Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1872)/Heft 19

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[301]

No. 19.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Beim Alten am Sulzberg.


(Fortsetzung.)


3.


Die kleine Zechstube des Wirthshauses zu Brannenburg und der anstoßende Garten füllten sich Abends mit Gästen der nächsten Umgegend. Alt und Jung saß nach ländlichem Brauch getrennt von einander an gesonderten Tischen, und während sich die Einen bei gefülltem Bierkrug über die Saat, die Forstwirthschaft oder den Viehstand dieser oder jener Alm unterhielten, vergnügten sich die Andern lustig beim Kegelspiel. Die jungen rothwangigen Dirnen zwischen den Burschen sorgten auch dafür, daß die Unterhaltung nicht in’s Stocken gerieth, denn es gab gar viel zu erzählen von all’ dem, was da und dort zwischen den Bergen vorgegangen, und kamen sie auf liebe Angehörige zu sprechen, so war es oft weniger die Schilderung eines flotten Burschen oder einer bildsaubern Sennerin, was frische Anregung in die Gesellschaft brachte, als die genaue Beschreibung von irgend einem „Scheckei“ mit vier gleichfarbigen Füßen oder von einer rothen Kalbin mit einem weißen „Blaßl“ auf der Stirn.

Die Dirnen waren gerade im Begriff den Heimweg anzutreten, denn die Zeit zum Melken nahte heran, als eine allgemeine Bewegung, begleitet von einem mißfälligen Gemurmel, unter den Gästen im Garten entstand. Es war der eben eintretende Jäger-Maxl, der mit seinem Erscheinen plötzlich alle Gemüthlichkeit störte und nicht mit den freundlichsten Mienen empfangen wurde.

„Nachbarn, ruckt ein Bissel auseinand’, daß er sich nicht zu uns hersetzt!“ Derlei Winke wurden ziemlich hörbar fast auf den meisten Tischen der Alten gegeben. Die jungen Burschen steckten auch Alle die Köpfe zusammen und mit höhnischer Geberde sagte einer ziemlich laut: „Der soll nur so lang prahlen, daß er einen Wilderer erschossen hat, bis ihm Einer Eins ’naufbrennt, daß er’s Schnaufen vergißt.“

Die Wirths-Resei, die im kleidsamen Hausanzug, die beiden Hände voll Krüge, eben aus dem Hause kam, hatte kaum den Jäger bemerkt, als sie ihm einen durchdringenden Blick voll Haß zuwarf.

„Du, bring’ dem da ein Bier!“ rief sie einem Dienstbuben zu und winkte geringschätzig auf den Jäger hin. Dabei bebte ihre Stimme vor verhaltenem Zorn.

Der Jäger war, wie es schien, nur gekommen, um den Förster oder sonst einen Collegen beim Glase Bier zu treffen, und als er nach einem raschen Ueberblick durch den Garten kein freundliches Gesicht entdeckte, setzte er sich abseits und verließ bald darauf die Wirthschaft. Den Schloßhügel hinab schlenderte er gedankenvoll einem kleinen Gehöfte zu, das durch die wogenden Kornfelder und den schattigen Baumgarten davor fast ganz versteckt lag. Ein Paar sorgfältig gepflegte, mit Goldlack und Nelken eingefaßte Gartenbeete neben dem freundlichen Wohnhäuschen waren von einem starken Prügelzaune eingegrenzt, an dem sich eine Reihe dicht umrankter Bohnenstangen hinzog.

Hinter dem hohen grünen Spalier stand das junge blonde Mädchen, das wir diesen Morgen am Ufer des Inns in so tiefem Schmerz verließen. Eine weiße Schürze vorgesteckt, die schönen goldhellen Zöpfe um die Stirn gelegt, löste sie emsig die reifen Bohnen von den Ranken. Die freundlichen blauen Augen zeigten sich noch geröthet von den vergossenen Thränen, doch nach dem Ausdruck der Ergebung in dem stillen anziehenden Gesichte schien ihr bewegtes Gemüth zur Ruhe gekommen zu sein. Plötzlich hielt sie im Pflücken inne – sie hatte den Jäger erblickt, wie er langsam den Hang herabkam. Mit heiß schlagendem Herzen, mit starrem Auge und in zitternder Erwartung folgte sie jeder Bewegung des hübschen jungen Mannes durch ihr dichtbelaubtes Versteck. Noch vor wenigen Minuten glaubte sie sein Bild aus ihrer Seele verdrängt zu haben und kaum hatte sie ihn jetzt erblickt, so erwachten Schmerz und Liebe auf’s Neue und alle Qualen der Eifersucht nagten an dem tief verwundeten Herzen. Sie war gewiß, daß er aus dem Wirthshause herabkam, und als sie jetzt sehen mußte, wie er, statt wie sonst mit raschem Schritt zu ihr zu eilen, dort nebenan unter der großen Buche auf der alten Steinbank sich niederließ, hastig ein in Briefform zusammengefaltetes Papier hervorzog und begierig zu lesen begann – da rang sie die zitternden Hände.

„Jetzt ist’s gewiß, daß ich betrogen bin,“ preßte sie mühsam hervor, „er hat ja schon einen Brief von ihr!“

Sie achtete es nicht, daß die in die Schürze gesammelten Früchte zerstreut im Garten lagen, und wankte der mit wildem Wein bewachsenen Laube zu, um sich dort auszuweinen.

Es war nur das Bruchstück eines Briefes, was der Jäger in den Händen hielt, und es schien, als hätte er diese einsame Stelle aufgesucht, um sich ungestört in den Inhalt des abgerissenen Blattes vertiefen zu können. Mehrmals überflog er die wenigen unversehrt gebliebenen Zeilen und betrachtete dann noch aufmerksam prüfend jedes einzelne Wort. Der obere und untere Theil des ersten beschriebenen Blattes sammt Eingang und Schluß des Briefes fehlten gänzlich, während die auf der leeren Rückseite des zweiten Blattes befindlich gewesene Adresse gleichfalls abgerissen war. Dasselbe zeigte nur noch die Bemerkung „Durch [302] gütige Vermittlung“ und Spuren eines Oblatenverschlusses, woran sich ein Petschaftabdruck nicht mehr erkennen ließ.

„Je länger und je öfter ich diese Schriftzüge betrachte,“ sagte sich der Jäger wie unter dem Eindrucke einer starken innern Bewegung, „desto bekannter kommen sie mir vor. Es ist kein Zweifel, es ist die Hand meines Vaters, aber nicht mehr der feste sichere Zug, der sie früher kennzeichnete. Was muß über den alten Mann hereingebrochen sein, das seine Hand so zum Zittern brachte? Oder wäre der Schreiber mir fremd, ist es Täuschung, ein Spiel des Zufalls, ist’s eine Mahnung des Geschick’s, meine Schritte wieder in die Heimath zu lenken?“ Und er fing wiederholt zu lesen an:

„– – haben sie ihn hinausgetragen auf den Kirchhof zur Mutter. Meine einzige Stütze! – Es war für mich ein neuer schrecklicher Schlag, und doch war ich noch nicht geprüft genug. Es sollte noch schlimmer kommen. Schwächlich, wie sie von Kindheit auf war, warf dieser schwere Verlust auch – –“

„Wenn nur dieses Stück hier nicht fehlte, brächte der Nachsatz doch ewiges Licht in das Dunkel,“ klagte der Jäger verstimmt und starrte wieder auf das Blatt.

„– – So muß ich alter Mann,“ las er auf der Rückseite weiter, „vielleicht meinem letzten Kinde noch in die Grube nachschauen, oder lebt wirklich, wie ich vor Kurzem hörte, dort in den Bergen noch ein Sohn für mich? Wenn es so ist, o kehr’ zurück, mein lieber Sohn, laß alles Vergangene vergessen sein, laß uns – –“ Hier brach der Inhalt ab.

„Wie kann ich da noch zweifeln?“ fuhr der junge Mann lebhaft auf und schlug sich vor die Stirn. „Es ist mein Vater, der das geschrieben hat! So ist das Gerücht von meinem Aufenthalte doch bis zu ihm gedrungen! Er wünscht mich zurück – ich begreife den Zusammenhang, ich verstehe Alles! Mein Bruder Konrad, der mir seine Liebe gestohlen, der mich von meinem Platz im Vaterhaus verdrängt hat – Konrad lebt nicht mehr – vielleicht ist auch die arme Marie nicht mehr am Leben. Ich muß Gewißheit haben, ich muß den Kerl herausbringen, von dem die Joppe ist, in der ich das Blatt gefunden. Er muß mir sagen, woher er den Brief hat, der lange geschrieben und herumgetragen sein muß, ehe er in Stücke ging. Und wenn es, wie ich vermuthe, der Flößer-Franzl ist, der ja so oft nach Passau fährt – – Doch jetzt,“ brach er, wie von einem Gedanken ergriffen, plötzlich ab, und der düstere Zug in seinen Zügen war verschwunden – „jetzt zu meinem Lenerl, ich darf sie unmöglich länger warten lassen.“

Der Jäger steckte rasch das Blatt zu sich, sprang auf und eilte, sich über die Umzäunung schwingend, durch den Baumgarten auf das Hagengütchen zu, aus dem die Lene, sein Mädchen, ihm heute nicht entgegen flog. Da er sie auch nicht in der Stube traf und nur dem finstern Gesicht der ihm sonst so freundlich gesinnten Mutter begegnete, die kaum seinen Gruß erwiderte, trat er peinlich berührt in’s Gärtchen hinaus und blieb, als er die Tochter hier in bittern Thränen gefunden, betroffen vor der Laube stehen.

„Was ist bei Euch geschehen, Lene, ist Euch ein Unglück widerfahren?“ fragte er unruhig, und da das Mädchen, ohne aufzuschauen, immer schmerzlicher schluchzte, trat er erschrocken zu ihr und legte den Arm um sie. Sie aber riß sich ungestüm los und mit ungewohnter Heftigkeit stieß sie ihre Worte hervor.

„Mit uns ist’s aus, wir sind fertig miteinander. Ich hätt’ mein Leben für Dich ’geben, Alles geopfert für Dich, aber jetzt sind mir einmal die Augen auf’gangen und jetzt ist’s vorbei, vorbei für alle Zeit!“ rief sie in höchster Erregung und stürzte an ihm vorüber aus der Laube.

Der Jäger stand wie betäubt, er wollte ihr nacheilen, da vertrat ihm die Hagengütlerin, die aus der Stube herbeigekommen war, mit zorngeröthetem Gesicht den Weg.

„Gebt’s Euch kei’ Müh, Herr Maxl,“ sagte sie in gereiztem Tone, „es bedeutet nichts mehr. Und wenn Ihr nicht draußen bleibt aus meinem Haus, werd’ ich meinem Diendl schon anders ihre Ruh’ verschaffen! Wir sind geschiedene Leut’ – behüt Euch Gott!“ Mit einer unzweideutigen Bewegung wies die erzürnte Frau nach dem Gatterpförtchen.

Der junge Mann war in der äußersten Verwirrung. Er hatte in der ersten Bestürzung das Gütchen schon verlassen, ehe er nur recht zur Besinnung kam. In seinem Kopfe arbeitete es wild durcheinander, in der Brust schlug es wie mit Hammerschlägen und mit ganz verstörten Zügen stürmte er auf der Straße gegen Nußdorf fort. Bald gewann der Schmerz die Oberhand über den in ihm kochenden Zorn und er hatte nur den einen Gedanken an den plötzlichen Schlag, der sein Glück vernichtet. Auch sie, das einzige Wesen, das ihn ausgesöhnt mit seinem verfehlten Leben, sagte sich von ihm los und zerriß das letzte Band, das ihn an ein anderes Herz gefesselt. Ruhig über das Unerwartete nachzudenken und den Ursachen der unerhörten, durch nichts gerechtfertigten Begegnung nachzuforschen, die er in dem Hause erfahren, wo er bis gestern noch als ein liebes Glied der Familie anerkannt worden – dessen war er bei seiner leidenschaftlichen Natur nicht fähig.

„Das fehlte noch,“ murmelte er zwischen den Zähnen, „auch sie falsch und treulos, sie, die ich so hoch gehalten so warm geliebt, für die ich die Heimath, die Meinigen, Alle vergessen und verschmerzen konnte! Wer hätte es diesem Mädchen angesehen, daß auch sie meine Liebe verrathen würde! Wie oft hat sie mir gesagt, es sei ihr Tod, wenn ich sie je verlassen könnte! Ich habe in ihr das reine unschuldige Naturkind geliebt, ich habe um sie alle meine Pläne aufgegeben, und hätte sie mich hier nicht gehalten, wäre ich längst über die Grenze gegangen. O Vater, Vater, Du sollst mich nicht umsonst gerufen haben,“ rief er schmerzlich aus, „sei getrost, alter Mann, Dein Sohn kehrt heim zu Dir. Ich lasse ja nichts zurück – ich bin ja auch hier wieder ausgestoßen –“ Er schlug die Hände vor’s Gesicht und unterdrückte mühsam die aufsteigenden Thränen.

In Nußdorf angekommen, wollte er sich rasch dem Försterhause zuwenden, als er seinen Entschluß wieder änderte und, wie spät es auch schon war, in entgegengesetzter Richtung den Weg in die Berge einschlug. Das Abendroth schwebte feuriger als sonst über den Waldgipfeln und die Bergspitzen waren wie in Gluth getaucht. Ein leichter Dunstschleier überzog den Himmel und an den Felsengraten setzte sich weißgelbes Gewölke an, indeß ein scharfer Windzug durch die Baumwipfel fuhr. Alles verkündete eine stürmische Nacht, der Jäger aber athmete freier auf, je mehr es um ihn rauschte und sauste. Er stieg den Heuberg hinan und sein eifriges Spähen und Suchen deutete darauf hin, daß er seine Forschungen nach dem entkommenen Wilderer fortsetzte, die der Ausbruch des drohenden Wetters jedoch für heute bald unterbrach.

Abgerissene Gewitterwolken lagerten schon zwischen den Bergkesseln, während von Westen der Sturmwind eine schwarze Wand vor sich her trieb. Plötzlich lag über dem weiten Thal tiefe Nacht und erst beim Aufleuchten der rasch aufeinander folgenden Blitze erglänzten durch das Dunkel wieder die weißen Schaumwellen des Gebirgsstromes, in welche die Sträucher und Weiden am Ufer, vom Winde hin und her gepeitscht, ihre schwanken Wipfel tauchten. Das Aechzen und Stöhnen der mächtigen Stämme des Bergwaldes übertäubte der Donner, der, in hundertfältigem Echo gebrochen, ein ununterbrochenes Rollen war. Inzwischen hatten sich auch die Wasserrinnen an den Bergwänden gefüllt und sandten ihre Gewässer als Sturzbäche in die Tiefe. Die Waldbäche schwollen höher und höher und schoben unter Tosen und Schäumen grobes Steingeröll, Baumstümpfe und Aeste vor sich her, bis die aufgestaute Fluth sich brausend freie Bahn brach.

Lange wanderte der Jäger in dem Unwetter noch bergauf. Er kämpfte mehr mit dem Sturme in seinem Innern, als daß er viel auf den Aufruhr der Elemente um sich her geachtet hätte, bis er endlich, schon ganz durchnäßt und erschöpft, unter einem vorspringenden Felsen Schutz suchte. Es war längst Mitternacht vorüber, als er, beim schwachen Schimmer der Sterne, heimkehrte, um vergeblich Ruhe auf seinem Lager zu suchen.

Beim Herannahen des schweren Gewitters, das über das Thal hinzog, hatte auch in Brannenburg mancher Bauer mit prüfendem Blick und besorgt um seine Fluren in später Nacht noch nach den Wolken geschaut und nach der Richtung, die sie nahmen. Das Wirthshaus daselbst hatte auch der letzte Gast schon verlassen und die leere Zechstube war nur noch durch ein einzelnes Talglicht auf dem großen Eichentische bei der Schenke erhellt.

Die Eigenthümerin des Hauses, die alte verwittwete Wirthin, saß dort in ihrem geräumigen, ledergepolsterten Armstuhl und hatte eine große Rechentafel vor sich liegen. Ein Paar dichte [303] Scheitel silbergrauen Haares, die aus einer schwarzen Pelzhaube hervortraten, umrahmten ein rundes blühendes Gesicht. Aus den hundert Falten und Fältchen in dem frischen alten Gesichte sprach unendlich viel Güte und Wohlwollen, das klare braune Auge verrieth hellen Verstand und an der ganzen stattlichen Erscheinung, von der goldgestickten schmucken Pelzmütze, der feingegliederten goldenen Halskette mit der breiten perlenbesetzten Schließe bis zur reichen Silberschnur am Mieder sammt den angehängten blanken Frauenthalern erkannte man die wohlhabende und wackere Hausfrau. Die große runde Hornbrille hatte die Frau Wirthin jetzt von der Nase auf die Stirn gerückt und schaute mit gefalteten Händen unverwandt nach der einen Stubenecke. Dort prangte, in bunten Farben aufgetragen, der Schutzpatron in Feuersgefahr, der heilige Florian, gepanzert mit Helm und Harnisch und eben im Begriff, ein brennendes Haus neben sich mit Wasser zu begießen. Auf ihn war gläubig ihr Sinn gerichtet und nur wenn ein greller Blitz die halbdunkle Stube erleuchtete, zuckte sie zusammen und bekreuzte sich andächtig. Auch die schöne Resei, ihre Pflegetochter, die still neben ihr saß, schlug bei jedem Aufblitzen das Kreuz, doch dachte sie an keinen St. Florian. All’ ihr Denken war heute bei ihrem armen Franzl, und all’ ihr Kummer war, wie wohl er diese stürmische Nacht auf seinem luftigen Lager droben zubringen möchte.

Der letzte Donnerschlag hatte kaum ausgegrollt, da schob die Alte ihre Brille auf die Nase zurück und zog die Rechentafel an sich. Dieselbe war dicht mit Kreide beschrieben und zwar in einer Schrift, die stark vermuthen ließ, es sei die Gedenktafel vom Grabmal eines Pharaonen, denn Niemand konnte ahnen, daß diese Hieroglyphen die mancherlei Maße, Halbe und die unterschiedlichen „Geselchten“ (Würste) mit Bretzeln bedeuten sollten, die von den zahlreichen Gästen heute vertilgt worden waren und für welche Resei nach vollbrachtem Tagewerk das Geld einzuliefern hatte.

Mit lauter Stimme rechnete die alte Frau die Zahlen zusammen, während Resei aus ihrer großen Ledertasche die entsprechende Summe in langen Reihen auf den Tisch zählte. Zweimal schon hatte sie Alles durchgezählt, aber immer fehlte es wieder und wollte mit der Rechnung der Wirthin nicht stimmen. Mit heimlichem Lächeln beobachtete die gute Alte über ihre Brille hinweg lange das sichtlich zerstreute Mädchen, das heute wieder gar nicht bei der Sache war, bis sie endlich sagte: „Laß’s nur gut sein, Resei, hab’s schon geseh’n, das Geld ist schon recht. Du bringst heut’ nicht zwei und drei richtig zusamm’. “ Dann füllte sie das Geld in einen Leinwandsack, den sie in einem altmodischen Wandschrank verwahrte.

„Gut’ Nacht, Frau Godl!“ (Pathin) sagte das Mädchen und streckte mit halb abgekehrtem Gesichte der alten Frau ihre Hand entgegen. Diese faßte sie freundlich beim Arm und zog sie wieder auf den Stuhl zurück.

„Bleib’ noch ein wenig da bei mir, Resei, ich hab’ Dir was zu sagen.“ Dabei schob sie ihre Brille nochmals in die Höhe, setzte sich bequemer in ihrem Lehnstuhl zurecht und begann, während ihre schelmisch lachenden Augen durchdringend auf dem betroffenen Mädchen ruhten, unter bedächtigem Kopfnicken ihre Rede.

„Schon lang’ merk’ ich, daß ’s bei Dir nimmer recht richtig ist, Resei. Das Ausbleiben über Zeit, das Herumstreunen, das im Winkel Hineinsteh’n und Weinen – Diendl, ich hab’ Alles geseh’n! Dein Kopf ist nimmer daheim, Dein Herz auch nicht, überhaupt das ganze Diendl nicht. Hab’ lang’ genug jetzt zugeschaut, ohne was zu sagen, und glaub’ doch, ich hätt’ ein bissel ein Recht dazu. Hab’ Dich als kleinwinzig’s Kindl’ in’s Haus genommen, wie Deine Mutter gestorben ist, um’s Deinem braven Vater leichter zu machen. Ja, da hat mein Seliger noch gelebt, hat der eine Freud’ gehabt mit dem kleinen Bambse! Wie nachher ein Jahr darauf Dein Vater im Steinbruch verunglückt ist, haben wir dies Waisl’ doch nicht können hinausstoßen und so bist bei uns aufgewachsen wie ein leiblich’s Kind. Hast uns oft viel Freud’ gemacht, bist jetzt groß ’worden und auch sauber, ja, ja, Resei, mit einem Wort: bist ein resolut’s sakrisch’ Diendl ’worden.“

Die alte Frau schaute wohlgefällig auf das schöne jugendfrische Mädchen, das mit hochgeröthetem Gesicht, dem Lichte abgewandt, verlegen mit den Enden ihrer Schürze beschäftigt war.

„Früher hast mir freilich Alles aufrichtig erzählt,“ fuhr die Frau Wirthin wohlmeinend fort, „aber jetzt wird halt die alte Godl ein wenig auf die Seite geschoben sein, nimmt mich auch nicht Wunder.“

„Nein, nein, das ist nicht wahr, Godl!“ rief das Mädchen hastig und ergriff der Alten Hand, die sie, stürmisch küßte.

„Nu, nu, ich glaub’ Dir’s schon,“ entgegnete die gute Frau sichtlich erfreut, „ich war ja auch jung und auch ein Bissel sauber und war ein schneidig’s Diendl. Weiß ganz gut, daß ’s in Deinem Alter Einem unter’m Brustfleck zu krabbeln anfangt und man meint, es wird Einem völlig ’s Mieder zu eng. Ja, Resei,“ versicherte die Alte und lächelte dem Mädchen bedeutsam zu, „ich hab’ auch so heimlich gethan mit meinem ersten Schatz, aber mir, Deiner zweiten Mutter, dürftest ihn schon verrathen. Ich will Dir nur sagen, ich bin alt, die Wirthschaft ist mir eine Last und die paar Tag’, die mir unser lieber Hergott noch schenkt, möcht’ ich Dich gern versorgt sehen. Drum – ist’s ein rechtschaffener braver Bursch’, der ehrlich und fleißig ist, darfst mir ihn alle Tag’ bringen, wenn er auch Nichts hat. Ich kann meine Sach’ doch nicht mitnehmen, und schau, Diendl, sonst hab’ ich ja Niemand als wie Dich.“ Hier strich sie mit ihrer runzligen Hand zärtlich über das reiche braune Haar des Mädchens und ihr Auge haftete liebevoll auf ihr. „Nu, Resei,“ fragte sie bewegt, „darf ich’s nicht wissen, wer’s ist?“

Das Mädchen war rasch vom Stuhle aufgesprungen und hing laut weinend am Halse der guten Alten.

„Ja, Godl, meine liebe Mutter,“ schluchzte sie, halb außer sich vor Glück und innerer Beklemmung, „nur heut’ fragt mich nicht – es ist ja der beste Mensch auf der ganzen Welt!“

„Ja, ja,“ lachte die Alte, „glaub’ Dir’s, das sagt eine Jede von ihrem Buben, aber mach’ nur, daß Du jetzt in’s Bett kommst.“ Dabei zog sie das Mädchen mit sanfter Gewalt nach der Thür. „So, bet’ jetzt zu Deinem Schutzengel,“ mahnte sie, indem sie mit den Fingerspitzen in das am Thürpfosten angebrachte Weihbrunnkesselchen langte und mit dem geweihten Wasser zuerst das Mädchen und dann sich selber besprengte.

Befriedigt nickend schaute sie ihrer Resei noch nach, als diese schon auf den Hausgang getreten war. Dann nahm sie das Licht vom Tische und heiter vor sich hin murmelnd: „Bin doch neugierig, was sie mir für einen Buben in’s Haus bringt!“ wandte sie sich nach der Seitenthür und mit dem Worte: „Unser lieber Herrgott wird’s schon recht machen!“ verschwand sie in ihrer Schlafstube.




4.


Tag um Tag verstrich und der Jäger wanderte immer noch ruhelos in den Bergen umher, ohne dem Ziel seiner Nachsuchungen auch nur im Geringsten näher zu rücken. Tief verstimmt und niedergedrückt kehrte er von jedem Gang zurück und doch kam der Kummer über die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen nicht dem Grame gleich, der um den Verlust des immer noch heiß geliebten Mädchens an seinem Herzen zehrte. Wenn er bei seinen Streifereien von ungefähr einmal das sonst so rosige lebensfrohe Wesen abgehärmt und geknickt einherschleichen sah, schnitt es ihm in die Seele und gar manchmal betrachtete er seinen geladenen Stutzen mit einem Blick, wie wenn er die Mündung lieber gegen die eigene Brust kehren wollte, als gegen das freie Wild in den Bergen. Die traurige Veränderung in der äußeren Erscheinung des jungen Mädchens bestärkte ihn mehr und mehr in dem Glauben, daß Lene nicht aus freiem Entschluß, sondern unter dem Einflusse des mütterlichen Befehls gehandelt. Sein tief verletztes, empörtes Gefühl hielt ihn aber von jedem Versuche einer Annäherung zurück.

Die Wirths-Resei drängte es seit der Besprechung mit ihrer Pathe mehr als je, mit ihrem Franzl zusammenzukommen, um ihn von den unerwartet günstigen Gesinnungen der alten Frau zu unterrichten und mit ihm die frohesten Hoffnungen auf die Zukunft zu bauen, aber gar oft stieg sie den Sulzberg wieder umsonst hinan. Sie traf zwar die hochgelegene Hütte des Alten nie verschlossen, doch war weder von ihm, noch von seinem Buben eine Spur zu sehen.

Der Heu-Anderl hatte, die zerstreute Stimmung des Jägers und seinen Mangel an Wachsamkeit benützend, indessen eifrig seine Fallen gestellt und fast jede Nacht stürzte außerdem eine Gemse, tödtlich getroffen von seinem Blei. Um solche Jagdbeute [304] ohne Gefahr zu veräußern, mußte der erfahrene alte Wilderer oft entfernte Thäler besuchen, wobei er die Beihülfe seines Glaasei nicht immer entbehren konnte, und ehe nicht ein Theil des Erlöses als Tirolerwein durch seine durstige Kehle geronnen war, kehrte er selten wieder heim.

Senkrecht sandte heute die Julisonne ihre Strahlen herab und Schutz vor der sengenden Gluth gewährte nur das Dunkel des Bergwaldes oder die erquickende Frische einer Felsschlucht. Kein Lerchensang drang durch die Luft; kein Flügelschlag, kein Laut der gefiederten Sänger belebte die Stille unter den herrlichen Baumkronen; kein frischer Luftzug bewegte ein Blatt in Busch und Wald. Verstummt war das Schellengeläute des weidenden Alpenviehs, Alles lechzte nach Kühlung und die Thiere ruhten unbeweglich im Schatten.

Da trat Anderl, von einer Geschäftsreise kommend, aus dem Gehölze gegen seine Behausung zu. Seiner Gewohnheit gemäß ließ der Wildheuer die schlauen Augen erst überall vorsichtig umherschweifen, ehe er sich an seinen häuslichen Herd begab, und als ihm nichts Verdächtiges aufstieß, hob er die hölzerne Thürklinke. Ueberrascht blieb er aber auf der Schwelle stehen, da er im Innern Stimmen vernahm. Wer mochte nur jetzt beim Glaasei sein, den er selber bei seinem versteckten Schützling droben eher vermuthet hätte als daheim? Eben wollte er durch das kleine, halb blinde Fenster in die Stube schauen, als es ihm in lautem kräftigem Tone entgegenklang: „Grüß’ Gott, Anderl!“

„Ja was, der Flößer-Franzl selber ist’s!“ rief der Alte verwundert, eilte in die Stube und lebhaft schüttelte er die ihm dargereichte Rechte des hochgewachsenen jungen Burschen, den er bei seinem Buben traf.

Daß die aufopfernde Treue und Liebe der Wirths-Resei an keinen unwürdigen Gegenstand verschwendet war, konnte man erst recht verstehen, wenn man die hohe prächtige Erscheinung betrachtete, die nun an der Seite des Heu-Anderl aus der Thür trat und diesen noch überragte.

Ein glückliches Lächeln, das zwei Reihen blendend weißer Zähne zeigte, lag auf dem offenen frischen Gesicht, der blonde Schnurrbart war leicht gekräuselt wie das Haupthaar, und herzgewinnend wirkte der freie treuherzige Blick des großen blauen Auges. Die kurze schwarze Lederhose mit den hellen Wadenstrümpfen bekleidete ein schöngeformtes sehniges Bein, und das am Halse offene Hemd, umspannt von dem schmucken grünen Hosenträger, ließ eine breite männliche Brust erscheinen. Aus jeder Muskel lachte Jugendkraft und Formenschönheit und die ganze athletische Gestalt mit dem hochgehaltenen Nacken und den entblößten straffen Kniekehlen machte den Eindruck eines echten kerngesunden Bergländers. Wie ein aus dem Käfig entsprungener Löwe reckte der Flößer-Franzl seine Glieder, und als er einen Blick in das Thal warf, wo die von leuchtendem Gewässer durchzogenen Wiesen im prächtigsten Grün schimmerten, setzte er unwillkürlich zu einem mächtigen Juhschrei an. Der vorsichtige Anderl kam ihm zuvor und legte ihm rasch die breite Hand auf den Mund.

„Hältst Du’s Maul!“ gebot er. „Willst g’wiß dem Jäger-Maxl schrei’n, daß er Dich geschwinder erwischt! Sag’ mir lieber, wie geht’s Dir mit Deinen Haxen (Beinen)?“

„O mei’, Alter,“ sagte der Flößer-Franzl mit lachender Miene, „ich weiß schon nimmer, was für Einer krank gewesen ist, d’rum hab’ ich’s auch nimmer länger droben ausgehalten. Ich sag’ Dir, mir ist so leicht, ich bin so voll Freud’, daß ich könnt’ die höchste Wand gerad’ hinauflaufen. Aber sag’ mir, mein guter Anderl, könnt’ ich nicht die Resei seh’n? Hab’s gerad’ mit Deinem Glaasei ausgemacht, daß er ihr Botschaft bringen sollt’.“

„Das braucht’s nicht, die kommt schon von selber,“ meinte der Wildheuer, „ich hab’ von der Schneid’ aus am Holzweg ein Madel geseh’n, die wird’s schon sein. Jetzt gehst herein in die Stube, da heraußen ist’s nicht rathsam,“ sagte er und der Flößer folgte ihm in’s Häuschen, wo der Glaasei eben daran war, einen einfachen Imbiß, aus Schwarzbrod und Ziegenkäse bestehend, gastfreundlich aufzutischen.

Der Alte hatte richtig gerathen. Den hellen Schweiß von der Stirn trocknend und heftig athmend von dem raschen Lauf, eilte das junge Mädchen trotz der brennenden Sonnenstrahlen schon den Berg hinan. Die fröhliche Erwartung trieb sie rastlos aufwärts und gönnte ihr keine Minute Ruhe, denn Glaasei, der sich gestern bei ihr eingefunden, hatte ihr versprochen, den Franzl heute auf jeden Fall in seines Vaters Häuschen zu bringen.

Der Flößer-Franzl hatte vom Hüttenfensterchen aus durch die Waldbäume hindurch kaum den Schimmer ihres Gewandes gesehen, als ihm sein ungestüm klopfendes Herz das Nahen seines Mädchens verkündete. Den Alten bei Seite schiebend, schoß er pfeilschnell zur Thür hinaus und breitete seine Arme der auf ihn zustürzenden Resei entgegen.

So groß die Sehnsucht nach ihrem Franzl und der Kummer um ihn gewesen, so stürmisch war die Freude des Wiedersehens. Immer umschlang sie den stattlichen Burschen auf’s Neue und hielt ihn mit beiden Armen fest, als fürchte sie, er werde ihr nochmal entrissen. Ein unbeschreiblich glücklicher Ausdruck leuchtete über ihre Züge, als sie den Kopf an seine Brust legte und zu ihm hinauf sah. Doch plötzlich, als wäre neue Besorgniß um ihn in ihr erwacht, riß sie sich von ihm los und mit der bangen Frage: „Ja, Franzl, hast Dir denn nichts ’brochen, ist Dir nichts ab, thut Dir nichts weh?“ betastete sie ängstlich seine Glieder.

„Ganz bin ich noch und verhungern haben sie mich auch nicht lassen, Madel, gelt, das spürst?“ sagte Franzl, faßte seine Resei plötzlich mit starkem Griff um den Leib und schwang sie hoch in die Luft. Als sie lachend wieder auf ihren Füßen stand, schaute er ihr tief in’s Auge, und sie immer noch festhaltend, sang er im Uebermuth der Freude:

„Ohni Hirsch, ohni Di’,
Ohni Gambs, ohni Bix (Büchse),
Da saget i’ scho’,
Mit der Welt, da is ’s nix,

Und waar na’ (nachher) scho’ (schon) lieber
Glei’ g’storb’n in der Wieg’n
Und that als an Eng’l
In Himmi ’rumflieg’n.“

Sie schüttelte ihn liebreich bei den Schultern und ihre schwarzen Augen blitzten ihn lustig an.

Ein warnender Pfiff tönte aus dem Häuschen. Die Liebenden achteten nicht darauf. Da erschien der Alte, ungeduldig mit den Händen winkend, unter der Thür.

„Franzl, der Jäger!“ rief er mit gedämpfter Stimme und fügte brummend hinzu: „Da steht er, hört nicht und sieht nicht, wie ein Spielhahn auf der Balz!“

Das junge Paar fuhr auseinander. Die Warnung kam aber zu spät, denn in geringer Entfernung von den Beiden tauchte plötzlich der Jäger-Maxl aus dem Gebüsch hervor. Eine dunkle Zornesröthe flog über Franzl’s Gesicht; schnell besonnen sprang er zurück und erfaßte die schwere Holzaxt, die neben der Thür des Häuschens lehnte. Hoch aufgerichtet schwang er sie mit nervigem Arme, und die wilde Drohung, die aus seinen funkelnden Blicken sprach, verhieß nichts Gutes. Das Mädchen aber stürzte, so wie sie den Jäger erblickt, zum Tode erschrocken an den Hals des Burschen und suchte ihn mit ihrem Körper gegen jede Gefahr zu decken.


(Fortsetzung folgt.)




Ein Zerstörer geistiger Zwingburgen.


Von F. A. Stocker.


Der allgemeine Ruf der Reformationszeit „Reform an Haupt und Gliedern“ ertönt gegenwärtig von Neuem durch halb Europa, aber es handelt sich nicht wie damals um die Reform der Glaubenssätze und eine organische Umwandlung in einer jeden der damals zur Trennung gelangten Kirchen selbst; die Reformpartei in beiden Kirchen strebt danach, aus der „Erlösungs- und Heilanstalt für den Himmel“, als welche die Kirche bisher gegolten, eine der Zeit und der Wissenschaft angepaßte Lehr- und Bildungsanstalt für die Erde zu machen. Wenn auf katholischer Seite diese Zielpunkte in den Congressen zu Heidelberg und [305] München noch nicht eine intensive Färbung erhalten haben, so muß man bedenken, daß wir erst am Anfange der Reform stehen. Allein in diesen Kampf haben sich so eminente Geister hineingewagt, daß ein lohnendes Resultat unstreitig daraus entsprießen muß.

In diesem Kampfe gegen religiöse Erstarrung und Fortschrittslosigkeit, gegen unbedingte Unterwürfigkeit unter den Papst, in diesem Streite um die Befreiung des Volkes von der kirchlichen Hierarchie ragt „hochhäuptig über Alle, die selbst gewaltig sind“, eine imposante Greisengestalt hervor, die man nicht wieder vergißt, wenn man sie einmal gesehen hat, ein Mann mit den ernsten Zügen des Pädagogen, der hohen Stirn des Denkers und dem scharfen Blicke des Menschenkenners: Augustin Keller, Mitglied des Regierungsrathes des Cantons Aargau und Präsident des schweizerischen Ständerathes.

Augustin Keller.

Augustin Keller’s Geburt fällt in die Periode der staatlichen Entwickelung des Cantons. Es war vielleicht gerade der rohe, unfertige Zustand dieses neuen, dem bernischen Patriziate entwundenen und in eine eigene aargauische Aristokratie verketteten Staatswesens, sowie die noch immer feindselig einander gegenüberstehenden confessionellen Verhältnisse, was so mächtig zu der spätern Geistesrichtung Keller’s beigetragen und in ihm den Wunsch rege gemacht haben mag, an dieser geistigen Befreiung zu arbeiten.

Augustin Keller wurde den 11. November 1805 in dem Freiämter-Dorfe Sarmenstorf geboren. Seine Eltern waren strengkatholische, brave, thätige Landleute und Besitzer eines mittlern Bauerngutes. Als das älteste von elf Kindern mußte Augustin vom achten Jahre an bei den vielen landwirthschaftlichen Arbeiten, die der Familie oblagen, wacker mitwirken; er erhielt dadurch eine Vertrautheit mit den ländlichen Geschäften und gewann eine bedeutende Kenntniß der Bedürfnisse und der Zustände des Volkes, die ihm später in mehrfachen Beziehungen zum Nutzen gereichte. Von seinen Eltern ursprünglich zum Schreiner bestimmt, hatte er, zweiundzwanzig Jahre alt, doch das Glück, die Universitäten Breslau, München und Berlin beziehen zu können, wo er den unmittelbaren Unterricht der besten Lehrer genoß, und kehrte, durch die Wissenschaft für den Beruf des Lehramtes gebildet, durch die Burschenschaft aber und das Leben in trefflichen Familien für die Theilnahme am politischen und socialen Leben empfänglich, im Herbst 1830 mit der ihm befreundeten Familie des Graubündner Landammanns Steiner über Wien, wo ein längerer Aufenthalt gemacht wurde, durch Tirol und das Engadin in seine Heimath zurück, wo es ihm, nach kurzem Aufenthalt in Luzern, bald möglich war, als Director des neu entstandenen Aarauer Lehrerseminars seine Kenntnisse und seinen Einfluß auf das Segensreichste zu verwerthen.

Die wichtigste und eigenthümlichste Verbesserung, welche der neue Director am Lehrerseminar einführte, ist die bis zum heutigen Tage noch bestehende Verbindung der Landwirthschaft mit demselben. Er bezweckte damit wohlfeilere Lehrerbildung, bessere Disciplin, eine Erziehung der Lehrer zu einer ihren künftigen Verhältnissen entsprechenden Lebensweise und innigere Verbindung der Volksschule mit dem praktischen Leben. Dieser Zweck wurde vornehmlich dadurch erreicht, daß Keller das, was er von dem Volksschullehrer forderte – Feder und Karst nebeneinander zu führen, zu lehren und zu arbeiten, Kopf, Herz und Hand gleichzeitig auszubilden – als Director selber vormachte. Es war die schönste Zeit des neuen, aber weltlichen Cisterzienser-Abtes von Wettingen in seinem pädagogischen Wirken: im Lehrsaale Unterricht in der Muttersprache und Pädagogik, im Feld mit Sense, Sichel und Karst an der Spitze der fröhlichen Zöglinge, daheim im herzlichen Kreise trefflicher Collegen und ihrer Familien.

Die Erfahrungen und Kenntnisse, welche sich Keller bei diesen landwirthschaftlichen Arbeiten erwarb und die er in Vereinen vielfach verwerthen konnte, haben ihm unter der Bauernschaft eine hohe Volksthümlichkeit geschaffen; sein Name lebt in Aller Munde. Schon das Kind lernt frühzeitig seinen Namen nennen, denn die Lesebücher, die Keller für die verschiedenen Altersstufen der Volksschule geschrieben, sind durch jedes Schülers Hand gegangen; auch für den katechetischen Unterricht des Lehrers sind von ihm vortreffliche Bücher vorhanden. Sein ganzes Leben hindurch blieb er den Bestrebungen für Verbesserung der Schulzustände und der Lehrmethoden treu; er suchte auch fortwährend die sociale Stellung der Lehrer zu verbessern, weshalb auch diese insgesammt mit dankbarer Liebe an ihm hängen.

Gehen wir von der Betrachtung der lehramtlichen Wirksamkeit Keller’s, deren weitere Entwicklung wir im Einzelnen um so weniger hier verfolgen können, als sie ihren segensreichen Einfluß zunächst doch nur auf die localen Verhältnisse selbst ausübte, zu der staatsmännischen über, so haben wir der Zeitfolge nach kaum einen Schritt zu thun, denn die letztere reicht in die Periode der erstern hinein. Die politischen Ereignisse, an denen Keller einen hervorragenden Antheil nahm, greifen mit ihren Wurzeln bis in’s Jahr 1834 zurück. Die damaligen fortwährenden Conflicte mit der katholischen Geistlichkeit veranlaßten aufgeklärte Staatsmänner von sieben Cantonen, worunter sich auch der Aargau befand, eine gemeinsame Politik der römischen Curie gegenüber anzubahnen und die Staatsrechte in Kirchendingen wieder auf einen festen Grund zu stellen. Auf einer Conferenz zu Baden wurden vierzehn Artikel über den Umfang der staatlichen Aufsicht in kirchlichen Dingen beschlossen. Die meisten der aufgestellten Grundsätze waren nicht neu, ihre consequente Durchführung und Befolgung mußte allmählich zu einem schweizerischen Staatsrechte in Kirchensachen führen und den bisherigen Uebergriffen und Willkürlichkeiten der geistlichen Gewalt eine entschiedene Schranke setzen. Der Aargau ging unverzüglich an die Ausführung dieser Artikel; er beschränkte das freie Verwaltungsrecht der großen reichen Klöster Muri und Wettingen und der kleineren durch schlechte Wirthschaft verarmten Klöster zu Baden, Bremgarten, Hermetschwyl, Gnadenthal und Fahr, und forderte von den Geistlichen den Eid auf die Verfassung. Ein kleiner Revolutionsputsch entstand, der zu den Wirren der späteren Jahre den Grund legte.

Als später die Revision der Staatsverfassung an die Tagesordnung [306] gelangte, verlangte die namentlich von den Klöstern instruirte ultramontane Partei den Widerruf der vierzehn Badener Artikel und in Folge dessen confessionelle Trennung des Cantons, Einführung des Veto gegen Staatsgesetze, freies Verwaltungsrecht für die Klöster etc. Die pfäffisch-reactionäre Tendenz bedeckte sich nur nothdürftig mit dem Mantel der Demokratie. Die neue Verfassung, an der auch Keller als Mitglied des Verwaltungsrathes und der Revisionscommission mitwirkte, wurde vom Volke verworfen; als sodann am 5. Januar 1841 die zweite, mehr im Sinne des Ausgleichs der confessionell getrennten Parteien entworfene Verfassung vom Volke angenommen wurde, da war das Signal des Aufruhrs gegeben. Im ganzen Freiamte hatten sich, geschürt von den Klöstern, Landsturmhaufen gebildet, welche zum Sturze der Regierung nach Aarau marschiren wollten, aber nach kurzem Gefechte am 10. Januar von den Regierungstruppen auseinandergetrieben wurden.

Wollte nun der liberale Staat seine Einheit und seinen bedrohten Frieden behaupten, so mußten die Ursachen der Störung ausgerottet und die Klöster aufgehoben werden. Zwar garantirte der der Schweiz von den fremden Mächten octroyirte 1815er Bundesvertrag den Fortbestand der Klöster; allein das Gebot der Selbsterhaltung siegte über die formellen Bedenken; die Existenz und Wohlfahrt des Cantons durfte nicht unter der Gewährleistung solcher Corporationen zu Grunde gehen. Es war Augustin Keller, der im Großen Rathe am 13. Januar in einem mehrstündigen wunderbar beredten Vortrage dieser Ueberzeugung Worte verlieh und den Antrag stellte, die Klöster aufzuheben. Mit hundertfünfzehn gegen neun Stimmen wurde der Antrag angenommen, und der entscheidende Wurf zur Neugestaltung der Schweiz war gegeben. Von diesem Momente an erhob sich der Kampf des Ultramontanismus gegen den liberalen Geist des Volkes und seiner Führer; aber auch ein unauslöschlicher Haß des Klerus verfolgte von nun an den Seminardirector Keller bis auf den heutigen Tag.

Der päpstliche Nuntius, die Urcantone, selbst der Kaiser von Oesterreich protestirten bei der eidgenössischen Tagsatzung gegen diesen Beschluß. Der Canton Aargau rechtfertigte sein Vorgehen durch eine im März 1841 – Jahre lang dauerte der Kampf – von Augustin Keller verfaßte, allgemeines Aufsehen erregende Denkschrift „die Aufhebung der aargauischen Klöster“ (Aarau, bei Sauerländer). Der Canton hatte einen schweren Stand, aber die aargauische Gesandtschaft (Keller, Landammann Wieland und Oberst Siegfried) blieb unverzagt bei der Alternative: der Aargau oder die Klöster. Um des lieben Friedens willen entschloß man sich endlich zur Wiederherstellung von drei Nonnenklöstern, die Tagsatzung begnügte sich mit dieser Concession und die Klosterfrage fiel endlich für immer aus Abschied und Tractanden. Keller hatte gesiegt und es gebührt ihm und dem Canton die Anerkennung, das Gefühl der Unhaltbarkeit der damaligen eidgenössischen Zustände in immer weitern Kreisen ausgebreitet und den fünfzehner Bund ad absurdum geführt zu haben.

Aber die ultramontane Partei in der Schweiz gab ihr Spiel noch nicht verloren, sie hatte in den katholischen Cantonen einen wohlgepflegten Boden. Die Gesandtschaften dieser Stände verwahrten sich neuerdings gegen den Aufhebungsbeschluß, verlangten Wiederherstellung der Klöster und drohten mit Abbruch der Bundesgemeinschaft und mit militärischen Maßregeln; Luzern berief die Jesuiten in’s Land. Die ganze freidenkende Schweiz richtete sich gegen diesen Beschluß, der den confessionellen Frieden neuerdings zu untergraben und die Bevölkerung in fanatische Aufregung gegen jeden geistigen Fortschritt zu versetzen drohte. Keller war es wiederum, der zuerst im Großen Rathe von Aargau und dann im Sommer 1844 auf der Tagsatzung zu Luzern dieser Opposition Worte verlieh, indem er in einem glänzenden, mehrstündigen, später im Druck erschienenen Vortrage die Gemeingefährlichkeit des Jesuitenordens von seiner Entstehung bis auf die heutigen Tage zeichnete und im Auftrage seines Standes den Antrag stellte, die Gesellschaft Jesu von Bundeswegen aufzuheben. Der Antrag stieß bei den Ultramontanen auf heftigen Widerstand, denn der Sonderbund hatte schon seine definitive Organisation erhalten. Unterdessen rollten die Ereignisse unaufhaltsam vorwärts. Im December desselben Jahres erfolgte der erste Freischaarenzug nach Luzern. Er mißglückte. Als zweitausend Luzerner Bürger die Heimath verließen und ihren Jammer in die benachbarten Cantone verpflanzten, da brach der zweite Freischaarenzug aus. Er führte nach zwei Jahren der traurigsten Verwirrung die gewaltsame Auflösung des Sonderbundes im Gefolge und mit ihm die Vertreibung der Jesuiten. Keller’s glühendster Wunsch war erreicht.

Sollte die Eidgenossenschaft nicht wieder in die gleiche Ohnmacht und Zerrissenheit zurückfallen, woran sie so viele Jahre gelitten, so mußte der gesammte Schweizerbund eine neue Gestaltung erhalten. An derselben hat Keller immerfort einen thätigen Antheil genommen. Sofort nach Annahme der neuen Bundesverfassung wurde er in den schweizerischen Ständerath gewählt und bis heute hat er beinahe ununterbrochen als Nationalraths- oder Ständerathsmitglied der Bundesversammlung angehört; im Jahre 1857 war er Präsident des Nationalrathes und hielt als solcher die Eröffnungsrede bei der Einweihung des neuen Bundespalastes. Gegenwärtig präsidirt er den Ständerath bei den Berathungen der eidgenössischen Bundesrevision.

In der aargauischen Regierung war Keller lange Zeit das bewegende Element, mehrere Perioden hindurch Landammann und Landesstatthalter (Präsident und Vicepräsident), eine lange Reihe von Jahren Präsident des katholischen Kirchenrathes. Wenn er auch verfassungsgemäß nur vorübergehend die Stelle eines Landammanns bekleiden konnte, seine Miteidsgenossen kennen ihn nur unter diesem Titel. Neue Schulen verdanken ihm aus jener Zeit ihre Entstehung, wie er denn auch die Emancipation der Juden, die Verminderung der katholischen Feiertage etc. durchsetzte. Das Armenwesen, die Landwirthschaft und das Gewerbewesen hatten an ihm einen guten Protector.

Nur seiner unverwüstlichen Arbeitskraft, seiner Gewandtheit, Fragen zu lösen und neue aufzuwerfen, konnte es gelingen, einer nicht geringen Anzahl Vereinen mit gemeinnützigen, statistischen, geschichtforschenden, landwirthschaftlichen, gewerblichen und pädagogischen Zwecken als Präsident vorzustehen und denselben eine wirksame Thätigkeit zu widmen Im Rathssaale, in der Canzlei, in Vereinen, in der Familie, im Freundeskreise überall entweder das rathende, anregende, belebende, erheiternde und unterhaltende Element zu sein, das konnte nur Keller mit seiner ewig jungen Kraft und seiner stahlharten Gesundheit. Es bedurfte in reichem Maße dieser beiden Gaben und einer Geduld, die selbst die Gegner aus der Fassung brachte, um den seit dreißig Jahren währenden Angriffen der Ultramontanen, Jesuiten und ihrer Helfershelfer im Canton und in der Schweiz nicht zu erliegen. Von Keller kann man in der That sagen: „Viel’ Feind’, viel’ Ehr’!“

Die Schweiz ist reich an Rednertalenten – das bewegte politische Leben unseres Landes bildet sie und kräftigt ihre Organe –, in ihren vordersten Reihen steht als Staats- und Volksredner Keller da. Als solcher trat er das erste Mal, im Jahre 1836, in den Volksversammlungen von Wohlenschwyl und Reiden auf in der schweizerischen Asylfrage gegen Frankreich und gegen den vom damaligen Minister Thiers verhängten „Blocus hermétique“. Seine angeführten großen Reden sind Muster von deutscher Beredsamkeit, und in unzähligen Fällen hat er durch die Klarheit, Kraft und Tiefe seines Wortes, durch den ungesuchten, gründlicher Kenntniß der alten Meister entsprungenen Schmuck seiner Darstellung, durch die sichtliche Ueberzeugungstreue hingerissen und die Abstimmung zu Gunsten seines Votums geleitet. Die Zahl seiner Staats-, Schul- und Volksreden geht in die Hunderte, ja Tausende. Wenn an den eidgenössischen Schützen- und Sängerfesten die Jubelwogen hoch gingen und Alles verschlangen, was an die Mittelmäßigkeit streifte, da gelang es Keller allein, den Sturm zu beschwichtigen. Sobald die hohe athletische Gestalt auf der Tribüne erschien, da beugte sich der Lärm unter dem Eindruck dieser aus Erz gegossenen Züge, und das Wort hieb scharf und wuchtig wie Schwertstreich durch die Menge.

In Anerkennung seiner liebevollen Pflege der Wissenschaft und seiner Kenntnisse des canonischen Rechts und der Kirchengeschichte, sowie seiner Verdienste überhaupt, verlieh ihm die philosophische Facultät der Universität Bern die Doctorwürde. – Seine wenigen Dichtungen tragen das Gepräge seines klaren Geistes; sie zeichnen sich aus durch einen körnigen Stil und volksthümlichen Ton, und sind in die besten Mustersammlungen für Volksschulen übergegangen.

[307] Der neueste Kampf Keller’s mit den Vertretern der katholischen Kirche im Aargau begann im Jahre 1869, als Keller dem schweizerischen Publicum ein Lehrbuch der Moral von dem Jesuiten P. Gury denuncirte, das ohne Wissen und Erlaubniß der Diöcesanconferenz im Priesterseminar des Bisthums Basel eingeführt worden war. In einem dicken in zwei Auflagen erschienenen Buche, „Das Moralcompendium des Jesuiten P. Gury“, zeichnete er das verderbliche Lehrsystem der Jesuiten in drastischen Zügen und belegte seine Schilderung mit einer Reihe von Beispielen. Die Entrüstung über dieses Lehrbuch war eine so allgemeine, daß es der Seminarleitung trotz aller Gegenbroschüren nicht gelang, das schmähliche Lehrbuch sauber zu waschen. Sie mußte es abschaffen, ersetzte es jedoch durch ein noch viel unpassenderes von Bischof Kenrik. Es genügte jedoch Keller nicht, das Gemeingefährliche, das für die Erziehung der jungen Priester im Seminar in der Anwendung der gedachten Lehrbücher lag, constatirt zu haben; es mußten auch ausreichende Schritte zur gänzlichen Ausrottung des Uebels gethan werden. Keller setzte es bei den competenten Behörden durch, daß diese Anstalt, die nicht im Sinne des Volkes und Staates lehrte, sondern die Priester nach verderblichen Grundsätzen bildete, aufgehoben wurde. Nicht genug! Der Bischof von Basel hatte in dieser Frage dem Staate gegenüber eine solche Widersetzlichkeit gezeigt, daß es Keller nicht schwer fiel, unterstützt von seinem Freunde Justizdirector Straub, die Ausscheidung des Cantons aus dem bisherigen Bisthumsverbande und die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse auf der Basis der Trennung von Kirche und Staat beim aargauische Großen Rath zum principiellen Durchbruch zu bringen. Ihr desfallsiger Antrag wurde am 27. September zum Beschluß erhoben.

Auch in eidgenössisch-kirchlicher Politik erhielt Keller wieder seine Aufgabe reichlich zugemessen. Eine siebentausend Mann starke Volksversammlung in Langenthal hatte am 3. April dieses Jahres einem Ausschusse schweizerischer Staatsmänner (Keller an der Spitze) den Auftrag ertheilt, bei der gegenwärtigen Revision der Bundesverfassung die Wünsche und Anträge vorzulegen, die geeignet sein möchten, die Rechte und Freiheiten des Bundes, der Cantone, der Gemeinden und der einzelnen Bürger gegen die autokratischen Uebergriffe der Hierrachie auf dem Gebiete staatlicher und bürgerlicher Berechtigungen sicher zu stellen. Keller löste diese Aufgabe in einer Denkschrift: „Die kirchlich-politischen Fragen bei der eidgenössischen Bundesrevision von 1871.“ Obschon mehr für den republikanischen Staat bestimmt, liefert die umfangreiche Schrift doch einen höchst beachtenswerthen Beitrag für die Stellung aller Staaten zur Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit. Es war deshalb auch Niemand mehr berechtigt, die Schweiz auf den Katholikencongressen von Heidelberg und München zu vertreten, als gerade der Verfasser dieses Memorials. Bei der Versammlung in München wurde Keller zum Vicepräsidenten ernannt. Die beiden Congresse, deren Resultate für die Stellung der Altkatholiken theilweise hinter den Erwartungen der nächsten und nähern Zuschauer zurückgeblieben sind, liegen unsern Tagen zu nahe, als daß sie hier näher erörtert zu werden brauchen. Deutlicher als in den deutschen Congressen sprach sich Keller in einem Vortrage im Vereine für kirchlichen Fortschritt am 1. November in Aarau über die Reformbewegung in der katholischen Kirche aus. Als Ziele derselben bezeichnete er die Wiederherstellung des altkatholischen Episkopats, die Nationalisirung der Kirche auf demokratischer Grundlage, die Purification der katholischen Dogmatik, des Cultus, der Moral, endlich Vereinigung mit der freien protestantischen Kirche.

Sein religiöses Glaubensbekenntniß gab er in folgenden Worten: „Heilig ist uns jeder religiöse Glaube! Freiheit jeder frommen Ansicht, Freiheit jeder gewissenhaften Ueberzeugung! Aber dieselbe heilige Freiheit nehme ich auch für mein Herz und meinen Verstand in Anspruch. Nie werde ich meinen Dienst einem Kaiser versolden, aber meinen Glauben gebe ich auch keinem Papste gefangen; doch ebenso wolle mich Gott vor der Sünde bewahren, daß ich je mein Gewissen der Verblendung des übelunterrichteten großen Haufens opfere! Ich spreche mit dem alten frommen Eidgenossen Konrad Geßner: ‚Myn Hertz staht zum Vaterland; dem begör ich zu läben und zu dienen, aber auch frey darin zu sterben, so es Gott gefällt, als ich hoffe.‘“

Keller schrieb an seinem sechsundsechzigsten Geburtstage einem Jugendfreunde: „Ich habe dem gütigen Himmel bisher viele Wohlthaten zu danken! Gute, zuchtstrenge Eltern, frühe Gewöhnung an Arbeit und Entbehrung, viele herrliche Lehrer, viele treffliche Freunde, viele grimmige Gegner, ein glückliches Familienleben, ein fröhliches Herz, eine firngesunde Natur, ein republikanisches Leben in einer großen sturmbewegten Zeit, einen unverzagten Glauben an die Menschheit und ihren providentiellen Fortschritt. Welchem dieser himmlischen Güter soll ich den Vorzug geben? Ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, daß ich meinen Gegnern ein gutes Theil meines Glückes schuldig bin.“

Man sagt, die Republik sei undankbar; es mag dies auch bei Keller zutreffen. Große Reichthümer hat sie ihm nicht gebracht. Die Gemeinden Olsberg und Aarau verliehen ihm das Ehrenbürgerrecht, eine Universität gab ihm den Doctortitel: Bürgerkrone und Doctorhut, das ist’s, was die Republik zu bieten vermag. Aber was ihm jeder gute Schweizerbürger schuldet, Liebe und Hochachtung, diese Zeichen des Dankes werden ihm bleiben, wenn er auch längst, vielleicht unter dem Bannfluche Rom’s, zu Grabe gestiegen ist.




Thierschutz und Hunde-Asyle in London.

Von Arnold Ruge.

„Vor der Parlamentsacte von 1822 gegen Thierquälerei“, sagt der Secretär der Gesellschaft, J. Colam, „wurden Hausthiere in unserem Vaterlande unmenschlich behandelt. Sei es aus Unwissenheit, Unbedacht, Nachlässigkeit oder purer Rohheit, genug, sie hatten den ärgsten Schmerz und die größte Qual zu erdulden, ohne daß sich ein Mitleid für sie geregt, ja ohne daß man es auch nur beachtet hätte. Wenige humane und feinfühlende Ermahner und Tadler hatten keine Macht gegen dies wachsende Uebel; und so wurde es nöthig, eine Gesellschaft zu gründen und die Freunde unserer armen stummen Mitgeschöpfe in ihr zu vereinigen.“

Diese Gesellschaft wurde am 16. Juni 1824 gestiftet, und sollte wirken: durch Tractätchen, durch Einführung derselben in Schulen, durch die Tagespresse, durch Predigten, und endlich durch eine eigene Polizeimannschaft auf Märkten und Straßen und Verfolgung der Schuldigen vor Gericht.

Zuerst fand die Gesellschaft Spott und Widerstand, von Jahr zu Jahr mehrten sich aber ihre Theilnehmer und zeigte sich eine Besserung in der Behandlung der Thiere. Endlich wurde die Königin erklärte Beschützerin und seit 1840 heißt die Gesellschaft die „königliche“. Die ersten Damen des Adels und berühmte Namen aus beiden Häusern sind auf der Liste der Beschützer und Ehrenpräsidenten der Earl of Harrowby ist der active Präsident und die Gesellschaft hat den Widerstand der Spötter überwunden.

Die Gesellschaft wurde reich und erlangte Einfluß. Sie setzte die Aufhebung des Smithfield-Marktes durch und brachte es zu Gesetzen gegen Stierhetzen, Stierwettrennen, Hahnengefechte, Dachshetzen und andere barbarische Vergnügungen, auch gegen den Gebrauch der Hunde als Zugvieh; sie uniformirte ihre Mannschaft, die sie in London und in den Provinzen verwendete und durch die sie mit Hülfe der gewöhnlichen Polizei von 1835 bis 1865 die Zahl von 10,869 Verurtheilungen erzielte.

Man hätte nun denken sollen, die Verurtheilungen würden sich allmählich vermindern, sie vermehrten sich aber in den dreißig Jahren derart, daß das Jahr 1835 nur achtzig, das Jahr 1855 schon fünfhundertfünfundzwanzig und das Jahr 1863 sogar neunhundertvierundsiebenzig Verurtheilungen zeigte. In der ganzen Zeit von 1835–1865 durchschnittlich 362, also etwa täglich Eine Verurtheilung. In so bemerkenswerther Weise hat sich die Wachsamkeit der Gesellschaft gesteigert; „die Grausamkeit“, sagt der Secretär, „muß verfolgt und entdeckt werden: sie existirt [308] noch, aber nicht offen; um sie niederzuschlagen und den Schuldigen zu fassen, ist die bereiteste Wachsamkeit nöthig.“ Man sieht allerdings, daß sie nicht ausgerottet worden sein kann, denn sonst wäre eine Steigerung von 80 auf 974 Verurtheilungen nach einer mehr als dreißigjährigen Wirksamkeit der Gesellschaft nicht möglich gewesen.

Welche Thiere wurden nun gequält und wie? 552 Pferde, davon kommen 483 auf die Kärrner, die ihre Karren überladen, Eins, das man hatte verhungern lassen, 2, die man verbrannt, und Eins, das durch Schlagen verstümmelt worden. 47 Esel wurden schlecht behandelt und gepeinigt, ebenso 25 Ochsen, 10 Schafe und Schweine, 3 Kühe ließ man verhungern, 22 Hunde wurden schlecht behandelt und gepeinigt, Einer in einem Backofen verbrannt, 6 auf Dächse, Einer gegen einen andern Hund gehetzt; 88 Hahnengefechte wurden bestraft; gegen das Halten einer Arena zum Hahnengefecht wurde eine Bestrafung erzielt, ebenso gegen das Rupfen eines lebendigen Huhns und gegen das Jagen zweier lahmen Füchse (das Jagen der nicht lahmen Füchse hat sich die Aristokratie noch nicht verbieten lassen).

Die Constabler allein bewiesen 635 Fälle vor Gericht; mit Beistand von Privaten 114; in 105 Fällen hatte die Gesellschaft die Gerichtskosten zu tragen, wo die Verurtheilten in Ermangelung der Geldstrafe eingesperrt wurden; in 644 Fällen konnten diese zahlen und zahlten wirklich 985 Pfund Sterling 2 Schillinge 3 Pence an die Gerichte.

In der Zeit ihrer Existenz bis 1865 hat die Gesellschaft über vierzig Broschüren publicirt, darunter eine „gegen Kirchthurmrennen und Hundekämpfe“, eine andere „gegen das Nesterausnehmen“, eine „gegen den Kappzaum“ und eine „Anweisung, ein Pferd zu behandeln und zu halten: Das Pferdebuch“. Broschüren gegen Hasen- und Fuchshetzen fehlen noch aus naheliegenden Gründen, da die Gesellschaft so hohe Fuchsjäger zu ihren Patronen zählt. In Holland hat sich eine Zweiggesellschaft gebildet, in Spanien hingegen ist man auf Schwierigkeiten gestoßen, und suchte dieselben durch Beistand der Franzosen zu beseitigen, weil die Spanier religiöse Vorurtheile gegen die Engländer hegen. Der Verein hat einen Preis für eine Schrift gegen Vivisection ausgesetzt und hofft, letztere werde sich unterdrücken lassen.

Einhundertundfünfzig Mause- und Maulwurfsfallen wurden vorgelegt, welche diese Thierchen am wenigsten oder gar nicht quälten; der ganze Preis von 50 Pfund Sterling konnte nicht bewilligt werden, sondern nur 10 Pfund Sterling. Zu weiterer Vervollkommnung solcher Fallen hatte Herr John Laurie dem Verein 100 Pfund Sterling angewiesen. Leichter ließ sich für Saufstände der Droschkenpferde sorgen; dagegen hatte es Schwierigkeiten, den Londoner Magistrat zu Maßregeln zu bewegen, das Fallen der Pferde bei Frost in den Straßen der Hauptstadt zu verhindern. 1865 hatte Herr Colam in seinem Jahresbericht zu bedauern, daß die Viscounteß D’Alte der Gesellschaft „gegen die Grausamkeit in den Schlachthäusern“ 10,000 Pfund Sterling hinterlassen, daß aber der Lord-Kanzler das Legat für nichtig erklärt hatte wegen des Gesetzes über die „todte Hand“. „Und das Geld wäre so willkommen gewesen,“ sagt er, „da die Gesellschaft sich gerade damit beschäftigt hat, Methoden zu prüfen, wie man das Schlachtvieh ohne Schmerz tödten könne.“ Dagegen waren 1865 ungehindert eingegangen an kleineren Legaten 1100 Pfund Sterling und an Geschenken 520 Pfund Sterling, die der Secretär auszeichnet.

Im Ganzen betrug die Einnahme 1865 an Beiträgen der Mitglieder und an Schenkungen 2712 Pfd. St. 17 Sch. 7 Pence, eine hübsche Summe außer den kleinen Vermächtnissen, gegen die kein Einspruch beim Lord-Kanzler erhoben werden konnte oder wurde.

Mit sorgfältiger Beobachtung aller bei Vermächtnissen einzuhaltenden Vorschriften hat denn auch die Gesellschaft, wenn nicht größere Vermächtnisse als das der Viscounteß D’Alte, doch recht ansehnliche, meist von Damen erhalten, darunter einzelne von 10,000 Thaler und noch höher.

Mit den 29,918 Pfd. Sterl. 18 Sh. 6 P., welche die Gesellschaft auf solche Art im Jahre 1865 nur an Legaten und Geschenken erhielt, hätte sich auf dem Wege der Lehre, Predigt und Literatur und mit einer Jahreseinnahme von mehr denn 2000, ja von nahezu 3000 Pfd. Sterl. für die passende Circulation solcher Schriften mehr thun lassen, wäre nicht die Richtung auf die Entdeckung und Bestrafung der Uebelthäter vorherrschend gewesen. Diese Thätigkeit erfordert tüchtige und gut bezahlte Beamte, ist daher ziemlich kostspielig, namentlich bei einer so bedeutenden Steigerung der Verfolgungen, wie sie der Bericht angiebt. Dabei wird das Publicum aufgefordert, dem Secretär Anzeigen zu machen, und Verschwiegenheit versprochen, wenn sie gewünscht wird. Die Gesellschaft treibt damit etwas stark in die Gewohnheiten und Vorurtheile der Polizei hinein. Sie denkt: je weniger sie ausrichtet (denn sie sagt selbst, die Grausamkeit existire nach wie vor, sie verstecke sich nur), desto eifriger müsse sie verfolgen; und weil sich die Grausamkeit versteckt, so fordert sie „zur Anzeige“ auf, damit die Schuldigen sich vor dem ganzen Publicum fürchten sollen.

Das Beste in dieser Richtung ist noch, daß sie die gewöhnlichen Constabler belohnt, wenn sie schlimme Fälle vor Gericht bringen; daß sie hingegen sich ihre eigene Polizei mit ihrem eigenen Chef eingerichtet, ist dem eigentlichen Zweck, der Humanisirung des allgemeinen Geistes, nur im Wege, indem diese kostspielige Einrichtung das Geld der Propaganda wegnimmt.

Die Propaganda fällt daneben in das niedere Tractätchenwesen, während gute Vorlesungen, gute belehrende Bücher, Vorlesungen in Schulen und gute Zeitungsartikel in populären Journalen unendlich wichtiger wären. Warum? Weil sie sowohl der Sache, als auch dem Publicum auf den Grund kommen, eine Einsicht und eine öffentliche Meinung bilden, die, wenn erstarkt, das Unwiderstehlichste und Wirksamste ist. Auf diesem Wege würden sich in mehr als dreißig Jahren ohne Zweifel die Fälle der Verfolgung vermindert und die Grausamkeit sich nicht nur vorgesehen, sondern mehr und mehr aus den Sitten verloren haben.

Wenn es indessen wahr ist, daß vor der Parlamentsacte von 1822 die Hausthiere in England unmenschlich behandelt wurden, so muß denn doch seitdem und vielleicht durch die Thätigkeit der Gesellschaft eine große Besserung eingetreten sein. Die Pferde, die Hunde und die Katzen zeigen sich ungemein zutraulich und furchtlos, was sie bei schlechter Behandlung durchaus nicht thun. Jeder Droschkenkutscher läßt sein Pferd ohne Leine allein stehen, und öffnet den Schlag, jedes Pferd hört präcis auf den Ruf seines Herrn; diese Folgsamkeit und Gelehrigkeit ist kein Resultat der Furcht, sondern des Zutrauens. Die Katzen flüchten sich nicht, wie sie es in Gegenden thun, wo sie geneckt und gejagt werden; die Hunde gehen Erwachsenen kaum aus dem Wege, während sie vor den Straßenjungen, die ihnen mit Steinen auflauern, einen Heidenrespect haben. Man sollte daher wohl sagen: aus dem Betragen dieser Thiere sieht man, wie human sie im Ganzen behandelt werden, und daß denn doch seit 1822 eine wesentliche Besserung eingetreten sein müsse.

Die Parlamentsacte ist interessant. Ich führe einige Sätze daraus an:

Section II Act 12 und 13 Victoria c. 92 vom 1. August 1850: „Und es soll Gesetz sein: daß Jeder, der ein Thier grausam schlägt, mißhandelt, überarbeitet, mißbraucht, quält oder solche Mißhandlung anordnet, Jeder, der sich dies zu Schulden kommen läßt, soll eine Strafe von nicht mehr als 5 Pfd. Sterl. zahlen.“

Dieselbe Strafe wurde gesetzt auf das Halten und Gebrauchen von einer Arena für Stier-, Bär-, Dachs-, Hunde- und Hahngefechte, oder für Stier-, Bär-, Dachs- oder Hundehetzen. Auch die Beförderer alles Dessen werden so bestraft.

Die Acte geht auf’s Einzelne ein, kommt auf die Schlächter und Abdecker und bestimmt, daß gepfändetes Vieh gefüttert werden muß, daß bei Verurtheilungen in Ermangelung des Geldes mit Gefängniß gebüßt werden soll etc., und schließt zu mehrerer Deutlichkeit so: „Die Wörter im Singular sollen auch für mehrere Personen und Thiere gelten, die im männlichen Geschlecht auch auf weibliche Personen und Thiere Anwendung finden und ‚überarbeiten‘ soll heißen durch Reiten oder Fahren. Das Wort ‚Thier‘ soll bedeuten Pferd, Stute, Walach, Stier, Ochse, Kuh, Starke, Bulle, Kalb, Maulesel, Esel, Schaf, Lamm, Eber, Schwein, Sau, Ziege, Hund, Katze und jedes andere Hausthier.“

Ich habe die Aufzählung nicht verfälscht, was ein leichtsinniger Anhänger der Logik vermuthen möchte; vielmehr scheint mir der Fuchs, der Hase, der Dachs und der Bär noch zu fehlen. Wie erlangte die Gesellschaft unter diesen Umständen ihre Verurtheilung der Jäger der beiden lahmen Füchse?

[309] So eigenthümlich Vieles in dem Mitgetheilten erscheinen muß, so ist darin doch eine starke Seite der Engländer zu beachten. Sie thun sich gleich zusammen, wenn einem Uebelstande abzuhelfen ist, und verlassen sich keineswegs auf den Staat und das papierne Gesetz, sie greifen in die Tasche und tief, wenn es sein muß, und der Gegenstand oder die Person, für die sie eintreten, sie hinlänglich interessirt. Sie sind durchaus nicht kalt, und die Viscounteß D’Alte, welche jene sechsundsechszigtausend Thaler spenden wollte, steht keineswegs allein da. Sie sagt: „Rindfleisch muß es geben, so sorge man dafür, daß die armen Rinder möglichst schmerzlos getödtet werden; hier ist mein Beitrag.“ So weit, als die Indier, daß sie die Rinder gar nicht schlachten, gehen die Engländer nicht; ohne Rindfleisch können sie sich die Welt nicht denken. So sinnen sie wenigstens darauf, wie das Schlachten human eingerichtet werden könne, und wenn auch oft genug die Pferde hinter dem Wagen angespannt werden und wenn das Wort eines thierfreundlichen Fuchsjägers „Fuchsjagden muß es geben, aber es ist infam, einen lahmen Fuchs zu jagen!“ auch seltsam genug klingt, so wollen wir uns dennoch schon mit Abschlagszahlungen begnügen und weder die „Mäßigkeitsvereine“, noch die „Vereine gegen Thierquälerei“, weil sie nicht durchgreifend und nicht nach unserm Recept curiren, unfreundlich ansehen. Sie wirken ohne Zweifel humanisirend.

Zu den Einrichtungen der königlichen Gesellschaft gegen Thierquälerei gehört auch die Anstalt für verlorene und verhungernde Hunde, welche Freitag den 10. und Sonnabend den 11. Mai in Willis’s Rooms, Kingstreet, St. Jamesstreet, London, einen Bazar abhält. Mrs. Hillas, Park Villa, Brighton, hat sich gütigst bewegen lasten, Beiträge an Verkaufsgegenständen von Thierfreunden zur Beförderung nach London entgegenzunehmen.

Bei dem einflußreichen, ja allerhöchsten Schutz, dessen sich die Gesellschaft erfreut, ist es wohl keinem Zweifel unterworfen, daß der vornehm angelegte Bazar einen glänzenden Erfolg haben wird. Ein Bazar, wo sich die vornehme Welt einige Stunden vor Tische trifft und etwas Musik anhört, hat immer Erfolg. So war vor einigen Monaten hier in Brighton ein Bazar für ein Hospital für Kinder, dem angesehene Damen aus der Stadt sich als Verkäuferinnen und hübsche junge Mädchen zum Herumtragen und Anbieten zur Verfügung gestellt; und es wurden über 7330 Thaler gelöst.

Das zeitweilige Asyl für verlorene und verhungernde Hunde steht in Lower Wandsworth Road, Battersea, unter der Leitung von James Johnson und einem eignen Ausschuß, welcher jetzt die Wohlthaten der Anstalt auszudehnen und das Asyl bequemer einzurichten wünscht. Die Anstalt wurde durch das Bedürfniß der ungeheuren Stadt, in deren Straßen verlorene und heimathlose Hunde in großer Anzahl umherirrten, hervorgerufen, die vor dem Verhungern gerettet, ihren Eigenthümern wieder zugestellt, wenn nicht reclamirt, mit einer neuen Heimath versorgt oder im Nothfall anderweitig verwandt werden sollten.

Das Asyl soll kein dauerndes für alte ausgediente Lieblinge, noch weniger ein Hospital für die Heilung kranker Hunde vornehmer Herren sein, sondern nur, wofür es sich ausgiebt, ein Ort, wohin wohlgesinnte Leute wirklich heimathlose und verhungernde Hunde senden können, die sie auf der Straße finden.

Das Comité wünscht besonders hervorzuheben, daß es ein großes Unrecht gegen die milde Anstalt und eine große Grausamkeit gegen die armen Thiere ist, aus bloßer Laune oder um einer geringen Unbequemlichkeit zu entgehen, Hunde in das Asyl zu bringen. Während nämlich der wirklich heimathlose Hund sehr bald seine Dankbarkeit zeigt, wenn er mit Futter und Obdach versorgt wird, härmt sich natürlich der Hund, der aus einem Hause hergebracht wird, das er als seine Heimath hat ansehen lernen, und der von einem Herrn kommt, der vielleicht bis dahin gut gegen ihn gewesen ist und den der arme Hund ernstlich liebt, wie Jeder gern glauben wird, der den gefühlvollen und zuthulichen Charakter dieses Thieres kennt.

Das Comité kann dem Publicum nicht genug die Gottlosigkeit vorhalten, absichtlich Hunde zu verstoßen und einem qualvollen Hungertode in den Straßen der Stadt auszusetzen. Es rieth den Mildgesinnten, zweifelhafte Fälle der Polizei mitzutheilen und, wenn sie den Hund in’s Asyl schicken und gerade weit von Hause sind, den Botenlohn zu deponiren und erst gegen Quittung auszahlen zu lassen. Es seien oft schöne, immer nützliche Hunde in dem Asyl zu finden; wer daher einen anzuschaffen wünsche, möge sich nur hinbemühen.

Im Jahre 1870 wurden neunhundertfünfundsiebenzig Hunde mit einer neuen Heimath versorgt oder ihren Eigenthümern zurückerstattet. Das Comité hat eine Hypothek auf die neuen Gebäude des Asyls aufgenommen, und der Bazar soll dazu dienen, diese abzutragen und die laufenden Kosten der Anstalt zu decken.

Das in den vorstehenden Zeilen Mitgetheilte, das ich meinem Nachbar, einem eifrigen Thier- und Menschenfreunde, verdanke, hat so viel Eigenthümliches, daß Einiges vielleicht der Erklärung bedarf. Wir wissen, wie unendlich weit unter den schwierigsten Umständen Hunde sich nach Hause finden; sollte das in London anders sein? Gewiß nicht. Es ist aber wohl oft der Fall, daß Familien zu Schiffe fortgehen und die Hunde zurückbleiben; auch die Eisenbahn kann ein solches Abhandenkommen der Heimath des Hundes herbeiführen. Sodann giebt es aber auch einzelne Hunde, die sich nicht so zurecht finden wie andere. Sonst möchte es selbst in London schwer sein, einen Hund mit Willen zu verlieren, wenn er sich wieder nach Hause zu finden entschlossen ist.

Zur Entstehung des Asyls hat der größere Werth des Hundes und die ganz besondere Schätzung, die er in England erfährt, ohne Zweifel sehr beigetragen. Eine Dame meiner Bekanntschaft hat ein häßliches kleines Schooßhündchen, das sie mit 333⅓ Thaler bezahlt hatte, und sie versicherte mir, das sei es unter Brüdern werth. Wegen dieses Phantasiewerthes, den gewisse „echte“ Racen haben, giebt es denn auch eine äußerst schlaue Gesellschaft von Hundedieben. Diese stehlen aber keine „gemeinen“ Hunde, sondern nur die theuren Sorten, und daher bleibt eine so ansehnliche Ernte für das Asyl übrig. Daß der Engländer im Ganzen den Hund besonders hoch stellt, kann man auch daran sehen, daß er ihn Sir nennt und daß die englische Philosophie ihm unbedenklich alle geistigen Eigenschaften zuertheilt, die sie selbst besitzt.

Es wäre viel darüber zu sagen, daß den Grausamkeiten gegen die Menschen noch in manchen Gebieten nicht genug Einhalt geschieht, daß in diesem reichen Lande viele Menschen die bitterste Noth leiden, doch das gehört nicht hierher, und jede Milderung der Gesinnung muß man willkommen heißen, wo sie sich auch zeigt.

Es war hier die Absicht, diese englischen Eigenthümlichkeiten mitzutheilen, und es wird nicht uninteressant sein, wenn wir uns nach dem 11. Mai erkundigen, wie der Bazar ausgefallen ist.




Aus dem Todtentanz der Geschichte.

Von Feodor Wehl.
1. Wie Fürsten und Monarchen sterben.

Der Tod ist die letzte Handlung des Daseins und muß also mit diesem in einem gewissen psychologischen Zusammenhange gedacht werden. Man stirbt einigermaßen, wie man gelebt hat, das will heißen: die geführte Existenz reflectirt auf das Hinscheiden, breitet ihren verdunkelnden Schatten oder ihre verklärenden Lichter auf dasselbe dergestalt aus, daß sich daraus bis zu einem gewissen Grade deren Schuld oder Verdienst erkennen lassen. Und da Regenten, Herrscher, Fürsten überhaupt in weit höherem Maße, als gewöhnliche Menschen Anlaß und Gelegenheit zu Verdienst und Schuld sich geboten sehen, so ergiebt sich die Folgerung gewissermaßen von selbst: die Exempel aus ihren Kreisen an dieser Stelle voranzustellen. Erscheinen sie doch seltsam genug. Wir sehen die größten und strahlendsten Regenten sonderbarer Weise vereinsamt und in fast menschenfeindlicher Stimmung dahinscheiden; dagegen unglückliche, nicht selten durch eigene Schuld in’s Verderben gestürzte Monarchen einen gewaltsamen Tod mit großer Würde und Ruhe erleiden.

Fast möchte man glauben, daß Natur und Geschichte hierin [310] eine Art Ausgleichungsproceß geübt, daß sie dem Unglück eine gewisse Glorie, dem Ruhm aber eine trübselige Rückseite gegeben, um so auf der einen Seite der Größe ihre menschliche Abstammung, auf der andern der Erniedrigung und Demüthigung den Trost göttlicher Erhebung in Erinnerung zu bringen.

Wahrhaft elend sehen wir nur notorisch von Lastern und Schandthaten erdrückte Monarchen zu Grunde gehen. Die Mehrzahl stirbt mit quälender Angst vor der Verantwortung jenseits und nur wenige mit unerschütterter Hingebung in das Geschick. Immer aber sprechen wir natürlich nur von mit klarem Bewußtsein Sterbenden.

Fassen wir zunächst einige gekrönte Häupter des Alterthums in’s Auge, so weilen unsere Blicke wohl zunächst auf dem römischen Augustus.

Die letzten Worte desselben sollen gelautet haben: „Klatschet, Ihr Freunde!“ und man hat diese Worte sich angelegen sein lassen so zu deuten, als ob er selbst damit in seiner Sterbestunde sich als der Schauspieler bekannt habe, als welchen ihn viele Historiker angesehen wissen wollen. „Es wird indeß kaum einer Beweisführung bedürfen, daß in dieser Form die Ansicht unhaltbar ist,“ sagt Karl Peter im dritten Bande seiner ‚Geschichte Roms‘, „und daß es nicht nur eine große Unbilligkeit, sondern wenigstens für unsere menschliche Beurtheilung eine völlige Unzulässigkeit sein würde, eine vierundvierzig Jahre in Wort und That nach allen Seiten und ohne Ausnahme mild und wohlwollend ohne Ostentation geführte Regierung einer bewußten Heuchelei zuzuschreiben. Dagegen ist insofern in dieser Auffassung etwas Wahres enthalten, als allerdings zu sagen ist, daß das Bessere bei ihm, wie auch das Schlechtere, nicht der unmittelbare Erguß einer auf das Eine oder das Andere gerichteten constanten Gemüthsstimmung, nicht die Wirkung durch Natur und Bildung in ihm vorhandener sittlicher Triebe und Ziele, sondern daß es Berechnung war. Augustus war eine kalte, Alles nach Verstandesgründen abwägende, vorsichtige, selbstsüchtige Natur, nicht ohne ein gewisses Wohlwollen, welches sogar mit der Zeit durch das Gelingen seines Werkes und durch die zahlreichen Beweise von Dankbarkeit und Verehrung zu einiger Wärme gedieh, welches aber im Grunde und von Haus aus auch von jener selbstsüchtigen Art war, die sich gegen Andere freundlich und gefällig erweist, um Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten zu vermeiden und ihre Zwecke desto besser zu erreichen“ etc.

Diese Charakterschilderung ist nicht glänzend, aber sie dünkt uns richtig und wohl geeignet, damit nur das Ende und die letzten Worte des Augustus zu erklären, dies umsomehr, wenn wir noch erwähnen, wie Karl Peter dem Augustus einen gewissen Humor, eine „Beimischung von jenem leichten, gemüthlichen Witz“ einräumt, „wie er klaren, verständigen Naturen eigen zu sein pflegt.“ Augustus sah in seiner letzten Krankheit, die ihn auf der Reise ergriff, seinen Tod mit Bestimmtheit voraus und bestellte mit der ihm eigenen Besonnenheit sein Haus. Daß diese Bestellung ihm eine Art Genugthuung bereitete und ihn in eine heitere Geistesverfassung versetzte, ist erklärlich, und ebenso erklärlich ist, daß in dieser ihn jene scherzhafte Laune ergriff, die ihm immer zu kommen pflegte, wenn ihm etwas geglückt oder zu gutem Schlusse zu bringen gelungen war. In dieser guten Laune mochte es ihm wohl anstehen, kurz vor dem Momente des Sterbens seine Freunde zu fragen, ob er auf der Schaubühne des Lebens seine Rolle gut gespielt, und auf ihre bejahende Antwort sie verscheidend aufzufordern, ihm Beifall zu klatschen.

Das Seitenstück zu den letzten Worten des Augustus bieten diejenigen, die man dem ausschweifenden und verrückten Nero zuschreibt, der, als er, vom Throne gestoßen und von seinen Feinden verfolgt, sich selbst den Tod gab, ausgerufen haben soll: „Welch ein Schauspieler geht in mir zu Grunde!“

Nero, der bekanntlich nichts als ein grausamer Narr war, hatte unter anderen thörichten Einbildungen auch die, ein großer Künstler zu sein. Er hielt sich für einen ausgezeichneten Rhetor und Sänger und spielte deswegen mit Leidenschaft große Rollen in tragischen Stücken, wofür er sich mit Beifall überschütten ließ.

Sollten seine letzten Worte nun auch nur eine historische Erfindung sein, so bleibt nichtsdestoweniger zu bekennen, daß sie für Nero’s Wesen Zutreffendes und Charakteristisches haben. Sie kennzeichnen auf höchst frappante Weise das Scurrile und Lächerliche seines in sich verwaschenen, ganz haltlosen und abgeschmackten Naturells, das ebenso kindisch wie widerwärtig erscheint.

Der Gegensatz zu Nero ist Vespasian, ein Herrscher von strengem militärischem Geiste, der mit außerordentlichem Verstande und geregelter Willenskraft regierte. Seine von dem Gedanken der Regentenwürde ganz erfüllte, männlich stoische und etwas rauhe Kriegerseele bekundet sich schlagend dadurch, daß er bei dem Herannahen des Todes seiner Umgebung befahl, ihn aus dem Bette zu heben und auf seine Füße zu stellen, weil, wie er verscheidend erklärte, ein römischer Kaiser nur stehend sterben dürfe.

Ein qualvolles Ende fand Ludwig der Elfte von Frankreich, ein Mann, dem jeder Zeit Macht vor Recht ging und welcher auch die verworfensten Mittel nicht scheute, wenn er glaubte, durch diese seine Zwecke erreichen zu können. Er ist das französische Seitenstück zu dem englischen Richard dem Dritten. Seine Regierung ist eine fortlaufende Kette von Gewaltsamkeiten, Hinterlisten und Verbrechen. Als er sein Ende kommen fühlte, ergriff ihn eine ungeheure Angst, die ihn weder ruhen noch rasten ließ. Eine Zeitlang reiste er unruhig von Ort zu Ort, und da ihn besonders Nachts böse Träume folterten, ließ er häufig Musikanten, wohl hundertzwanzig an der Zahl, rufen, die ihm durch lärmende Musik den Schlaf fern halten mußten. Zuletzt, weil er überall rächende Hände vermuthete, schloß er sich in die Veste Plessis-les-Tours ein, die von zahlreichen Bogenschützen und mit spitzen Eisengittern und Fußangeln umgeben war. Da sah und hörte man ihn Tag und Nacht durch die Gemächer rumoren und mit sich selber reden. Oft irrte er, in Schweiß gebadet, ein Panzerhemd auf dem nackten Leibe und ein bloßes Schwert in der Hand, keuchend und schreiend, wilde Verwünschungen und Flüche ausstoßend, auf den Zinnen und Wällen zwischen doppelten Reihen von Bogenschützen umher, die ihm den Tod abwehren sollten, den er außerordentlich fürchtete. Vor seinem Arzte lag er oft auf den Knieen, um ihn anzuflehen, ihm das Leben zu erhalten. Nach einer Volkssage soll er zuletzt sogar das warme Blut von Kindern getrunken haben, weil ihm Wunderthäter und alte Weiber dadurch Verjüngung verheißen hatten. Allen angewandten Mitteln zum Trotze mußte aber auch er schließlich erliegen. Sein Tod soll grauenvoll gewesen sein. Er starb mit Schaum vor dem Munde und mit Gebeten, die sich in seinem Schrecken in haarsträubende Verwünschungen verwandelten.

Heinrich der Achte von England, ein gleichfalls ziemlich tyrannischer und mit manchen Schandthaten behafteter König, hat ein nicht minder mürrisches und ziemlich trostloses Alter gehabt. Auch er mochte vom Tode nichts wissen und hatte seiner Umgebung verboten, dieses Wort vor ihm zu nennen. Als er in seinen letzten Augenblicken die besorgten Mienen seiner Aerzte sah, rief er zornig: „Ich lasse Euch köpfen, wenn Ihr nicht erklären könnt, mich zu retten.“ In demselben Momente jedoch war er todt.

Karl der Fünfte hat ein allerdings gefaßteres, aber nicht eben ein glücklicheres Ende gefunden, ein Ende, über das uns die genauesten Mittheilungen aufbewahrt worden sind und welches William Stirling in seinem Buche über des Kaisers Klosterleben bis in seine kleinsten Einzelheiten beschrieben. Nach Allem, was daraus ersichtlich, gab Karl der Fünfte seinen Geist gleichsam nach spanischem Ceremoniell und mit dem ganzen Pomp der katholischen Kirche auf. Man weiß, daß seine Unmäßigkeit im Essen und Trinken an seinem frühen Tode nicht ohne Schuld gewesen ist. Obgleich immer leidend, wollte er sich doch nichts versagen. Als er im August 1558 wohl sein Ende kommen fühlen mochte, wandelte ihn die Lust an, gleichsam eine Generalprobe von seinem Begräbniß machen zu lassen. So oft während seines Aufenthaltes in Juste irgend einer seiner Freunde fürstlichen Standes oder von den Rittern des Vließes gestorben war, hatte er nie vergessen, von den Mönchen eine Leichenfeier veranstalten zu lassen, und diese Trauerfeierlichkeiten waren gewissermaßen die Feste und Schauspiele des düstern Klosterlebens. Nun wollte er ein solches auch von seinem eigenem Begräbniß haben. Dasselbe fand am 30. August des eben angeführten Jahres mit aller dabei üblichen Pracht statt. Nachdem dies geschehen, speiste er zu Mittag – diesmal weniger, als er es gewohnt war. Nachdem er eine Weile dann noch in der Sonne gesessen, besah er das Bild seiner ihm vorangegangenen Gemahlin Isabella, später, als ob er die weltlichen Regungen hätte verwischen wollen, Heiligenbilder.

So kränkelte er fort bis tief in den September hinein. [311] Am 20. verlangte er nach dem heiligen Abendmahl und als ihm bemerkt wurde, daß dies nach Empfang der letzten Oelung nicht mehr nöthig wäre, sprach der Sterbende: „Es mag nicht nöthig sein, ist aber doch ein gutes Geleit für eine so lange Reise.“

Um sieben Uhr Morgens wurde demnach eine geweihte Hostie gebracht, die zu sich zu nehmen ihm jedoch außerordentliche Mühe machte. Beängstigt davon, ob er sie auch wirklich verschluckt habe und so ihrer göttlichen Segnungen theilhaftig werden könne, öffnete er den Mund und ließ nachsehen, ob sie auch in der That hinuntergegangen sei. Hierauf lag er lange bebend auf den Knieen, bis sich nach heftigem Erbrechen große Schwäche einstellte und er niedergelegt werden mußte.

Gegen acht Uhr Abends fragte Karl, ob die geweihten Kerzen bei der Hand wären, und als dies bejaht wurde, befahl er sie zu bringen. Allein er lag noch bis gegen zwei Uhr Morgens, den Gebeten seines Lieblingspaters lauschend, wo er diesen endlich unterbrechend sagte: „die Zeit ist gekommen, bringt mir die Kerzen und das Crucifix.“ Dies waren theure Reliquien, die er lange für diesen Augenblick aufbewahrt hatte. Die Kerze war vom Schreine der heiligen Jungfrau von Montserrat und das überaus schön gearbeitete Crucifix war in Toledo seiner sterbenden Gattin aus der Hand genommen worden und tröstete später auch seinen Sohn in seiner letzten Stunde. Der Kaiser griff hastig nach diesen Reliquien, als sie ihm von dem Erzbischof dargeboten wurden, und in jeder Hand eine derselbe haltend, betrachtete er einige Momente schweigend die Gestalt des Erlösers und drückte sie dann an seine Brust. Diejenigen, die ihm nahe genug standen, hörten ihn bald darnach, als gelte es einen Ruf zu beantworten, sagen: „Ja, Herr, jetzt komme ich.“

Damit entglitten Crucifix und Kerze seinen Händen und bald darnach war er todt.

Dieser Tod hat freilich nicht gerade etwas sehr Schreckliches, läßt aber immer doch unter aller Selbstbeherrschung, die Karl dem Fünften eigen war, eine große Beängstigung und das fieberhafte Bestreben sichtbar werden, ein quälerisches Gewissen zur Ruhe zu bringen.

In der That auch hatte dieser Regent sich vielerlei vorzuwerfen. Die Geschichte hat ihn allerdings sehr verschieden, manchmal sehr hart, manchmal sehr milde beurtheilt. Es sind ihm kalte Berechnung, Zweideutigkeit, Wortbrüchigkeit und schonungslose Härte gegen überwundene Feinde zum Vorwurf gemacht worden; dagegen hat man aber seinen Ernst, seine Würde, seine Sparsamkeit, seine Liebe zur Kunst, seine Mäßigung gerühmt, Berühmungen allerdings, die nicht eben sehr stichhaltig sind. Sein an sich haltendes, gemessenes Benehmen entstand aus Mangel an Temperament und Geist, aus Lust zur Intrigue, aus angeborenem Stolz und dem Wunsche zu imponiren; sein geringer Aufwand schrieb sich von seinem Geize her und sein Pflegen der Künste, das an sich nicht viel zu besagen hat, war nichts als ein wohlfeiles Feilschen nach Popularität. Seine Unmäßigkeit im Speisen ist notorisch, war aber nicht seine schlimmste Eigenschaft. Der deutsche, leider früh verstorbene Gelehrte Bergenroth, welcher im Dienste englischer Forschungen die spanischen Staatsarchive durchforscht hat, hat noch weit schlimmere Dinge zur historischen Evidenz gemacht. Karl der Fünfte war grausam und ein so blinder Fanatiker, daß er mit Wissen und Willen seine eigene Mutter Johanna unter dem Vorwande, daß sie wahnsinnig sei, in strengem und hartem Gefängnisse halten ließ, blos weil sie in Sachen des Glaubens und der Religion sich tolerant gezeigt.

Man hat die Thronentsagung des spanischen Königs und deutschen Kaisers, sowie seinen daraus folgenden Eintritt in das Kloster des heiligen Hieronymus zu Juste vielfach als einen Act philosophischer Resignation bezeichnet; allein nach Allem, was jetzt über Karl den Fünften vorliegt, ist weit eher anzunehmen, daß seine Abdankung und sein Klosterleben nur aus einem dunklen Drange seines Gewissens erfolgten und daß er glaubte, gravirende Unthaten durch Buße und Gebet vor den Augen des ewigen Richters tilgen zu können. Dieser Ansicht entspricht auch vollkommen sein bigottes und peinvolles Ende.

Noch kläglicher ist das Hinscheiden Karl des Neunten. Dieser unglückliche Monarch, der sich überreden ließ, in die abscheuliche Niedermetzelung der Hugenotten während der Bartholomäusnacht vom 23. zum 24. August 1572 zu willigen, und der selbst während des gräßlichen Blutbades aus den Fenstern seines Schlosses auf seine Unterthanen geschossen haben soll, siechte in Reue und Gewissensbissen elend hin. Er fühlte es, daß ihn Keiner achtete, daß Alle ihn für einen schlechten Menschen hielten. Vergeblich trachtete er, durch die wildesten Jagden, durch angestrengte Leibesübungen sich zu zerstreuen; vergebens suchte er Beruhigung in Dichtkunst und Musik, die er schätzte und selbst übte. Täglich wurde er ängstlicher und finsterer. Wer den hochgewachsenen, mageren, bleichen Mann mit der mächtig gebogenen Nase und dem stieren Blick gebeugt einherschleichen sah, wurde von Grauen ergriffen. Er war ganz den Schrecknissen des bösen Gewissens preisgegeben.

Keinen Menschen konnte er mehr gerade ansehen; bei Audienzen hielt er die Augen meistens geschlossen; öffnete er sie, so wandte er den Blick in die Höhe, senkte ihn aber auch sogleich wieder scheu zu Boden. Schreckhafte Träume riefen ihm die Gräuelscenen der Bartholomäusnacht zurück; überall glaubte er sich von den Schatten der Ermordeten umringt. Solche Aufregungen hörten nicht auf. Die innere Angst verzehrte vollends die ohnehin schwachen Körperkräfte des Königs. In den letzten Wochen konnte er in keiner Stellung ruhig verharren; er zitterte fortwährend; am Ende soll ihm das Blut aus den Poren der Haut gedrungen sein. So starb er, noch nicht vierundzwanzig Jahre alt, am 30. Mai 1574.


(Schluß folgt.)




Ein Nationaldenkmal auf dem Niederwald im Rheingau.


Nun bricht der Lenz die letzte Kette,
Drein die Natur der Winter schlug,
Und mit den Lerchen um die Wette
Singt froh der Landmann hinterm Pflug.
Scheu girrt im Fichtenschlag die Taube,
Manch Vogelpaar, am Nestchen baut’s;
Es steigt im Busch aus dürrem Laube
Der grüne Stern des Maienkrauts. –
Zum Rhein, zum Rhein! Hinaus nach Westen!
Am besten schmeckt der Wein mir da,
Wo man ihn hat, den Wein, am besten! –
Gott grüß’ Euch, Rhein und Main und Nah’!

Der Rheingau! Dieser Hügel Zacken
Als Diadem der Rheinstrom trägt,
Der Rhein, der um den breiten Nacken
Den prächt’gen Scharlachmantel schlägt.
Dort zieh’ ich hin, ein lust’ger Reimer!
Da lacht das Herz bei Sang und Wein!
Bei Rüdesheimer, Geisenheimer,
Wer möchte da nicht heimisch sein?
Wenn ich, ein wonnevoller Zecher,
Das Gold des Rheingaus still empfah’,
Gönn’ ich den Göttern gern den Becher
Mit Nektar und Ambrosia!

Hier laßt mich sacht vor Anker gehen! –
Nach Winterstagen, rauh und kalt,
Wie mild die Frühlingslüfte wehen
Um Rebenhang und Flur und Wald!
Herrgott, wär’ dies Juwel der Erde
Gefallen je in Welschlands Hand,
Wer hätte Ruh’ und Rast am Herde,
Bis wir’s zurückerkämpft, gekannt?
Und war es nicht dies Rebgelände,
Nach dem der Franzmann gierig sah? –
Glückauf, damit ist’s nun zu Ende!
Deutsch ist und bleibt der Rhein! Hurrah!

Hier zog in jenen Julitagen
Das deutsche Heer zum Strand der Saar;
Hier hat das Dampfroß hingetragen
Der Kranken, der Zerschoss’nen Schaar.
Hier, in dem Eden deutscher Erde,
Vom Gott der Trauben hochgeweiht,
Wohlan, auf diesem Fleckchen werde
Ein Denkmal jener großen Zeit
Errichtet von dem ganzen Volke,
Dem zum Gedächtniß, was geschah,
Als aus des Pulverdampfes Wolke
Sich strahlend hob Germania!

[312]

Mäusethurm. Ehrenfels. Rüdesheimer Berg. Tempel.
Der Niederwald am Rhein, mit den beiden für das Nationaldenkmal projectirten Stätten. Nach der Natur aufgenommen von F. Reichmann in Düsseldorf.

[313] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[314]

Im Streite messen die Parteien
Die Kräfte, Jeder kämpft und ringt;
Doch Keiner soll uns je entzweien,
Sobald die Losung „Deutschland!“ klingt!
Dann soll, was uns getrennt, verschwinden,
Vergessen sei’s und abgestreift,
Und Keinen soll der Gegner finden,
Der frech des Fremdlings Weise pfeift!
Vereint um dies Erinn’rungszeichen –
Wer spräch’ nicht laut und freudig Ja!
Soll Jeder treu dem Andern reichen
Die Hand beim Ruf „Germania!“

So sei’s! Zum Werke frisch geschritten! –
Umrankt von deutscher Reben Kranz,
Da steh’ das Denkmal, stolz, inmitten
Des Prunkgemachs des Vaterlands.
Das wird ein Fest! Die schönen Stunden,
Mich dünkt, ich schau’ sie schon im Traum:
Vor lauter Schiffen, kranzumwunden,
Sieht man des Rheines Spiegel kaum!
Ringsum beglückter Menschen Fülle,
Von Flaggen bunt ist Mast und Raa!
Kanonen donnern! Seht, die Hülle
Des Denkmals fällt! Hurrah, Hurrah! –

Rüdesheim, Ende April 1872 Emil Rittershaus.


Während unsere tapferen Heere noch auf feindlichem Boden, im Angesicht der fränkischen Hauptstadt standen, um die Früchte ihrer glorreichen Siege zu ernten und die Erfolge der deutschen Waffen sicher zu stellen, regte sich schon im ganzen Vaterlande, in der Heimath jener heldenmüthigen Krieger, die Idee, einen sichtbaren Markstein zu errichten zur Erinnerung an diesen gewaltigsten und in seinen Folgen bedeutsamsten aller neueren nationalen Kämpfe des deutschen Volkes. Ganz abgesehen von den wohlverdienten Denksteinen, welche jedes Land, jede Stadt, jedes Dörfchen seinen Heldensöhnen errichten wollte, lag doch auch der Gedanke nahe, am Rheine, dem vielumworbenen, endlich in Wahrheit freien deutschen Strome, ein Erinnerungszeichen aufzupflanzen, allen deutschen Stämmen ein gemeinsames Zeichen, eine Dankesstätte für die Erfolge der deutschen Siege, ein Wahrzeichen für die Wiedererrichtung des deutschen Reiches.

Dieser Gedanke brach sich überall, und nicht am Rheine allein, er brach sich auch im tiefen Norden Bahn. Sahen doch in Folge des Krieges viele jener Hunderttausende unserer streitbaren Männer auf ihrem Zuge zur französischen Grenze den herrlichen Fluß zum ersten Male, galt es doch um ihn, war doch er der Preis, als die Würfel gefallen und der Ruf unseres Heldenkaisers durch die deutschen Lande erscholl.

Als die ersten Vorschläge zur Errichtung eines gemeinsamen nationalen Denkmals in die Presse ihren Weg fanden, schien ein Grundplan noch nicht überall reiflich erwogen. Nur daß der Rhein im Allgemeinen als Standort ersehen war, ging aus den veröffentlichten Vorschlägen hervor. Am Niederrhein brach man manche Lanze für den Drachenfels, in der Pfalz wurde eine der Höhen der Vogesen für ein nationales Denkmal ausersehen.

Dem Verfasser dieses war es vergönnt, ein neutrales Terrain zuerst in der Presse zu bezeichnen, dem nunmehr in wahrhaft überraschender und, man darf sagen, bewundernswürdiger Eintracht alle Stimmen, auch am Rheine, zugefallen sind. Es ist dies der Höhenzug des Niederwaldes, der Rüdesheimer Berg. Am Ostersonntag des vorigen Jahres veröffentlichte der „Rheinische Courier“ diesen Vorschlag, und das Urtheil über denselben ward von Tausenden zu seinen Gunsten gefällt.

Die „Gartenlaube“ legt heute ihrem großen, weitumfassenden Leserkreis eine Ansicht des Aussicht genommenen Platzes für jenes Denkmal vor, und sie glaubte dieses echt deutsche Nationalunternehmen zugleich mit erläuternden Worten stützen und fördern zu sollen. Dem deutschen Volke und unseren germanischen Brüdern jenseits der Meere geben wir deshalb gern die entsprechenden Aufklärungen, aus welchen Gründen die Anwohner des Rheines sich über die gewählte Stelle freundnachbarlich geeinigt haben.

Am Mittelrheine, und gerade hier am Niederwalde, reichen sich der Ober- und Niederrhein in Bezug auf Sprache und Sitte die Bruderhand, und wenn auch der Niederwald selbst eine historische Stelle nicht genannt zu werden verdient, von seiner Höhe herab überschaut der Blick alle historischen Wandlungen der Entwickelung des deutschen Volkes.

Gegenüber dem Niederwalde mündet die Nahe in den Rhein, an deren rechtem Ufer Bingen, das römische Bingium, ausgebreitet liegt. Ueber diesen Ort und einerseits über die in Ueberresten noch stehende römische Drususbrücke hin und am Ufer der Nahe hinauf, andererseits dem Laufe des Rheines folgend, zogen die bedeutendsten römischen Heerstraßen nach Trier und Coblenz, dem Treveris und Confluentes jener Tage. „Auf diesem Felsen stand Deutschlands Fuß fest, von der Römer Zeiten her bis auf den heutigen Tag.“

Karl der Große, der heldenhafte erste Gründer des deutschen Reiches, er residirte dort drüben im Palaste zu Ingelheim, von wo er der Sage nach zuerst den Schnee auf den Abhängen des Niederwaldes schmelzen sah und so den Grund zu dem nun so blühenden Weinbau der Gegend legte, indem er die Berge zum Rebbau anroden und die Orleanstrauben einführen und anpflanzen ließ. Der Reichsversammlungen zu Ingelheim unter Karl und Ludwig dem Frommen gedenken die Geschichte und unsere Poeten.

Hier vorüber zog sich des römischen Reiches Pfaffengasse, herauf – hinab den Rhein, aber dort – dem Laufe der Nahe folgend, grüßt auch die Kuppe der Ebernburg, jene „Herberge der Gerechtigkeit“, auf der Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen hausten, das Werk der Reformation beginnend und fördernd. Hier sprach Ulrich sein berühmtes Jacta est alea! Und während dichter heran, auf dem gegenüberliegenden Rupertsberge, die in der Mönchsgeschichte so häufig genannte heilige Hildegard „mit eignen Fingern den Brunnen des Rupertsburger (Benedictinerinnen-) Klosters grub“, saß in späterer Zeit unten in dem durch seine rothen, hübschen Sandsteinthürme weithin kenntlichen Geisenheim Leibniz mit dem Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn und arbeitete an dem Werke einer „Vereinigung der katholischen mit der evangelischen Kirche“. Hier auch ward das Instrumentum pacis, der Entwurf zum westphälischen Frieden, berathen. Tief unten, umschäumt von den Wogen und Wellenstrudeln des Binger Lochs, steht der Mäusethurm, als Wachtthurm und Zollstätte des Mittelalters ebenso bedeutsam für jene Zeit geistlicher und weltlicher Bedrückung, als der gegenüberliegende Ehrenfels, der nicht allein durch die Sage vom Bischof Hatto und den verfolgenden Mäusen seine Rolle in der mittelalterlichen Geschichte spielt. Auf ihm wurden auch eine Zeitlang, in den Tagen der Noth, die Mainzer Domkleinodien, die bei den Krönungen einzelner deutscher Herrscher dienten, in den Hafen geflüchtet. Und drüben wieder, fast mitten im Städtchen Bingen, liegt die Burg Klopp, auf welcher der Sage nach Heinrich der Vierte zuerst die vom eigenen Sohne über ihn verhängte Haft erduldete. Hier vorüber wallten die deutschen Kaiser Philipp und Rudolph von Schwaben, um im fernhergrüßenden Mainz die erste Weihe der Kaiserkrönung zu empfangen; hier vorüber zogen sie Alle, des Reiches Führer, „wenn sie neu gekrönt ihren Umritt hielten durch das deutsche Land“, und rheinwärts zogen die Kurfürsten zum Königsstuhl, zur vorhergehenden Königswahl am Stuhl zu Rhense.

Und die neuere Zeit! Sah nicht gerade der Niederwald Lust und Leid des Krieges an sich vorüberziehen? Die ersten jubelnden siegesfreudigen Heeressäulen, sie folgten dem Laufe der Nahe, die dort drüben aus düsteren Felsen und lachenden Fluren so hell und anmuthig heraufschimmert. Dort liegt Saarbrücken, wo der erste Schlag gegen das deutsche Heer geführt werden sollte und ein kleines Häuflein Tapferer ein ganzes Heer aufhielt, während die lächerliche Komödie mit dem Kinde von Frankreich in Scene gesetzt wurde. Dort bluteten die tapferen Vierziger, dort stürmten unsere wackeren Brüder den von Feuerschlünden umsäumten Weg auf die Berge von Spichern. Die blauen Linien aber, die sich gegen den Horizont, seitwärts des Donnersberges abziehen, es sind die Höhenzüge der Vogesen, des neuen nun wiedergewonnenen Reichslandes. Hier aber auch kamen sie vorüber, alle die tapferen Mannen, denen der Schlachtengott die ehrenvollen Wunden geschlagen. Hier in Bingerbrück, dem vielgenannten Eisenbahnknotenpunkt, war der Sammelplatz all’ jenes Elends, welches der Krieg nun einmal im Gefolge hat. Hier zeigte sich im glänzendsten Lichte die Samariterliebe des ganzen deutschen Volkes, hier lagen verbrüdert die Angehörigen aller deutschen Stämme und harrten und genossen Angesichts des Rheins der ersten werkthätigen Hülfe nach ihrer Rückkehr in’s theure Vaterland. Und oben auf dem Berge, neben [315] der Rochuscapelle, die uns Altmeister Goethe nach den Tagen des großen Kampfes von 1813 eingehend schildert, hatte sich das Lazareth des englischen Hülfsvereins eingerichtet, um auch hier zu predigen, daß das Unglück bei gebildeten Nationen alle Unterschiede tilgt! Und mit welchem Jubel wurde diese Stelle wieder begrüßt von den lorbeergeschmückten Helden, welche hier nach harten Kämpfen zuerst den Strom wiedersahen, der doch augenscheinlich der Preis jenes frevelhaft heraufbeschworenen Kampfes sein sollte!

Und hier stehen wir, mitten in dem blühendsten Weingarten des Rheingaus, an seiner gerühmtesten Stelle, mitten im Rüdesheimer Berg. Möge das Denkmal erstehen in welcher Gestalt und Form es wolle, hier wird es umduftet sein von den köstlichsten Rebenblüthen, den edelsten, die unser Vaterland hervorbringt, hier werden es die Geister jener Edeltraube umschweben, deren Erinnerung schon die Poesie weckt! Kein Garten der Welt kann diesem verglichen werden, kein schöneres Grün entsproßt der deutschen Erde, als die ewig frischen Thyrsusstäbe des rheinischen Gaues.

Und feiern wir denn mit dem Denkmal die Wiedererstehung des deutschen Reichs, so giebt uns das Land vor uns das schönste Bild der neu errungenen Einigung. Denn hier grenzten noch vor Kurzem drei deutsche Länder, Preußen, Nassau und Hessen, die jetzt vereinigt unter starkem Scepter jene Wiedererstehung mit deutlichen Zeichen predigen. Bis in die weiteste Ferne erblickt hier das Auge kein Stückchen Land und Fels mehr, das nicht seit jenem Kriege deutsch und nur deutsch wäre!

Und an dem Hügel wandelt ein hoher Schatten her,
Mit Schwert und Purpurmantel, die Krone von Golde schwer;
Das ist der Karl, der Kaiser, der mit gewalt’ger Hand
Vor vielen Hundert Jahren geherrscht im deutschen Land!

Bei Rüdesheim, da funkelt der Mond in’s Wasser hinein
Und baut eine goldene Brücke wohl über den grünen Rhein,
Der Kaiser geht hinüber und schreitet langsam fort
Und segnet längs dem Strome die Reben an jedem Ort.

Und hier, Angesichts all’ der deutschen Landesherrlichkeit, wird Emanuel Geibel’s Lied zur Wahrheit, wenn die Tausende, welche alljährlich über die rheinischen Berge dahinwandern, am Fuße des nationalen Denksteins

Füllen die Römer und trinken in gold’nem Saft
Sich deutsches Heldenfeuer und deutsche Heldenkraft!

Das deutsche Volk besitzt wenig nationale Denkmale im weiteren und allgemeineren Sinne, weniger als irgend ein anderes. In Paris erinnert uns jeder offene Platz an die Siege unserer Gegner über die deutschen Waffen. Das edelste und hehrste Denkmal für uns ist freilich wohl die Neugründung des deutschen Reiches selbst, und die Wiedererwerbung der Reichslande Elsaß und Lothringen; aber jene Hunderttausende, welche den „deutschesten Strom“ auf und ab im Laufe eines Jahres befahren, sie werden gerade hier gehobenen Herzens und Auges, in der schon an und für sich erhöhten Stimmung durch die Wirkung der herrlichen Landschaft, ihres Werthes als Deutsche sich bewußt, sie werden hier in jubelnder Freude hinaufschauen zu dem Altare der gemeinsamen Vaterlandsliebe. –

Sobald der Niederwald als bevorzugte Stelle für das Denkmal den Bewohnern des Rheines bezeichnet war, trat die Presse für und wider diese Idee auf, um endlich geklärt und nach allen Seiten geprüft die Meinungen in dem angedeuteten Sinne zu vereinigen. Der Niederrhein verzichtete auf die Bevorzugung des Drachenfels, der außerdem schon ein nationales Denkmal zur Erinnerung an die Jahre 1813 und 1814 besitzt, und in einer ersten Versammlung zu Köln wurden dem Denkmal schon nahe dreitausend Thaler durch sofortige Zeichnung zugewendet. Krupp in Essen brachte gleichzeitig der nationalen Idee die Summe von tausend Thalern dar. Die Aachener und Münchener Feuerversicherungsgesellschaft, die Darmstädter Bank, die Actiengesellschaft der hessischen Ludwigsbahn folgten mit bedeutenden Beiträgen. Jedes Städtlein, jedes Dörfchen am Rhein sammelte und gab mit offenen Händen und freudigem Herzen.

Concerte und Unterhaltungen wurden veranstaltet und manches Sümmchen häufte sich zum Grundstock für den gemeinsamen Zweck. Die Pfalz verzichtete gleichfalls hochherzig auf die Ausführung eines besonderen Denkmals auf den Höhen der Vogesen und stimmte dem gewählten Platze einstimmig zu, auch hierdurch ein Bild unserer nationalen Einigung bietend. In Hessen vertagte man die Sammlungen für das Ehrendenkmal der heimischen Truppen, um für das gemeinsame deutsche Unternehmen zu wirken. In Berlin, Frankfurt und in den Hansestädten, in Schleswig-Holstein, Oldenburg, Braunschweig, Carlsruhe, in Schlesien, in Baiern und Würtemberg, überall regt sich’s zur Förderung der gemeinsamen Idee. In Köln und Mainz waren an den beiden Sammelstellen schon Ende März je über fünftausend Thaler eingelaufen. Schon manches Scherflein ist der deutschen Vereinsbank in Frankfurt zugeflossen, welche als allgemeine Sammelstelle bestimmt worden ist, und daß unsere Idee auch bei den Deutschen im Auslande besten Anklang und beste Unterstützung findet, haben zuerst unsere braven Landsleute in Petersburg bewiesen, die bei dem Festessen zu Ehren des Geburtstages des deutschen Kaisers im Hôtel Demuth die Summe von siebenhundert Rubel gesammelt und eingeschickt haben.

Nachdem sich inzwischen ein geschäftsführender Ausschuß gebildet hatte, in welchem sich der Regierungspräsident Graf zu Eulenburg in Wiesbaden, v. Dachröden, Schloßhauptmann in Berlin, Forck, Landrath in Rüdesheim, Freiherr Franz v. Stauffenberg in München, Vicebürgermeister Dr. Stephani in Leipzig u. A. befinden, erschien ein „Aufruf an das deutsche Volk“ zur Mitbetheiligung an der gemeinsamen Aufgabe, welcher durch die gesammte deutsche Presse in wärmster Weise unterstützt wurde. Dieser Aufruf fand zu seiner Vertretung vor der Oeffentlichkeit hundertvierundvierzig Unterschriften, Namen von „gutem Klang im Lande“, die nicht nur alle deutschen Stammesglieder, sondern auch alle politischen Richtungen vertreten. Auch in dem Schöpfer unseres deutschen Einigungswerkes, dem Reichskanzler Fürsten v. Bismarck, hat die Idee der Gründung dieses National-Denkmals das wärmste Interesse erregt, und der Führer unserer siegreichen Heere, der deutsche Kaiser, zollte dem Projecte nach einem ihm in Ems im letzten Sommer gehaltenen Vortrage seinen größten Beifall.

In richtiger Würdigung der noch schwebenden Frage, ob dieses „National“-Denkmal zum Andenken an die jüngste sieg- und erfolgreiche Erhebung des deutschen Volkes und die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches ein plastisches oder architektonisches oder eine Verbindung beider Kunstzweige werden solle, hat man es der freien Concurrenz aller deutschen Künstler überlassen, die Bestimmung des künstlerischen Charakters des Entwurfs selbst zu treffen. Es ist demnach jedem Gedanken, jeder Idee freier Raum gegeben.

Die Kosten des Denkmals, einschließlich der Aufstellung, sind auf zweihundertfünfzigtausend Thaler veranschlagt und zwar sollen alle Modelle, beziehungsweise Zeichnungen bis zum 1. September dieses Jahres nach Berlin eingeliefert werden. Wir müssen es uns versagen den Inhalt des Concurrenz-Ausschreibens hier wiederzugeben und dürfen umsomehr davon absehen, als sich zweifellos auch weiter die Gesammtpresse dieses Unternehmens in ausgedehnter Weise annehmen wird. Um allen Richtungen, allen Zweigen der verschiedenen Kunstgattungen indeß auch bei der Entscheidung gebührend gerecht zu werden, ist das Preisgericht über die Entwürfe aus folgenden Künstlern und Kunstkennern zusammengesetzt: Professor Drake in Berlin, Professor Eggers in Berlin, Professor Dr. Hähnel in Dresden, Professor Lübbe in Stuttgart, Oberbaurath Professor Schmidt in Wien, Oberhofbaurath Strack in Berlin und Professor Zumbusch in München.

Das Preisgericht hat bei seinem Spruch ebensowohl auf den absoluten Kunstwerth der Arbeiten, als auf die Angemessenheit und Ausführbarkeit derselben, nach Maßgabe des gesammten Programms, zu sehen. Als Preise sind dreitausend, eintausend und fünfhundert Thaler für die einzureichenden Entwürfe ausgesetzt. Sei es hier gestattet, auch im Voraus schon einem – vielleicht mit einigem Anschein von Recht – zu erhebenden Einwurfe zu begegnen. Der Gesammt-Kostenbetrag des Denkmals soll vorläufig die Summe von zweihundertfünfzigtausend Thalern nicht überschreiten, und leicht dürfte der Ansicht Raum gegeben werden, daß diese Summe ohne Schwierigkeit aus den Geldern der französischen Kriegsentschädigung entnommen, das heißt bewilligt werden könnte. Der Meinung des Gesammt-Comités entspricht diese Auffassung indessen und mit vollem Rechte, nicht. Das deutsche Volk selbst soll das Denkmal aufrichten und kein fremdes Geld soll und darf helfen, um an dem Denkstein zu bauen, der unsere staatliche Wiedergeburt verkündet. Bringe man Trophäen des letzten Krieges in dieser oder jener Gestalt an dem Monumente an, aber halte man fern von ihm, was nicht durch uns selbst dem nationalen [316] Zwecke geweiht worden ist, als ein freiwilliges Opfer für die gemeinsame „Malstätte“ deutscher Ehre und Größe. Sind die Opfer auch groß, welche unser Volk während und nach dem Kriege dem nationalen Zwecke und Kampfe gebracht, die angeforderte und nöthige Summe zur Aufführung dieses Erinnerungstempels, was ist sie für uns, für die nunmehr größte Nation der Welt? An diesem Umstande, am Mangel der Mittel, wird der schöne Gedanke nicht scheitern, wir sind dessen gewiß.

So schwierig es war, die Stelle für die Errichtung des Denkmals in anschaulicher Weise wiederzugeben, so dürfte doch unseren Lesern die vorliegende Zeichnung genügenden Anhalt geben, denn nicht unbekannt sind diese Punkte einem großen Theile des deutschen Volkes, vor Allem aber sind sie bekannt unseren heimgekehrten Siegern und den vielen Vergnügungsreisenden, deren Schaaren Jahr aus Jahr ein hier vorüberfluthen.

Von Rüdesheim zeigen sich noch die letzten Häuser mit der Rheinhalle und der Landebrücke der Bingerbrücker Dampfschiffe. Oben der Tempel des Niederwalds. Der in bester Beleuchtung vorspringende Bergrücken ist der Rammstein (Rammstädter Kopf), ein Edelweinberg, ausersehen als concurrirender Punkt mit dem weiterhin spitz hervortretenden Leingipfel, beide durch Flaggenstangen bezeichnet, weil zwischen diesen Punkten die Wahl zur Zeit noch schwankt. Dem Leingipfel gegenüber mündet die Nahe, an deren rechtem Ufer Bingen, am linken das vielgenannte Bingerbrück liegt. In der Ferne erscheint der Durchbruch des rheinischen Schiefergebirges, der Beginn des Bingerlochs und der Mäusethurm, während den Bergvorsprung des rechten Rheinufers der Ehrenfels krönt. An der in den Rhein hervorspringenden spitzen Bergzunge ist der Mühlstein sichtbar, in welchem das Herz des auf Schloß Johannisberg begrabenen Dichters und rheinischen Geschichtsforschers Nicolas Vogt auf dessen eignen letzten Wunsch eingemauert ist.

Die Gartenlaube glaubte ihren Lesern das Bild veranschaulichen zu sollen, wie es den meisten Rheinreisenden vom vorüberfahrenden Dampfer aus erscheint.

Soll aber das Denkmal des zu Grunde liegenden Gedankens würdig und dem gewählten Standorte entsprechend hergestellt werden, so muß das Unternehmen, wie in der Idee, so auch in der Wirklichkeit zu einem nationalen sich gestalten, getragen von lebhafter Zustimmung und bereitwilliger Mitwirkung in allen Theilen des deutschen Vaterlandes und darüber hinaus bei den Landsleuten in der Fremde, in allen Schichten der Gesellschaft ohne Rücksicht auf Verschiedenheit der Anschauungen in politischen und religiösen Dingen.

Und wie in den Pfingsttagen hier auf den Höhen des Niederwaldes Ober- und Niederrhein zu gemeinschaftlichen Volksfesten von Alters her zusammenströmen und frohen Herzens den rheinischen Brudergruß tauschen, so wandele auch durch diese Rebenhügel in Zukunft der Wanderer aus dem Süden und Norden unseres großen und schönen Reiches mit freudigem Herzen, und wenn sein Blick vom Fuße unseres nationalen Denkmals hinausschweift in die herrlichen Lande, so denke er des großen Kampfes, des mit vielen und leider schweren Opfern erreichten Sieges – er denke aber auch der Ehre und Größe des deutschen Namens, der sich den gebührenden Ehrenplatz wieder erkämpft nach manchem Sturm und Drang, und der zu glänzen bestimmt ist nach der Wiederaufrichtung des deutschen Reiches, über alle Nationen der Erde. Deß zur Erinnerung sei jenes Nationaldenkmal ein „Malstein“ an jener Stelle, wo das geeinte Deutschland die Wacht hielt und hält, für jetzt und alle Zeiten!

Ferd. Heyl.




Blätter und Blüthen.


Der Geist der preußischen Schulregulative. Die „Gartenlaube“ schilderte kürzlich in einem Aufsatze die Bildung und das Leben eines Lehrers in dem preußischen Schullehrerseminar zu M. Verfasser der folgenden Zeilen hatte Gelegenheit, die von Mehreren ausgesprochene Ansicht zu hören, daß jener Aufsatz hie und da Uebertreibungen enthalte. Freilich hat darin die sittliche Entrüstung die Feder des Verfassers geführt und aus dieser Stimmung heraus wäre es erklärlich und verzeihlich, wenn er im Einzelnen die Farben vielleicht etwas zu stark aufgetragen hätte. Aber den Geist, der als Ausfluß der Schulregulative sich in jenem Seminar geltend machte, hat er sicherlich richtig gezeichnet. Hier der Beweis.

Ich versetze mich zurück in das Jahr 1856. Vor meiner Seele steht das Seminargebäude zu N., ein ehemaliges Mönchskloster. Die langen Gänge in demselben sind finster, dunkel die Zellen, in denen je nach ihrer Größe sechs oder zwölf Seminaristen wohnen. Es ist gerade „Studirstunde“, d. h. eine der Stunden, in denen sich die Seminaristen auf die Lectionen des folgenden Tages vorzubereiten haben. Sie sitzen an ihren Pulten. Die Thür von Zelle Nr. X wird geöffnet. Der Director tritt herein. Leise klappen verschiedene Pultdeckel zu. Der Director geht um. Mit dem schnellen Blick eines Feldherrn hat er das Ganze gemustert, und gesehen, daß jeder Seminarist Bibel oder Gesangbuch oder Katechismus vor sich aufgeschlagen hat. Da freut sich sein großes Herz über diese Früchte seiner Arbeit im Weinberge des Herrn. Nur auf einem Seminaristen ruht sein Blick mit finsterm Grimm. Die arme Seele rechnet gerade, statt in der Bibel zu lesen. – Der Director geht weiter in die Nebenzelle. Die Seminaristen athmen auf. Die Pultdeckel werden wieder in die Höhe gehoben und heraus aus dem Pulte wandern all die profanen Bücher, die man beim Eintritt des Directors, um demselben kein Aergerniß zu geben, mit wahrer Kunstfertigkeit fast unvermerkt hatte verschwinden lassen. Es sind das die Bücher, aus denen die Seminaristen ihr bischen Geschichte, Geographie, Naturwissenschaft und Rechnen lernten. Aber auch mancher Band von den verpönten Werken Schiller’s, Lessings oder Goethe’s war darunter. Denn der Geist der „sogenannten Classiker“ läßt sich von dem Geiste der Regulative nicht so schnell austreiben.

Ein anderes Bild. Ein Seminarist aus der ersten Classe hält in der Uebungsschule seine Lection über ein Thema aus der biblischen Geschichte. Ein Gebet des Seminaristen leitet die Lection ein. Seine Stimme ist bewegt, sein Haupt tief auf die Brust gesenkt, er wagt nicht sein Antlitz zu seinem Gott zu erheben, denn er weiß es, daß der Herr unser Gott ein starker, eifriger Gott ist – und daß der das Gebet und die Lection recensirende Director in seiner Nähe ist und ihn genau beobachtet. Die Lection geht im Ganzen gut und der Seminarist ist überzeugt, sein Möglichstes geleistet zu haben. Da kommt die Stunde der Recension. Der Seminarist zittert, denn der Director hat zwei unfehlbare Eigenschaften. Wenn er die Brille auf der Nase hat, vindicirt er sich die Fähigkeit, jedem Menschen in’s Herz sehen zu können, und wenn er einen Seminaristen über irgend ein Gotteswort seine Lection hat halten hören, so weiß er genau, ob bei demselben das Herz mitgesprochen hat. Unser Seminarist hat sich nun zwar bemüht, sein Herz nach Möglichkeit sprechen zu lassen, aber siehe, der Director sagt ihm, es wäre Alles eitel Arbeit des Kopfes gewesen. Richtig freilich ist, daß unser Docent nicht zu den Wiedergeborenen gehörte, die, circa zehn an der Zahl, in einer Zelle auf ihren Knieen allabendlich gemeinsam den Gott Israels um Vergebung ihrer Sünden anflehten.

Und wie gut meint es auch sonst der Director! Wie ermahnt er die Abiturienten, sich möglichst um eine „Dorfstelle“ zu bewerben, „wo eine Kirche ist“! Wie oft sagt er ihnen, daß die Schulmeisterei erst durch ihre Verbindung mit der Kirche ihre wahre Weihe erhalte! „Das Küsteramt ist die Krone der Schulmeisterei!“ Wie oft ruft er dies große Wort mit erhabener Begeisterung aus, und wie tief trifft sein Blick der Verachtung das Weltkind unter seinen Abiturienten, das in Sehnsucht nach einer „Stadtstelle“ auf diese Krone so freiwillig verzichten will! Und wie oft und deutlich läßt er merken, daß die Censurnummer des Abgangszeugnisses doch schließlich von dem im Seminar bewiesenen Glaubensleben abhänge!

So könnte ich noch Vieles erzählen, könnte genau berichten, wie in die finsteren Klostermauern alle Jahre dreißig Jünglinge ihr frohes, reines Herz und ihre Ideale trugen, und wie alle Jahre dreißig wieder hinauszogen, meist geknickt, arm und verkümmert an Kopf und Herz. Ich könnte erzählen, wie die Heuchelei und der Verrath privilegirt wurden etc. Doch vorbei, vorher!

Nur ein Bild noch will ich vor dem freundlichen Leser aufrollen. Er möge mir erlauben, ihm den Oberlehrer des Seminars vorzustellen. Derselbe ist wie der Director von Hause aus Theologe, aber er besitzt zwei Dinge, die der Director nicht besitzt, ein warmes fühlendes Herz und eine ausgebreitete Kenntniß unserer deutschen Literatur. Er kennt und bedauert die Geistes- und Gemüthsarmuth seiner Seminaristen. Da die Regulative die „sogenannten Classiker“ vom Seminar-Unterricht ausschließen, so beschließt er privatim wöchentlich eine Stunde der Muße seiner Seminaristen mit einem Vortrage über deutsche Literatur auszufüllen. Da sitzen die Seminaristen zu seinen Füßen – das Wort von den Idealen der Menschenbrust, um die es sich allein zu leben verlohnt, wird wieder in den öden finstern Hallen gepredigt, und manch braves Herz lernt wieder an die Menschheit glauben. – Aber ach, es ist ein kurzes Glück! Kaum zwei- bis dreimal hat der geliebte Lehrer seinen Vortrag gehalten, und dann nicht mehr. Zwar erschien er zur bestimmten Stunde wieder auf dem Katheder, jedoch nur, um seinen Seminaristen mit zitternder Stimme vorzutragen, daß ihm die weitere Fortsetzung seiner literar-historischen Vorträge untersagt worden sei. – Die Seminaristen wußten von wem. Da schwur manch heißes Jünglingsherz ewigen Groll der pfäffischen Finsterniß.

Der Oberlehrer weilt nicht mehr unter den Lebenden; sein Geist aber lebt in manchen seiner Schüler fort und in mancher treuen Brust hat der wackere Mann seinen Denkstein. Und sicherlich dürfen wir hoffen, daß von nun an auch in den preußischen Schullehrerseminaren die dunklen Zimmer und die Dunkelmänner ihre Rollen ausgespielt haben und daß sich dafür das freie Licht des Tages und der Aufklärung in die Hallen ergießen wird, in denen die Lehrer unseres Volkes zu ihrem edlen und schönen Berufe herangezogen werden.




Kleiner Briefkasten.

A. K. in L. Ihr Wunsch wird schon in einer der nächsten Nummern durch Abdruck einer neuen Erzählung aus dem Kriege von Levin Schücking,Die Diamanten der Großmutter“ erfüllt werden.

H. G. in M. Ueber den Ausbruch des Vesuvs folgt in nächster Nummer ein Originalbericht vom Maler Heck, an den sich später Illustrationen, nach der Natur aufgenommen, reihen werden.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.