen Lande. Und die nie aufgegebene Erbschaft jenes Gedankens, tritt sie nicht herausfordernder als je wieder in den Vordergrund?

Auch der Berg, der es auf seinem Rücken trägt, hat sich von dem Kreuze den Namen geben lassen müssen. – Es war ein sonniger Hochsommermorgen, an dem wir, ein Triumvirat profaner Jünger der Themis, von Bischofsheim, einem fränkisch bairischen Städtchen, den Gang hinauf zum Kreuzberg antraten. Ein Kreuzgang war es denn auch der That nach. Stete Kreuz- und Kniebeuge, Ströme „flüssigen Athems“ erforderten die zwei Stunden, deren es bedurfte, ehe wir das Kloster zum Heiligen Kreuzberg in Sicht hatten. Die Sonne war schon hoch gestiegen, als es nun vor uns lag mit seinen weißen Wänden und grauen Dächern. Nach ein paar Zügen an dem äußeren in die Form eines Kreuzes auslaufenden Klingelzuge öffnete eine braune Franziskanerkutte die verschlossene kleine Pforte und geleitete uns in das Gastzimmer.

Vier weißgetünchte Wände und eine lange hölzerne Tafel, [360] so klösterlich einfach, so ascetisch nüchtern war dies Entrée. Und doch – dort an der Wand hing ein bunt gemaltes Madonnenbild. Verführerisch schön, holdselig lächelnd schaute sie aus ihrem goldenen Rahmen, nicht die ernste hohe Königin des Himmels, sondern die Madonna des Gastzimmers, ganz im Gegensatz zu ihrer hehren Schwester, der wir später im Refectorium begegneten. Es blieb ihr vorbehalten, zunächst die Honneurs des Hauses zu machen, denn der dienende Bruder entfaltete ein sehr zurückhaltendes scheues Wesen, so daß wir anfangs glauben mochten, es habe sich ihm die Signatur des Mönchs von Wittenberg auf unserer Stirn verrathen. Auch der „Herrscher des Hauses“, der Herr Pater Guardian, verleugnete sich hartnäckig, und so konnten wir die ganze Heimlichkeit und Unheimlichkeit des klösterlichen Bannes auf uns wirken lassen. So konnten wir in einem Bilde des stillen Kreuzganges die Schrecken des jüngsten Gerichtes vor uns gezaubert sehen; dann wieder den milden freundlichen Eindruck einer reichgeschmückten Capelle mit ihren schillernden glänzenden Farben, Schnitzwerk und Bildnereien auf uns wirken lassen. Abwechselnd streiften unsere Blicke auch in dem aufgelegten Fremdenbuch umher mit seinen meist sehr profanen Bemerkungen und wie gewöhnlich recht geschmacklosen Reimereien, von denen wir uns nur die charakteristischen Worte eines katholischen Pfarrers hierher verzeichnen wollen, weil sie gewissermaßen eine Passionsgeschichte des ganzen Standes wiedergeben. Sie lauteten:

„Von dem Kreuze erlöst durch die Reise zum heiligen Kreuzberg,
     Kehre vom Kreuzberg ich wieder zum Kreuze zurück.“

Endlich war nach einem Gang auf die Spitze des Berges, welche jenes mächtige Kreuz trägt, als den Schlußstein der vierzehn steinernen Stationsbilder, in denen die Leidensgeschichte des Erlösers bildlich dargestellt ist, Mittag herangekommen, der Tisch gedeckt, das Mahl aufgetragen, und als wir nun lebhaft das Verlangen nach „kühlem Klosterwein“ äußerten, da trat endlich auch der Herr Guardian in den Gesichtskreis, um uns zuvörderst anzuzeigen, daß hingesehen auf ihre Eigenschaft als „Bettelmönche“ ihnen weiter nichts an Wein zu Gebote stünde, als die beim Terminiren eingeheimste vaterländische Species eines einfachen, aber reinen Frankenweins. Die Sorte wurde nothgedrungen acceptirt und der Herr Guardian mit zu Gaste geladen, eine Einladung, die sich allerdings etwas komisch ausnahm, da man in Klöstern eigentlich nichts bezahlt, d. h. nichts abverlangt erhält, sondern dort zu Gaste ist. Der Herr Guardian blieb indeß zur Stelle, auch der Terminswein kam zu Ehren und erwies sich trotz seiner frischen Herbe als ein trefflicher Herzenssprenger. Und so kamen denn auch alsbald aus der groben dunkeln Mönchskutte allerlei wundersame Offenbarungen zu Tage. Es war eine gedrungene, hartknochige, derbe Gestalt, wie er so vor uns saß, der Herr Guardian. Stirn, Nase und Wangen in dem breiten Gesichte leuchteten von gesunder Röthe, die runden Augen blickten anfangs etwas scheu, wie nach einem Halt suchend, und die eine Hand spielte mit der Tabaksdose. Dazu die einfache braune Kutte, welche ohne alle modische Zuthat den Leib gleich vom Halse an umschloß; diese ganze Erscheinung war wahrhaftig nicht dazu angethan, große Erwartungen auf dem Gebiete geistiger Ausbeute zu erfüllen. Und doch erwies sich dieser in seinem äußeren Habitus einer längst vergangenen Zeitepoche angehörige Mönch als ein gründlicher Gelehrter auf dem besonderen, übrigens auch von anderen katholischen Geistlichen ausgebeuteten Gebiete der vergleichenden Sprachkunde, als ein Forscher des Sanskrit, der semitischen und altindischen Sprachen. Und ehe wir’s uns versahen, saßen wir mit ihm an dem Ursitze der Menschheit und der Sprachstämme, da, wo der Ganges rauscht und die Lotosblume blüht. Rasch schloß sich so zwischen ihm und uns das Band geistiger Gemeinschaft, vor dem die Gegensätze der Confession schwanden. Das matte scheue Auge belebte sich zu einem ruhigen heiteren Glanze.

Wir waren des gewonnenen Terrains so sicher, daß wir die confessionellen Gegensätze selbst herausforderten und – es ist dies nun einmal die alte deutsche Art oder Unart – auf das religiöse Gebiet muthig hinüberdrangen. Willig folgte uns der braune Mönch auf den gefährlichen Boden. Auf dem von der Wissenschaft geebneten Wege freier Bekenntniß breitete er in seinem gemüthlich anheimelnden oberbairischen Dialecte, anfangs nur schüchtern, dann immer rückhaltloser vor unsern Augen das Bild eines tief erregten Lebens voll heißer Arbeit wie harter Entsagung aus, das Leben eines Geistes, der, als er einmal versucht hatte anzukämpfen gegen die schneidige Fessel, die in früher Zeit bewußtlosen Denkens sich um ihn geschlungen hatte, zu strenger Pönitenz an diesen Fels geschmiedet worden war. So stand er vor uns in verklärter Weihe, ein Kreuzträger des Mittelalters mitten im neunzehnten Jahrhundert. Dem freien Austausch der Erfahrungen und Meinungen stand nun nichts mehr im Wege.

In seiner drastischen Weise schilderte der Weltentrückte, offenbar froh, wieder einmal Fühlung mit der Welt da draußen gewonnen zu haben, die einförmig wechselnden Bilder des Lebens auf diesem deutschen Sanct-Bernhardskloster. Im Sommer war das Bild ein oft sehr belebtes. Da rückte das bunte Treiben der Welt sehr nahe heran, denn der Kreuzberg bildet in der zugängigen Zeit des Hochsommers das allgemeine Wallerziel für fast das ganze katholische Frankenland, namentlich an bestimmten Festtagen. Dann beleben sich die kahlen Scheitel des Berges mit fast zu Tausenden zählenden Pilgern. Kloster und Kirche können die Zahl nicht fassen. Von Station zu Station bis hinauf zur Statt des Kreuzes lagert die buntfarbige Menge, jeden Alters und Geschlechts. Das ist dann eine aufreibende Zeit für unsern Pater, es bleibt ihm nur der Weg zwischen Altar und Beichtstuhl. Zu letzterem drängen sich die Schaaren von Morgens früh bis zum späten Abend. Um ihn aber lagert’s in dichten Haufen singend und laut betend, kommend und gehend. Da ist’s dem hartbedrängten Priester oft nicht möglich, sein eigenes, geschweige das fremde Wort zu hören. Dann erhebt er sich von seinem Stuhle und heischt mit seiner gewaltigen Stimme Ruhe von der wildbethörten Menge. Vergebens: seine Stimme tönt mahnender und dräuender, die Zauberformel versagt, er kann den tosenden Strom nicht beschwören.

„Ja, glauben’s mir, da schreien’s vom Morgen bis Abend und die Nacht hindurch bis wieder zum Morgen, und so fort oft ganzer drei Tage. Da hilft kein Reden und Rufen. O, die Leute! Das Volk ist gar zu stock – dös ist,“ setzte er dann, als er die Wirkung seiner Rede auf unseren lächelnden Mienen verspürte, sich corrigirend hinzu, „dös ist die – Begeisterung.“

Nach der heißen Arbeit des Sommers kommt dann die harte des Winters, der aus diesen ungastlichen Höhen fast drei Viertheile des Jahres für sich in Anspruch nimmt, Kloster und Kirchlein bis hinauf zur Dachung in seine Schneedecke hüllt, und Weg und Stege tief vergräbt. Dazu heult und rast der Sturmwind und jagt die flockigen Massen in dämonischer Kurzweil auf-, über- und untereinander. Dennoch ist es dem Pater und seinen Genossen nicht vergönnt, in schützender Zelle bleiben zu können. Er muß hinab in die um den Berg herum liegenden Ortschaften und Gehöfte, dort Predigt und geistlichen Segen zu spenden. Es gilt dann einen Kampf mit den Gewalten der Natur zu führen oft um Leben und Tod. Es gehört dazu die ganze Spannkraft und robuste Zähigkeit eines Körpers wie des seinigen, denn mit der „Begeisterung“ allein wär’s da nicht gethan.

Westlich thalabwärts vom Kreuzberg führt ein klarer, allmählich zu einem Fluß sich erweiternder Waldbach, die Sinn, zu einem der lauschigsten Plätzchen auf diesem Erdenrund. Denn ein solches ist das Stahlbad Brückenau. In einem anmuthig frischen Wiesengrund, einbezirkt von mächtig zum Himmel anstrebenden Bergen, die aber nicht wie ihre anderen rauhen Brüder der nördlichen und östlichen Rhön kahl und unwirthsam, sondern mit den prächtigsten Eichen, Buchen und Tannen vom Scheitel bis hinab in das schmale Wiesenthal bedeckt sind, gegen den Brand der Sonne wie gegen den Andrang rauher Winde gleichmäßig schützend, da liegt es drinnen mit seinen paar Gebäuden, hingestreckt, bürgerlich einfach, aber traulich behaglich. Nur auf der südwestlichen Thalöffnung erhebt sich vor dem überraschten Auge der imposante, erhabene Bau eines säulengetragenen griechischen Tempels, den profanen Zwecken von Tanz und Spiel und Speisung geweiht. Er ist eines der gewaltigen steinernen Gedichte König Ludwig des Ersten von Baiern, die seine gedruckten wohl lange überdauern möchten.

Die Badegäste, denen wir auf dem blumigen Curplatz, anmuthigen Wiesenpfaden und schattigen Waldwegen begegnen, bestehen zum überwiegenden Theile aus Damen. Uns interessirt zunächst eine unter denselben dahin wandelnde braune Franziskanerkutte. Es ist das leibhaftige Seitenstück zu dem Pater des Kreuzbergs. Die Kleidung streng nach der Ordensregel, bis auf den die Lenden gürtenden Strick, aber wie blendend weiß, wie

[361]

Am Kreuzberg in der Rhön. Nach der Natur aufgenommen von H. Heubner in Leipzig.

[362] fein und zierlich um die Taille geschlungen ist dieser Strick! Die Kutte braun wie jene andere, aber von feinerem Stoff, glänzender, von untadelhafter Reine. Ein schwarzes Sammtkäppchen verbirgt die Tonsur und eine Brille modernisirt das Gesicht. Die Kutte ist hier nur Folie für den modernen Menschen, der unten in wohlgepflegten Schnallenschuhen und oben in Kragen und Binde hervorlugt. Die Welt und zwar die profane eines Bades ist unserem Franziskaner auch nichts weniger als fernstehend. Sie umflattert ihn von allen Seiten, wenn er dahin schreitet durch die Alleen und auf den Promenadenplätzen. Und gerade Damen, junge, hübsche, glänzende Damen treten in den Zauberkreis der braunen Kutte und holen sich einen lächelnden Gruß von dem Herrn Pater Superior des Klosters Volkersberg, denn das ist er.

Das Kloster Volkersberg war immer ein sehr beliebter Wallfahrtsort für die Badegäste in Brückenau – und ist’s wohl auch noch. Was aber dahin zog, war nicht der Drang zu frommer Buße und Andacht, sondern der gute Kaffee und das schmackhafte Bier, welche der Bruder Koch und der Bruder Brauer dort zu bereiten verstehen. Dazu kommt dann noch die reizende Lage des Klosters. Wenn man in stetigem Waldesschatten den Saum des nördlichen Hochwaldes, des Hartwald’s erreicht hat, erhebt sich auf der freien Hochebene ein weiterer Hügel und von diesem, dem kleinen Sinni, herab lachen uns die weißglänzenden Wände eines stattlichen Gebäudes entgegen und weit in das Land hinein, eines Gebäudes, das weit eher einem Schlosse als einem Kloster sich vergleicht. Am Fuße des Berges streckt sich in buntem Gürtel das Dorf Volkers und dann ziehen sich gartenähnliche Terrassen rings um den Hügel bis an den Sockel des Baues heran.

Den Eintretenden empfängt der dienende Bruder mit gastgeberischer Freundlichkeit und geleitet ihn in das geräumige hohe und helle Gastzimmer. Mit geschäftiger Hand credenzt er den dunkeln Mokka nebst Zubehör und schleppt in großen Krügen den braunen Saft herbei. An schönen sonnigen Tagen bleibt das Haus nie ohne Gäste. In den hohen Fensternischen, die eine prachtvolle Aussicht auf die Gebirgslandschaft gestatten, an den breiten eichenen Tischen sitzen sie und plaudern in behaglichem Genuß. Der Kaffee macht geschwätzig und das Bier lebendig. Die Damen, wie immer die Mehrheit, führen das Wort. Die frommen Brüder aber gesellen sich dazu und sorgen für „bunte Reihe“. Der Bruder Gärtner versteigt sich sogar zu einem Acte der Galanterie und reicht beim Scheiden schöner Hand ein sinnig Sträußchen. Man scheidet lustig und fröhlich von dem gastlichen, von der Natur so verschwenderisch bedachten Ort und mit dem Gedanken, daß dort Mönch zu sein selbst für den modernsten Genußmenschen kein zu abschreckender Gedanke wäre.

Von den interessanten Formationen des Rhöngebirges ist die interessanteste indessen wohl die Milseburg, der höchste Fels in Franken, auf der Nordwestseite der Rhön, in der Richtung nach Fulda gelegen. In der Form eines riesigen Sarkophags erhebt er sich mitten aus dem fruchtbaren Ackerlande. Diese „Todeslade,“ wie der Volksmund sie nennt, tritt in ihrer isolirten Stellung viele Meilen weit in den Gesichtskreis. Auf dem Kopfende des steinernen Sarges, da wo derselbe in unnahbarer Steile kantig hinab fällt, tritt eine neue basaltene Kuppe heraus, zu deren Gipfelplateau der Weg durch eingehauene Stufen künstlich gebahnt ist. Diese Kuppe schwimmt gleichsam in der Luft und man meint auf ihr in den Himmel greifen zu können, so nahe glaubt man sich diesem. Sie gewährt deshalb auch eine der großartigsten Rundsichten. Trotz ihrer Beschränkung bot sie immer noch Raum genug zur Ausführung eines wahrhaft erhabenen Gedankens, den die katholische Kirche hier verwirklichte. Sie hat da hinauf eine Capelle gesetzt mit einer dem Freien zugekehrten Kanzel und sodann auf einem erhöhten Vorsprunge ganz hinaus ragend in die freie Luft des Himmels – das plastische Bild des gekreuzigten Erlösers mit den Figuren der Maria und des Johannes, ein überwältigendes Symbol der siegreichen Verbindung zwischen Himmel und Erde. Wahrlich, diese Kirche versteht sich auf Wirkungen. Der Eindruck ist der mächtigste.

Nun läutet’s auch schon in früher Morgenstunde in dem Kirchlein. Durch die klare Luft klingt der Ruf weit hinab in die umliegenden Dörfer, Weiler und Höfe. Bald regt sich’s lebendig auf den drei zugänglichen Seitenflächen des Berges und windet sich auf den steilen Pfaden durch Zweig und Busch näher und näher. Die hellfarbigen, weiß und rothen Kopftücher der Kirchgängerinnen tauchen immer zahlreicher aus Hag und Hecken auf, auch der schwarze Talar des Priesters wird schon sichtbar, der eilfertig seine Schritte nach der Höhe lenkt. Die niedrige Pforte des kleinen Heiligthums öffnet sich ihrem eintretenden Herrn; das Glöcklein verstummt, die Messe beginnt. Das Kirchlein kann die Menge der Anströmenden nicht fassen. Der größere Theil bleibt draußen auf dem Platze vor und neben der Capelle in mannigfachen Gruppen, sitzend, stehend, knieend, ein bunt belebtes Bild. Der charakteristische Gegensatz, welcher in der Kleidung dortiger Landleute Protestanten und Katholiken scharf scheidet, indem jene sich fast durchgängig nur in dunkle Farben, braun oder schwarz, kleiden, diese dagegen bunte, helle Farben tragen, grell verschieden bei Rock, Mieder, Schürze und Kopftuch, der Umstand dieses Gegensatzes tritt zu Gunsten der malerischen Wirkung des Bildes vortheilhaft hinzu. So paßt auch diese helle heitere Kleidung, die bei den Männern in dem blauen oder grünen Kittel eine gleiche Vertretung hat, weit eher zu der mehr nach außen als nach innen drängenden Stimmung des Ortes. Und die junge Büßerin, welche abseits von den Anderen und der geöffneten Kirchthür auf den paar Stufen, die nach der äußeren Kanzel führen, sich hineingekauert hat, tritt in ihrer allein dunkeln Gewandung um so schärfer in den Gegensatz.

Der Priester ging, die Messe war beendet.

Viele der Andächtigen blieben zurück. Ihr Blick war nicht mehr zu Boden oder nach dem glänzenden Bild der Monstranz gerichtet, er flog hinaus in das Weite und hinauf zum unendlichen Himmel.

Die Sonne stieg hoch und schien heiß hinab auf die glatten grauen Flächen des Gesteins. Der feuchte Thau, der auf ihnen lag, stieg brausend und brodelnd wie Opferdunst hinauf gen Himmel. Die Natur arbeitete unbeirrt weiter nach ihren heimlichen unsichtbaren Gesetzen. Die Menschen waren auf der Heimkehr zu der einförmigen Arbeit des Tages, zu Lust und Leid, dem alten, selbstgeschaffenen. Unterwegs grüßte sie aus einer vergitterten Nische ein holzgeschnitztes, buntbemaltes, goldbeflittertes Heiligenbild. Es war Sanct Kilian, der Schutzheilige der Rhön. Jetzt auf dem Heimweg ging Alles grußlos vorüber.

Fr. Helbig.




Vor vierzig Jahren!
Ein zeitgeschichtlicher Rückblick von Fr. Hofmann.


Am zehnten Mai dieses Jahres wurde uns folgendes Telegramm aus Neustadt an der Haardt in der Rheinpfalz mitgetheilt: „Telegraphie des deutschen Reichs. Erlaubniß von München soeben eingetroffen. Bürgerversammlung Sonntag Mittag. Ausschußsitzung heute.“ Diese Nachricht sagt uns, daß das öffentliche Jubiläum eines Festes, das vor vierzig Jahren den Hochpunkt einer großen sturmdrohenden Bewegung bildete und zur Rechtfertigung der gehässigsten Reaction mißbraucht wurde, von König Ludwig dem Zweiten großherzig gestattet worden ist.[1]

So werden denn am siebenundzwanzigsten Mai deutsche Männer und Frauen nicht blos aus der ganzen Pfalz, sondern auch aus dem alten und dem neuen Reiche festgeschmückt und festgestimmt zur selben Stätte hinaufziehen, wo am selben Tage 1832 das Hambacher Fest gefeiert worden ist.

Bei unseren Lesern dürfen wir es als bekannt voraussetzen, in welchem Zustande Deutschland von der französischen Julirevolution [363] von 1830 überrascht wurde. Des Bundestags einzige und höchste Sorge war bis dahin gewesen, die patriotische Begeisterung der Befreiungskriege wieder zu ersticken, die Souveränetät der Einzelstaaten und den Glanz der Dynastien zu befestigen, trotz der Verheißung des Art. 19 der Bundesacte die gegenseitige Zollabsperrung und Verkehrshemmniß im Innern unangetastet zu lassen, trotz des Art. 13 die Bildung constitutioneller Einrichtungen zu hintertreiben und unter dem Schutz der heiligen Allianz, zu welcher das arme Deutschland zwei Großmächte stellte, den Absolutismus zu verewigen. Jede Regung nicht etwa liberalen, sondern nur vaterländischen Geistes ward zum Verbrechen gestempelt, wie die Verfolgung der Burschenschaft, der Universitäten, der Lehr- und Preßfreiheit, wo sie ja noch bestand, beweist. Und wie war es ihm gelungen, in der großen Masse der Bevölkerung der Mittel- und Kleinstaaten gegenseitige Abneigung und Entfremdung durch gegenseitige Polizeihudeleien bis zum Haß zu wecken!

Daß solcher Gewalt gegenüber und unter so erbärmlichen Volkszuständen es dennoch Männer gab, welche nicht an der Zukunft unserer Nation verzweifelten, sondern es wagten, den geistigen Kampf gegen alle Brutalitäten der Metternich’schen Herrlichkeit zu beginnen, das ist’s, was uns noch heute zum Dank verpflichtet gegen die Kämpfer und Märtyrer von 1830 bis 1833, und das giebt zur Feier des Glanzpunktes jenes Kampfes, der großen Volksversammlung auf dem Hambacher Schloßberge, gerade in unseren Tagen des hohen patriotischen Glücks, der Erfüllung der damals so unerbittlich niedergetretenen Bestrebungen die vollste Berechtigung.

Von Parteibildung und Parteidisciplin konnte damals nur in den wenigen freieren Verfassungsstaaten die Rede sein. Im größten Theil von Deutschland führte nur das Gefühl der Schmach über die bestehenden Zustände die gleichgesinnten Männer zusammen. Da aber in den vielen Residenzen und den Städten mit zahlreicher Beamtenschaft die Mehrzahl der Handwerker in ihrem Erwerb vom Hofe und dessen Anhängern abhängig waren, so konnten nur selbstständige Männer sich offen der Bewegung anschließen, und darum war ihre Zahl überall gering; auch das gesammte Landvolk stand der Bewegung noch fern. Nur in Baden und am meisten in der Pfalz war Einmüthigkeit wenigstens im Haß gegen das altbaiersche Beamtenregiment, und darum konnte nur in der Pfalz ein solches Fest gefeiert werden. Der Aufruf dazu, von Siebenpfeiffer verfaßt, mit der Ueberschrift: „Der Deutschen Mai“ begann also: „Völker bereiten Feste des Dankes und der Freude beim Eintritt heilvoller großer Ereignisse. Darauf mußte das deutsche Volk seit Jahrhunderten verzichten. Zu solcher Feier ist auch jetzt kein Anlaß vorhanden, für den Deutschen liegen die großen Ereignisse noch im Keim; will er ein Fest begehen, so ist es ein Fest der Hoffnung; nicht gilt es dem Errungenen, sondern dem zu Erringenden, nicht dem ruhmvollen Sieg, sondern dem mannhaften Kampf, dem Kampf für Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erstrebung gesetzlicher Freiheit und deutscher Nationalwürde.

Das war der Geist, der zum Hambacher Fest aufrief, und dieser Geist leitete auch die Feier. Das Hambacher Fest war das Wartburgfest der deutschen Männer. Es war zugleich eine Anerkennung des Strebens der Burschenschaft; denn hier zuerst steckte das deutsche Volk als sein gemeinschaftliches Zeichen die schwarzrothgoldene Fahne auf: dieselbe Fahne, die 1848 auf allen deutschen Fürstenschlössern und Rathhäusern wehte, die bei Düppel und Eckernförde die Blut- und Feuertaufe erhielt, bei allen Nationalfesten glänzte, die der Nationalverein dem Volke vortrug und an die sich endlich (1866!) auch noch der durchlauchtigste deutsche Bundestag anklammerte in seiner höchsten und letzten Noth! –[2]

Das Fest hatte auf dem Hambacher Schloßberg gegen dreißigtausend Deutsche versammelt, in Massen aus den Rheinlanden, in Deputationen von den damals in vielen Städten gegründeten „Vaterlandsvereinen“ und viele Studenten aus dem gesammten übrigen Deutschland; dazu war noch eine Anzahl Franzosen (besonders aus dem Elsaß) und Polen gekommen. Auch Börne war von Paris herbeigeeilt. Nachdem die Fahne mit der Inschrift „Deutschlands Wiedergeburt“ aufgepflanzt war, eröffnete und entwickelte Siebenpfeiffer die Bedeutung des Tages. Der Hauptredner war Wirth, damals der gefeiertste Mann am ganzen Rhein, einer der edelsten Führer-Geister der Deutschen. Er trat als Liberaler wie als Patriot mit gleicher Entschiedenheit auf. Er zürnte auf jenen gedankenlosen kosmopolitischen Liberalismus, welcher die Nationalitätsfrage ungebührlich vernachlässigt habe, aber ebenso heftig auf jenen Oppositionseifer gegen die verhaßte altbairische Politik, welcher sich bereits so weit verirrte, mit dem Anschluß an Frankreich zu drohen. „Der Kampf um Vaterland und Freiheit,“ rief er, „muß von innen heraus geführt werden. Nimmer soll die Freiheit mit einer neuen Entehrung, mit der Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich, erkauft sein! Bei jedem Versuche Frankreichs, nur eine Scholle des deutschen Bodens zu erobern, hat jede Opposition im Innern zu schweigen!“

Wenn Wirth die Rettung Deutschlands nicht mehr von den regierenden Fürsten erwartete, so sprach er eine durch die damaligen Erfahrungen im Staatsleben immer rascher um sich greifende Ansicht aus. Ueberhaupt war der ernste Mann sich darüber vollkommen klar, daß er, wie Moses, seinem Volke ein Ziel stecke, das er selbst nimmermehr erreiche. Er sah die Verfolgungen voraus, die über ihn und seine Mitstreiter hereinbrechen würden, und ebendeshalb war er gewissenhaft besorgt für die Schaaren der Studenten und anderer gebildeter Jünglinge, die in schwärmerischer Begeisterung an seinen Lippen hingen. Als am Ende seiner Rede Frankfurter Bürger ihm einen Ehrendegen überreicht hatten, wandte er sich an verschiedene der ihm deshalb zujubelnden Gruppen der Jünglinge mit ernster, fast trauriger Mahnung. Eingedenk deß, daß die zukünftigen Zeiten auch Männer brauchen, verschwieg er ihnen nicht, daß die Reaction diesmal noch siegen werde. „Es sind der Märtyrer unserer Sache genug,“ sagte er. „Spart Eure Kraft für einen spätern Kampf! Wer nicht sich und seine Hoffnungen zu opfern bereit ist, der trete jetzt zurück!“

An ihm erfüllte sich seine Ahnung, aber am Ende freundlicher als an Siebenpfeiffer, denn während dieser in noch hoffnungsloser Zeit, 1845 starb, sah Wirth die Sonne von Achtundvierzig aufgehen und starb, selbst ein Reichsvolksbote zu Frankfurt am Main, gerade im rechten Augenblick, da eben Erzherzog Johann seinen Einzug als Reichsverweser mit der schwarzrothgoldenen Schleife im Knopfloch hielt.

Das Hambacher Fest verlief, wenn auch einzelne Reden lauteren Jubel oder Unwillen hervorriefen, äußerlich friedlich. Der nachhaltigste Theil desselben spielte sich nicht auf der Rednerbühne ab, sondern in den vertrauten Besprechungen der Führer und Abgeordneten der Vaterlandsvereine; bei denselben und in einer Berathung am anderen Tag in Neustadt wurde Allen als Hauptpflicht ans Herz gelegt: durch vereinigtes Streben die Preßfreiheit auf gesetzlichem Wege zu erringen. Das geschah mit Hülfe der „Preßvereine“, die nun mit den „Vaterlandsvereinen“ verbunden oder wenigstens neu angeregt wurden.

Die von der Censur gestatteten Zeitungsberichte über das erste große deutsche Nationalfest der Zukunftshoffnungen gaben nur Caricaturen desselben; die gesammte Regierungspresse geiferte vor Wuth. Das wahre Bild des Festes war nur aus den mündlichen und brieflichen Berichten in den Vaterlandsvereinen zu erkennen. Einem solchen Vereine gehörte ich, damals ein Neunzehnjähriger, an und erfuhr an mir selbst, wie hier die Saat gesäet wurde, zu welcher die Reaction, immer unsere sachförderlichste Alliirte, durch ihre die Verbitterung in immer weitere Kreise der Nation verbreitenden Gewalt-Maßregeln den besten Dünger lieferte: die Saat zum Jahre 1848! –

Menschen, die nur den Erfolg preisen und denen jedes Verständniß für die Würdigung vorkämpfenden politischen Ringens abgeht, haben ihren Hohn auch auf das Jahr 1848 und seine Helden und Märtyrer ausgegossen, wie ihre Vorgänger auf jene Hambacher Tage. Auch gegen diesen Volksundank ist das Jubiläum von Hambach ein beredter Mahner, und schon deshalb begrüßen wir seine Feier mit patriotischer Herzerhebung. Ist sie doch als ein doppeltes Dankfest verkündet: für die alten, fast vergessenen Freiheitsstreiter und Märtyrer und für die Helden [364] und Opfer unseres letzten großen Krieges! So giebt man auch hier „dem Volke, was des Volkes, und dem Kaiser, was des Kaisers ist“ – und versöhnt die alte mit der neuen Zeit! –

Dennoch wär’s ein Unrecht, wenn wir nicht einen einzigen Blick auf die reactionäre Jahresfeier des Hambacher Festes im Jahre 1833 werfen wollten.

Zwei Vorgänge hatten die Kluft zwischen den beiden feindlichen Partei-Heerlagern erweitert: die berüchtigten Bundesbeschlüsse vom 28. Juni 1832, welche, schon vor dem Hambacher Feste fertig, jetzt angeblich als Folgen desselben erst veröffentlicht wurden, die constitutionellen Staaten ihrer verfassungsmäßigen Rechte beraubten und die Deutschen vor aller Welt auf das Unwürdigste erniedrigten, und das Frankfurter Attentat am 3. April 1833! – Zu anderen Zeiten würde man diesen Streich patriotischer Verzweiflung zum großen Theil noch unzurechnungsfähiger junger Leute zwar bestraft, aber sicherlich nicht zur Rechtfertigung neuer Unterdrückungsmaßregeln gegen das ganze Volk ausgebeutet haben. Zunächst sollte die Pfalz die Folgen davon spüren.

Die nachfolgenden Thatsachen entnehme ich dem amtlich veröffentlichten „Protocoll des Kreislandraths vom 6. Juli 1833“, und der „Darstellung der blutigen Ereignisse vom Pfingstfeste 1833, auf dem Hambacher Schloßberge, im Dorfe Hambach und in Neustadt an der Haardt. Neustadt 1833“, einer Druckschrift, welche von sämmtlichen Mitgliedern des Neustädter Gemeinderaths unterzeichnet und nirgends widerlegt worden ist.

Schon Mitte Mai erließ die bairische Regierung einige Rescripte, welche das Erstaunen der Pfälzer Bevölkerung erregten. Man befürchtete eine Wiederholung des Hambacher Festes. Da nun aber alle Redner und viele hervorragende Führer jenes Festes, wie Wirth, Siebenpfeiffer, Pfarrer Hochdörfer, Candidat Scharpf, die Advocaten Schüler, Savoye und Geib, Buchdrucker Rost etc., seit Jahr und Tag in Untersuchungshaft schmachteten, so war weder Lust noch Anregung zu einer solchen Feier vorhanden und nirgends ein Aufruf dazu ergangen. Dennoch sprach die oberste Landesbehörde von „bedrohten Punkten“ und traf Anstalten wie gegen die Gefahr eines Aufstandes. Schon am 22. Mai rückten zahlreiche Truppen, Infanterie, Cavallerie und Artillerie in Neustadt ein, die Wohnungen „Verdächtiger“ wurden mit schwerster Einquartierung belastet, Officiere und Gemeine zeigten sich schon da einverstanden in der Mißhandlung von „Civilpersonen“ und schließlich erschienen der General Horn und der Regierungsdirector Fürst Wrede als Militär- und Civilcommissäre in Neustadt.

Nun wollte es der leidige Zufall, daß der Pfingstmontag, an welchem seit unvordenklichen Zeiten die Bewohner Neustadt’s und der umliegenden Ortschaften auf die Hambacher Ruine steigen und dort sich nach Landesart einen guten Tag machen, gerade auf den Siebenundzwanzigsten fiel. Fürst Wrede wurde von den Neustädter Stadträthen hiervon in Kenntniß gesetzt; er beruhigte sie, sprach, es solle Niemand gehindert werden, den Ort zu besuchen, und fügte hinzu: „Gehen Sie hinauf auf das Schloß, seien Sie lustig und vergnügt, nur sorgen Sie, daß kein öffentlicher Zug mit Fahnen und keine Reden stattfinden.“

Trotz dieser friedlichen Zusicherungen fanden die Berggäste die Burg von Soldaten und Gensd’armen besetzt, und schon auf dem Wege hinauf waren sogar Frauen von Soldaten mit den Gewehrkolben mißhandelt worden. Die Besucher durften nur auf der Terrasse Platz nehmen. Es war eben nur die Gewohnheit, die die Leute hier zusammenführte; die Stimmung war schon gedrückt. Da sah man auf einem entfernteren Berge zwei roth-schwarz-goldene Fähnchen plötzlich sich erheben und ebenso rasch wieder verschwinden. Noch heute ist’s unermittelt, ob kindischer Muthwille oder böse Absicht dies Spiel getrieben. Als aber gleich darauf Horn und Wrede nach ihrer Mittagstafel auf dem Schlosse ankamen, erfolgte sofort der Befehl, den Berg von allen Anwesenden mit Gewalt zu säubern.

Und wie geschah dieses! – Es lagen und saßen mehrere Hundert Menschen jeden Alters, und Geschlechts bei ruhiger Unterhaltung in Gruppen umher. Niemand dachte an die geringste Gefahr. Da fielen plötzlich – ohne einen einzigen äußeren Anlaß, ohne daß die Polizei ein Wort der Aufforderung an die Leute gerichtet, ja ohne daß das Militär die gesetzliche dreimalige Warnung vor seinem Einschreiten gegeben – wie absichtlich aus dem Hinterhalte Soldaten und Gensd’armen über die schreckensstarre Menge her. „Sie trieben sie den steilen Berg hinab. Mit den Gewehrkolben, den Säbeln und Bajonneten wurden Männer, Weiber, Jünglinge, Mädchen, Greise und Kinder gräßlich mißhandelt. … Nicht genug, die Menschen von der Spitze des Berges weggetrieben zu haben, verfolgte man sie auch noch den steilen Berg abwärts; die Verfolgten fielen, stürzten in der Eile der Flucht von Felsen zu Felsen; ihre bewaffneten Verfolger blieben ihnen stets auf der Ferse, und wo sie einen Flüchtling erreichten, war er der Kolbenstöße und Bajonnetstiche gewiß.“

Ein Knabe, ein alter Mann, sogar ein Schlafender und ein Sicherheitsgardist wurden lebensgefährlich gestochen. Ein Mann, Peter Heinrich Scharfenberger von Hambach, erhielt über zwanzig Kolbenstöße, vier Hiebwunden in den Arm und in’s Gesicht und zwei Bajonnetstiche; „als er unter diesen Streichen zusammengestürzt war, riß ihn ein Gensd’arm auf und zog ihn mit Gewalt an dem verwundeten Arme den Berg hinab, bis der obere Markknochen aus dem Schultergelenk herausgerissen war; trotz seines erbarmungswürdigen Zustandes wurde er geschlossen in’s Arresthaus gebracht und erst nach zweimal vierundzwanzig Stunden, die er ohne Bett zubringen mußte, wurde ihm ärztliche Hülfe verschafft!“ – Zwei Jünglinge, siebenzehn und vierzehn Jahre alt, wurden von hinten geschossen, ebenso ein Familienvater; Letzterer starb. Zu gleicher Zeit wurde überall im Freien und auf den Straßen von den Soldaten jeder Bürgerliche, dessen sie habhaft werden konnten, mit Ohrfeigen, Faustschlägen, Kolbenstößen, Säbelhieben mißhandelt; ja vor der Hauptwache war eine förmliche Prügelanstalt errichtet, ein Unterofficier leitete die Mißhandlungen und brüllte: die Neustädter Bürger hätten solche Züchtigung verdient. Selbst in Häuser und Höfe drangen die Wüthriche und schlugen, wen sie fanden.

Und doch sollte dies nur das Vorspiel der Hauptgräuel sein! – Schon Nachmittags hatten einzelne Soldaten ihren Quartiergebern von grausamen Befehlen zugeflüstert und sie gewarnt, auszugehen; sie hätten Ordre, jeden Bürger, der einen weißen Hut, einen weißen Rock, Laubwerk, eine Blume oder dergleichen trage, zu mißhandeln. Sie riethen ihnen, am Abend ihr Haus zu verschließen, denn es sollten fürchterliche Dinge ausgeführt werden; andere äußerten: es werde am Abend ein Todtenmarsch gespielt werden. All Das wurde jedoch erst nach den Thaten bekannt, und diese begannen, sobald General Horn und Fürst Wrede von Schloß Hambach nach Neustadt zurückgekehrt waren.

Wie an jedem Festabend waren in dem an sich schon übervölkerten Neustadt die Gassen auch vom herbeigeströmten Landvolk belebt; heute hatten die Vorgänge draußen ohnedies Alles auf die Beine gebracht. Beunruhigende Bewegungen waren gleichwohl nirgends zu bemerken. Da brachen plötzlich Patrouillen in alle Straßen und Gassen. Vom Markt her, gassenbreit, sprengte ein Piquet Chevauxlegers auf das Commando: „Den Säbel heraus, Nichts verschont!“ in strengem Trab vorwärts – da wurde niedergeritten und gehauen, was erreichbar war! Fliehenden drangen die Reiter mit den Pferden bis in die Wohnungen nach. Der Bürgermeister-Adjunct, der, mit dem Amtszeichen (breites blaues Band mit großem silbernen Medaillon) angethan, seinen Bürgern helfen wollte, wurde von Soldaten umringt und mit fünf Hiebwunden in Kopf und Gesicht, zwei Säbelhieben auf die Hände, einen Bajonnetstich und unzähligen Kolbenschlägen auf den Kopf, in’s Genick und auf den Rücken bedeckt – ehe er bluttriefend das Rathhaus wieder erreichte. Und kein Arzt durfte es wagen, zu einem Verwundeten zu eilen! – „Was Civil ist, hauen wir zusammen, jetzt haben wir Freiheit!“ und „Schlagt ihn todt, er ist ein Patriot!“ hörte man Soldaten und Gensd’armen durch die Straßen schreien.

Ein altbaierischer Officier brüllte: „Haut Alles zusammen, was Euch begegnet, sprecht kein Wort! Ich will das Hundevolk schon von den Straßen bringen, das Canaillenzeug!“ Einem schwachen Buckeligen wurde in seinem Krankensessel im Zimmer der Arm entzwei geschlagen, daß die Knochen sich durch das Fleisch schoben; auf einen einundzwanzigjährigen Bürgerssohn schlugen und stachen zwölf Soldaten, bis der Unglückliche zusammenbrach, wimmernd: „Laßt mich doch gehen!“ – „Halt’s Maul, Du Vieh!“ und noch ein Schlag – und Todtenstille. [365] Nicht einmal die Leiche gab man den Verwandten heraus, sondern verscharrte das Opfer heimlich! – Genug – genug! Die Hand will sich nimmer zum Schreiben solcher Thaten hergeben. Es ist ja das Allerärgste, daß wir noch das Facit der Rechnung hersetzen müssen: Fünf Stunden, von etwa vier bis sechs Uhr Nachmittags und sieben bis zehn Uhr Abends, hatte die Blutarbeit der Soldaten und Gensd’armen gedauert – und in dieser Zeit stieg die Zahl der verwundeten Bürgerlichen auf mehrere Hundert – von den Soldaten und Gensd’armen hatte nicht ein einziger Mann die geringste Verletzung aufzuzeigen – und ebenso wenig ist Einer bestraft worden. Und doch trieben die Regierungsblätter die Schamlosigkeit so weit, von einem Aufstand zu berichten, welcher mit Energie und Glück niedergeschlagen worden sei! –

Das war die reactionäre Jahresfeier des Hambacher Festes. Wir freuen uns jetzt, daß dieser Artikel nicht vor dem vierzigjährigen Jubiläum in die Oeffentlichkeit gekommen ist: die Wahrheit durften wir nicht verschweigen, und doch hätte sie die Feststimmung gestört und verletzt. Jetzt blickt Jeder ruhiger über das Fest hinüber in die grausige Vergangenheit – und Jeder wird sich die Lehre daraus ziehen, die auch den kommenden Tagen frommt.

Vor Allem ward durch unsern großen gemeinsamen Krieg und Sieg das Eine errungen: daß deutscher Patriotismus keine Todsünde mehr ist – wie von 1817 bis 1870! – Aber sind wir wirklich gegen eine Wiederholung solcher Gräuel geschützt? Bewahrt die bisherige Volksschulbildung dagegen? Nein! Der Quell des Uebels ist noch nicht verstopft. Das ist allein möglich durch wahre vaterländische Volksbildung! Und setzt dies einen Kampf gegen alle Feinde solcher Volksbildung voraus, so hat heute die deutsche Nation die gesetzlichen Mittel in der Hand, auch dieses Ziel zu erringen. Darum scheue man nicht den Blick in die Vergangenheit und auf ihre schwärzesten Blätter: sie sind der beste Mahner an die Mannes- und Bürgerpflicht, die ihre Forderungen an jeden Einzelnen um so höher stellen muß, je größer wir selbst vor den Völkern der Erde heute dastehen sollen.




Blätter und Blüthen.


Die fashionablen Kirchen und Prediger New-York’s. Giebt es etwas Seltsameres und für amerikanische Verhältnisse Charakteristischeres, als die sogenannten fashionablen protestantischen Kirchen, wie wir sie in New-York hauptsächlich an der fünften Avenue und in den umliegenden Straßen sehen? Der Löwe und das Lamm werden im tausendjährigen Reiche nicht friedlicher zusammenliegen, als Kirche und Welt in diesen merkwürdigen Etablissements, die schon in ihrer äußeren Ausstattung eine seltsame Verquickung entgegengesetzter Elemente aufweisen. Während man in anderen Ländern gewöhnlich bemüht ist, sowohl in dem Baustyl wie in der inneren Ausschmückung von Kirchen eine gewisse einfache Erhabenheit zum Ausdruck zu bringen und die den Zuhörer umgebenden Eindrücke so zu gestalten sucht, daß dieselben dazu beitragen, die Gemeinde den Alltagsgedanken zu entziehen und auf ein höheres Niveau der Empfänglichkeit für die mahnende Stimme des ewigen Gesetzes zu stellen, geht das Streben des fashionablen Kirchenbaumeisters im Gegentheil dahin, aus der Kirche jeden Gegenstand zu verbannen, der in allzu lebhafter Weise an die Bestimmung des Ortes erinnern könnte. Andererseits sucht er vielmehr jede Bequemlichkeit zu gewähren, welche die Raffinerie des modernen Geschmackes ersonnen hat, so sehr dieselbe auch in Widerspruch mit der Natur des Platzes stehen mag, so daß zum wenigsten in Betreff des Comforts die ihr Boudoir für einige Stunden aufgebende Modedame keinen Unterschied bemerkt. Wohin wir blicken, bemerken wir die geschickte Hand des Polsterers und Kunstschreiners, die im Verein dafür gesorgt haben, eine Ausstattung zu schaffen, an deren gediegener Pracht auch das kritischste Auge nichts aussetzen könnte, wenn sich nicht störend in unseren Enthusiasmus das Bewußtsein einmischte, wie wenig doch diese Brüsseler Teppiche, in welchen unser Fuß fast versinkt, diese modernen Holzschnitzereien mit ihren Amors und Amoretten, diese Kirchenstühle, die sich von Sopha’s nur dadurch unterscheiden, daß sie bequemer sind, wie wenig alle diese Gegenstände dazu beitragen können, einer Kirche den ihr eigenthümlich sein sollenden feierlichen Charakter zu verleihen.

Nach der Orgel sehen wir uns vergeblich um, da dieselbe der neueste Mode gemäß in einer sich dem Auge entziehenden Weise angebracht ist, und eben so wenig ist es uns möglich, ausfindig zu machen, in welcher Weise die Kirche des Abends erleuchtet wird, da die mächtigen Armleuchter und Glaskuppeln, die man früher als Ornamente einer Kirche betrachtete, schon lange verschwunden sind, als ob man sich des Factums, daß überall des Abends Gottesdienst gehalten werde, schäme. Was die Kirchenuhr anbetrifft, so erfreut sich dieselbe allerdings noch einer Existenz der Duldung, wagt jedoch, da sie keineswegs bei unseren nervenschwachen Damen in Gunst steht und wahrscheinlich für ihre Zukunft fürchtet, nur in gedämpften Tönen die Stunde zu verkünden, um nicht allzu mahnend an ihr Dasein zu erinnern. Das Licht, welches durch farbige, mattgeschliffene Gläser fällt, verletzt das Auge nicht, stimmt ausgezeichnet zu der gediegenen Eleganz, auf die wir überall stoßen, und erleichtert es außerdem der Versammlung, weniger interessante Partien des Gottesdienstes zu verschlafen.

Zu sagen, daß der Zweck dieser kostbaren und eleganten Einrichtungen sei, arme Leute zurückzuschrecken, würde Verleumdung sein. Im Gegentheil werden Personen, deren Anzug und Benehmen verräth, daß sie weniger lohnenden Beschäftigungen obliegen als die Mehrzahl der Versammelten, ebenso höflich mit Sitzen versehen wie diejenigen, welche in Equipagen angefahren kommen, ja die Gegenwart derartiger Besucher wird gelegentlich geradezu systematisch gesucht. Nichtsdestoweniger fühlen sich die Mittellosen zurückgestoßen, da sie wissen, daß sie nicht im Stande sind, ihren Antheil zur Aufrechterhaltung derartiger Institute beizutragen, und nicht wünschen, auf Kosten Anderer an denselben theilzunehmen. Alles in der Kirche und in der nächsten Umgebung derselben scheint darauf hinzuweisen, daß wir es mit einem exclusiven kirchlichen Club zu thun haben, der nur für Leute mit zehntausend Dollars jährlich und aufwärts geschaffen ist.

Es ist Sonntag Morgen und die Thüren dieses schönen Salons sind geöffnet. Mit versteckter Pracht gekleidete Damen, untermischt mit solchen, die es nicht über sich haben gewinnen können, ihre auffallenderen Toilettegegenstände zu Hause zu lassen, gleiten an uns vorüber. Schwarze Seide, schwarzer Sammet, schwarze Spitzen, deren Einförmigkeit hier und da durch Anklänge an hellere Farben und durch das Blitzen halb verborgener Diamanten unterbrochen wird, bilden die gewöhnliche Garderobe. Schwarz uniformirte Herren kündigen ihre Ankunft durch das Knarren ihrer Stiefel an. Die Gesellschaft ist gewöhnlich nicht sehr zahlreich, ist jedoch ebenmäßig über die gesammte Kirche vertheilt und läßt so das Gefühl der Leere nicht aufkommen. Gleich wie in einer Handelsstadt jedes Ding vom commerciellen Standpunkte aus beurtheilt wird, rangirt auch eine numerisch schwache, aber financiell starke Kirche nicht nach der Zahl der Seelen, sondern nach der Zahl der Dollars.

Die Gemeinde ist versammelt. Die leisen Klänge der Orgel sind verrauscht. Eine weibliche Stimme schwingt sich melodiös in die Lüfte und übertönt das Knattern der Seidenstoffe und das Flüstern ihrer Trägerinnen. So süß und mächtig ist dieselbe, daß ein Fremder fast glauben könnte, sie gehöre einem himmlischen Chore an; die Einwohner der Stadt jedoch erkennen sogleich eine ihrer beliebtesten Primadonnen, die sie oft in Concerten und Theatern gehört haben, und lauschen kritisch den zauberhaften Tönen. Gut ist es, daß der hoch künstlerische Gesang uns verhindert, den Worten eine allzustrenge Aufmerksamkeit zu schenken, da andernfalls die mangelnde Harmonie zwischen dem einfachen Texte und der verzierten italienischen Musik uns störend auffallen müßte. Die Vorstellung ist jedoch in ihrer Art so ausgezeichnet, daß wir an derartige Nebensachen nicht denken. Sobald die Dame ihre Stanze beendigt hat, nimmt ein nobler Bariton, den wir ebenfalls als professionell erkennen, die Melodie auf und giebt uns ein Solo zum Besten und so fort. Es ist klar, daß die ersten Talente, welche für Geld zu haben sind, zur Unterhaltung der Versammlung engagirt wurden, und wir sind deshalb durchaus nicht erstaunt, wenn man uns mittheilt, daß die Musik jeden Sonntag zwei- bis dreihundert Dollars kostet.

Ueberraschend und der Beachtung werth ist das Factum, daß diese schöne Musik nicht zieht; ja fast möchten wir sagen, daß, je kostbarer die Musik, desto spärlicher der durchschnittliche Besuch ist. Der Nachmittagsgottesdienst zum Beispiel in der Trinity-Kirche, jener fashionabelsten der fashionablen Kirchen, ist wenig mehr, als ein hübsches Freiconcert, dem selten zweihundert Personen beiwohnen, und dies trotz des Umstandes, daß die Predigt nie die fashionable Länge, nämlich zwanzig Minuten, überschreitet.

Ist dieses feine Präludium beendigt, so beginnt der Prediger, und wenn der Letztere nicht ein Mann von außergewöhnlichem Auftreten und hervorragenden Gaben ist, fühlt sich Jeder unwillkürlich durch den Contrast herabgestimmt. Die Stimme ist gewöhnlich, die Worte sind hausbacken oder sogar gemein. Keiner, der nicht Jahre lang an den Platz gewöhnt ist, kann sich dem Gefühl entziehen, daß die Sprache, welche er hört, nicht zu der Scene um ihn herum paßt. Wohin unser Auge blickt, fällt es auf moderne Gegenstände, mit denen sich unwillkürlich moderne Anschauungen verknüpfen; die Worte aber, welche wir hören, gehören einer vergangenen Zeit an und sind oft der Gegenwart kaum verständlich. Der Prediger spricht von demüthigen Gläubigen, und wir schauen uns um und fragen: „Sind diese kostbar und elegant gekleideten Personen demüthige Gläubige?“ Der Prediger sagt: „Kommt, laßt uns uns vereinigen in süßem Gesang,“ und alsobald führen vier gemiethete Sänger ein Stück schwerer Musik aus, während die Versammlung, die Augen schließend, passiv dabei sitzt. Der Prediger ereifert sich ob des Jagens und Haschens nach weltlichen Glücksgütern, und zu gleicher Zeit weist der Küster einem soeben angekommenen Herrn, in welchem wir nicht nur ein Mitglied des Kirchenvorstandes, sondern auch einen der bekanntesten und gewissenlosesten Börsenspieler erkennen, seinen Platz an.

Manchmal nehmen die Ungereimtheiten, in denen sich viele dieser fashionablen Prediger ergehen, den Charakter des Lächerlichen an. So hörte z. B. ein Freund von uns einen im Uebrigen nicht unbefähigten und jedenfalls wohlmeinenden Geistlichen nahe der fünften Avenue die weiblichen Mitglieder seiner Gemeinde fragen, ob sie gewohnt wären, mit ihren Dienerinnen und namentlich mit denjenigen, welchen das Frisiren der Haare obläge, über das Heil ihrer Seelen zu reden. Er erwähne speciell die Friseusen, weil, wie er richtig bemerkte, die Damen sich mit diesen Künstlerinnen während des Haarkräuselns über verschiedene Gegenstände zu unterhalten pflegten, und daher die Gelegenheit höchst günstig wäre, hin und wieder ein Wert über diesen weitaus wichtigsten Gegenstand einfließen zu lassen.

[366] Was die fashionablen Kirchen New-Yorks anbetrifft, so genügen allerdings die an denselben angestellten Prediger der Regel nach, was äußeres Auftreten so wie Form der Reden anbetrifft, jeder billigen Anforderung. Will ein Fremder in möglichst kurzer Zeit ein gutes Englisch lernen, so kann man ihm nur zu einem regelmäßigen Besuche dieser Kirchen rathen. Dagegen wird er schwerlich aus den Predigten, die er dort hört, einen Nutzen für’s praktische Leben schöpfen und sich lediglich, je öfter er dieser Species von Gottesdienst beiwohnt, um so enttäuschter fühlen. Was die Zusammensetzung der diese Kirchen unterhaltenden Congregationen betrifft, so recrutiren sich dieselben hauptsächlich aus unserer Geld-Aristokratie, die natürlich, wie jede andere Sache, so auch die Religion vom Geschäftsstandpunkte auffaßt. Aus innerem Bedürfniß besuchen Wenige die Kirche; der Eine ist ein hervorragendes, d. h. ein vielzahlendes Mitglied derselben, um für sein Geschäft Reclame zu machen; ein Anderer tritt derselben bei, um seinen Ruf, der in Folge gewisser Stockspeculationen etwas anrüchig geworden ist, zu rehabilitiren, ein Dritter besucht dieselbe aus Gewohnheit, ein Vierter ist ein alter Verehrer der Primadonna mit der engelgleichen Stimme, von der wir im Vorhergehenden sprachen etc. Ein Prediger nach dem Schlage von Luther oder Knox würde daher in einer solchen Gemeinde nicht nur auf keine Sympathie zu rechnen, sondern im Gegentheil in kurzer Zeit nach allen Seiten hin angestoßen und sich unmöglich gemacht haben. Was verlangt wird, ist ein Prediger, dessen Stil an Glätte und Ebenmäßigkeit mit der Glätte seiner Cravatte zu wetteifern im Stande ist, der niemals seine Predigt über zwanzig Minuten ausdehnt und ebensowenig an dieser vorgeschriebenen Zeit etwas fehlen läßt, sich niemals durch seinen Stoff so weit hinreißen läßt, daß er seine Zuhörer, denen jede außergewöhnliche Erregung ein Gräuel ist, mit sich hinrisse, und der es außerdem zu vermeiden versteht, allzu unsanft gegen die fashionablen Sünden des Tages zu Felde zu ziehen, obwohl hin und wieder eine kräftige Verwarnung gegen die Sünde im Allgemeinen erwünscht ist. So sind die fashionablen Kirchen New-Yorks beschaffen, und so muß der Prediger beschaffen sein, der an denselben eine Anstellung mit einem Gehalte von sechs- bis zwölftausend Dollars erlangen will.

E. Frederich.




Den „echten Trauring Luther’s“ besitze auch ich, aber nicht in natura, sondern in figura, in einer Abbildung; Alle jedoch, welche sich schmeicheln, ihn „in natura“ zu haben, weilen, mit Ausnahme des Originalbesitzers, in Täuschung, denn ihr Exemplar ist eben auch nur ein figürliches. Und die Sache hängt so zusammen: Das Jubeljahr der Reformation, 1817, war selbstredend geeignet, mit den Erinnerungen an den befreienden Aufschwung deutschen Geistes auch alle Luther-Erinnerungen wieder wachzurufen und ihnen nachzuspüren, um so mehr, als die Gemüther noch unter der erwärmenden Nachwirkung von 1813 bis 1815 standen und eine Flamme deutsch-patriotischen Bewußtseins (man denke an das „Wartburgfest“!) durch die Seelen loderte, wie in unseren heutigen Tagen, und jeder Beziehung auf unsere geschichtliche Vergangenheit in dem nationalen Farbenscheine einen erhöhten Reiz gab. So konnte es nicht fehlen, daß eine liebevolle Aufmerksamkeit selbst kleinen Aeußerlichkeiten sich zuwandte, gleichwie wir ja jederzeit an irgend einem Gedenkstück, sei’s Bild, Denkmünze, oder auch nur ein Kiesel, ein getrocknetes Blatt, die Erinnerung an eine Begebenheit, einen Ort symbolisch festhalten und beim Anblick der Haarlocke eines theuren Verstorbenen seine Gegenwart empfinden.

So geschah es auch mit zwei verschiedenen Ringen, dem sogenannten Verlobungs- und dem Trauringe Luther’s – beide wohl Beides gleichzeitig, da Verlobung und Trauung auf einen Tag zusammenfielen; der eine von der Braut dem Gatten, der andere von diesem jener gegeben. Als nun Kayser’s „Reformations-Almanach“ – ein verdienstliches und inhaltreiches Jahrbuch, von welchem leider nur drei Jahrgänge herausgekommen sind – nebst anderen Stücken aus Luther’s Verlassenschaft auch die beiden Ringe beschrieb und in Abbildung brachte[3], war es ein naheliegender Gedanke, dieselben in getreuer Nachbildung als ein Andenken an das Reformations-Jubeljahr unter die Leute zu bringen. Der Silberwaaren-Fabrikant Bruckmann zu Heilbronn, dessen Firma P. Bruckmann u. Söhne wohl heute noch besteht, führte ihn aus, mindestens bezüglich des einen der Ringe, dessen nämlich, den Luther seiner getreuen Katharina gegeben hat und der von dieser die ganze Zeit ihres Lebens getragen worden ist; und so kommt es, daß noch heute von Zeit zu Zeit da und dort ein „Trau-“ oder „Verlobungsring“ Dr. Luther’s auftaucht und bewundert wird, bis – die Freude zerstört wird, wie wir sie hier zerstören mußten. Nichtsdestoweniger hält doch der Besitzer ein interessevolles und beredsames, doppeltes Denkstück in der Hand: seien wir Luther’s Geiste und dem seines Jahrhunderts so treu, wie Käthchen ihrem Gatten war, und schließen ihnen so warm und liebevoll uns an, wie das Jahr 1817 es that! – So spricht der Ring.

Th. Oelsner-Rübezahl.

  1. Diese Entscheidung kommt für die Veranstalter des Erinnerungsfestes noch früh genug, für die Gartenlaube, bei ihrer bekannten Herstellungszeitdauer, zu spät, als daß sie selbst eine Verkünderin des neuen Tages von Hambach sein könnte; ehe diese Nummer in die Hand des Lesers kommt, ist die Festbeschreibung schon durch alle Zeitungen gegangen.
  2. Die wahre Entstehungsgeschichte dieser Fahne werde ich nach der mir hinterlassenen Handschrift eines Mannes, der sie mit „zusammengesetzt“ hat, jetzt, wo es nur noch ihre geschichtliche Ehre zu retten gilt, nächstens in der Gartenlaube mittheilen.
  3. Nach Kayser’s Mittheilung befand sich der eine Ring damals in Privatbesitz zu Leipzig, der andere (auf der Bibliothek?) zu Wolfenbüttel.




Bitte um ein altes abgelegtes Clavier. Es ist wirklich so! Diese Bitte sollen wir aussprechen, und wir thun es gern, denn es geschieht für einen armen Lehrer. Derselbe besitzt eine liebe Frau; er hat sie nicht des Geldes wegen geheirathet, denn dieselbe besitzt so wenig wie er. Aber ihre Liebe war gesegnet, selbst als des Mannes Gehalt erst hundertfünfzig Gulden betrug. Jetzt leben von ihren dreizehn Kindern noch sieben, alle unversorgt; zusammen sitzen also dreimal täglich neun Hungrige am Tisch, und wenn auch die Einnahme der Schulstelle sich bis zu zweihundertachtundvierzig Thalern erhöht hat, so nahm doch in der sehr theuren Gegend, wo er wohnt, im Jahre 1871 das Brod allein hundertzwanzig Thaler davon in Anspruch, – und der Mensch lebt nicht von Brod allein, abgesehen von Kleidung und sonstiger Leibesnothdurft. Kurz, wenn das Jahr herum ist, ist die Lehrerfamilie auch mit herum, – und so ist’s in den vielen Jahren dem Lehrer unmöglich gewesen, seinen höchsten Wunsch zu stillen, sich ein Clavier anzuschaffen. Und doch spielt er es so trefflich und könnte sich manche Herzenserhebung und durch Unterweisung in der lieben Kunst seinen Kindern ein Empfehlungsmittel mehr für ihre Zukunft verschaffen. Muß nicht der Mann ein Clavier haben? Kann wirklich nicht geholfen werden? – Ja, es ist möglich, denn Das unterliegt gar keinem Zweifel, daß in Deutschland viele reiche Familien leben, die bei Seite gestellte Claviere besitzen, deren Entbehrung sie nicht im Geringsten oder nur als Wohlthat spüren würden. An solche reiche Leute wendet sich die obige Bitte. Warum sollte nicht unter den reichen Musikfreunden auch ein so Glücklicher sein, dem das Herz bei dem Gedanken lachte, mit seinem alten abgelegten Clavier eine solche Freude anzurichten? Die Gartenlaube verräth dann herzlich gern dem fröhlichen Geber die Adresse des Beglückten.




Luther in Rom. Wenn ein Autor von so hervorragender Erzählungsgabe, von so anmuthiger, geistreicher Gestaltungskraft und von nach allen Seiten so gründlicher umfassender Bildung wie Levin Schücking sich eines das Interesse und, fast dürfte man sagen, den wunden Nerv unserer Zeit so nahe berührenden Themas bemächtigt, so konnte nur ein Werk von ungewöhnlicher Anziehungskraft entstehen. Diese hat in der That sein „Luther in Rom“ (Hannover, C. Rümpler), von vielen kritischen Stimmen als sein bestes und gedankenreichstes Buch bezeichnet, ausgeübt; wir vernehmen zu unserer Genugthuung, daß die zweite Auflage desselben vorbereitet wird.

Der Held des Romans ist der „theure Gottesmann“, Bruder Martin, der als echt deutsche anima candida, als ein Schwärmer für die Größe seiner katholischen Kirche und um die Interessen seines Klosters zu vertheidigen, das Rom des Papstes Julius des Zweiten und der Renaissance betritt, und dieses wieder verläßt, in allen seinen Idealen betrogen und den zündenden Funken der Reformation im Herzen, um daheim der „Retter der Religion“ zu werden. Der sich allmählich und stufenweise in ihm vollziehende Abfall ist dabei vortrefflich entwickelt. Um ihn gruppiren sich zahlreiche Gestalten, theils historische, theils vom Dichter eingeführte, deren Schicksale in spannendster Darstellung an uns vorübergeführt werden und deren Leben und Treiben in Klöstern und Schlössern, im Vatican und Atelier ein mit solcher Meisterschaft entworfenes und mit so reichen Farben ausgeführtes Bild jener denkwürdigen Zeit uns giebt, daß wir mit dem Buche nicht allein eine Romandichtung von ungewöhnlicher Schönheit, sondern auch ein überaus fesselndes Gemälde der großen und hohen Zeit der Renaissance erhalten, in deren Verständniß Schücking tief genug eingedrungen ist, um uns den fast ganz gleichen Herzschlag, den diese Zeit mit der unsern hatte, fühlen zu lassen.




Wer kann Auskunft geben? 1) Am 6. März 1857 wollte ein deutscher Goldarbeiter, Heinrich Oswald Engel aus Nossen an der Mulde in Sachsen, von Harderwyk nach der Insel Curaçao gehen; er war damals 21¼ Jahr alt und hat nie wieder etwas von sich hören lassen.

2) Am 10. Januar 1871 wollte Herz Behrend, der einundzwanzigjährige Sohn eines schleswigschen Beamten in Friedrichstadt, von Mainz nach Frankfurt am Main reisen. Er schrieb dies seinen Eltern von Mainz aus und bat sie, ihm erst Antwort zu geben, wenn er selbst wisse, wo er bleibe. Mit dieser Nachricht ist der junge Mann spurlos verschwunden. Es ist jetzt über Jahr und Tag, und keine obrigkeitliche Nachforschung hat zum geringsten Wink geführt – ein furchtbares Schicksal für die armen Eltern!

3) Der Buchhalter Albert Treitschke in der Maschinenfabrik Horstmann in Pr. Stargardt fuhr am 1. November 1871 von da nach Danzig, feierte dort am 2. den Geburtstag seines Bruders Karl mit und reiste am 3. November, von seiner Schwester zum Bahnhof begleitet, mit dem Zuge Danzig–Dirschau ab – und ist seitdem nicht wieder zum Vorschein gekommen!

4) Eine Wittwe in Sachsen gestattete vor neun Jahren einem Panoramen-Besitzer Namens Kaufmann, ihren damals dreiundzwanzig Jahre alten, aber sehr klein gebliebenen Sohn Paul Dietze zu sich zu nehmen, um ihn als Zwerg für Geld sehen zu lassen. Der junge Mensch schrieb seiner Mutter regelmäßig und schickte ihr von seinen Einnahmen, bis vor einem Jahr, wo aus Odessa der letzte Brief kam, der seine baldige Heimkehr meldete. Seitdem blieb auf die Briefe der Mutter jede Antwort aus. „Ich werde jeden Tag älter und komme bald um vor Gram,“ schreibt die arme Frau.




Haideprinzeßchen. Mit Bezug auf unsere Uebersetzungsnotiz in Nr. 14 unseres Blattes werden wir von Ungarn aus darauf aufmerksam gemacht, daß dort bereits zwei verschiedene Uebersetzungen dieses Marlitt’schen Romans erschienen sind, die im Lande der Magyaren reichen Absatz finden.




Kleiner Briefkasten.


Sch–fr. in Rochlitz. Auf Ihre Anfrage: „Kann der Ausbruch des Vesuv wohl Einfluß auf die Witterungsverhältnisse (in Sachsen) bei uns in Deutschland haben, eventuell bis auf welchen Umkreis?“ diene Ihnen Folgendes: „Der Ausbruch eines Vulcans kann als eine ganz locale Erscheinung nach dem gegenwärtigen Stande unserer Naturerkenntniß nicht den geringsten Einfluß auf die Witterung ausüben. Es wäre dies nur dann denkbar, wenn die durch den Ausbruch erzeugten Gleichgewichtsstörungen der Atmosphäre solche Dimensionen annähmen, daß die hierdurch bewegten Luftmassen einen beträchtlichen Theil, z. B. der über Europa ausgebreiteten Luftmasse, betrügen. Dies ist aber bei allen gegenwärtigen vulcanischen Eruptionen und der relativen Kleinheit der feuerspeienden Berge – wie dies ein Blick auf die Landkarte sofort lehrt – auch nicht im Entferntesten der Fall.“

Kr. in Solingen. Wenden Sie sich an den Blutfinken- (Dompfaffen-) Züchter Kowell II. in Strebendorf bei Alsfeld (Hessen), der stets gute Vögel zieht.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.