Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1871)/Heft 51

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[841]

No. 51.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


30.

Ich benutzte die allgemeine Bestürzung und Verwirrung, hüllte mich unbemerkt in Mantel und Kapuze und verließ das Vorderhaus. Noch zitterten mir die Kniee, und das Blut jagte mir fieberisch durch die Adern – die Scene war entsetzlich gewesen! … Die grenzenlose Unbesonnenheit, mit welcher ich mich mitten in die geheimnißvollen Beziehungen des Claudiushauses gestellt hatte, rächte sich grausam, in unerbittlicher Consequenz. Glied um Glied der verhängnißvollen Kette wurde an meinem Auge vorübergeführt, und eine heimtückische Hand stieß mich stets mithandelnd und mitleidend in die verschiedenen Phasen der Entwickelung hinein. … Ich hatte mit anhören müssen, wie er, für den ich freudig mein Herzblut hingegeben hätte, nun in der That des notorischen Betruges angeklagt wurde. Jedes Wort war für mich ein Dolchstich gewesen und hatte mich mit heißen Rachegefühlen für die leidenschaftliche Anklägerin erfüllt; und doch hatte ich mit geballten Händen und überströmenden Augen stillhalten müssen in meinem Versteck. Ja, gerade in jenen Momenten war ich der Wucht vernichtender Beschämung fast erlegen. … Hatte ich nicht auch einst bei Hofe vor dem Angesicht der Prinzessin, genau so wie jetzt Charlotte, den ahnungslosen Mann aus allen Kräften zu verlästern gesucht? Hatte ich nicht damals grausamen Muthes entschieden erklärt, daß ich ihn nicht leiden könne? Und wenn ich ihm mein Lebenlang diente wie eine Magd, ich konnte nie sühnen, was ich ihm angethan in kindischer Verblendung! … Und das trieb mich aus seinem Hause, hinaus in die todtenstillen Gärten. … Hätte ich doch so weiter wandern dürfen auf den glatten, beschneiten Wegen! Immer weiter, bis tief in die Haide hinein, wo Ilse und Heinz jetzt friedlich neben dem großen Kachelofen saßen. Hätte ich mich auf das Fußbänkchen neben Spitzens zottigen Pelz setzen und wie sonst an den stillen trauten Winterabenden Ilse’s liebe harte Hand auf meinem Scheitel fühlen dürfen, vielleicht wäre Friede über mich gekommen, Friede! Jetzt erst wußte ich die einstige köstliche Stille in und außer mir zu schätzen, seit mich der ungestüme Herzschlag ruhelos umhertrieb und mich bald in den Himmel hob, bald in den Abgrund bitterer Reue und Selbstanklagen stieß.

Eine blendende Helle breitete sich jetzt über die weiten Gärten; wie aus klingendem Silber geschnitten, schwebte die Mondscheibe scharf abgegrenzt am kalt gläsernen Himmel. Ich schritt über die Brücke. Drunten lag schlangenhaft gleißend der erstarrte Fluß zwischen dem blätterlosen Ufergebüsch, und im Bosquet stäubte silbernes Geflimmer von den Zweigen. Die steinernen Titanen des Teiches lagen nicht mehr auf blauer Sammetdecke – ein riesiger Eisbrillant trug sie in seiner Mitte, und sie hatten Schneeturbane über den bärtigen Gesichtern und das leichtgeschürzte Florgewand der frierenden Diana säumte dicker, weißflockiger Winterpelz. Und alle Contouren des architektonischen Schmuckes auf dem Rococoschlößchen hatte Frau Holle mit ihrem Federweiß zart und weich nachgemalt und auf dem Balcon vor den Glasthüren ein hochschwellendes, fleckenlos weißes Polster niedergelegt. … Wie kindlich harmlos war meine erste Vorstellung von dem Geheimniß der versiegelten Zimmer gewesen – ich hatte das Märchen drinnen wandeln sehen! Und nun waren es eine Handvoll Papiere, die da spukten und von denen zwei schrankenlos ehrgeizige Menschen erwarteten, daß sie ihnen in der That das goldene Zauberthor öffnen sollten, aus welchem ihnen mühelos die Schätze der Welt in den Schooß fielen.

Ich sah hinauf nach den Fenstern der Bibliothek. Die Lampe brannte noch auf dem Schreibtische, aber über den Plafond hin flog ein hastig auf- und ablaufender Schatten – das war mein Vater – er schien unruhiger und aufgeregter als je. Beklommen stieg ich die Treppe hinauf – die Bibliothek war verschlossen. Zwischen die unaufhörlich das Zimmer durchmessenden Schritte klang dumpfes Gemurmel, und hier und da schlug mein Vater mit knöcherner Faust auf die Tischplatte, daß sie dröhnte.

– Ich klopfte und bat ihn, zu öffnen.

„Laßt mich in Ruhe!“ rief er rauh und heftig drinnen, ohne sich der Thür zu nähern. „Gefälscht, sagt Ihr?“ – Er stieß ein gellendes Gelächter aus. – „Kommt her und beweist! … Aber thut Eure Stecken weg! … Was schlagt Ihr mich denn auf den Kopf? … O, mein Gehirn!“

„Vater, Vater!“ rief ich angstvoll.

Ich wiederholte meine Bitte, mich einzulassen.

„Gehe – quäle mich nicht!“ rief er ungeduldig und wanderte wieder tiefer in das Zimmer hinein.

Ich mußte gehorchen, wollte ich ihn nicht noch mehr reizen, und entfernte mich für den Augenblick. Drunten brannte ich die Lampe an und ging in sein Zimmer, um für die Nacht Alles vorzurichten … Da lagen die Zeitungen, die er heute erhalten, auf dem Tische, aufeinandergeschichtet und scheinbar unberührt [842] nur eine hatte er, zu einem Klumpen zerknüllt, auf den Boden geschleudert. Ich entfaltete sie und sah alsbald einen bezeichnenden rothen Strich neben einem langen Artikel herablaufen. Wie ein Funke sprang mir der Name Sassen aus dem Buchstabengetümmel entgegen und erfüllte mich mit einem ahnungsvollen Schrecken. Ich überflog den Anfang und verstand ihn nicht, er wimmelte von technischen Ausdrücken. Aber nun kam es, und ich schlug niedergeschmettert die Hand vor die vergehenden Augen. Da stand:

„Mit diesem Münzenschwindel hat der Autoritätsglaube abermals einen empfindlichen Schlag erhalten – einer unserer ersten Namen ist für alle Zeiten compromittirt. Doctor von Sassen hat in unbegreiflicher Verblendung den Fälscher und seine Münzen, von denen auch nicht eine echt ist, an alle Höfe und Universitäten empfohlen. … Allerdings sagt Professor Hart in Hannover, welcher dem Betruge zuerst auf die Spur gekommen ist, die Fälschung sei eine meisterhafte –“

Professor Hart in Hannover! Das war der Fremdwörterprofessor am Hünengrab, der Mann mit dem guten Gesicht und der rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken. … Ich hatte ihn liebgewonnen, weil er in so gütiger Weise meine Haide vertheidigte, und nun war dieser fast kindlich milde Greis ein so gewappneter Gegner meines Vaters und stieß ihn aus dem Sattel, wie heute Dagobert sagte. … Und das waren die Münzen gewesen, zu deren Ankauf ich so ungeberdig mein Vermögen von Herrn Claudius gefordert – und um seiner nur zu wohl begründeten Weigerung willen hatte ich ihn dann bei Hofe als anmaßenden Besserwisser angeklagt. … Jetzt sah ich ihn wieder vor seinem Münzenschatz stehen, so weise und bescheiden aber auch so ruhig fest in seinem Urtheile. Und weil es der Kenntnißreiche verschmähte, sein Wissen prunkend auf dem großen Markte auszubreiten, so mußte er sich von Dagobert unverschämt schelten lassen und ich hatte als dankbares Echo dieses häßliche Wort wiederholt. … Wie glänzend gerechtfertigt stand der stolz schweigende Mann nun da! … Gerade diese Münzengeschichte führte den Sturz meines Vaters bei Hofe herbei – das war’s, was der charakterlose, erbärmliche Dagobert mir heute Abend in dunklen, spöttischen Worten hingeworfen hatte. … Armer Vater! Dieser eine Irrthum schleuderte ihn von seiner Höhe herab unter die Füße seiner Feinde und Neider. … Das mochte freilich genügen, um den armen Kopf des kränklich schwachen Mannes, der Tag und Nacht im Interesse der Wissenschaft angestrengt arbeitete, zu verwirren.

Wie ohnmächtig stand ich junges unerfahrenes Geschöpf seinem Mißgeschick gegenüber! Ich begriff sehr wohl, daß dem Manne in solchen Stunden selbst die geliebteste Stimme keinen Trost zu geben vermag – und was konnte ich ihm auch sagen? … Aber allein lassen durfte ich ihn nicht; er mußte die stillwaltende Liebe doppelt fühlen, ohne daß sie ihm in Worten beschwerlich fiel.

Eiligst verließ ich sein Zimmer, um hinaufzueilen und mit Bitten nicht abzulassen, bis mir das Bibliothekzimmer geöffnet wurde. Da blieb ich plötzlich stehen und horchte – aus meiner Schlafstube drang ein Geräusch, als ob Möbel gerückt würden – ich riß die Thür auf; der Mondschein fluthete mir blendend entgegen, denn beide Fenster standen noch offen – in meiner Aufregung über die Ankunft der Tante hatte ich vergessen, sie zu schließen und die Läden vorzulegen. Mit einem Aufschrei prallte ich zurück – ein Mann hielt den verhängnißvollen Schrank umklammert und schob ihn mit einem abermaligen Rucke seitwärts, so daß die Tapetenthür vollständig freigelegt war. Er fuhr herum – Dagobert’s weiße Stirn leuchtete mir entgegen, und seine Augen sprühten mich an. Mittelst eines einzigen Sprunges kam er herüber, schlug die Thür hinter mir zu und zog mich tiefer in das Zimmer hinein.

„Seien Sie jetzt einmal vernünftig, und bedenken Sie, daß mein und auch Ihr Lebensglück von diesem einen Augenblicke abhängt!“ flüsterte er. „Charlotte hat die Sache geradezu verrückt angefangen – sie hat der Prinzessin das Geheimniß mitgetheilt und ist mit der Thür in’s Haus gefallen. Das Allerschlimmste, das uns passiren konnte, ist eine plötzlich wie vom Himmel fallende wahnwitzige Liebe der alten Hoheit, die meinen Vater selbst im Grabe keiner Anderen gönnen will! … Jetzt haben wir zwei Gegner zu bekämpfen, die sich möglicherweise heimlich verbünden – solch einer verrückt gewordenen alten Jungfer traue der Teufel! … Wer bürgt uns dafür, daß nicht eines Nachts das Gerichtssiegel von einer der Thüren fällt? Das hat dann der Onkel nicht gethan – bewahre – die ganze Welt weiß, daß er gerade die Siegel streng hütet. Es kann ja zufällig abgestoßen worden sein; und wenn dann die Papiere aus dem Schreibtische verschwunden sind, wer in der Welt erfährt das je? … Seien Sie kein Kind! … Hier in der Thür steckt der Schlüssel, ich brauche ihn nur umzudrehen – es ist kein Einbruch, wenn ich hinaufgehe und das in Sicherheit bringe, was mir von Rechtswegen gehört.“

Ich weiß selbst nicht, wie es mir in jenem Augenblicke möglich geworden ist, so blitzschnell und aalglatt hinter ihm wegzugleiten, mit einem einzigen Griff den Schlüssel aus der Tapetenthür zu reißen und in meine Tasche zu stecken.

„Schlange!“ stieß er zwischen den Zähnen hervor. „Sie wollen sich theuer verkaufen! Sie meinen, mit diesem Schlüssel in der Tasche sind Sie noch begehrenswerther für mich!“

Damals verstand ich den Sinn dieser abscheulichen Worte nicht im Entferntesten; wie hätte ich sonst den Elenden auch nur noch eines Wortes, eines Blickes würdigen können?

„Ich will Sie von einem Unrecht abhalten!“ sagte ich und lehnte mich entschlossen mit dem Rücken gegen die Thür. „Seien Sie offen und wahr gegen Herrn Claudius; Sie werden damit weit eher zum Ziele kommen, als wenn Sie das Schloß droben erbrechen … Ich will mit Ihnen gehen – wir wollen ihm noch in dieser Stunde Alles sagen –“

Ich verstummte, denn seine Augen glitten in beleidigender Weise langsam musternd über mich hin, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seinen Mund. „Schön sind Sie, Barfüßchen! Die schlanke Eidechse mit dem Prinzessinnenkrönchen ist in wenigen Monaten geradezu sirenenhaft geworden – wo aber ist die Eidechsenklugheit geblieben?“ – Er lachte laut auf. – „Eine reizende Situation beim Zeus! Wir treten in corpore vor das hehre Angesicht des Onkels, bringen ihm unser kostbares Geheimniß auf dem Präsentirteller und ziehen mit langer Nase wieder ab!“ – Er kam an mich näher heran, so daß ich mich angstvoll und noch fester als vorher gegen die Wand drückte. – „Nun lassen Sie sich Eines sagen! Noch halte ich an mich und berühre Sie nicht – das danken Sie meiner grenzenlosen Schwäche, meiner geheimen Abgötterei für Sie! Ich will Sie grundsätzlich nicht reizen, denn ich weiß, daß Sie ein kleiner Teufel an Bosheit sind – ich glaube, in solchen Augenblicken unbezähmbarer Widerspenstigkeit sind Sie im Stande, mir abzuleugnen, was ich Beglückter längst weiß! …“

Was sollte das heißen? Ich mochte ihm wohl ein sehr erstauntes Gesicht zeigen, denn er lachte abermals. „Ei, thun Sie doch nicht, als sei ich der Wolf und Sie das Rothkäppchen, das den Bösewicht mit großen, unschuldig fragenden Augen verständnißlos ansieht!“ rief er. „Die Situation ist mir allerdings mit heute sehr erschwert worden – Ihre unbegreiflich geschwätzige kleine Zunge, die ich in unserem beiderseitigen Interesse bereits geschult zu haben meinte, hat den Makel des Judenthums auf Ihre Abkunft geworfen; desgleichen hat sich Ihr Papa bei Hofe unmöglich gemacht – allein meine Leidenschaft für Sie überwindet Alles; auch meine ich, der Fürstenmantel meiner Mutter vermag Vieles zuzudecken“ – er berührte mit seinen Lippen fast mein Ohr – „und ich will den sehen, der meine reizende, kleine Lenore –“

Jetzt hatte ich ihn begriffen – ach, wie hart und bitter wurde in diesem Augenblick der blinde Enthusiasmus gestraft, mit welchem ich mich bedingungslos den Geschwistern hingegeben! Außer mir, wandte ich mein Gesicht weg und hob drohend den Ellenbogen über den Kopf – ich glaube, ich habe in einer Art Fechterstellung ihm gegenüber gestanden.

„Ah, da ist er ja wieder, der Dämon! Wollen Sie nicht wieder nach mir schlagen, wie?“ höhnte er zwischen den Zähnen hervor. „Hüten Sie sich! … Ich habe Ihnen schon einmal gesagt –“

„Ich weiß es wohl, daß Sie mich mit einem einzigen Druck Ihrer Hände erwürgen können – thun Sie es doch!“ rief ich unerschrocken. „Freiwillig gebe ich den Schlüssel nicht heraus! … Sie sind ein Ehrloser! … Ich bin das blöde Kind nicht mehr, das darin“ – ich zeigte auf seine im Mondschein funkelnden [843] Epauletten – „lediglich einen Schmuck sieht – ich weiß, daß sie nur in Ehren getragen werden dürfen! Und da kömmt nun der stolze Officier bei Nacht und Nebel als Einbrecher und bedroht ein wehrloses Mädchen.“ –

„Ah, die kleine Viper versucht zu stechen?“ knirschte er und schlug seine Arme um mich; aber meine Geschmeidigkeit kam mir zu Hülfe – aufschreiend entschlüpfte ich ihm und stand mit einem Sprung auf der Fensterbrüstung.

„Um Gotteswillen, was ist denn das?“ rief draußen der alte Schäfer – er war auf dem Weg nach Hause und kam jetzt über das helle Schneefeld hergelaufen.

„Kommen Sie herein – ach, schnell, schnell!“ stammelte ich, zwischen einem Thränenausbruch und dem Jubel des Erlöstseins schwankend.

Mit einem Fluch sprang Dagobert durch das andere Eckfenster, während der alte Gärtner die Hausfront entlang lief und gleich darauf eintrat.

„Was hat’s denn gegeben?“ fragte er, sich erstaunt im Zimmer umsehend. „Du lieber Gott, Fräulein, Sie sehen ja so erschrocken aus wie mein Kanarienvögelchen, wenn die Katze in der Stube gewesen ist! … Hat’s vielleicht rumort im alten Hause? Fürchten Sie sich nicht – das sind nur die Mäuse, Fräulein. Gespenster giebt’s nicht, und wenn die Leute zehn Mal sagen, es sei nicht richtig in der Karolinenlust.“

Ich ließ den guten Alten, dessen Stimme mich so sanft zu beschwichtigen suchte, in dem Wahn, daß eine Art Phantom mich erschreckt habe, und bat ihn nur, die Fensterläden so fest wie möglich zu verrammeln, dann schloß ich alle Thüren ab und ging hinauf in das Bibliothekzimmer. … Ich fühlte mich so kampfmüde – der letzte Rest der bedeutenden Dosis von Trotz und Widerstandsfähigkeit, mit welcher ich der neuen Welt entgegengetreten, war erschöpft. – und ich war noch so jung, so jung! … War das ganze Menschenleben solch ein Kampf mit den unerbittlichen Consequenzen, die das eigene Irren heraufbeschworen? Und sollte meine bange, geängstigte Mädchenseele nun fort und fort, auf ihr eigenes Ringen angewiesen, hülf- und stützelos in Nacht und Sturm auf- und niedertaumeln? … Ich schüttelte mich vor Grauen – ich mußte versinken in Angst und Noth, wenn nicht eine starke Hand nach mir herübergriff. … „Mit meinem Mantel vor dem Sturm – beschützt’ ich Dich!“ – Ach ja, geborgen sein! Wer doch mit lahmen Flügeln unter die Hut des Stärkeren flüchten und dort aufathmen durfte! … Wie hatte ich die Kraft der „Kinderhände“ überschätzt, weil sie sich lustig durch den Frühlingssturm der Haide hindurchgekämpft! Wie sanken sie schon jetzt ermattet nieder und tasteten nach Halt und Stütze! …

Das Bibliothekzimmer war noch verschlossen, als ich hinaufkam, und so viel ich auch klopfen und rütteln mochte, ich erhielt keine Antwort. Im ersten Augenblick meinte ich, mein Vater sei fortgegangen – es war todtenstill drinnen. Aber nun hörte ich von fern herüber ein dumpfes Gepolter, dem ein kicherndes Auflachen folgte – der Lärm kam aus dem Antikensaal, dessen Thüren jedenfalls weit offen standen. Mir klang es, als würden schwere, harte Massen niedergeworfen, und das Lachen war ein so seltsam Unheimliches, daß sich mir unter einem Angstschauer leise die Haare sträubten. … Und jetzt flog ein Gegenstand in die Bibliothek herein und zersprang auf dem Fußboden klirrend in tausend Scherben – ein wahres Triumphgeschrei folgte dem Geschmetter. … Ich schlug mit den geballten Händen auf die dröhnende Thür und rief verzweiflungsvoll unaufhörlich den Namen meines Vaters.

Da ging jenseits des weiten Treppenhauses eine Thür auf, und Herr Claudius trat aus seiner Sternwarte – fast tageshell floß das Mondlicht mit ihm heraus. Ich eilte zu ihm hin und theilte ihm unter krampfhaftem Ringen mit den hervorstürzenden Thränen meine Seelenangst und Noth mit. Während in der Bibliothek auf meinen Lärm hin eine unheimlich tiefe Stille eingetreten war, erzählte ich mit niedergeschlagenen Augen flüsternd von der Münzengeschichte.

„Ich weiß es,“ unterbrach mich Herr Claudius ruhig.

„Der Kummer macht meinen Vater wahnsinnig – ach, wie leide ich um ihn!“ rief ich. „Er ist gebrandmarkt und hat über Nacht seinen berühmten Namen verloren!“ –

„Glauben Sie das nicht! Es wäre traurig, wenn ein einziger Irrthum ein ganzes Leben von angestrengter Geistesarbeit aufheben sollte. … Herr von Sassen hat ungeheure Verdienste um die Wissenschaft, die kann ihm Niemand rauben, und gerade deshalb suchen ihn die Mücken in einem Augenblick der Schwäche nur so empfindlicher zu stechen. … Das geht vorüber. Seien Sie ruhig, Lenore, und weinen Sie nicht.“ Er hob unwillkürlich die Hand, als wolle er die meine tröstend fassen, aber sie ebenso rasch sinken lassend, trat er an die Thür der Bibliothek und rüttelte an dem Drücker.

In demselben Moment schlug es drinnen krachend und fortrollend auf die Dielen nieder.

„Du bist ja kein Agasias!“ schrie mein Vater – ach, ich erkannte diese kreischende Stimme kaum wieder! – „Sassen hat gelogen! Fragt nur den Hart in Hannover, der weiß es! … Fort mit dir, du bist auch gefälscht!“ – Man hörte, wie er nach dem zu Boden geschmetterten Gegenstand stieß.

„Ach, das ist der schlafende Knabe, sein Abgott, über den er ganze Bände schreibt, um zu beweisen, daß es ein Werk des Agasias ist!“ stieß ich zitternd heraus. „Gott im Himmel, er zertrümmert die Antiken!“

Herr Claudius klopfte mit starkem Finger an die Thür.

„Wollen Sie mir nicht öffnen, Herr Doctor?“ rief er laut, aber mit völlig beherrschter Stimme.

Mein Vater stieß ein gellendes Gelächter aus. „Und es steht geschrieben – ha, ha, ist Alles Lüge gewesen vom Anfang an! Wehre dich doch, wenn du von Gottes Gnaden unsterblicher Geist bist! Siehst du, wie dich die gelben Flammen fressen? … Hei, da wirbelt sie hinauf an die Decke, die Lügenbrut des Geistes, auf die der berühmte Mann stolz war! – Rauch, nichts als Rauch!“

Herr Claudius fuhr entsetzt zurück – aus dem Schlüsselloch und den Thürfugen quoll dicker Qualm und ein erstickender Geruch – wollene Stoffe brannten.

„Er verbrennt sein Manuscript, und das Feuer hat die Vorhänge angegriffen!“ schrie ich auf. Ich brach in lautes Jammern aus und warf mich verzweiflungsvoll gegen die Thür – ach, was vermochten meine armen kleinen Hände und Füße gegen die dicken Bohlen, die sich nicht rührten!

Herr Claudius sprang in die Sternwarte zurück, und jetzt dachte ich auch an die kleine, kaum sichtbare Tapetenthür in der Bibliothek; sie führte in einen weiten, dunklen Raum voll Gerümpel, der das genannte Zimmer von der Sternwarte trennte. Und wenn die Thür auch verschlossen war, zwei harte Fußtritte genügten, um das leichte Brettergefüge zu sprengen. Aber es bedurfte dessen nicht einmal; rasches Laufen drinnen und ein zorniger Schrei meines Vaters belehrten mich, daß Herr Claudius, ohne Widerstand zu finden, eingedrungen sei. Der Schlüssel wurde umgedreht und die Thür aufgerissen. Welch ein Anblick! … Rauch und Qualm, und dazwischen hochaufschießende Flammenfratzen, von knisterndem Funkenregen umstiebt, wogten um die traute Schreibecke meines Vaters. An den sehr schweren, dicken Wollvorhängen fraßen sich „die gelben Zungen“ nur langsam empor; desto lustiger und begehrlicher leckten sie bereits über die Stöße alter Brochüren hin, die ein zwischen den Fenstern stehendes Regal füllten. Mein Vater schrie und geberdete sich wie ein Rasender – er floh vor Herrn Claudius, der ihn zu fassen und aus dem Zimmer zu ziehen suchte. Unter den Füßen der Laufenden knirschten und krachten unaufhörlich Scherben – der Boden war bedeckt mit Trümmern kostbarer antiker Thongefäße.

Ich lief hinein.

„Zurück, Lenore! Hinaus! Denken Sie an Ihre feuerfangenden Kleider!“ rief Herr Claudius angstvoll herüber, indem er meinem Vater, der sich auflachend in die Flammen zu werfen suchte, den Weg vertrat. „Laufen Sie in das Vorderhaus um Hülfe!“

Ich sah im Davoneilen, wie mein Vater, über die am Boden liegende Marmorfigur strauchelnd, niederfiel, von Herrn Claudius erfangen und, trotz seiner wüthenden Gegenwehr, auf kraftvollen Armen nach der Thür getragen wurde; aber kaum hatte ich die Halle betreten, als ich hörte, wie die Ringenden droben im unausgesetzten Kampfe die Treppe erreichten.

„Mörder, elender Mörder!“ schrie mein Vater, daß die marmorbekleideten Wände gellten – dann erfolgte ein entsetzliches Gepolter.

[844] Wie ich mit meinen versagenden Füßen die Beletage wieder erreicht habe, kann ich bis heute nicht sagen, ich weiß nur, daß mir war, als sei ich plötzlich von einem Wirbel erfaßt und da hingeschleudert worden, wo ein dunkler Knäuel, droben vor der untersten Treppenstufe lag.

Herr Claudius stand bereits wieder auf seinen Füßen; er hielt sich mit der Hand am Treppengeländer fest und wandte mir sein vom Mond beschienenes Gesicht zu – es war mit einer fahlen Blässe bedeckt.

„Wir sind unglücklich gefallen,“ sagte er, noch athemlos von der Anstrengung, und deutete auf meinen Vater. „Er ist bewußtlos, und ich kann ihn nicht weiter bringen. Arme, arme Lenore, Ihre Füße tragen Sie nicht, und doch müssen Sie mir Hülfe holen.

Nun rannte ich durch die Gärten – hinter mir schlugen die feurigen Zungen aus den Fenstern der Bibliothek und schwarze, dick aufschwellende Rauchwolken zogen über die Baumwipfel hin, mir nach.

„Feuer in der Karolinenlust!“ schrie ich in die Hausflur hinein.

Im Nu war das ganze Vorderhaus rebellisch. Allgemeines Entsetzen, als die Herbeilaufenden in den Hof traten und über der Pappelwand den rothglühenden Dampf in das ruhige, stete Silberlicht des Himmels hineinlohen sahen. Wer Hände hatte, ergriff Kübel und Eimer und aus der Remise wurden zwei große Handspritzen gehoben. Man hatte auch in der Seitenstraße den Brand bemerkt; durch das Thor stürmte ein Menschenhaufe um den andern – in wenigen Minuten wimmelten die Gärten und der Platz vor der Karolinenlust von Rettenden, die das Eis auf Teich und Fluß einschlugen und Wasser in das brennende Stockwerk schleppten.

Als ich zurückkehrte, lehnte Herr Claudius am Treppengeländer; mit seiner Rechten drückte er den linken Arm gegen die Brust. Ich konnte nicht sprechen vor Jammer und bog mich über meinen Vater, dessen Kopf auf der untersten Treppenstufe lag. – Herr Claudius hatte ihm seinen Shawl als Polster untergeschoben. Die Augen waren geschlossen, und das eingefallene Gesicht sah so blutleer und wächsern aus, daß ich meinte, er sei todt – aufstöhnend schlug ich die Hände vor das Gesicht.

„Er ist nur betäubt, und so viel es mir möglich war, zu untersuchen, hat er auch kein Glied gebrochen,“ sagte Herr Claudius – wie lernte ich diese ruhig gelassene Stimme, um deretwillen ich ihn einst einen Eiszapfen gescholten, in den Augenblicken unaussprechlicher Angst und Seelenqual schätzen! An ihr richtete ich mich sofort auf.

„Hinunter in Herrn von Sassen’s Zimmer!“ gebot er den Leuten, die den Gestürzten vom Boden aufnahmen. „Es liegt weit ab – das Haus ist massiv, und Wasser und rettende Hände sind genug da – bis dahin dringt die Feuersgefahr nicht mehr!“

Ein Menschenstrom wogte an uns vorüber, die Treppe hinauf.

„Und Sie?“ sagte ich zu Herrn Claudius, während wir seitwärts traten, und die zwei Männer, von Fräulein Fliedner geleitet, meinen Vater nach unserer Wohnung trugen. – „Ich sehe es wohl, Sie haben Schmerz, Sie haben sich wehe gethan! … Ach, Herr Claudius, wie schwer müssen Sie dafür leiden, daß Sie meinen Vater und mich in Ihr Haus aufgenommen haben!“

„Meinen Sie?“ – Ein fast sonniges Lächeln verdrängte für einen Moment den Zug des Leidens, der seine Brauen faltete. „Ich rechne anders, als Sie denken, Lenore. Ich kenne die weise Einrichtung sehr gut, nach welcher wir erst verschiedene Stadien durchlaufen müssen, ehe wir in den Himmel eingehen dürfen – mit jedem kommen wir dem Ziele näher, und dafür sei er gesegnet.“

Er stieg in das brennende Stockwerk hinauf, und ich eilte zu meinem Vater. Er lag still und unbeweglich auf seinem Bett; nur als eine Feuerspritze drüben donnernd über die Brücke fuhr und unter heftigem Getöse vor dem Hause hielt, hob er die Lider und sah mit einem umschleierten, völlig verständnißlosen Blick umher. Von diesem Augenblick an flüsterte er unaufhörlich vor sich hin, ganz sanft und sacht. Fräulein Fliedner legte ihm kalte Tücher um den Kopf, das schien beruhigend auf ihn zu wirken. Hülfe und Beistand fehlten mir nicht. Auch Frau Helldorf, die den Claudiusgarten seit jenem verhängnißvollen Sonntagmorgen nicht wieder betreten, hatte die Angst und Scheu vor einer Begegnung mit ihrem Vater überwunden, und war zu mir herübergekommen.

Ich saß neben dem Kranken und hielt seine glühende Hand in der meinen. Sein gespenstiges Murmeln, das auch nicht für einen Augenblick abriß, der Anblick seines Leidensgesichtes, von welchem jede Spur eines selbstständigen Denkens für immer weggewischt schien, dazu die folternde Angst um Herrn Claudius, den ich droben in den brennenden Räumen wußte – das Alles versetzte mich in einen Zustand stiller Verzweiflung.

In der Zimmerecke brannte ein verdecktes Nachtlicht – tiefe Schatten webten um das Krankenbett; desto heller breitete sich der Platz vor den Fenstern hin. Ueber die versilberte Baumwand drüben wogten wie flatternde Fahnen die Schatten der Rauchwolken; zischend fuhr der funkelnde Wasserstrahl der Feuerspritze aus dem Menschengewimmel hinauf – sie zerstoben und duckten nieder, um sich gleich darauf, zu meinem bangen Schrecken, majestätisch wieder aufzublähen … „Habt Acht!“ scholl es fort und fort aus dem Gemurmel und Gebrause – gerettete Gegenstände, Vasen, Spiegel, Marmorfiguren wurden vorübergetragen und bei der Diana niedergelegt – hohe Bücherstöße reckten sich an der Göttin empor, und die umstehenden Polstermöbel und glänzenden Tischplatten sahen wunderlich genug aus in der schneefunkelnden Winterlandschaft.

Allmählich verdünnten sich die intensiv schwarzen Rauchstreifen schleierartig vor meinem starr hinausgerichteten Blick – der Lärm, trepp auf, trepp ab, klang gedämpfter – es wurden keine geretteten Sachen mehr vorübergetragen.

„Das Feuer ist nieder,“ sagte Frau Helldorf tiefaufathmend, und ich vergrub meine überströmenden Augen in die Bettkissen.

Charlotte kam herein. Ihr Kleidersaum schleppte zerfetzt am Boden hin, und die schweren Zöpfe hingen ihr unordentlich in den Nacken – sie hatte beim Retten wie ein Mann geholfen.

„Das ist ja ein schöner Abend für uns, Prinzeßchen,“ sagte sie tonlos und setzte sich neben mich erschöpft auf ein Fußbänkchen. Sie legte die Stirn auf meine Kniee. „Ach, mein armer Kopf!“ flüsterte sie, während die beiden Damen für einen Moment in das Nebenzimmer gingen. „Kind, wenn Sie wüßten, wie es in mir aussieht! … Glauben Sie wohl, daß mir droben der verzweifelte Gedanke gekommen ist, ob es nicht besser wäre, der Feuerstrom packe meine Kleider und mich mit, und die ganze Qual hier drinnen“ – sie preßte die Hände auf das Herz – „nähme plötzlich ein Ende? … Und an den versiegelten Thüren bin ich vorübergelaufen und habe gemeint, es müsse sich eine aufthun und meine Mutter die Arme herausstrecken, um ihr unglückliches Kind aus dem vorbeibrausenden Menschenschwarm hineinzuziehen. … Heute zum ersten Mal kann ich’s meinem Vater nicht vergeben, daß er uns so bedingungslos, so auf Treu und Glauben in die Hände seines Bruders geliefert hat! Und wenn er noch so furchtbar litt, er durfte nicht sterben, er mußte für uns leben – er hat feig gehandelt!“

Draußen verlief sich allmählich die Menschenmenge, es wurde stiller, und das Zischen der Wasserstrahlen, die noch von Zeit zu Zeit hinaufgeschickt wurden, drang schärfer an das Ohr. Und jetzt endlich kam auch der so heiß ersehnte Arzt. Während er den Kranken untersuchte und schweigend beobachtete, klang draußen eine gewaltige Stimme durch den hallenden Corridor und herein in das stille Zimmer.

„Habe ich’s nicht gewußt, Herr Claudius, daß dieses Hervorzerren der von Ihren Vorfahren wohlweislich vergrabenen heidnischen Götzenbilder dem Herrn ein Gräuel sein müsse?“ fragte der alte Buchhalter in seinem breitesten Prophetenton.

„Er ist unverbesserlich, der alte Fanatiker!“ murmelte Charlotte ärgerlich.

„Habe ich nicht vorhergesagt, daß das Feuer vom Himmel fallen würde?“

„Es ist nicht vom Himmel gefallen, Herr Eckhof,“ unterbrach ihn Herr Claudius hörbar ungeduldig.

„Sie mißverstehen das absichtlich, lieber Herr,“ sagte eine andere Stimme sanft.

[845]

Im Friedhofe des Diaconissen-Stiftes.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[846] „Ach, das ist der Muckerdiaconus, der schlimmste Seelenhetzer der ganzen Residenz – die Beiden kommen eben aus der Andacht, man hört es! Für die ist das Feuerunglück in der Karolinenlust das größte Gaudium,“ flüsterte Charlotte.

„Bruder Eckhof weiß recht gut, daß der Herr in unseren Zeiten seine Strafen nicht mehr so direct vom Himmel niederschickt, wie ehemals,“ fuhr die Stimme fort. „Aber sein Walten bleibt immer ein sichtbarliches – es kommt nur darauf an, daß wir es verstehen. … Ja, Herr Claudius, es schmerzt mich in der Seele, daß Sie so heimgesucht worden sind, aber, ich kann nicht umhin, den Herrn zu preisen, der in seiner unerschöpflichen Gnade so deutlich zu Ihnen spricht. … Er hat es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß die heidnischen Gräuel – ich habe eben gesehen, daß diese sogenannten Wunderwerke vom Rauch geschwärzt und zertrümmert draußen im Garten liegen – vertilgt wurden –“

Er kam nicht zu Ende mit seinem Zelotensermon – denn Herr Claudius öffnete, ohne noch ein Wort zu verlieren, die Thür meines Wohnzimmers, und ich hörte ihn drüben eintreten. Der Arzt ging zu ihm. Herr Claudius stand neben der Lampe, die auf dem Tische brannte und sein Gesicht hell beleuchtete – er drückte noch in der eigenthümlichen Weise mit der Rechten den linken Arm gegen die Brust. Ich sah von meinem dunklen Platz aus, wie sich seine Züge bei dem geflüsterten Bericht des Arztes sehr verdüsterten.

„Sie leiden auch, Herr Claudius,“ hörte ich schließlich den Doctor lauter zu ihm sagen.

„Ich habe mir den Arm verletzt,“ versetzte Herr Claudius ruhig, „und werde mich nachher im Vorderhause Ihren Händen überliefern.“

„Ist recht – und die Augen werden wir auch für einige Zeit in ein dunkles Verließ stecken müssen, wie ich bemerke,“ sagte der Doctor bedeutsam.

„Still, still – Sie wissen, das ist der Punkt, wo ich verwundbar bin, wo Sie mir bange machen können!“

Mir stockten die Pulse – wenn er blind wurde? … Ich meinte, so viel Jammer und Elend sei noch nie über ein Menschenherz hereingebrochen, wie heute über das meine.

Charlotte erhob sich rasch und ging hinüber. Fast zugleich wurde die Thür meines Wohnzimmers aufgerissen und hastige Männerschritte kamen herein.

„Herr Claudius, Herr Claudius! … O, über diese Verruchtheit!“ hörte ich den alten Buchhalter stöhnen. Er kam in das Bereich meiner Blicke – wie weggewischt war alle Salbung, das breit wohlgefällige Gepräge eines frommen, heiligen Wandels vor Gott und den Menschen aus diesem fassungslosen, verstörten Gesicht.

Herr Claudius winkte ihm mit der Hand, seine Stimme zu mäßigen, aber er war viel zu aufgeregt, um diese Bewegung zu beachten.

„Mir, mir das!“ rief er grimmig, in tiefster Indignation. „Herr Claudius, ein Elender hat die allgemeine Verwirrung beim Brande benutzt, ist in meine Wohnung eingebrochen, und hat mir eine Cassette mit meinen geringen Ersparnissen geraubt. … Ach, ich kann mich kaum auf den Füßen halten! Ich bin dermaßen alterirt – geben Sie Acht, das ist mein Tod!“

„Das ist unchristlich und sündhaft gesprochen,“ verwies ihm der Diaconus sanft den heftigen Ausbruch. „Bedenken Sie, daß es sich um irdischen Mammon handelt. … Uebrigens ist ja die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Verbrecher entdeckt wird, und Sie wieder zu Ihrem Gelde kommen – und wenn nicht, nun, dann heißt es ja: ‚Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme.‘“ – Ich sah deutlich, wie er dabei Herrn Claudius fixirte. – „Ist das nicht ein köstlicher Trost für Den, der durch den Verlust der irdischen Habe heimgesucht wird?“

„Aber in der Cassette waren ja auch die tausend Thaler Missionsgelder, die in diesen Tagen abgeschickt werden sollten!“ ächzte verzweiflungsvoll der Buchhalter, und fuhr sich mit beiden Händen an den sauber frisirten Kopf.

Jetzt war die Reihe zu erschrecken an dem Herrn Diaconus.

„O, das ist freilich sehr, sehr fatal, lieber Herr Eckhof!“ rief er bestürzt. „Aber ich bitte Sie, wie konnten Sie auch diese Ihnen anvertrauten Gelder so – verzeihen Sie – so unverantwortlich leichtsinnig verwahren? Sie wissen doch, daß an jedem Groschen das Seelenheil Anderer hängt! … Was sollen wir nun anfangen? … Das Geld muß in diesen Tagen abgeliefert werden. Unser Verein gilt als ein Muster von Pünktlichkeit, er darf seinen Ruf um Ihretwillen nicht einbüßen – das werden Sie doch einsehen. … Es thut mir unsäglich leid, aber ich kann Ihnen mit dem besten Willen nicht helfen, Sie müssen das Geld zu der festgesetzten Frist schaffen!“

„O mein Gott, wie soll ich denn das ermöglichen? Ich bin augenblicklich ein Bettler!“ – Er hielt seine weißen, vollen Hände gegen die Lampe. – „Nicht einmal über meinen Brillantring, das kostbare Geschenk meines vormaligen Chefs, habe ich zu verfügen, er lag auch in der Cassette – ich thue stets den eitlen, weltlichen Schmuck von mir, wenn ich zur Andacht gehe. O Du mein Herr und Gott, womit habe ich, Dein getreuster Knecht, dieses Schicksal verdient!“

Der Diaconus trat ihm näher und legte tröstend die Hand auf seinen Arm. „Nun, nun, verzweifeln Sie nicht, mein lieber Herr Eckhof. … Die Sache ist allerdings ernst genug, und man kann sie nicht schwer genug auffassen; aber ich will Ihnen sagen – wer, wie Sie, solch einen mächtigen Gönner hat, der darf schon muthig sein! … Herr Claudius ist ein edler Mann, ein reicher Mann; für ihn ist es eine Kleinigkeit, Abhülfe in Ihrer Bedrängniß zu schaffen. Er riskirt ja Nichts dabei – er hat Sie und Ihren Gehalt in den Händen und kann sich leicht durch Abzüge bezahlt machen.“

„Das werde ich mir denn doch sehr überlegen, Herr Diaconus,“ sagte Herr Claudius ruhig. „Einmal lasse ich mich grundsätzlich auf derartige Abzüge niemals ein, und dann – Sie haben vorhin behauptet, der Allmächtige habe es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß die schönsten Denkmäler des edlen von ihm erschaffenen Menschengeistes, die Blüthen einer herrlichen Cultur, elend umgekommen sind – nun denn, ich will mich auch einmal auf den Standpunkt der Gläubigen stellen, will in ihrer anmaßenden und einseitigen Weise das göttliche Walten auslegen und denken, der Herr habe es in seiner Weisheit und Gerechtigkeit geschehen lassen, daß das Geld abhanden gekommen ist, mit welchem eine Heidenseele – tausend Thaler kostet ja wohl solch ein zweifelhaft Bekehrter? – in das Christenthum hineingepreßt werden sollte – er habe ferner Ihnen, Herr Eckhof, die Lehre geben wollen, wie die Kirche, der Sie selbst das Heiligste, die Familie, geopfert haben, in Geldsachen die unerbittlichste Gläubigerin ist.“

Er sah stolz und gelassen über die Schulter nach dem kleinen Diaconus hin, der giftig auf ihn zusprang. „Wir müssen unerbittlich sein – es ist unsere heilige Pflicht,“ eiferte er. „Wo käme die Kirche hin, wenn wir nicht als treue Wächter Zions sammelten und sparten und wirkten, so lange es Tag ist. … Und je saurer die Scherflein geworden, je mehr Schweiß und Blut der Arbeit und Armuth daran hängen, desto wohlgefälliger sieht sie der Herr an. … Sie sind ja Einer der Unseren, Herr Eckhof, Sie wissen, welchen Gesetzen wir uns unterwerfen müssen, und werden Alles aufbieten, das Geld herbeizuschaffen. … Ich wasche meine Hände! Ich habe mehr als meine Schuldigkeit gethan – ich habe mich vor den Ungläubigen erniedrigt!“

Er schritt mit steifem Nacken der Thür zu.

Da stand plötzlich Frau Helldorf neben ihrem in sich zusammengesunkenen Vater.

„Vater,“ sagte sie mit bebender Stimme. „Ich kann Dir helfen. Du weißt, ich habe siebenhundert Thaler von der seligen Mutter, und das Uebrige giebt mir ganz gewiß mein Schwager, der sich ein kleines Capital erspart hat.“

Eckhof fuhr herum, als seien diese lieblichen Töne niederschmetternd und zermalmend, wie der Donner des jüngsten Gerichts. Er sah wie versteinert in das Gesicht seiner Tochter, dann aber stieß er mit den Händen nach ihr.

„Fort, fort mit Dir! Ich will Dein Geld nicht!“ schrie er auf und taumelte dem Diaconus nach, zur Thür hinaus.

„Seien Sie ruhig, neine Frau,“ tröstete Herr Claudius die Weinende. „Es hätte noch gefehlt, daß Sie Ihr letztes Scherflein in diesen unersättlichen Schlund würfen! … Ich war gezwungen, hart zu sein – dieser anmaßenden Kaste gegenüber kann man nicht streng genug auftreten. … Aber fassen Sie Muth – es soll noch Alles gut werden.“

[847] Während Alle entrüstet durcheinander sprachen, kam er herüber in das Krankenzimmer, wo ich im Halbdunkel neben dem Bett saß. Er bog sich lauschend über meinen Vater, der, unberührt von Allem, was um ihn her vorging, fort und fort eintönig murmelte.

„Er ist glücklich in seinen Phantasien, er ist im sonnigen Griechenland,“ flüsterte mir Herr Claudius nach einer Pause zu. … Er stand dicht neben mir – da griff ich mit beiden Händen rasch nach seiner Rechten und drückte sie an meine Lippen – mein Vergehen, meine einstige Rauhheit gegen ihn war gesühnt.

Er taumelte förmlich zurück – kein Wort kam über seine Lippen; aber er legte seine Hand auf meinen Scheitel, bog mir den Kopf in den Nacken, und sah mir tief und forschend in die Augen – ach, wie schwer lagen die Lider über seinen schönen, blauen Augensternen!

„Ist nun Alles gut zwischen uns, Lenore?“ fragte er endlich in halberstickten Lauten.

Ich neigte lebhaft bejahend den Kopf, ohne daran zu denken, daß ja noch das finstere Geheimniß zwischen uns lag.




31.

Mehrere Tage lang schwebte mein Vater zwischen Leben und Tod. Jener Anfall von Tobsucht, in Folge dessen er den Brand in der Karolinenlust verursacht, war nicht, wie ich gefürchtet, Wahnsinn, sondern der erste Paroxysmus einer nicht beachteten, schon seit Tagen in ihm wühlenden nervösen Krankheit gewesen. Die Gefahr, die über seinem Leben hing, konnte mir nicht verborgen bleiben, und so saß ich Tag und Nacht an seinem Bett und meinte in der alten trotzigen Weise, der Tod könne es gar nicht wagen, unter meinen stets wachen Augen den schwachen Lebensfunken auszulöschen. … Ob er sich vor der dräuenden Mädchenseele in der That gefürchtet, ich weiß es nicht – aber er ging vorüber, und nach einer Woche voll unaussprechlicher Angst erklärten die Aerzte den Kranken für gerettet. Außer Frau Helldorf stand mir noch eine tüchtige Wärterin zur Seite, und der Leibarzt des Herzogs, den Seine Hoheit selbst geschickt, blieb stundenlang in der Karolinenlust und wachte ängstlich über „das kostbare Leben des berühmten Gelehrten“. … Es erwies sich nun auch als eine sehr irrige Voraussetzung der guten Residenz K., daß die Münzenaffaire meinen Vater bei Hofe nothwendig stürzen müsse – nie war der Herzog liebevoller und theilnehmender gewesen, als während dieser schweren Zeit; täglich mehrere Male erschienen seine Boten um sich nach dem Ergehen des Kranken zu erkundigen, und mit ihnen stellte sich auch der mehr oder minder betreßte Lakaientroß der plötzlich wieder niederduckenden Hofcoterie ein.

Im Vorderhause hatte man auch ein Krankenzimmer einrichten müssen – ein dunkles, tief verhangenes. … Herr Claudius hatte sich bei dem verhängnißvollen Sturz eine schmerzvolle Ausrenkung des Armes zugezogen, dazu kam eine heftige, durch den erstickenden Rauch und die blendenden Flammen hervorgerufene Augenentzündung, die anfänglich den Arzt das Schlimmste befürchten ließ. Ich litt unbeschreiblich, denn ich durfte ihn ja nicht sehen. Wenn mich aber die Aerzte vom Krankenbett fort, in’s Freie hinaus scheuchten, um nur einmal wenigstens frische Luft zu schöpfen, dann lief ich in das Vorderhaus und ruhete nicht, bis Fräulein Fliedner herauskam und mir persönlich Bericht erstattete. … Inmitten seiner schweren Leiden vergaß er doch die kleine Lenore nicht. Die Fenstersimse und Blumentische in meinem Zimmer waren zu Veilchen-, Maiblumen- und Hyacinthenbeeten geworden – ich fühlte mich stets beim Eintritt in Frühlingsodem förmlich versinken. Der Leibarzt meinte, Haideprinzeßchen werde nächstens den poetischen Tod durch Blüthenduft sterben, und der alte Schäfer vertraute mir schmunzelnd, im Treibhause sähe es gräulich leer aus, und der Obergärtner schneide ein grimmiges Gesicht. Frau Helldorf, die Aerzte, die Wartefrau, wer sich ein wenig von der Lust der Krankenstube erholen wollte, der flüchtete in das köstlich ausgeschmückte Zimmer; nur eine Person sah es mit ungnädigen Augen an, und das war meine Tante Christine.

So lange mein Vater bewußtlos dalag, kam sie täglich herüber, mich zu besuchen. Ich muß gestehen, daß ich stets zitterte, wenn ich ihren leichten schwebenden Schritt hörte; ihr erstes Erscheinen am Krankenbett hatte mich tief niedergeschmettert. Mit der graziösesten Wendung ihres schönen Kopfes hatte sie mir bei Erblicken des verfallenen Leidensgesichtes rückhaltslos zugeflüstert: „Kind, mache Dich auf das Schlimmste gefaßt – er geht rasch seinem Ende entgegen.“ – Seitdem fürchtete ich sie; Groll und Verdruß aber stiegen in mir auf, als sie eines Tages in mein Zimmer kam.

„Gott, wie himmlisch!“ rief sie und schlug in ihre rosig weißen Hände. „Herz, Du mußt über bedeutende Nadelgelder zu verfügen haben, daß Du Dir einen solchen außerordentlichen Luxus erlauben kannst!“

„Ich habe die Blumen nicht gekauft – Herr Claudius hat das Zimmer ausschmücken lassen,“ sagte ich beleidigt, – ich, und Luxus treiben!

Sie fuhr herum, und ich sah zum ersten Mal, daß diese prachtvollen sanftmüthigen Augen Blicke, scharf wie Dolchspitzen, schießen konnten.

„Es ist Dein Zimmer, Lenore?“ fragte sie in schneidendem Tone.

Ich bejahte!

„Ach, Kindchen, dann ist es wohl ein Irrthum Deinerseits! Nun, nun, das ist sehr verzeihlich, Du bist ja noch ein Kind!“ meinte sie darauf gutmüthig lächelnd und strich mir mit ihrem sammetweichen Finger schäkernd über die Wange. „Schau, der alte Schäfer ist solch ein Blumennarr – er wird Dir das Stübchen so zum Ersticken vollgestopft haben – Schelm, mir scheint, Du hast bei ihm einen Stein im Brett! … Ein Mann, wie Herr Claudius, so ernst, und so sehr in eine unbeglückte Vergangenheit vertieft – ich weiß das ja durch Dich und Frau Helldorf –, kommt sicher nicht auf die Idee, solch ein kleines – na, nimm mir’s nicht übel, kleine Maus –, ein wunderkleines Backfischchen mit dem Flor seiner Treibhäuser förmlich zu überschütten.“

Ich schwieg und schluckte meinen Groll hinunter. Ihre Behauptungen hätten mich sehr niederschlagen können, denn es war ja nicht zu leugnen, neben ihr, der Junogestalt, war ich das unbedeutendste Geschöpfchen, das sich denken ließ – aber die Blumen waren doch von Herrn Claudius, ich wußte es genau, wenn ich auch die beseligende Gewißheit tief im Herzen versteckte. … Meine Tante betrat das Zimmer nicht wieder, sie versicherte, der einmalige kurze Aufenthalt in der „Treibhausluft“ habe ihr entsetzliche Kopfschmerzen verursacht. … Seltsam, daß es der schönen Frau mit der sanften Stimme und dem geschmeidigen Wesen nicht gelingen wollte, sich im Schweizerhäuschen einzuschmeicheln! Der alte Schäfer machte mir stets ein vorwurfsvolles Gesicht, wenn ich auf Tante Christine zu reden kam, und meinte, sein schönes sauberes Stübchen sähe zum Spectakel aus – die Dame rühre kein Staubtuch an, und scheine gar nicht zu wissen, wozu die Nägel an den Wänden seien – sie lasse die Kleider auf dem Fußboden liegen; und Frau Helldorf zürnte ernstlich, als sie eines Tages sah, wie ich meiner Tante Geld gab.

„Sie versündigen sich förmlich,“ sagte sie, als wir allein waren, „denn Sie unterstützen geflissentlich die Faulheit und Verschwendung. … Drüben stehen die Tische voll Naschwerk aller Art – die Frau sollte sich schämen, Austern und marinirten Aal zu essen, die Champagnerflaschen hinter dem Sopha stehen zu haben, und das Alles durch Sie bezahlen zu lassen! – Das können Sie unmöglich durchsetzen! … Mag sie doch mit Gesangsunterricht ihr Brod verdienen – ihr Stimme ist ausgesungen, aber sie hat eine brillante Schule.“

Zu meiner eigenen Beruhigung konnte ich ihr versichern, daß das jedenfalls auch geschehen werde; Tante Christine habe wiederholt gesagt, daß sie einen festen Plan verfolge. Sie bedürfe zu der Ausführung aber eines männlichen Rathes und Beistandes und habe gehofft, Beides bei meinem Vater zu finden; nun er sie jedoch so lieblos verstoßen, wolle sie warten, bis Herr Claudius genesen sei – nach Allem, was sie von diesem Manne höre, sei er am ersten im Stande, ihr für einen längern Aufenthalt in K. Rath und Unterstützung zu gewähren. Ich fand an der Idee nichts auszusetzen und ward ein klein wenig unwillig, als Frau Helldorf mit Kopfschütteln meinte, Herr Claudius werde sich schwerlich damit befassen, wenn er einmal der Dame in das geschminkte Gesicht gesehen habe.

Die kleine Frau war mir in der Leidenszeit unbeschreiblich [848] lieb geworden. Welches Opfer brachte sie, indem sie das Haus betrat, welches ihr unversöhnlicher Vater bewohnte! In völliger Flucht kam sie stets athemlos und mit heftig klopfendem Herzen an – die Furcht vor einer abermaligen Begegnung jagte sie. Die arme Verstoßene liebte trotz alledem ihren Vater innig und war tief bekümmert, als sie hörte, daß er seine gesammte Habe verpfändet habe, um die Missionsgelder herbeizuschaffen. Trotz aller Bemühungen war man dem Diebe nicht auf die Spnr gekommen. … Mir erschien der alte Buchhalter seltsam verändert; er grüßte mich jetzt bei jeder Begegnung und hatte sich sogar einige Male herbeigelassen, nach meinem kranken Vater zu fragen. Charlotte bestätigte meine Wahrnehmung; sie behauptete zornig, er gehe ihr und Dagobert aus dem Wege, „der alte Schwachkopf“ bereue entschieden, das Geheimniß seines Chefs verrathen zu haben, und werde schließlich – das sehe sie voraus – im entscheidenden Moment zu leugnen versuchen. … Das leidenschaftliche Mädchen litt unsagbar. Die Prinzessin war leidend, hielt sich seit jenem Abend fern von allem Geräusch des Hoflebens, und das Haus in der Mauerstraße schien für sie nicht mehr zu existiren. Was sollte nun geschehen? Mein abermaliger Vorschlag, Herrn Claudius selbst Alles zu sagen, wurde auch von Charlotte mit Entrüstung und der anzüglichen Bemerkung zurückgewiesen, der Blumenduft in meinem Zimmer umschmeichle und besteche mich. Ich schwieg von da ab auf alle Klagen.

Fünf Wochen waren seit dem Feuerunglück vergangen, und furchtbare Heimsuchung lag hinter mir. Mein Vater war längst außer Bett; er erholte sich auffallend rasch, war durch die Aerzte schonend von allen Vorgängen unterrichtet worden, und hatte sich zur Verwunderung Aller ziemlich schnell und leicht in die betrübende Thatsache gefunden, daß sein Manuscript Staub und Asche sei. Weit schmerzlicher berührte ihn die Nachricht, daß eine Anzahl kostbarer Bücher und Handschriften nicht habe gerettet werden können, daß die prachtvollsten Exemplare der antiken Thongefäße vernichtet seien, und wie man mit dem besten Willen das abgeschlagene Marmorhändchen des schlafenden Knaben nicht wieder aufzufinden vermöchte. Er vergoß Thränen des Schmerzes und konnte sich nur schwer darüber beruhigen, daß er der Welt und Herrn Claudius diesen nie zu ersetzenden Schaden zugefügt. Der Herzog besuchte ihn sehr oft; er wurde damit unmerklich wieder in das Fahrwasser seines gewohnten Denkens und Wirkens geleitet und hatte bereits zahllose Pläne und Entwürfe im Kopfe. … Mir begegnete er mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit – das Unglück hatte Vater und Tochter eng verbunden – er mochte mich nicht mehr missen; trotzdem versicherte er mir oft und ernstlich, er werde mich mit Beginn des Frühjahrs auf vier Wochen in die Haide schicken – ich sei zu blaß geworden und müsse mich erholen.

Es war ein trüber Märznachmittag. Zum ersten Mal wieder seit fünf Wochen wollte ich in das Schweizerhäuschen gehen; meine Tante hatte mir in einigen Zeilen Vorwürfe gemacht, daß ich sie, nachdem mein Vater doch genesen, so consequent vernachlässige. In der Halle stürmte mir Charlotte entgegen. Ich erschrak vor ihr – solch einen wilden Triumph und Jubel hatte ich noch nie auf einem Menschenantlitz gesehen. Sie riß ein Papier aus der Tasche und hielt es mir unter die Augen.

„Da, Kind!“ keuchte sie athemlos. „Endlich, endlich geht die Sonne über mir auf! … Ah! –“ Sie breitete die Arme weit aus, als wolle sie die ganze Welt an ihre Brust ziehen. „Sehen Sie mich an, Kleine – so sieht das Glück aus! … Heute zum ersten Mal darf ich sagen: Meine Tante, die Prinzessin! … O, sie ist doch gut, ja, sie ist grenzenlos edel! So sich selbst überwinden kann eben doch nur – der Edelgeborene! … Sie schreibt mir, sie will mich sehen und sprechen – morgen soll ich mich bei ihr einfinden. Seien unsere Ansprüche begründet – ah, ich möchte den sehen, der so frech wäre, sie anzufechten! – dann werde Alles geschehen, uns in unsere Rechte einzusetzen – sie habe bereits mit dem Herzog darüber gesprochen – hören Sie? mit dem Herzog,“ sie ergriff meinen Arm und schüttelte mich, „wissen Sie auch, was das heißen will? Wir werden als die Kinder der Prinzessin Sidonie anerkannt werden und als Familienglieder in das souveräne Haus eintreten.“ …

Ein Schauer lief durch meinen Körper – die Entscheidung war da.

„Wollen Sie die Angelegenheit wirklich zur Sprache bringen, so lange Herr Claudius noch leidend ist?“ fragte ich mit unsicherer Stimme.

„Ah bah – er ist ja nicht mehr krank. Die dicksten Hüllen sind von seinen Fenstern gefallen; er trägt einen grünen Schirm und hält sich heute zum ersten Mal in den ein klein wenig verhangenen Salons neben meinem Zimmer auf. Er hat sich den Privatspaß gemacht, Eckhof zu seinem Geburtstag in einem allerliebsten kleinen Portemonnaie die tausend Thaler Missionsgelder zu bescheeren, damit er seine Habe wieder einlösen kann. Der Alte war dermaßen zerknirscht, daß ich Todesangst hatte, er werde dem Onkel zu Füßen fallen und seine Ausplauderei uns gegenüber beichten – zum Glück fand er vor Rührung keine Worte. … Uebrigens bin ich hart geworden, hart wie ein Kieselstein – ich habe zu furchtbar gelitten in den letzten Wochen; auch von Dagobert mußte ich von früh bis spät die maßlosesten Vorwürfe über ‚das plumpe Anfassen der Sache‘ hören. … Ich kenne keine Rücksicht mehr; und wenn in dieser Stunde noch der Onkel vor die Schranken gefordert würde – ich rührte keinen Finger, es zu verhindern!“

Sie begleitete mich bis an die Gartenthür, dann sah ich sie wie einen Pfeil bergauf in das blätterlose Dickicht hineinstiegen – das Glücksgefühl, das ihr die Brust fast zersprengte, trieb sie auf den Berggipfel, von wo aus sie in die schrankenlos weite Welt hineinjubeln konnte, und ich wäre am liebsten umgekehrt und hätte mich in den dunkelsten Winkel der Karolinenlust verkrochen, um mein unsägliches Bangen, meinen Schmerz um Herrn Claudius, zu verbergen.

Ich schlüpfte vorläufig an Tante Christinens Zimmer vorüber – zu meinem Befremden scholl Hundegekläff heraus – und ging in das obere Stockwerk. In Helldorf’s Familienstube hatten sich stets meine stürmisch klopfenden Pulse gesänftigt. … Lauter Jubel empfing mich. Herr Helldorf streckte mir beide Hände entgegen, Gretchen umschlang meine Kniee, und der kleine Hermann saß auf dem Fußboden und krähte und strampelte mit beiden Beinchen und wollte genommen sein. Die kleine Frau aber nahm flugs die Kaffeemaschine aus dem Schrank, holte ein ganz speciell für mich aufbewahrtes Stück Kuchen herbei, und bald darauf saßen wir um den trauten Familientisch. … Dann und wann unterbrach eine kühne Coloratur – perlenreine Läufer und Triller – unsere Plauderei – Tante Christine sang, oder trällerte vielmehr drunten; das klang wundervoll; so oft sie aber einen Ton fest anschlug und aushielt, da that mir das Herz weh – die Stimme, die einst wohl von hinreißendem Klang gewesen sein mochte, war total gebrochen.

„Die Frau da unten muß sobald wie möglich einen Wirkungskreis erhalten – sie führt ein wahres Schlaraffenleben,“ sagte Herr Helldorf mit leichtem Stirnrunzeln. „Ihre Schule ist ganz vortrefflich, und ich habe mich erboten, ihr Schülerinnen zu verschaffen – sie kann sehr viel Geld verdienen, wenn sie will. Aber den Hochmuthsblick, das höhnische Lächeln, mit welchem sie mir ‚für gütige Protection‘ dankte, werde ich nie vergessen. Seitdem hat sie sich hier oben nicht wieder blicken lassen.“

„Blanche bellt – es kömmt Jemand, Mama,“ sagte Gretchen.

„Ja, Blanche – das ist auch ein neuer Bewohner im Schweizerhäuschen, der Ihnen vorgestellt werden wird, Lenore,“ meinte lächelnd Frau Helldorf. „Die Tante hat sich vorgestern einen reizenden, kleinen Seidenpinscher gekauft – Schäfer ist außer sich, er will das boshafte Thier nicht dulden.“ –

Sie schwieg plötzlich und horchte – starke Männerschritte kamen die Treppe herauf, schritten über den Vorsaal und verharrten da einen Augenblick. Frau Helldorf’s Gesicht war schneebleich geworden; sie stand da mit zurückgehaltenem Athem, starr wie eine Statue, und als sei es ihr unmöglich, auch nur einen Fuß nach der Thür zu bewegen, um sie zu öffnen. Da legte sich draußen eine Hand auf den Drücker, die Thür that sich auf, und ein hoher, stattlicher Mann trat zögernd auf die Schwelle.

„Vater!“ schrie die junge Frau – es war ein Schrei, schwankend zwischen herzzerreißendem Schluchzen und wonnevollem Jauchzen. Eckhof fing die Taumelnde in seinen Armen auf und drückte sie an seine Brust.

„Ich bin hart gewesen, Anna – vergiß es,“ sagte er mit schwankender Stimme.

„Sie hatte keine Antwort – sie vergrub nur immer tiefer [849] das Gesicht an der Brust, von der sie so lange verstoßen gewesen. … Seinem Schwiegersohn reichte der alte Mann wortlos die Rechte hin; Helldorf schlug feuchten Auges kräftig ein und hielt sie einen Augenblick fest.

„Ich will Dir auch ein Händchen geben, Großpapa,“ sagte Gretchen und reckte sich auf den Zehen an der hohen Gestalt des Großvaters empor.

Die süße Kinderstimme machte die junge Frau endlich aufsehen. Sie sprang zu ihrem Knaben, nahm ihn vom Boden auf und hielt ihn dem Großpapa hin. „Küsse ihn, Vater!“ sagte sie immer noch zwischen Lachen und Weinen schwankend. „Gretchen kennst Du, den Jungen aber noch nicht. … Denke nur, er hat die großen, blauen Augen der seligen Mutter – o Vater!“ Sie schlang auf’s Neue den linken Arm um seinen Hals.

Hier hatte ich die Thür erreicht und schlüpfte geräuschlos hinaus. So heimisch ich auch in der Familie Helldorf war, jetzt, wo sich die tiefe Kluft schloß, die zwischen Vater und Tochter gelegen, jetzt gehörte ich nicht in den kleinen Kreis – den Reuigen durfte in dieser Weihestunde kein fremder Blick treffen. Aber in meiner Seele war es sonnig hell geworden – so hell, wie droben im Stübchen der glücklichen Menschen, wo wunderbarer Weise in dem Augenblick, als ich hinausschlüpfen wollte, ein einzelner blasser Abendsonnenstrahl vom trüben Märzhimmel niedersank und über die stumm dreinschauenden Familienbilder an der Wand hinglitt, als sollten auch sie aufleben und mitfühlen die Wonne der Versöhnung. …

Meine Tante lag auf dem Sopha, als ich in ihr Zimmer trat. Mit wüthendem Gekläff fiel mich die kleine Furie Blanche an und grub ihre Zähne in meine Kleider – ich gab ihr einen leichten Schlag auf den Kopf, worauf sie knurrend auf den Schooß ihrer Herrin flüchtete.

„Ach nein, Lenore, schlagen darfst Du meinen kleinen Liebling nicht!“ rief mir Tante Christine halb bittend, halb schmollend zu. „Siehst Du, nun ist Dir Blanche gram, und Du wirst Noth und Mühe haben, ihr Herzchen wieder zu gewinnen.“

Ich meinte innerlich, daß ich mir diese Noth und Mühe sicher nie machen würde.

„Schau, ist’s nicht ein reizendes Geschöpf?“ – Sie strich mit zärtlicher Hand dem in der That wunderhübschen Thierchen die langen seidenen Haarsträhne aus den klugen Augen. „Und denke Dir, um einen Spottpreis bin ich dazu gekommen. Der Mann, der es verkaufte, war in Noth – vier Thaler habe ich dafür gegeben, ist das nicht geradezu geschenkt?“

In meiner tiefen Betroffenheit brachte ich kein Wort über die Lippen – neulich hatte ich meine Casse redlich mit Tante Christine getheilt – sie hatte acht Thaler bekommen.

„Ich besaß früher auch schon einmal solch einen Seidenpinscher – ein wahres Prachtexemplar – er war ein Geschenk des Grafen Stettenheim und kostete mehr Louisd’or, als der Kleine hier Thaler. … Es ließ sich kein schönerer Anblick denken, als dieses blaßgelb glänzende Geschöpfchen auf seinem blauseidenen Kissen. … Das arme Ding ist schließlich an einem Rebhuhnflügel erstickt.“

Das Alles plauderte sie mit lächelndem Munde. Noch vertieften sich die schönsten Grübchen in ihren Wangen bei diesem Lächeln, und ich mußte immer und immer wieder auf die feinen, gleichmäßig geformten Zähnchen sehen, die perlmutterweiß zwischen den rothen Lippen blinkten. Der Kopf der schönen Frau war tadellos frisirt – ihr Anzug dagegen erschreckte mich förmlich. Ein abgenutzter, violetter Schlafrock voller Flecken hing lose um die geschmeidigen Glieder, und aus der Oeffnung über der Brust und den Löchern am Ellenbogen kam ungenirt ein Nachthemd von sehr zweifelhafter Weiße. Mit dieser Toilette harmonirte die ganze Umgebung. Mitten im Zimmer, auf den Dielen lag ein Paar niedergetretener, unsauberer, weißer Atlasschuhe, die jedenfalls zu Schlafschuhen und zeitweise zu Blanche’s Spielzeug degradirt waren. Die ehemals so glänzenden Platten der Tische und Commoden deckte eine undurchdringliche Staublage, und hinter dem Bettvorhang lagen Kisten und Kleidungsstücke unordentlich durcheinander – dagegen war die Luft mit dem feinsten, lieblichsten Veilchenparfüm erfüllt.

„Gelt, Du findest meine Umgebung auch grenzenlos vernachlässigt?“ fragte sie, meinen Blick auffangend. „Ich habe Dir drüben bei meinen Besuchen nicht auch noch vorklagen und das Herz schwer machen wollen – Du trägst ohnehin Last genug auf Deinen kleinen Schultern. Aber nun darf ich Dir’s ja sagen, daß ich mich hier, zwischen diesen vier Pfählen, namenlos unglücklich fühle. … Schäfer ist ein Erznarr – solch ein Mensch hat nicht die blasse Ahnung, was eine Frau wie ich, so von Gott und aller Welt auf den Händen getragen, verzogen und verhätschelt, zu beanspruchen gewohnt ist. Statt mir, wie es sich bei jeder Miethwohnung von selbst versteht, jeden Tag für ein gereinigtes Zimmer zu sorgen, verlangt er lächerlicherweise von mir, daß ich seine Möbel abstaube und den Besen in die Hand nehme – da kann er warten!“

Sie griff in ein Porcellankörbchen voll Krachmandeln und Messinatrauben und fing an, Mandeln aufzuknacken.

„Nimm Dir doch auch,“ sagte sie zu mir, indem sie Blanche eine der süßen Beeren hinreichte. „Es ist freilich wenig, womit ich Dir aufwarten kann; allein ein Schelm giebt mehr, als er hat. … Es wird auch einmal wieder besser, und dann sollst Du sehen, was für reizende Diners ich arrangiren kann. … Apropos, um wieder auf Schäfer zu kommen! … Der alte sanfte Scheinheilige kann auch recht flegelhaft werden. Denke Dir nur, als ich vorgestern Blanche kaufe und dem Mann das Geld hinzähle, mahnt er mich doch unverschämter Weise und verlangt, ich solle ihm erst die rückständige Monatsmiethe und seine Auslagen für Feuerung und Licht während meines Hierseins zahlen. … Gelt, das geht mich doch nichts an, Herzchen? … Du hast mich doch eingemiethet.“

Mich überlief es siedendheiß vor Angst – wo sollte das hinaus? Und wenn ich von früh bis spät für Herrn Claudius schrieb, den Unterhalt für die Tante konnte ich unmöglich bestreiten. … Ilse’s Gesicht tauchte vor mir auf – wie oft hatte ich die alte, treue Seele in meinem Inneren hart und unerbittlich gescholten, weil sie aus allen Kräften eine Annäherung zwischen Tante Christine und mir zu verhindern suchte – jetzt steckte ich in der Klemme und büßte.

„Tante, ich muß Dir offen sagen, daß meine Geldmittel sehr gering sind,“ versetzte ich in großer Verlegenheit, aber dennoch unumwunden. „Ich will ganz aufrichtig gegen Dich sein, und Dir Etwas mittheilen, das mein Vater nicht einmal weiß – das Wirthschaftsgeld verdiene ich fast allein durch Beschreiben der Samendüten für Herrn Claudius.“

Zuerst sah sie mich starr und zweifelhaft an, dann brach sie in ein unauslöschliches Gelächter aus. „Also so poetischer Art sind Eure Beziehungen zu einander? … Das ist gottvoll! Und ich bin so kindisch gewesen, einen Augenblick zu fürchten – Na, Kleine,“ unterbrach sie sich selbst fröhlich, „das hört auf, wenn sich meine Lage eines Tages ändern wird, darauf kannst Du Dich verlassen! Dann leide ich’s nicht! … Fi donc, wie hausbacken! … Da solltest Du ’mal sehen, wie ich mich zu dem Manne stellen würde! … Abschreiben, das ist ja freilich ein saurer Erwerb, und ich kann unmöglich länger aus Deiner Börse leben! … Aber was anfangen? … Kind, ich zähle die Stunden bis zu dem Moment, wo es heißen wird, dieser Herr Claudius sei genesen und endlich einmal zu sprechen!“

„Er hat heute zum ersten Male das Krankenzimmer verlassen.“

„Himmel! Und das sagst Du mir jetzt erst?“ Sie fuhr aus ihrer halb liegenden Stellung empor. „Weißt Du nicht, daß Du mit jedem verlorenen Augenblicke mein Lebensglück verzögerst? Habe ich Dir nicht oft genug gesagt, wie ich diesem Ehrenmanne meine Zukunft in die Hände legen und von seinem Rath und Urtheil mein Wohl und Wehe abhängig machen will?“

„Ich glaube, er wird Dir auch nicht anders und nicht besser rathen können als Herr Helldorf, liebe Tante,“ sagte ich. „Herr Claudius hält sich sehr fern von der Gesellschaft, während Helldorf als Lehrer in den ersten Familien Zutritt hat. Er sagte mir vorhin selbst, Du würdest sehr viel Geld verdienen können, wenn –“

„Ich bitte,“ unterbrach sie mich eisigkalt, „behalte Deine Weisheit für Dich! … Es ist meine Sache, in welcher Art und Weise ich mir Bahn brechen will, und ich muß Dir offen gestehen, daß mir durchaus nichts daran liegt, mit den Leuten da oben in irgend eine Beziehung zu treten, geschweige denn, mir auch nur die allergeringste Verbindlichkeit ihnen gegenüber aufzuladen. … Das sind solche spießbürgerliche Bekanntschaften, die [850] Einem später wie Blei anhängen, und – enfin, Kind, sie stehen der Sphäre ewig fern, in der ich zu leben gewohnt bin! … Und nun bitte ich Dich wiederholt dringend, Alles aufzubieten, um mir eine Besprechung mit Herrn Claudius zu verschaffen.“

Ich stand auf, und sie glitt vom Sopha nieder und huschte in die Atlasschuhe, bei welcher Gelegenheit ich sah, daß ihre schlank gebauten Füße in fleischfarbenen seidenen Strümpfen steckten.

„Ach, Du kleine Maus da unten!“ lachte sie fröhlich auf und strich, ihre schlanke Gestalt hoch aufreckend, mit dem ausgestreckten Arme über meinen Scheitel hin. Wir standen gerade vor dem Spiegel, unwillkürlich sah ich in das Glas – mein bronzefarbener Creolenteint, wenn auch vollkommen fleckenlos und jugendfrisch, stach dennoch unvortheilhaft ab von den Pfirsichwangen und der glänzend weißen Stirn meiner Tante; aber ich sah auch heute zum ersten Male den widrigen Lack deutlich, der in einer dicken Lage das vierzigjährige Gesicht dort deckte. Ich schämte mich in ihre Seele hinein, wenn ich dachte, daß Herrn Claudius’ scharfer, strenger Blick dieselbe Bemerkung machen könne; aber so oft ich auch die Lippen öffnete, sie zu bitten, mit dem Taschentuch ein wenig mildernd über das Gesicht zu wischen, ich brachte dennoch kein Wort heraus, um so weniger, als sie mich eben eine kleine bräunliche Haselnuß nannte und sich über „diese sammtene Zigeunerhaut“ höchlich verwunderte, da doch die Jakobsohns, wie sie in Figura noch zeige, stets mit einem lilienweißen Teint begnadet gewesen seien.

Ich entzog mich ihren streichelnden Händen und verließ das Zimmer mit der Versicherung, daß ich direct zu Fräulein Fliedner gehen und mit ihr über die zu ermöglichende Besprechung berathen wolle.

Mit einem inbrünstigen Kuß wurde ich entlassen.

(Schluß folgt.)




Stumme Liebe.
(Mit Abbildung S. 845.)[1]

Ein Freudenstrahl im Blick des jungen Kranken,
Aus Fieberträumen ist er aufgewacht,
Da mahnen ihn die ersten Blüthenranken
An des verjüngten Lebens volle Pracht;
Die Botin all der holden Frühlingsgrüße
Erfaßt die Hand, die stumm zu danken strebt,
Ihr Auge schimmert feucht, doch eine süße,
Verstohl’ne Hoffnung ihren Busen hebt.

Ein theures Opfer eines blut’gen Sieges,
Seit langen Monden liegt er hingestreckt,
Und einen Schmerz nur fühlt der Held des Krieges,
Daß seinem Schwert so kurz das Ziel gesteckt;
Seit langen Monden ist mit frommem Triebe
Die graue Schwester still um ihn bemüht,
Das Heldenthum der Sorge und der Liebe
In diesen sanften Mädchenaugen glüht.

Der strengen Pflicht hat sie sich früh ergeben,
Doch mehr als Pflicht ist, was sie hier vollbringt;
Auf diesem Lager stirbt ihr eignes Leben,
Um das verzweifelnd mit dem Tod sie ringt!
Noch drang kein Laut aus dem verschloss’nen Munde,
Kein Auge sagt ihr, was sein Herz empfand;
Und kühlt sie lindernd ihm die offne Wunde,
Durchflammt sein heißer Kuß die bleiche Hand. –

In Schweigen steht das alte Stift versunken,
Um seine Gäste trauert noch das Haus;
Die Letzten zogen lang’ schon freudetrunken
Genesen weit in alle Welt hinaus.
Nur Einer blieb – auf einem frischen Hügel
Liegt bei der Tanne heut’ ein frischer Kranz,
Schon regen sich der Weihnacht Engelsflügel,
Und milden Segen strahlt der Sterne Glanz.

Sie hat des Jahres letztes Grün gespendet,
Mit blut’gen Zähren jedes Blatt bethaut,
Nach langem Beten sich zum Geh’n gewendet
Und immer wieder rückwärts doch geschaut;
Zum Himmel hält sie nun das Haupt gehoben –
Hat sie noch einen Gruß empor geschickt?
Sucht sie ein liebes Auge, das von oben
Mit stummem Dank auf sie herniederblickt?

Albert Traeger.


  1. Bild und Lied sind Verherrlichungen einer Thatsache. Am heiligen Abend des Jahres 1870 stand ein Norddeutscher im Corridor eines Diaconissinnenstifts Süddeutschlands, wo er seinen verwundeten Bruder suchte. Er blickte durch das hohe Bogenfenster auf den Friedhof hinab und sah – unser Bild. Eine Diaconissin legte einen Kranz auf ein noch frisches Grab, in welchem ein blutjunger norddeutscher Freiwilliger ruhte. Sie war seine einzige Pflegerin in seinen schweren Leiden gewesen, und als er starb, war es bald Niemandem im Stifte verborgen, wie sehr sie ihn geliebt hatte.
    Die Redaction.




Eine Flucht aus dem Grabe.


1.

Schreiber dieser Zeilen hat die Gewohnheit, von Zeit zu Zeit Razzias nach den verschiedenen Büchertrödlern der Residenz zu unternehmen, in welcher er lebt. Eine solche Expedition lieferte ihm dieser Tage in einer sonst ärmlich genug bestellten Boutike, hinter den Säulen einer überbauten Brücke, ein ziemlich seltenes Wild in die Hände. Es war ein Buch in französischer Sprache ohne Angabe des Autornamens und des Druckjahres, wahrscheinlich jedoch in der ersten Zeit der französischen Revolution gedruckt und enthielt eine sehr eingehende Beschreibung jener Zwingburg des Absolutismus, deren Zerstörung der erste Gewaltact der großen Staatsumwälzung galt, der famosen Bastille. Als Anhang zu dem merkwürdigen Werke fanden wir die Erzählung einer Reihe theils wirklich gelungener „Ausbrüche“ aus dem grausigen Kerker, theils abenteuerlicher Versuche, dem lebendigen Grabe zu entrinnen.

Glücklich über die unerwartete Beute, trugen wir den Band nach Hause und eilen jetzt, da das Buch wohl keinem unserer Leser bekannt sein dürfte, auch Andere unseres Fundes theilhaftig zu machen, indem wir einen Abschnitt der hochinteressanten Schrift, der einzigen Quelle, der wir ein Bild des innern Lebens der Bastille entnehmen können, im Auszug mittheilen.

Den Eingang des furchtbaren Gefängnisses bildete ein Thor nebst einem Wachthause in der Rue St. Antoine. Eine Zugbrücke und ein zweites düsteres Thor führten zur Wohnung des Gouverneurs, welche vom eigentlichen Kerker durch einen tiefen Graben und eine zweite Zugbrücke getrennt war. Ein mit eisernen Spitzen besetztes und mit einer Palissadenthür versehenes, sehr festes Gitter schied das Wachtgebäude von dem großen Hofe, einem länglichen Viereck von etwa hundertundzwanzig Fuß Länge bei achtzig Fuß Breite. Innerhalb des Gitters erhob sich rechts der für die Unterbeamten, den Gefängnißschneider und einige [851] wenige bevorzugte Gefangene bestimmte Bau. An den Ecken sprangen acht Thürme vor; sie trugen die Namen „Tour de la Comte“, „du Tresor“, „de la Chapelle“, „de la Bertandière“, „du Puits“, „du Coin“, „de la Basinière“ und – wunderbarer Weise! – „de la Liberté“. Ein Haus, in dem sich der sogenannte Aufnahmesaal, die Wohnung des Kerkermeisters, die Küchen und die Gemächer des Königslieutenants befanden, trennten den innern oder Brunnenhof von dem erwähnten großen Hofe.

Rund um die ganze Bastille herum lief ein fünfundzwanzig Fuß breiter Graben, von einem sechszig Fuß hohen Wall umgeben. Dieser letztere trug eine hölzerne Galerie, auf der Tag und Nacht Schildwachen hin und wieder schritten. Außerhalb der Bastille lag eine mit Bäumen bepflanzte Bastion; ebenso auf der andern Seite. Zwischen diesen beiden Bastionen spannte sich die Brücke St. Antoine über den Wallgraben der Stadt. Sie mündete vor der Bastille auf einen mit stattlichen Häusern bebauten großen Platz.

So stellte sich das Aeußere der entsetzlichen Zwingburg dar. Noch düsterer und unheimlicher sah es in ihren inneren Räumen aus. Die einzelnen Zellen waren schwarz vom Rauche der Jahrhunderte und voll von Schmutz und Ungeziefer und enthielten kein anderes Mobiliar als mit Vorhängen umhüllte kleine Betten und ein paar wurmstichige Tische und Stühle. Vor den doppelten eisernen Thüren und vor den winzigen Fensterluken waren dicke eiserne Gitter angebracht, so daß nur spärliches Licht in die engen Gemächer fiel. Sobald ein Gefangener eingeliefert wurde, nahm man ihm ab, was er an Geld oder Werthsachen bei sich trug, überreichte ihm jedoch ein Verzeichniß der mit Beschlag belegten Gegenstände für den – freilich sehr seltenen – Fall, daß ihm die Luft der Freiheit wieder zu athmen vergönnt ward. Die wachthabenden Soldaten hatten den strengen Befehl, ihre Hüte über das Gesicht hinabzuziehen, wenn ein neuer unfreiwilliger Ankömmling das Kerkerthor passirte, damit sie die Person desselben nicht erkennen konnten, und in der Kirche wurden die Gardinen vor den Sitzen der Gefangenen nur im Augenblicke der „Wandelung“ in die Höhe gelassen. Die Mahlzeiten fanden um ein Uhr Mittags und um sieben Uhr Abends statt, und da pro Kopf dafür täglich eine Pistole ausgesetzt war, so hätte die Kost keine schlechte sein können, wäre nicht von den Kerkermeistern das halbe Essen unterschlagen und die andere Hälfte verfälscht worden. Die am meisten gefürchteten Gefängnisse waren die Calottes oder Dachkammern in den Thürmen, die unter dem Niveau der Wassergräben belegenen Gelasse und die Räumlichkeiten unter dem Geschützwalle, die bei jedem Salutschusse bis in den Grund hinab erbebten.

Gewiß, es war eine Hölle auf Erden, in welche sich Menschen wegen des kleinsten Verstoßes wider einen königlichen Günstling, einen einflußreichen Priester, einen bestochenen Beamten verbannt sahen. Das „Laßt alle Hoffnung zurück, Ihr, die Ihr hier eintretet“ stand deutlich genug über den Pforten dieses Grabes geschrieben, und dennoch ist es manchem der bei lebendigem Leibe darin Eingesargten gelungen, seine Fesseln zu sprengen und an das Licht des Tages und der Freiheit emporzutauchen.

Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ludwig der Fünfzehnte schwelgte in seinem Parc aux Cerfs und Frau von Pompadour stand im Zenith ihrer Macht. Die stolzesten Edelen des Hofes beugten sich in Furcht und Demuth vor der Lieferantentochter, wenn sie auch im Stillen die allgewaltige Favorite haßten und verachteten. Um dieselbe Zeit kam, zur Vollendung seiner militärischen Studien, ein junger Ingenieurofficier nach Paris, Henri de la Tude, der Sohn eines St. Ludwigsritters, des Königslieutenants von Sedan. Henri de la Tude wollte Carrière machen. Dazu aber gab es keinen sicherern Weg, als die Gunst der Marquise von Pompadour. Der junge de la Tude verfiel denn auf einen höchst abenteuerlichen Gedanken: er spiegelte der derzeitigen Regentin Frankreichs vor, er habe ein Complot ausgespürt, welches von Adeligen und Priestern gegen ihr Leben angezettelt sei. Die Angabe erwies sich sofort als eine falsche und der Denunciant ward verhaftet, erst in die Bastille abgeführt, dann in das Schloß von Vincennes gebracht. Er entzog sich seiner Haft durch die Flucht, überlieferte sich indeß Ludwig dem Fünfzehnten auf Gnade und Ungnade. Der König bezeigte dem jungen Manne vieles Wohlwollen, ließ ihn aber, auf Anstiften der Frau von Pompadour, doch von Neuem in die Bastille setzen. Und vergeblich blieben jetzt alle Versuche des Irregeleiteten, seine Freiheit zu erwirken. Die Marquise hatte einmal ihren Haß auf ihn geworfen, und dagegen war selbst der König machtlos.

Achtzehn Monate lang schmachtete La Tude in einem unterirdischen Verließe. Später ward er zwar aus diesem finstern Kerker erlöst und in eine überirdische Zelle befördert, zusammen mit einem andern Opfer der Marquise, einem gewissen d'Alègre, allein noch immer war sein Loos grausam genug. Eingeschlossen von ungeheuer hohen, sechs Fuß dicken Mauern, von vierfachen Eisengittern vor jedem Fenster und über jedem Kamine, von mit sumpfigem Wasser erfüllten tiefen Gräben, ohne Freunde, die ihm Sägen oder Feilen zusteckten, – wie durfte er unter solchen Umständen auf Rettung aus seiner jammervollen Lage hoffen? Und dennoch bewerkstelligte der junge Officier sein Entrinnen aus diesem grauenhaften Fegefeuer!

Welche Vorsicht, welche Energie, welche fast übermenschliche Ausdauer erforderte es, um dieses Ziel zu erreichen! Jedwede Art von schneidenden Werkzeugen waren den Gefangenen in der Bastille auf das Strengste verpönt, und nicht um hundert Louisd'or hätte sich ein Kerkermeister zur Herbeischaffung nur einer Viertelelle Band oder Schnur bewegen lassen. Keine Kunde aus der Außenwelt fand Eingang in die Zwingburg; Beamte, Aerzte, Kerkermeister hatten für die Gefangenen eine einzige stereotype Anrede. „Guten Morgen! Guten Abend! Wünscht Ihr etwas?“ oder „Was fehlt Euch?“ Jahre lang hätte Bruder oder Vater eines Gefangenen in der Zelle neben oder über demselben schmachten können – er hätte nichts davon erfahren!

Ein Koffer mit Wäsche war das einzige Arsenal, das La Tude zu Gebote stand, seine Flucht vorzubereiten. Sein Mitgefangener d’Alègre lachte, da jener auf dies nutzlose Möbel als auf ihren Rettungsanker hinwies. Doch La Tude ließ sich nicht irre machen. Sieben Jahre hindurch brütete er Tag und Nacht über seinem Fluchtplan, und endlich stand dieser fertig vor seiner Seele. Er wußte jetzt genau, was er zu seinem „Ausbruch“ brauchte: Siebenhundert Ellen Schnure, – und zwei Leitern, die eine von Holz, dreißig Fuß lang, die andere aus Stricken, hundertachtzig Fuß. Ferner mußte das schwere Eisengitter über dem Kamine ausgebrochen und während der Nacht, höchstens zwölf bis fünfzehn Fuß entfernt von einer Schildwache, durch eine viele Fuß starke Mauer ein Loch gebohrt werden. Und das Alles mußten die Beiden mit ihren bloßen Händen vollbringen! Allein das genügte noch nicht! In ihrer kleinen Zelle, die täglich zwei Mal von Beamten und Schließern revidirt wurde, mußten sie auch die beiden Leitern verbergen. „Unmöglich! Ganz unmöglich!“ rief d’Alègre ein Mal über das andere aus, als ihm La Tude diesen Plan entwickelte. Der Energie aber wird Alles möglich.

La Tude hatte wahrgenommen, daß der Gefangene in Nr. 3 des Thurms La Comte – der Zelle über seiner eigenen – niemals nur das leiseste Geräusch vernehmen ließ, weder seinen Tisch oder Stuhl rückte, daß man es hören konnte, noch hustete oder nieste. Jeden Sonntag und Mittwoch ging derselbe, ebenso wie La Tude und dessen Freund, zur Messe, und zwar kam er stets vor ihnen die Treppe herunter und stieg sie nach ihnen wieder hinauf. Seine Zelle in Augenschein zu nehmen, war unerläßlich; um dies zu ermöglichen, erdachte La Tude einen sehr einfachen, doch sinnreichen Plan. Bei der Rückkehr aus der Messe sollte d’Alègre sein Taschentuch herausziehen und es die Treppe hinunterfallen lassen. Dies geschah, und der Schließer ward gebeten, es wieder heraufzuholen. Während der Mann diesem Wunsche entsprach, eilte La Tude die Stufe hinauf, schob den Riegel von Nr. 3 zurück und sah sich in dem geöffneten Raume um. Die Zelle mochte neun bis zehn Fuß hoch sein. Hierauf maß er geschwind drei Stufen der Treppen und zählte, wie viel derselben bis zu seiner eigenen Zelle vorhanden waren. Alsbald leuchtete ihm ein, daß die Decke der letzteren doppelt sein mußte, wenigstens fünf Fuß dick, um den Schall zu dämpfen. Ein ähnlicher hohler Raum, so schloß er, lag jedenfalls auch zwischen seiner und der nächst unteren Zelle.

Die Augen funkelten ihm, als er sich mit d’Alègre wieder zwischen seinen vier Mauern eingeschlossen sah.

„Geduld! Muth! Wir werden frei werden! Die Decke ist hohl; dort können wir unsere Stricke verbergen.“

„Stricke?“ frug sein Freund. „aber wir können ja keinen Zoll davon auftreiben!“

[852]

Friedrich der Große mit seinen Generalen.
Originalzeichnung von Prof. W. Camphausen in Düsseldorf.




„In dem Koffer da,“ entgegnete La Tude, indem er auf einen Wäschebehälter deutete, „habe ich zwölf Dutzend Hemden, sechszehn Paar seidene Strümpfe, fünf Dutzend Paar Beinkleider, sechs Dutzend Servietten. Fasern wir diese Wäschvorräthe aus, so haben wir mehr Stricke, als wir brauchen.“

Auch d’Alègre’s Gesicht begann sich aufzuhellen.

„Wie aber,“ frug er weiter, „können wir die Eisenstangen vor dem Kamine beseitigen? Wir haben ja weder Meißel noch Brecheisen.“

„Die Hand hat alle Werkzeuge gemacht und der Geist sie alle ersonnen,“ gab La Tude ernst zur Antwort. „So lange uns diese zwei nicht fehlen, brauchen wir um Mittel und Wege nicht verlegen zu sein.“

Dabei zeigte er auf die eisernen Scharniere in ihren Klapptischen.

„Wenn wir diese auf dem Estrich unserer Zelle spitz schleifen,“ fuhr er fort, „so werden sie zu Meißeln; aus dem Stahl, mit welchem wir uns Feuer anschlagen, machen wir uns ein Messer,

[853]

Der große Kurfürst mit General Derfflinger.
Originalzeichnung von Prof. W. Camphausen in Düsseldorf.




mit dem wir uns die Stiele unserer Instrumente herstellen und noch eine Menge anderer Dinge anfertigen können.“

Den ganzen Tag sprachen sie nur von ihrer Flucht. Die Hoffnung flößte den armen Gefangenen Muth ein, denen eine sieben Jahre andauernde Sclaverei eine übernatürliche Schlauheit verliehen hatte. Nach dem Abendessen, sobald sie sich für die Nacht sicher wußten, zogen sie einen Haspen aus dem Tische heraus, nahmen einen Ziegelstein aus dem Fußboden und begannen die Decke der unten gelegenen Zelle zu attakiren. Nach sechsstündiger Arbeit hatten sie ergründet, daß auch das untere Gemach zwei Decken besaß, jede drei Fuß von der andern entfernt. Dann schafften sie den Ziegel sorgsam wieder an Ort und Stelle, so daß keine Spur von seiner Wegnahme zu sehen war.

Am andern Tage zerbrachen sie ihren Feuerstahl, arbeiteten ihn zu einem Messer um und schnitten zwei Hefte zurecht, in die sie die zugespitzten Tischhaspen decken konnten. Jetzt wurden langsam zwei der Hemden ausgefasert, Faden um Faden. Diese letzteren knüpften sie aneinander und wickelten sie zu einem großen [854] Knäuel zusammen, dergestalt, daß fünfzig einzelne Fäden eine Länge von sechszig Fuß bildeten. Aus diesen zusammengebundenen Fäden drehten sie sich ein etwa fünfundfünfzig Fuß langes Seil, dem sie allmählich immer ein Stück mehr anfügten, je nachdem sie in den langen Stunden qualvoller Nächte weiteres Leinenzeug auseinander gezupft hatten.

Welche unsäglich mühselige und langweilige Arbeit! Nur die Perspective eines möglichen Gelingens ihres Vorhabens ließ sie nicht ermatten. Nun ging es an das schwere Werk, die Eisenstangen aus dem Kamine auszureißen. Mit schweren Gewichten befestigten sie ihre Strickleitern, kletterten im Schornsteine in die Höhe und arbeiteten gegen die Stangen los. Sie quälten sich mehrere Monate lang, dann aber waren die Stäbe locker genug, um jeden Augenblick hinweggenommen werden zu können. Vorläufig ließen sie dieselben indeß noch stecken. Wie sauer diese Arbeit war, davon macht man sich schwerlich eine Vorstellung. Jeden Tag stiegen die beiden Männer mit blutenden Händen aus dem Rauchfange herunter und so gequetscht und zerschunden, daß sie immer einige Stunden ausruhen mußten, ehe sie im Stande waren, ihr Werk fortsetzen.

Hatte man jedoch auch die Stangen beseitigt, so bedurfte man immer noch einer hölzernen Leiter, um aus dem Graben auf den Wall hinaufzuklimmen, wo die Schildwachen standen. Dies aber war der einzige Weg nach dem Garten des Gouverneurs und von da aus in die Freiheit. Wie nun diese Leiter anfertigen? Sie konnten dazu nur das ihnen tagtäglich gelieferte Brennholz benutzen, Stücke von achtzehn Zoll Länge. Wie aber diese zerkleinern? Eine Säge besaßen sie ja nicht und die Tischhaspen drangen nicht durch. Der Scharfsinn La Tude’s wußte auch jetzt wieder Rath. Im Verlaufe weniger Stunden war aus einem eisernen Leuchter und der andern Hälfte ihres Feuerstahls eine vortreffliche Säge zu Wege gebracht, die in zwanzig Minuten ein armstarkes Stück Holz zerschnitt. Mit dieser Säge und dem Messer, welches sie sich bereitet hatten, wurde nach und nach die nöthige Anzahl Leitersprossen fabricirt, desgleichen die durch Gelenke ineinandergefügten Seitenbäume der Leiter. Damit nicht genug. Sie machten sich auch einen Cirkel, eine Haspel und Alles, was ihnen sonst an Geräthschaften zu ihrer Flucht noch noth that, und verbargen diese sämmtlichen Gegenstände natürlich in den hohlen Räumen zwischen den Decken der oberen und unteren Zelle. Jedem dieser Instrumente gaben sie einen geheimen Namen, so hießen sie die Säge Faun, die Diele Polyphem, die Leiter Jacob, das Seil Taube, die Haspel Anubis, die Haspen Tubalkain, und bestimmten, daß, sowie der der Thür sich am nächsten Befindende auf der Treppe den Tritt des Schließers hörte, er sogleich den Beinamen des rasch zu versteckenden Geräths ausrufen sollte, da der Kerkermeister die Zellen nicht selten auch bei Tage inspicirte.

Endlich, nach Anstrengungen und Mühen, die sich kaum denken lassen, waren Leitern und Seile fix und fertig und in der Höhle Polyphem’s glücklich geborgen. Da sich indeß La Tude überzeugte, daß die Strickleiter, mittelst deren sie die senkrechte Mauer hinabsteigen mußten, derart schwanken würde, daß den Hinunterklimmenden Schwindel befallen möchte, so flochten sie sich noch ein zweites dreihundert Fuß, das heißt doppelt so langes Seil, wie die Höhe des Thurmes betrug. Dieses zweite Seil sollte durch einen festen Kloben gezogen und mit seiner Hülfe das gefährliche Schwanken der Leiter beseitigt oder doch vermindert werden. Alles in Allem hatten sie jetzt vierhundert Fuß Strick oder Schnur. Hierauf kam die Herstellung der zweihundert Sprossen ihrer Strickleiter an die Reihe, – eine Arbeit, welche auch noch manche Woche in Anspruch nahm. Im Ganzen hatten ihre Vorbereitungen eine Zeit von achtzehn Monaten erfordert bei einer fast ununterbrochenen Arbeit während Tag und Nacht!

Mit Hülfe dieser Veranstaltungen nun mußte durch den Rauchfang auf die Zinne des Thurmes gestiegen, von hier aus hundertachtzig Fuß in den Graben hinabgeklommen, dann wieder über den Wall in den Garten des Gouverneurs empor, von Neuem in den großen äußeren Graben hinunter und schließlich über das Thor von Saint Antoine hinübergeklettert werden. Welche complicirte und schwierige Manöver waren da also zu vollführen! Und immer blieb ihnen noch Eines ganz unentbehrlich, und zwar etwas, worüber sie nicht die geringste Macht hatten: eine passende Nacht. Lockte sie vielleicht Regen, Sturm, Dunkelheit zum Werke und es hellte sich nachher der Himmel auf, so entdeckte sie die Schildwache sicherlich, und sie wurden dann entweder niedergeschossen oder zurückgeschleppt in die Bastille und in finstere Verließe geworfen, ist denen sie ihr Leben lang schmachten mußten, oder doch wenigstens, bis die allmächtige Marquise todt war. Allein selbst einem solchem Dilemma hatte La Tude einigermaßen zu begegnen gesucht. Er bedachte, daß die häufigen Ueberschwemmungen der Seine den Mörtel des äußeren Walls zerfressen haben müßten und daß es deshalb nicht unmöglich sein dürfte, mittelst eines einfachen Zwickbohrers, den er sich aus den Schrauben seiner Bettstelle fabricirte, und einiger Eisenstangen aus dem Schornsteine sich einen Weg durch die Mauer auf die Straße hinaus zu bahnen. Auch diese Vorkehrungen wurden noch getroffen – und so war man bereit, das lange geplante Wagniß zu vollführen.




2.

Die Nacht des 25. Februar 1756 wurde zur Flucht ausersehen, obschon sie wußten, daß in beiden Gräben das Wasser vier Fuß hoch stand. Da sie mithin ganz mit Schlamm überzogen und bis auf die Haut durchnäßt werden mußten, so belud sich La Tude noch mit der Last eines mit zwei vollständigen Anzügen gefüllten Koffers. Unmittelbar nach dem Mittagessen des bestimmten Tages brachten sie die beiden Leitern vollends zu Stande und versteckten sie unter ihren Betten, damit der Schließer beim Hereintragen des Abendbrods nichts davon gewahr wurde. Sie waren, wie dies häufig geschah, vom betreffenden Beamten erst am Morgen durchsucht worden, fühlten sich folglich ziemlich sicher. So schnürten sie denn ihre Geräthschaften in Bündel zusammen, brachen die Eisenstangen aus dem Schornstein heraus und wickelten sie ein. Eine Flasche Branntwein ward vorsorglich mitgenommen für den Fall, daß sie etwa längere Zeit im Wasser zu arbeiten hätten.

Der so heiß ersehnte und nun, da er wirklich herannahte, doch mit so großer Angst begrüßte Moment war gekommen. Der Kerkermeister hatte die Abendmahlzeit gebracht und die Thür geschlossen. La Tude, obwohl an heftigen rheumatischen Schmerzen an dem einen Arme leidend, begann im Schornsteine in die Höhe zu klettern. Allein er hatte übersehen, sich nach Essenkehrermanier einen Rock über den Kopf zu ziehen und Ellenbogen und Schenkel durch Hüllen zu schützen, und so machte ihn der herabfallende Ruß fast blind, während das Blut ihm von Knieen und Armen herabrann. Trotz alledem aber ließ er sich nicht aufhalten in seinem Unternehmen und gelangte glücklich bis zum Kranze der Esse.

„Endlich war ich oben,“ – so erzählt er selbst, und wir setzen unsern Bericht jetzt in seinen eigenen Worten fort – „und nahm rittlings auf dem Schornsteine Platz. In dieser Stellung wickelte ich einen Knäuel Schnur ab, an deren Ende mein Gefährte unser stärkstes Seil anknüpfen sollte, um hieran unsern Koffer zu binden. Dies geschah, und ich zog das Behältniß wohlbehalten zu mir empor. Hierauf ließ ich die Schnur abermals hinunter, an die d’Alègre nun die hölzerne Leiter befestigte. Auch sie, die beiden Eisenstangen und die übrigen Bündel, deren wir bedurften, kamen dergestalt zu mir herauf. Sowie ich dies Alles beisammen hatte, ließ ich die Schnur zum dritten Male, nieder, um daran die Strickleiter emporzuheben. Als dies geschehen, stieg mein Camerad, von mir nach Kräften unterstützt, durch den Rauchfang in die Höhe. Schließlich ward heraufgezogen, was wir an Geräthschaften noch mitzunehmen hatten.

Vom Schornstein auf die Plattform des Thurmes hinab zu gelangen, bot keine große Schwierigkeit bar. Aber man denke sich: das Gepäck, mit dem wir uns beladen mußten, war so ansehnlich und so gewichtig, daß kaum zwei Pferde es hätten fortschleppen können! Allein das durfte uns nicht hindern, wir mußten vorwärts, vorwärts unter allen Umständen. Wir rollten unsere Strickleiter zusammen; sie bildete einen fünf Fuß hohen und einen Fuß dicken Haufen, und diesen Mühlstein wälzten wir langsam bis zum Schatzthurme, welcher uns für unsern Abstieg als der geeignetste erschien. An eine Mauerkante festgebunden, wurde die Leiter sachte in den Graben hinabgelassen. In derselben Weise befestigten wir unsern Kloben, über den das dreihundertsechszig Fuß lange Seil lief, und sobald wir alle unsere Bündel daneben placirt hatten, knüpfte ich meinen Schenkel an dem über den Kloben laufenden Seil fest, trat auf die Leiter, und je tiefer ich [855] hinabstieg, desto mehr rollte mein Freund an dem mich haltenden Seile ab. Allein trotz dieser Vorsichtsmaßregel war es mir bei jedem Schritte, als schwebte mein Körper in der Luft wie ein Drache, den die Knaben loslassen, so daß mich, wäre das Manöver bei hellem Tage unternommen worden, sicher alle Zuschauer für einen verlorenen Mann gehalten hätten. Nichtsdestoweniger aber kam ich unversehrt unten im Graben an.

Nachdem mir d’Alègre alle unsere Habseligkeiten herabgesandt und ich dieselben auf einer vorspringenden Stelle über dem Wasser trocken untergebracht hatte, band er seinerseits sich an das Seil fest, gab mir das Signal, daß er die Leiter betreten hatte, und ich vollzog nun unten die gleichen Manipulationen, die er oben für mich ausgeführt hatte, bis auch er die gefährliche Operation glücklich überstanden und neben mir das Wasser des Grabens erreicht hatte. Während dieser ganzen Zeit konnte die Schildwache keine dreißig Fuß von uns entfernt sein. Da es nicht regnete, patrouillirte sie auf dem Wallgange hin und her, und so war es uns nicht möglich, über den Wall hinweg den Weg nach dem Garten des Gouverneurs einzuschlagen, wie unser ursprünglicher Plan lautete. Wir mußten somit von unseren Eisenstangen Gebrauch machen. Ich nahm den Zwickbohrer zur Hand und einen der Stäbe auf die Schulter. Mein Gefährte belud sich mit dem andern. Die Branntweinflasche hatte ich auch nicht vergessen, und so ging es direct auf den Theil des Wassers los, welcher den Bastillegraben von dem am Thore Saint Antoine scheidet, zwischen dem Garten und der Wohnung des Gouverneurs. Das Wasser stand darin sehr hoch, es ging uns bis unter die Arme.

Als ich eben meinen Bohrer zwischen zwei Steine angesetzt hatte, kam eine Patrouille herangeschritten mit einer großen Laterne auf langer Stange, etwa zehn bis zwölf Fuß über unsern Köpfen. Um uns zu verbergen, mußten wir uns noch tiefer in’s Wasser hinabducken. Indeß auch diese Gefahr ging glücklich vorüber. Unsere Bohrarbeit begann, und bald war ein gewaltiger Stein aus dem Walle herausgegraben.

‚Land! Land!‘ jubelte ich d’Alègre zu, denn nun hegte ich keinen Zweifel mehr am Gelingen unserer Flucht. Wir feierten diesen Moment durch einen Trunk aus unserer Schnapsflasche, dann fiel der zweite und der dritte Stein! Die zweite Runde marschirte über uns dahin: von Neuem tauchten wir in das Schlammwasser hinab. Und dies Manöver hatten wir alle halbe Stunden zu vollführen! Bis gegen Mitternacht lag ein Haufen Steine vor uns, der einen Handkarren gefüllt haben würde.“

Einmal kam die Schildwache so nahe heran, daß sie La Tude auf den Kopf spuckte. Schon bildete er sich ein, sie seien gesehen worden, aber der Soldat ging ruhig weiter. Von einer neuen Brandweindosis gestärkt, brachen sie mit gehobenen Kräften Stein um Stein aus der Wallmauer heraus, bis die Bresche weit genug war, ihnen Durchlaß zu gewähren. Wenn man erfährt, daß die Stärke der Mauer vier und einen halben Fuß ausmachte, so wird man ermessen können, welches fast fabelhafte Werk die beiden Männer in der kurzen Zeitspanne einer Nacht zu Stande brachten. Während La Tude den Koffer herbeiholte, kroch d’Alègre durch den ausgebrochenen Gang in’s Freie hinaus. Mit welcher Freude legten sie endlich ihre frischen Kleider an! Sie waren ja auferstanden aus ihrem Grabe!

Aber noch drohten ihnen Gefahren in Hülle und Fülle. Sechszig Schritte vom Graben, auf dem Wege nach Bercey, geriethen die Beiden mit ihrem schweren Koffer in der Dunkelheit in das tiefe Bett einer Wasserleitung. Im ersten Schrecken ließ d’Alègre den Koffer fallen und klammerte sich an La Tude an, welcher nur mit knapper Noth seinen Freund und sich aus dem Wasser emporzog. Endlich standen sie wieder auf festem Boden. Es schlug endlich vier Uhr Morgens. Voller Rührung umarmten sie sich, dann sanken sie auf die Kniee nieder und dankten Gott für ihre Rettung. Der erste Miethwagen, dem sie begegneten, ward angehalten. Ohne viel Umstände sprangen sie hinein und ließen sich nach dem Kloster St. Germain des Prés fahren, wo sie ihre nächste Zuflucht fanden. Als Bauern verkleidet, schlugen sie einen Monat später, auf verschiedenen Wegen, die Route nach der Grenze ein. Sie erreichten das Ausland, aber d’Alègre ward in Brüssel, La Tude in Amsterdam wieder ergriffen.

Zum zweiten Male der Bastille überwiesen, wurde der Letztere, an Händen und Füßen gefesselt, in einen unterirdischen Kerker geworfen. Indeß auch jetzt verließ ihn die Hoffnung nicht. Im Jahre 1762 schrieb er an die Marquise von Pompadour: „Ich leide nun schon vierzehn Jahre, haben Sie endlich Erbarmen, denken Sie an das Blut unseres Heilands, seien Sie ein Weib, Madame, fühlen Sie Mitleid mit meinen Thränen und mit denen einer alten siebenzigjährigen Mutter!“

Die ruchlose Buhlerin hatte kein Mitleid. Grausam wandte sie ihr Antlitz von dem Unglücklichen ab, um ihren Freuden nachzugehen. La Tude ließ sich durch dies Alles nicht beugen. Sein erfinderischer Kopf sann fort und fort auf Mittel zu seiner Befreiung. Durch die Freundlichkeit des Gefängnißgeistlichen im Stillen mit Papier, mit Tinte und Feder versorgt, schrieb er auf kleine Zettel, welche er durch die Gitter seines Kerkers nach einem Hause in der Straße Saint Antoine fliegen ließ. In demselben wohnten ein paar alte Damen, denen das Schicksal des Armen zu Herzen ging. Eines Morgens, es war im April des Jahres 1764, sah La Tude am Fenster dieser Damen ein Stück Papier angeheftet, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand:

„Gestern, am 17., ist Frau v. Pompadour gestorben.“

Auf der Stelle wandte sich La Tude an den Minister und bat um seine endliche Freilassung. Der Minister wollte wissen, auf welchem Wege der Gefangene die Kunde vom Tode der Allmächtigen erhalten habe. La Tude verweigerte jedwede Auskunft. Man versenkte ihn denn wiederum in ein unterirdisches Verließ und transportirte ihn im August in Ketten nach Vincennes. Ein Jahr darauf, an einem sehr nebeligen Tage, stieß La Tude, während er auf dem Walle promenirte, die Schildwache bei Seite, entwaffnete seine Wächter und entsprang. Er wurde wieder festgenommen und in ein schauderhaftes Gefängniß gesteckt. Nach der Thronbesteigung Ludwig’s des Sechszehnten interessirte sich der edle Malesherbes für den Gefangenen. Man erklärte ihn für wahnsinnig und schickte ihn nach Charenton. Nach zwei Jahren wurde er aus dem Irrenhause entlassen und ihm die Freiheit gegeben unter der Bedingung, daß er Paris nicht wieder betrete.

La Tude war so thöricht, diese Bedingung außer Acht zu lassen. Man nahm ihn abermals fest und sperrte ihn endlich in einem Käfig in Bicêtre ein. Erst 1784 erhielt der unglückliche Dulder, auf die rastlose Verwendung einer hochherzigen Frau, einer Madame Le Gros, seine Freiheit factisch wieder und zugleich eine kleine Pension. Nach der Zerstörung der Bastille wurde La Tude der Löwe des Tages. Sein Name glänzte fast in allen patriotischen Reden. Mit seinem Bildnisse wurden seine Leitern und Werkzeuge im Louvre öffentlich ausgestellt. Die Nationalversammlung bewilligte ihm ein Jahrgeld von dreitausend Franken; zugleich wurden die Erben der Marquise v. Pompadour verurtheilt, ihm eine Entschädigung von sechzigtausend Livres zu zahlen. Von diesen Summen empfing La Tude jedoch nur zehntausend Franken. Er schrieb seine Memoiren, denen unser Buch seine Angaben entlehnt, und starb, verschollen und vergessen, erst 1805 als ein Greis von achtzig Jahren, trotz aller der unsagbaren Leiden, die er in seinen vielen Kerkern erduldet hatte.

„Fünfunddreißig Jahre meines Lebens,“ heißt es in seinen Denkwürdigkeiten, „habe ich im Gefängnisse verseufzt, zwölftausenddreiundsechszig Tage in verschiedenen Kerkern schmachten müssen. Während dieser endlos langen Tage lag ich ohne Hülle auf Stroh, von ekelhaftem Gewürm gequält und auf ein winziges Quantum von Brod und Wasser reducirt. Dreitausendsiebenundsechzig Tage stak ich in feuchten, stinkenden Verließen und zwölfhundertachtzehn dieser gräßlichen Tage und noch gräßlicheren Nächte scheuerten Ketten meine Hände und Füße wund. Ein solches Uebermaß von Pein, wäre das nicht zu viel selbst für den abscheulichsten der Verbrecher? Und ich hatte nichts begangen als einen unbesonnenen Jugendstreich!“

Wenn man dergleichen Leidensgeschichten liest, wie könnte man da noch zweifeln, daß das Volk Grund hatte zu seiner Revolution und daß alle Gräuel derselben noch lange nicht die Unthaten des Absolutismus aufwogen? Daß die Bastille das erste Opfer der Volkswuth wurde, wer fände das nicht begreiflich?

H. Sch.

 

[856]
Blätter und Blüthen.


Zur Steuer der Wahrheit. Als ich vor Kurzem nach fast anderthalbjähriger Abwesenheit nach Frankreich zurückkehrte, um daselbst Freunde und Bekannte zu besuchen, machte ich mich wohl auf viel Haß und eine Fluth von Verwünschungen gegen die Deutschen gefaßt; allein meine Erwartungen sollten noch übertroffen werden. Ich fand, daß den in ihrer Eitelkeit freilich tief verletzten Franzosen auch diesmal wieder der Maßstab für ihre Gefühle und Handlungen verloren gegangen war, und ich konnte nicht genug staunen, wie gemein und kleinlich sich die meisten Journale gegen den siegreichen Feind ausließen. Man erging und ergeht sich noch in den albernsten Erzählungen über die „Barbaren“ und scheut sich nicht, selbst die höchsten Würdenträger des deutschen Reichs mit Koth zu bewerfen. Das Publicum aber liest mit Vergnügen diese schmutzigen Geschichten, um sie voll patriotischen Eifers weiter zu verbreiten.

Unter den vielen Abscheulichkeiten, die man dem Feinde nachredet, sind es besonders zwei, welche hier zu Lande zur stehenden Phrase geworden sind, und die man von nun an leider den Deutschen als Nationaleigenschaft beilegt; nämlich eine bis an’s Unsittliche streifende Unreinlichkeit und Uhrendiebstahl!

Ueber den ersten Vorwurf will ich mich hier gar nicht verbreiten; was aber den zweiten anlangt, so mag als Beleg dafür, wie gern sich die große Nation in Uebertreibungen ergeht, folgende Thatsache dienen.

„Was ist wohl aus Ihrem hübschen Landgut an der Marne geworden?“ fragte ich unlängst die Baronin X., die nicht fertig werden konnte, mir von den Gräuelthaten der Barbaren zu erzählen.

„Ach, mein armes U…,“ seufzte die Dame, „das ist verwüstet, ganz verwüstet!“

„Was?“ sagte ich, „es liegt ja doch ganz abseits von der Straße, und meines Wissens hat in der Nähe kein Gefecht stattgefunden.“

„Das thut nichts,“ meinte die Dame, „die Prussiens fanden doch den Weg dahin, und hielten Dorf und Schloß während einiger Zeit besetzt. Letzteres war leider ganz verlassen. Die Person, welche mit der Aufsicht desselben betraut war, hatte sich nach Paris geflüchtet und sämmtliche Schlüssel mitgenommen. Es blieben nur die in einem abseits gelegenen Häuschen wohnenden alten Gärtnersleute zurück, welche das Schloß vor den Eindringlingen nicht zu schützen vermochten. Diese sprengten alle Thüren und hausten nun auf ihre Weise, das heißt ganz fürchterlich. Möbel wurden zertrümmert, Tafelgeschirr, Gläser etc. muthwilliger Weise zerschlagen, das Bettzeug nach deutscher Gewohnheit auf’s Aergste beschmutzt, Wäsche, Bettdecken, Küchengeschirr, Alles, ja sogar Schlösser und Schlüssel der Thüren und Schränke wurden fortgeschleppt.“

„Das ist doch nicht möglich,“ unterbrach ich die Dame. „Was sollten denn die gegen Paris vorrückenden Soldaten mit all’ dem alten Eisen anfangen?“

„O, diese Leute stehlen des Vergnügens halber und aus Gewohnheit,“ meinte Baronin X.

„Nun, und die Uhren, die sind wohl auch alle verschwunden?“ sagte ich in Erwiderung auf diese Beschuldigung.

„Man hat eine kleine alterthümliche Pendule gestohlen,“ erwiderte die Dame etwas verlegen, und sich gegen mich neigend, flüsterte sie: „Der Diebstahl wurde eigentlich von Franzosen verübt, allein Sie verstehen, es ist besser, man schiebt selben den Deutschen in die Schuhe. – Wenn Sie wollen,“ fügte sie dann laut hinzu, „wollen wir mitsammen nach U… reisen, um die Verwüstungen in Augenschein zu nehmen.“

Ich war hierzu gern bereit, obwohl ich mir wenig Vergnügen von diesem Ausfluge versprach. Sollte ich ihn doch nur unternehmen, um ein Stück deutscher Barbarei zu sehen!

Man sandte einen Diener voraus, der mindestens einige Zimmer zum Empfang der Herrschaft in Stand setzen sollte. Der Zufall wollte es, daß ich um einen Tag früher als die Besitzerin des Schlosses in U… ankam. Mit schwerem Herzen näherte ich mich dem Gebäude. Was werde ich wohl Alles zu sehen bekommen? fragte ich mich, als der Wagen das große Gitterthor erreichte und in den Hof einbog. Da stand es vor mir, das nette freundliche Schlößchen und sah so schmuck aus wie je; so schmuck und zierlich wie der Rasen, die Blumen, die Wege, die es von allen Seiten umgaben. Mit einem Sprung war ich vom Wagen, und die Freitreppe hinaneilend, begab ich mich vorerst in den Salon, dessen Anblick mir ein freudiges Ah! entrang. Ich fand ihn genau so, wie ich ihn vor Jahren verlassen hatte; Spiegel, Lampen, die mit werthvollen Stoffen überzogenen Möbel, Alles war unversehrt geblieben. Am Kamin prangte wie ehedem eine große, schön vergoldete Pendule mit Glassturz, und siehe da! selbst die Schlösser und Schlüssel fehlten nicht an den Thüren.

„Der Feind hat wohl weniger hier gewüthet, als man glaubte?“ fragte ich den mich begleitenden Diener.

„Das kommt mir auch so vor,“ meinte der Alte, und um seine Verdienste geltend zu machen, fügte er hinzu: „es sah wohl nicht ganz sauber hier aus, und war Alles im Hause d’runter und d’rüber; allein nach und nach fanden sich die Sachen doch wieder zusammen, und dürfte jetzt wohl nicht viel mehr fehlen.“

Ich ging nun die übrigen Gemächer zu besichtigen und fand nirgends eine Spur jener gräßlichen Verwüstung, die ich in Folge all’ der Erzählungen erwartet hatte. Eine ganz besondere Genugthuung gewährte mir der Anblick der vielen Pendeluhren, die alle auf gewohntem Platze standen, und daher nicht nach Pendulopolis gewandert waren. Mit inniger Freude begrüßte ich noch in’s Besondere zwei unversehrt gebliebene Möbel, deren mögliches Schicksal ich beinahe schon beweint hatte. Es waren dies zwei wunderschöne Schränke aus Rosenholz mit Bronzeverzierung, wahre Kleinode. Sie waren fest verschlossen gewesen. Als die rauhen Krieger kamen, wollten sie wahrscheinlich sehen, was die hübschen Dinger enthielten, statt aber die zierlichen Schlösser mit Gewalt zu sprengen, ließ man sie unberührt, und begnügte sich aus der Rückwand einige Latten auszubrechen; eine Handlungsweise, die sehr zu Gunsten der deutschen Barbaren spricht, welche nach französischen Ansichten nicht den mindesten Sinn für Kunst und Schönheit haben sollen. Ich dehnte meine Inspection natürlich auch auf Bettzeug und Matratzen aus, und fand zu meiner Befriedigung hier keine Spur jener Rohheit, welche man, wie oben bemerkt, als deutsche Gewohnheit bezeichnet.

Vergnügt verließ ich das Haus, um den schön gepflegten Garten zu bewundern und „Lieb’ Vaterland“ vor mich hinsummend, betrat ich die Wohnung der Gärtnersleute, um mir ihre Erlebnisse erzählen zu lassen. Die armen Alten hatten viel ausgestanden. Die Presse hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Deutschen als entsetzliche Cannibalen zu schildern. Kein Wunder also, daß der arme, alte Mann aus Angst und Schrecken vor dem heranrückenden Feinde verrückt wurde. Sein Weib hatte nicht nur die Sorge um den kranken Mann, sondern auch die Last der Einquartierung zu tragen. Als die ersten Preußen kamen, waren sie sehr zornig, das Schloß verlassen und versperrt zu finden. Man öffnete mit Gewalt und richtete sich ein, so gut es ging. Weil Niemand da war, den Soldaten zu wehren, so benutzten diese ohne Unterschied alles, was ihnen in die Hände fiel. Was kümmerte sie die Feinheit der Wäsche, oder die Kostbarkeit des mit Chiffre und Krone verzierten Porcellangeschirrs? sie nahmen eben, was sie fanden, und mußte bei dieser Wirthschaft natürlich viel zu Grunde gehen. – Truppen kamen und gingen. Endlich trat eine Pause ein. Anfangs December war weder im Dorfe, noch in dessen nächster Nähe ein deutscher Soldat zu sehen. Um diese Zeit ward von Einheimischen Nachts ein Einbruchsdiebstahl im Schlosse verübt. Wäsche, Bettzeug, die oben erwähnte Pendeluhr wurde nebst vielen anderen Sachen entwendet. Die alte Gärtnersfrau eilte in’s nahe Städtchen, um bei Gericht die Anzeige zu machen. Es fand wohl eine Untersuchung statt, allein da man der Diebe nicht gleich habhaft werden konnte, ließ man sie laufen; man hatte eben damals andere, größere Sorgen. Nach der Capitulation von Paris kam wieder Einquartierung in’s Dorf. Diesmal waren es Baiern. Das Schloß war durch längere Zeit von Maior R. v. W. und dem Oberlieutenant A. H. bewohnt, deren Benehmen nichts zu wünschen übrig ließ. Auch im Dorfe hörte man keine Klage über die fremden Truppen; man lobte vielmehr allgemein deren ausgezeichnete Haltung. Es ist überhaupt eine bezeichnende Thatsache, daß das Landvolk und überhaupt Leute, welche mit den Deutschen in nähere Berührung kamen, weniger Haß gegen dieselben zeigen, ja ihnen oft sogar Gerechtigkeit widerfahren lassen, während die Städter, in’s Besondere aber jene Personen, welche oft ohne Rücksicht auf ihre Stellung und ihre Berufspflichten Haus, Hof und Gemeinde im Stich ließen, nur um das liebe Ich zu retten, von Gift und Galle gegen die Fremden überfließen. Wahrscheinlich wollen sie durch derlei patriotische Ergüsse die Feigheit bemänteln, welche sie sich ihren Mitbürgern gegenüber zu Schulden kommen ließen.

Ich schließe meinen Bericht, indem ich noch erwähne, daß ich, durch die eingezogenen Erkundigungen in meinem Nationalgefühl vollkommen beruhigt, mit Vergnügen die Ankunft der im Grunde gar nicht so sehr zu bedauernden Schloßbesitzer erwartete. Diese waren wohl recht erfreut, ihr Eigenthum zum großen Theile unversehrt wieder zu finden; allein ich sah es ihnen im Gesichte an, daß es ihren patriotischen Herzen wohl gethan hätte, etwas mehr Verwüstung zu sehen, und ich bin überzeugt, daß besonders Baron X., ein eingefleischter Deutschenfresser, mit Vergnügen einige „Pendules“ vermißt hätte, nur um in das allgemeine Halloh einstimmen zu können.

Wann werden wohl die sonst so liebenswürdigen und geistreichen Franzosen zur Einsicht gelangen und zugeben, daß es auch außer ihnen noch civilisirte Völker auf Erden giebt?

     Paris, December 1871.F. Arnolt.     


Meister Camphausen. Unsere Berliner Leser werden sich noch des großen Aufsehens erinnern, welches im Laufe des vergangenen Jahres zwei für den Kaiser Wilhelm gemalte und im Kolossalmaßstab ausgeführte Reiterbilder des Meisters Camphausen in der Ausstellung erregten. Beide Bilder waren dem Berliner Publicum nicht gleichzeitig, aber doch in rascher Aufeinanderfolge vorgeführt worden, das eine den Großen Kurfürsten, das andere Friedrich den Großen darstellend, also die beiden Gründer der gegenwärtigen Größe des preußischen und – dürfen wir heute sagen – somit des deutschen Staates.

Den Lesern der Gartenlaube ist Camphausen selbst längst aus seinen vortrefflichen Leistungen bekannt, und wir glauben nicht, daß wir sie erst an die meisterhaft ausgeführten Reiterbilder zu erinnern brauchen, welche wir während des jüngsten Krieges gebracht und die so allgemeine Anerkennung gefunden haben wegen der immer originellen und oft genialen Auffassung, wegen der realistisch-flotten, stets den Meister bekundenden Ausführung und wegen der überraschenden Portraittreue, welche der Maler selbst in diesem kleinen Maßstabe seinen Figuren zu geben wußte.

Wenn wir in der heutigen Nummer das wohlgetroffene Portrait Camphausen’s vorlegen, können wir es gewiß nicht besser begleiten als mit der xylographisch meisterhaften Wiedergabe jener beiden, Eingangs dieser Zeilen erwähnten Reiterbilder, welche den glücklichen Realismus, die Frische und, wir möchten sagen, die Volksthümlichkeit der Camphausen eigenthümlichen künstlerischen Kraft so voll bekunden, wie dies nur die besten und berühmtesten seiner Arbeiten (wir erinnern an die viel bewunderten Bilder aus der Friedrichszeit) gethan.

Auf schnaufendem Schecken, den er mit fester Hand hart im Zügel führt, hält der Sieger von Fehrbellin im freien Felde, die Schärpe um den blauen, golden galonnirten Rock, auf das lang niederwallende Haar den breitkrempigen Federhut gestützt, die Beine in schweren, hohen Stiefeln. Die Klinge fährt eben blitzend aus der Scheide, den Soldaten den Weg zum

[857]

Wilhelm Camphausen.
Nach einer Photographie gezeichnet von Adolf Neumann.


Siege zu zeigen, während hinter dem Kurfürsten der tapfere General Derfflinger auf seinem Rappen nach einem Reiterregiment ausschaut, das eben im Sturme vorübersaust und dem der Trompeter sein schmetterndes Signal giebt. Der feste, sichere Blick, das Energische, Selbstbewußte, das in Haltung und Geberde des Kurfürsten so deutlichen Ausdruck findet, charakterisirt meisterhaft den immer auf klare Ziele gerichteten, ehrgeizigen und stets erfolgreich nach Ruhm und Größe strebenden Sinn des großen Kurfürsten. Friedrich Wilhelm war jedoch, wie wir hier beifügen wollen, nicht nur der Gründer der preußischen Militärmacht, er war auch der wirklichen Förderung des allgemeinen Wohlstandes, des Handels, der Künste, der Wissenschaften zugethan, wenngleich andererseits nicht verschwiegen werden soll, daß er vor Allem jenen Waffenstillstand mit Frankreich verschuldete, vermöge dessen der räuberische Ludwig der Vierzehnte in dem Besitze alles Dessen blieb, was er sich bis zum 1. August 1681 angeeignet hatte, das nun wiedergewonnene Straßburg und die Kehler Schanze mit eingeschlossen.

In besserem Sinne hat Friedrich der Große die Interessen Deutschlands gegen Frankreich vertreten. Wir haben keinen Anlaß hier auf die Heldenlaufbahn des genannten Königs zurückzukommen; jeder Schuljunge allüberall in Deutschland weiß von seinen Kriegen und Siegen zu erzählen. Camphausen hat seinen Helden, wie er auf dem galoppirenden Schimmel dahinsprengt, vortrefflich aufgefaßt, in der knappen strammen Haltung, den historischen Krückenstock in der Hand, das blitzende Auge in die Ferne gerichtet. Unmittelbar hinter ihm stürmt der alte Haudegen Ziethen auf unbändigem Rosse daher, während wir auf der andern Seite den tapfern General v. Seydlitz erkennen, den verwegenen und vielleicht besten Reiterführer aller Zeiten.

Wie sämmtliche Bilder Camphausen’s, so zeigen auch diese ihn wieder als einen Meister in der Darstellung des Pferdes, das er mit allen seinen Eigenthümlichkeiten und Schönheiten zum Ersten wohl studirt haben mag, als er nach vorausgegangenen vierjährigen Kunststudien seiner Militärpflicht als Freiwilliger im 8. Husarenregiment genügte. Camphausen ist vornehmlich Schlachtenmaler, pflegte sich aber in der Wahl seiner Stoffe niemals an eine bestimmte Geschichtsperiode zu binden, wenngleich er in seinen Arbeiten, deren einzelne aufzuführen hier unmöglich ist, mit entschiedener Vorliebe die Kampf- und Schlachtscenen des 17. und 18. Jahrhunderts dargestellt hat, Gefechte aus der Zeit Cromwell’s, des dreißigjährigen Krieges und der drei schlesischen Kriege. Costümtreue, Richtigkeit der Zeichnung, ein unmittelbar wirkender und doch künstlerisch durchgebildeter Realismus, geistige Frische und Lebendigkeit charakterisiren seine Schöpfungen, unter denen die schon erwähnten Arbeiten aus der friedericianischen Zeit und den Befreiungskriegen, dann „Blücher’s Rheinübergang bei Caub“ wohl die populärsten geworden sind. Der Künstler, der als Professor an der Akademie seiner Geburtsstadt Düsseldorf lebt, steht erst im Anfang der fünfziger Jahre – es ist also mit Sicherheit anzunehmen, daß wir von seiner Meisterhand noch viel Schönes und Bedeutendes erwarten dürfen.




Eismeer und Tintenfaß. Die Gartenlaube hat vor drei Jahren die Bildnisse der „Gründer und Führer der ersten deutschen Nordpolexpedition“ – Capitain Koldewey, Geograph Petermann, Obersteuermann Hildebrandtmitgetheilt. Die dort dargestellte Dreieinigkeit ist leider keine Wahrheit mehr; Petermann hat gegen die beiden Anderen einen öffentlichen Angriff ausgeführt, gegen welchen diese sich zur [858] Wehre stellen. Auf welcher Seite das Recht ist und der Sieg sein wird? Wir erzählen nur das Thatsächliche und überlassen es unseren Lesern, nach ihrem Urtheil Partei zu ergreifen.

Bekanntlich sind die Nordpolexpeditionen keine neue Erfindung. Schon wenige Jahre nach der Entdeckung Amerikas hat der Venetianer Cabot auf nordwestlicher Fahrt dasselbe erreicht, was seinem Landsmanne, dem Genuesen Colombo in südwestlicher Richtung gelungen war: die Entdeckung des Festlandes von Amerika. Cabot’s Söhne versuchten sogar, ebenfalls von England aus, um 1520 die erste nordwestliche Durchfahrt, die dann bis zur Gegenwart das Hauptziel aller Nordpolexpeditionen geblieben ist; sie kamen bis in die Hudsonsstraße.

Die Zahl der Nordpolfahrten von damals bis heute, durch vierthalb Jahrhunderte, ist so groß, daß ihre Geschichte ein starkes Buch bildet. Ihre einzige Ausbeute war bis jetzt eine wissenschaftlich-geographische; praktische Fingerzeige brachten sie nur für die Walfischfänger. Dagegen rückte die „Nordwestliche Durchfahrt“ ihrer Wahrscheinlichkeit nicht näher, und wie viel unschätzbare Menschenleben waren verloren gegangen von den kühnen Cortereals, deren Tod das Glück der Eskimos war, bis zur letzten Expedition der Lady Franklin, welche die unglückliche Frau nach ihrem Manne ausschickte! Als im Herbst 1852 auch diese Schiffe mit keinem andern Erfolge als der Vermuthung zurückkamen, daß mittelst starker Dampfer durch den Wellington-Canal vielleicht bis zur Behringstraße vorgedrungen werden könne, entschied die öffentliche Stimme sich für den Schluß dieser Unternehmungen.

Dies wäre wohl auch geschehen, wenn es nicht eine große Wahrheit gäbe, die ein geistreicher Mann in dem Satz aufgestellt hat: „Es ist ein psychologischer Zug, der, wie von Individuen, so auch von Nationen gilt, und der die Erringung großartiger Resultate wesentlich befördert hat: der, daß der Mensch, wenn er einmal Opfer und bedeutende Kraftanstrengungen an die Erreichung eines Ziels setzte, mit einem gewissen Eigensinn auch dann noch auf seinen Bestrebungen beharrt, nachdem sich längst herausgestellt hat, daß die Erreichung des ursprünglichen Ziels unmöglich ist.“ Dazu kommt noch, daß die letzten Nordfahrten hauptsächlich von Völkern germanischen Stammes, Engländern und Nordamerikanern, ausgeführt worden waren, und daß endlich auch in den Deutschen der alte abenteuerfrohe Unternehmungs- und Forschungstrieb erwachte und sie zu dem großen Wagniß fortriß.

Ueber jene erste deutsche Nordpolexpedition, die vom 24. Mai bis 10. October 1868 dauerte, hat die Gartenlaube in dem Eingangs genannten Artikel mit den drei Bildnissen der Unternehmer ausführlich berichtet.

Die zweite Expedition, mit trefflicher Ausrüstung zweier Schiffe, des Dampfers „Germania“ und des Seglers „Hansa“, verließ am 15. Juni 1869, im Beisein des Königs Wilhelm, Bremerhafen. Furchtbares hatten die kühnen Männer zu ertragen, sie mußten den Winter zwischen dem Eise verbringen, die „Hansa“ barst und ging unter, eine Eisscholle wurde das Rettungsfahrzeug der 34 Mann Besatzung. Aber kein Menschenleben ging verloren. Die Schiffbrüchigen kamen auf fremden Schiffen am 1. September 1870 vor Kopenhagen an, und hier traf sie der heimtückische Dänengruß: „Es ist Krieg zwischen Frankreich und Deutschland, den Deutschen wird es schlecht gehen“. Glücklich nach Hamburg gelangt, feierten sie dort den Sieg von Sedan mit. Die Germania kam am 11. September in Bremerhafen an, das sie vor 453 Tagen verlassen hatte. Führer dieser Nordpolarfahrt war abermals Koldewey, der Capitain der „Germania“, Hegemann Capitain und Hildebrandt Obersteuermann der „Hansa“. Eine Beschreibung derselben in den „Vorträgen und Mittheilungen“ von Koldewey, Dr. Boergen, Dr. Copeland, R. Hildebrandt, Dr. v. Freeden, Dr. A. Pansch und Oberlieutenant Julius Payer, herausgegeben von dem „Verein für die deutsche Nordpolarfahrt zu Bremen“, ist bei D. Reimer in Berlin erschienen. Wir kommen in einer späteren Nr. näher auf die sehr interessante Schrift zurück.

Dieser neue Verlagsort eines geographischen Entdeckungsbuches ließ uns sofort den Zusammenzug dunkler Wetterwolken über dem Himmel Gothas befürchten, und richtig: das Wetter ist ausgebrochen. – Im Frühsommer dieses Jahres unternahmen der obengenannte Oberlieutenant Julius Payer und Weyprecht auf Kosten des Nordpolfonds und mit selber gesammelten Geldern von Tromsoe aus mit einer norwegischen Jacht eine „Vorexpedition“ zur Untersuchung des Meeres zwischen Spitzbergen und Nowaia Semlja, welcher im nächsten Jahr wieder eine größere Unternehmung folgen soll. Wie nun Dr. Petermann angeblich Resultate dieser Fahrt zu Angriffen gegen die gesammte Führung der zweiten Nordfahrt ausbeutete, darüber geht uns folgende Mittheilung zu:

Feuer im Eismeere! Herr Petermann, der eifrige Registrator aller geographischen Vorgänge, hat jüngst die Nachricht verbreitet von der „Entdeckung eines offenen Polarmeeres durch Payer und Weyprecht im September 1871“. Veranlassung hierzu gab das Telegramm, welches die Rückkehr der beiden Nordpolfahrer aus dem hohen Norden am 3. October nach Tromsoe wörtlich also meldete: „September. Offenes Meer von 42° bis 60° östl. L. v. Gr. über 78° n. Br. verfolgt. Größte Breite 79° n. Br. auf 43° östl. L., hier günstige Eiszustände gegen Nord, wahrscheinliche Verbindung mit Polynia gegen Ost, wahrscheinlich günstigster Nordpolweg.“ – Das wäre soweit ganz erfreulich gewesen.

Aber Herr Petermann goß auf den Freudenzucker dieser Nachricht ätzende Vitriolsäure. Er knüpfte an seine Mittheilung auch „die unerquicklichsten Differenzen“, die schon bei der zweiten deutschen Nordpol-Expedition durch die Verschiedenheit der Ansichten zwischen Capitain Koldewey und ihm entstanden waren, und that dies mit herausfordernder verletzender Suffisance. Wie zu erwarten, hat Koldewey diese Insinuationen seemännisch derb zurückgewiesen („Hansa“ Nr. 22, 23), und wurde dabei nachdrücklich, wenn auch maßvoll, von Dr. Boergen secundirt.

Seitdem Petermann’s mit großer Zuversicht tracirter Weg zum Nordpol an der Ostküste Grönlands sich nach äußersten Anstrengungen der ersten deutschen Nordpolfahrt als nicht prakticabel erwiesen, verlegt er ihn ostwärts von Spitzbergen, während Koldewey wie Osborn ihn im Westen von Grönland suchen. Das ist aber gegen das Dogma seiner Infallibilität. Immer und immer kommt er darauf zurück, daß Koldewey mit einem Dampfer nur bis 75“ 31‘ N. vorgedrungen, während andere Seefahrer hier oder dort mit viel ungenügenderen Schiffen höhere Breiten erreicht hätten. Will man aber Vergleichungen zwischen den Leistungen der einzelnen arktischen Seefahrer machen, so ist es durchaus unrichtig, nur die erreichten Breiten nebeneinander zu stellen, weil sich dieselben auf ganz verschiedene Localitäten beziehen, wo ganz verschiedene Eisverhältnisse obwalten mochten; man muß vielmehr die im Eise selbst zurückgelegten Distanzen vergleichen. Sichtlich um Koldewey’s Leistungen herabzusetzen, legt Petermann der nur vermutheten Wahrscheinlichkeit der beiden Seefahrer schon eine Bestimmtheit bei, die der anspruchslosen vorsichtigen Wahrheitsliebe der wackern Seemänner ursprünglich fremd gewesen zu sein scheint. Ein später veröffentlichter Bericht Payer’s an den „Verein für Geographie und Statistik“ zu Frankfurt am Main, abgedruckt in der Nr. 297, am 26. October, in der „Kölnischen Zeitung“, hält mit Anlehnen an Petermann’s Ansicht über den geeignetsten Weg, um in „das Herz des Polarbassins“ vorzudringen, die Behauptung aufrecht, daß ihre Erfahrungen die Existenz eines ausgedehnten offenen Meeres im Norden Nowaja Semljas nachgewiesen hätten.

Dem entgegen erklären englische, deutsche und schwedische Naturforscher und Seefahrer die Unmöglichkeit der Erreichung des Pols auf einem Schiffe und das Nichtvorhandensein eines sogenannten offenen Polarmeeres für wissenschaftlich erwiesen.

Wie dem auch sei, die Gehässigkeit des Streites ist zu beklagen, denn dergleichen Vorgänge können nur geeignet sein, den Eifer für deutsche Nordpolfahrten abzukühlen und zu ernster Erwägung zu leiten, ob denn die verhoffte wissenschaftliche Ausbeute derselben in entsprechendem Verhältniß stehe zu dem Einsatz an Gut und Menschenleben. Die Aufsuchung des magnetischen Pols, der nordwestlichen Durchfahrt, so lange man dieselbe prakticabel glaubte, waren einst doch preiswürdigere Probleme, als die, um welche es sich nunmehr handelt. Wie aber muß uns vollends Herrn Petermann’s Eifer im Interesse der Ehre deutscher Wissenschaft erscheinen, wenn man erfährt, wie hoch der Mann seine Thätigkeit dafür zu schätzen weiß! Während er „die wahrhaft opulente und luxuriöse Ausrüstung“ der Schiffe der zweiten Expedition wahrhaft bejammert, eine Ausrüstung, die allein es möglich gemacht hat, daß Capitain Hegemann mit der ganzen Mannschaft der verlorenen „Hansa“ die unerhörte Fahrt auf einer Eisscholle unter den furchtbarsten Schrecknissen glücklich beendete und die Besatzung der „Germania“ während des arktischen Winters und unter den ungeheuren Anstrengungen und Strapazen der Schlittenreise gesund und frisch erhalten ward – einen „Luxus“, der meistentheils in Geschenken aus Bremen und den Rheingegenden bestand –, hat er selbst, der Herr Dr. Petermann, für seine Arbeit, für Polarreisen vom warmen Ofen aus zu agitiren, also „für seine Bemühungen um die beiden deutschen Polar-Expeditionen sich dreitausend Thaler, sage dreitausend Thaler, aus dem nationalen Fonds gut schreiben lassen“. Ist es nicht, als wäre von einem modernen „Gründungsproject“ die Rede? –

Soweit unser Gewährsmann. Die letztere Angabe ist zuerst von Koldewey, S. 193 der „Hansa“ dieses Jahres, aufgestellt. Ob sie bereits eine Widerlegung erfahren hat, ist uns unbekannt.


Mein erster Lehrmeister in der alt-germanischen Mythologie. Es sind nun schon viele Jahre her, da traf ich einmal mit einem jungen Bauernburschen zusammen, der recht aufgeweckt war, wie es der fränkische Stamm der Rheinpfälzer zumeist ist, auch eine gute Schule durchgemacht hatte, mich aber durch ein absonderliches Stück Aberglauben in großes Erstaunen versetzte.

„Sehen Sie“ – sagte er in einem beinahe geisterhaften Tone, und sein Gesicht nahm dabei einen erschrockenen Ausdruck an – „sehen Sie! man kann Alles über die Zukunft erfahren: wie es in der Welt zugehen wird, und wie Eins auf das Andere folgt. Nur muß man ein Mittel gebrauchen, das ich nicht anwenden möcht’, und gewiß, lieber Herr, wollen auch Sie es nicht thun!“

Ich vermuthete sofort, daß es sich um irgend ein Zaubermittel handle, dessen Gebrauch nach abergläubischer Volksmeinung Den, der es anwendet, der Hölle zuführt, und ich erwiderte dem jungen Bauern: „Nun, lassen Sie einmal sehen, vielleicht wende ich es doch an!“

In noch schreckhafterem Tone, als zuvor, raunte er mir darauf zu:

„Wenn eine Person am Oster-Sonntag rückwärts zur Kirchenthür herausgeht und dabei ein Zeichen von Verachtung macht; und wenn die Person währenddem ein Ei zwischen den Fingern hält und durch dasselbe schaut und zugleich laut lacht, so sieht sie die Zukunft und Alles, was kommt, in dem Ei! Aber, um Gotteswillen, lieber Herr, Sie dürfen’s nicht thun, und Sie werden’s nicht thun; denn es geht um die Seel’! Und ich thu’ es gewiß nicht!“

Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren und dachte: wenn mir je eine ganz sinn- und inhaltslose Thorheit vorgekommen ist, so ist es diese wunderbare Eiergeschichte. Einen Augenblick hatte ich den Burschen sogar in Verdacht, er sei im Grunde ganz aufgeklärt und wolle nur einem Städter schwankweise Eins aufbinden. Ich fand jedoch nachher heraus, daß es ihm heiliger Ernst mit seinem Aberglauben war und daß er in Furcht schwebte, mein Seelenheil könnte durch Vornehmen einer solchen kirchenwidrigen Eierschau Schiffbruch leiden.

Bis dahin hatte ich mich wohl schon mannigfach mit alt-deutscher Dichtung und Volkssagen beschäftigt. Auch waren mir von Kindheit an die Märchen in lebendigster Weise bekannt geworden, nämlich durch den Mund der im Hause dienenden Mädchen vom Lande, die sie getreu dem Knaben so erzählten, wie ich sie später in der Grimm’schen Sammlung las. Gleichwohl vermochte ich beim ersten Hören jenes „bäurischen Unsinns“ nichts Anderes darin zu entdecken, als eben eine platte Abgeschmacktheit.

[859] Theils eingehendere Studien, theils bloße Zufälligkeiten führten mich später darauf, da einen tieferen Zusammenhang und eine Bedeutung zu erkennen, wo anfänglich nichts als tölpelhaftes Kauderwälsch vorhanden zu sein schien. In den gründlichen, mit Fleiß und Liebe zum germanischen Alterthum entworfenen Werken unserer Forscher sind heute die Beweise in Menge zusammengehäuft, daß der angebliche bäurische Unsinn rückführbar ist auf eine zu ihrer Zeit nicht bloß großartig gedachte, sondern auch mannigfach mit Schönheit gezierte Götter- und Heldensage und heidnische Weltanschauung, deren einzelne dichterische Fabeln ebensowohl eine Bedeutung haben, wie etwa die griechische Märe von dem als goldener Regen herabsteigenden Zeus. Der Sinn der Dichtung mag oft durch überreiche Bildnerei, durch eine in’s Wilde gewachsene, aller kritischen Zähmung entronnene Poesie überwuchert und verdeckt sein. Aber daß ein Sinn dahinter steckt, daran zu zweifeln ist heute nur dem Unwissenden und dem über die ganze Vorzeit wegwerfend Absprechenden noch möglich.

Nun denn, was jenen Bauernburschen anlangt, so fand ich, daß er unbewußter Weise der Besitzer eines recht bemerkenswerthen Bruchstückes germanischer Mythologie war. Richtig verstanden, enthielt dasselbe in roher, mystischer, verballhornisirter Form eine uralte Andeutung der Keim-Lehre, zu welcher gegenwärtig die meisten Männer der Wissenschaft halten. Das Ei ist das Sinnbild des Keimes überhaupt. Im Ei erblickten unsere heidnischen Vorväter ein Zeichen des Wachsthums, der allmählichen Entwickelung und Aufeinanderfolge der Dinge. Indem man durch das Ei schaute, erlangte man daher, bildlich verblümt gesprochen, eine Ahnung und einen Vorblick des zukünftigen Ganges der Ereignisse.

Warum aber wählte man den Oster-Sonntag für die Zauberei, die jenen Bauernburschen so ängstigte?

Weil in grauer Vorzeit, um Ostern hin, ein germanisches Frühlingsfest zu Ehren der Göttin Ostara oder Eostra gefeiert ward, von deren Namen das jetzt bei den deutschen Christen gebräuchliche Wort „Ostern“ herzuleiten ist, einer Göttin, die als Vertreterin der fruchtbar machenden Sonne und der zeugenden Naturkräfte das Ei zu ihrem Sinnbilde hat. Daher kommen ja die jetzt noch gebräuchlichen Oster-Eier. Auch der Hase, den man mit naturgeschichtlicher Ketzerei diese Eier legen läßt, muß der Ostara geheiligt gewesen sein. Seine bekannte Fruchtbarkeit ließ ihn leicht zu einem Sinnbild dieser Göttin werden, wie andrerseits das Marienkäferchen wegen seiner blitzrothen Farbe, der deutschen Liebesgöttin Freia geheiligt war, aus dem himmlischen Reich die Seelen der Ungeborenen im leuchtenden Strahl erdwärts zu führen, um dort verkörpert zu werden.

Was sollte indessen, um der Angabe des abergläubischen Bauernburschen weiter zu folgen, das Rückwärtsgehen, wenn man an Ostara’s Tag die Kirche verließ?

Es bedeutete, daß die Person, welche es that, das Antlitz nach Osten kehrte, wo die Göttin wohnte. Das Zeichen der Verachtung, welches man nach dem christlichen Altar hin zu machen hatte, um der Zauberkraft theilhaftig zu werden, sollte andeuten, daß derjenige, welcher diese spöttische Geberde annahm, sich für den Augenblick vom Christenthum abwandte und zum Heidenglauben zurückging. Auf diese Weise erlangte man die Macht, an dem der Frühlingsgöttin geweihten Tage in dem zwischen den Fingern gehaltenen Ei den Keim aller Dinge zu schauen, ihre Entwickelung in „zweitem Gesicht“ zu ahnen, und so ein Bild der Zukunft zu gewinnen!

Es blieb noch das Lachen übrig. Warum sollte man am Oster-Sonntag, wo das Ei als Hexenspiegel diente, laut lachen?

Hier fand ich, daß dieser Ausbruch der Heiterkeit das Lächeln der Natur im Frühling bedeutete – wie wir ja auch von „lachenden Gefilden“ reden. Bei heidnischen Osterfesten stellte augenscheinlich ein Lach-Chorus dies Lächeln dar. Noch in der Kirche des Mittelalters, Jahrhunderte nach dem Sturz der alten Wodan-Religion, hatte der Priester am Oster-Sonntag seiner Gemeinde zuerst etwas Lustiges zu erzählen, und dann in ein Lachen auszubrechen, welches man das „Ostergelächter“ nannte!

Indem ich so das Eine zum Andern fügte, aus anscheinend werthlosen Bruchstücken mir eine Form zusammensetzte, gewann ich allmählich die immer fester werdende Ueberzeugung, die sich zuletzt zur Gewißheit herausbildete, daß in jenem drolligen Aberglauben eine naturphilosophische Ansicht verborgen lag. In alter Heidenzeit mag irgend ein weiser Mann – ein „Ewart“, „Gudja“, „Weiha“ oder „Sinisto“, wie die Priester unter verschiedenen germanischen Stämmen hießen – dieser Ansicht in feinerer Weise gehuldigt haben. Die Wissenden kannten sie vielleicht in besserer, ihnen vertrauterer Gestalt. Zu der ungebildeten Masse kam sie in vergröberter bildlicher Ausschmückung, und verlor für sie allmählich ihren Sinn und Zusammenhang. Von den Indern, den Aegyptern, den Griechen, den Römern sind wir sicher, daß neben oder hinter der äußerlichen Lehre eine solche innere Geheimlehre stand. Daß bei unseren Vorfahren etwas Aehnliches stattfand, ist kaum mehr zu bezweifeln. Hinter dem nebelhaften Aberglauben eines Dörflers entdecken wir, auf eine Entfernung von vielleicht zwei Jahrtausenden, eine Ansicht, die enge Verwandtschaft hat mit der modernen Pasteur’schen Theorie!

Hat man einmal einen solchen Schlüssel gewonnen, so fühlt man größeres Interesse nicht bloß an duftigen Feen-Märchen, in welchen die Figuren der alten Heidengötter noch erkennbar sind, sondern auch an grob abergläubischen Gebräuchen, in denen man manchmal recht überraschende Gedanken vergangener Geschlechter lesen kann. Klar wird Einem dann auch, daß es vergeblich ist, mit bloßer Spötterei gegen solchen Aberglauben anzukämpfen, denn das Volk hängt an ihm oft mit einer Zähigkeit, als fühle es, daß in dem scheinbaren „dummen Zeug“ ein verzauberter poetischer Schatz enthalten ist, der nur der Wünschelruthe des Kundigen harrt.

Eine wissenschaftlich, aber liebevoll gehaltene Behandlung dieser letzten Ueberbleibsel urgermanischer Weltanschauung vermag allein den Aberglauben gründlich zu besiegen. Ist dem Volke einmal der Einblick in eine solche Behandlung eröffnet – und die Grundlagen dafür könnte man fast spielend in jeder Dorfschule legen –, so werden die Nebel der Unwissenheit sich zerstreuen, der dichterische Werth aber der Sagen nicht bloß, sondern auch der abergläubischen Gebräuche und sogar manchen finsteren Spukes den Augen Aller erschlossen und damit Großes für die allgemeine Bildung gewonnen.

London.Karl Blind.     


Allen Teichfischerei- und Aquarienbesitzern dürfte die Mittheilung einer interessanten Beobachtung zur Warnung und Beachtung dienen, die ich im Laufe der letzten Zeit in meinem Aquarium zu machen Gelegenheit hatte.

In mein üppig und munter gedeihendes Aquarium verpflanzte ich im Anfange des Herbstes d. J. vier Exemplare des bekanntlich in unseren Teichen gemeinen, gelbrandigen Tauchkäfers oder Gelbrandes, drei Männchen und ein Weibchen, die sich lustig und munter unter der übrigen Thierwelt desselben, Goldfischen, Wassermolchen und verschiedenen Schnecken, herumtummelten und nicht wenig zur Belebung der Scenerie beitrugen. Ihre Nahrung bestand, wie die der Fische, in Semmel, Ameiseneiern, Würmern, Fliegen u. s. f. und wurde Alles anscheinend gern verzehrt.

Da bemerkte ich eines Tages, nachdem mir schon früher ein Goldfisch spurlos verschwunden war, wiederum einen derselben (circa 3 Zoll lang) todt am Boden liegend, den Kopf abgefressen, die Bauchhöhle ausgenagt, aber keinen der Käfer dabei, die ich trotzdem sofort wenigstens für die Consumenten des Fisches betrachtete. Ich glaubte, derselbe sei aus irgend welchen Gründen gestorben und erst todt den Käfern zur willkommenen Beute geworden, da es mir unwahrscheinlich schien, daß die kleinen, circa 1 Zoll langen Thiere die viel stärkere und beweglichere Beute, die überdies noch Gelegenheit hatte, in dem Gewirre der Wasserpflanzen zu entkommen, bewältigt haben könnten.

Von jetzt an beobachtete ich daher die Burschen in ihrem Thun und Treiben etwas genauer und bemerkte denn, daß dieselben allerdings hier und da Gelegenheit nahmen, mit den schwerer beweglichen Schnecken, besonders den Sumpf-Schlammschnecken anzubinden, was indeß in so fern seine Schwierigkeiten hatte, als sich dieselben beim Herannahen der kleinen Unholde sofort in ihr Gehäuse zurückzogen. Namentlich saugten sich die genannten großen Sumpfschnecken sofort fest an die Glaswand des Gefäßes an, und es war dann nicht uninteressant, zu sehen, wie emsig und gierig der Gelbrand seinen unangreifbar gepanzerten Gegner umkreiste und überall mit einer fast wühlend zu nennenden Bewegung des Kopfes anstieß, um Blößen desselben zu entdecken.

Hatten mich diese Wahrnehmungen schon auf die Vermuthung gebracht, daß die Käfer doch vielleicht auch die eigentlichen „Raubmörder“ meines Goldfisches gewesen sein mochten, so wurde mir dies jüngst zur Gewißheit, als ich zu meinem Schrecken wahrnahm, daß ihnen wiederum ein Goldfisch, und zwar ein reichlich fünf Zoll langes, schönes, kräftiges Thierchen, zum Opfer gefallen war. Derselbe schwamm zwar noch anscheinend lebend herum, aber Augen und Vordertheil des Kopfes waren abgefressen. Todt war der Fisch den Käfern, die allein nur der Unthat fähig waren, also nicht zur Beute geworden, dieselben mußten ihn überfallen und lebend so schrecklich verstümmelt haben. Selbstverständlich wurden nach solcher Aufführung die frechen Gesellen baldmöglichst exmittirt.

Was hier im Kleinen geschah, dürfte sich natürlich im Fischteich täglich wiederholen und die Erklärung dafür abgeben, daß in manchen Teichen junge Fische, Fischsatz, nicht gedeiht, sondern allmählich und spurlos darin verschwindet. Es dürfte gerathen sein, hierbei auf das Vorkommen genannten Käfers zu achten und, wird derselbe, wie es vorkommt, in größeren Mengen getroffen, ihn durch ein- oder mehrjähriges Trockenlegen und Auswintern des Teiches zu vertilgen. – Es war mir interessant, nach dieser Richtung hin bereits die beifällige Ansicht eines anerkannt tüchtigen Praktikers in der Teichfischerei, des Administrators des Rittergutes Sahlis-Rüdigsdorf, Herrn Inspector Schimpf, zu hören, der die Schädlichkeit des Gelbrandes schon aus Erfahrung kennen gelernt hatte.

Für Besitzer von Aquarien diene aber zur Warnung, niemals den gelbrandigen Tauchkäfer in ein solches aufzunehmen, da sie zwar wesentlich zur Belebung, aber niemals zum Gedeihen desselben beitragen.

Rochlitz.Johne.     


Ein Brief und seine Antwort. Unter den vielen in allerlei Angelegenheiten an mich gelangenden Briefen gebe ich hier einen wieder, welcher nur zu deutlich beweist, wie schwer gekettet das Volk noch in den Banden des Aberglaubens liegt. Er lautet wortgetreu:

„Sehr geehrter Herr Doctor! Verzeihung, daß allerunterthänigst Unterzeichnete Herrn Doctor mit einer ergebenen inständigen Bitte zu belästigen wagt: Ich habe seit mehreren Jahren kranke Augen, welches für mich ein um so größeres Unglück ist, da ich eine alte kranke Mutter zu erhalten habe; nun hat man mir eine Sympathie gesagt, von deren Wirkung ich überzeugt bin; doch muß ich einen Wiedehopf haben. Ich habe mich mit der Bitte schon an Dr. Westermann in Amsterdam gewendet, der mir von einem Herrn, der dort bekannt ist, als so edel und gefällig geschildert wurde. Ich erhielt diesen gütigen Brief zurück, den ich zugleich benütze, Herrn Doctor zu bezeugen und bitte von ganzem Herzen ergebenst, so gütig sein und mir einen Wiedehopf schicken lassen zu wollen. Der Herr wird Sie tausendfach segnen, wie meine gute alte Mutter und ich Herrn Doctor ewig dankbar sein werden. Ich bitte mir denselben gütigst auf Postnachnahme senden lassen zu wollen. Derselbe ist um so leichter zu schicken, da ich den Vogel nicht lebendig brauche; nur bitte ich recht, recht sehr, nachdem derselbe getödtet, gleich einpacken lassen zu wollen, damit er nicht erst verwest. Bitte, bitte, sobald als möglich.“

Hierauf erfolgte selbstverständlich nicht die Zusendung eines Wiedehopfes, sondern die nachstehende Antwort, welche wohl auch für so manch einen Anderen dienen kann:

„So unendlich ich Ihr Leiden bedauere, so würde es doch gegen meine [860]

innigste und beste Ueberzeugung sein, wollte ich Ihnen den gewünschten Wiedehopf senden. Ich würde damit nur einem schädlichen und schändlichen Aberglauben Vorschub leisten; ich würde in Ihnen Hoffnungen unterstützen helfen, welche sich niemals erfüllen können. Lassen Sie sich es gesagt sein mit vollem Ernste: Wenn die Kunst und Wissenschaft der Aerzte Ihnen nicht hilft, ein altes Weib oder ein sogenannter kluger Mann helfen Ihnen mit Sympathie gewiss nicht. Beide wollen Sie nur betrügen und Geld von Ihnen ziehen; Ihr Leiden heilen können sie nicht. Ich will Ihnen einen andern Rath geben, wenn Sie wollen: Wenden Sie sich an einen Ihrer besten Aerzte, fragen Sie ihn, ob er glaube, daß, wenn nicht er, so doch ein hiesiger Augenarzt Ihnen helfen könne, und dann lassen Sie sich entweder von dem dortigen Arzte behandeln, oder kommen Sie hierher nach Berlin, um sich behandeln zu lassen. Ich werde, da Sie arm sind, Sie unterstützen und bei meinen Freunden für Sie bitten, damit Sie, wenn irgend möglich, von Ihrem Leiden befreit werden. Einen Wiedehopf aber sende ich Ihnen nicht, obgleich ich mehrere davon besitze. Denn das Leben eines so schönen Vogels raube ich nicht eines blinden, unsinnigen Wahnes halber. Noch einmal: Wer Ihnen sagt, daß er Ihr Augenleiden durch Sympathie heilen könne, der betrügt Sie und verdient Ihre Verachtung, nicht aber Ihr Vertrauen.“
A. Brehm.



Kleiner Briefkasten.

F. G. in Br–g. Ihre Befürchtung, der Roman „Das Haideprinzeßchen“ von E. Marlitt werde in diesem Jahre nicht mehr zu Ende geführt werden, war, wie Sie heute sehen, grundlos. Um das noch vorhandene umfangreiche Material zu bewältigen, waren wir allerdings schon seit mehreren Wochen gezwungen, der Erzählung in jeder Nummer weit mehr Platz einzuräumen, als dies sonst der Fall zu sein pflegt. Um aber trotzdem der Mannigfaltigkeit des Inhalts für unsere Leser keinen Eintrag zu thun, haben wir uns entschlossen, der heutigen und der nächsten, der Schlußnummer, einen halben Bogen beizulegen. Daß dies nicht ohne bedeutende Opfer unsererseits möglich ist, brauchen wir Ihnen bei der großen Auflage der Gartenlaube kaum zu sagen.

Fr. L. in Rthst. Sie irren doch in Ihren „Wahrnehmungen“ und verfallen mit Ihren Schmähungen in gehässige Einseitigkeit. Die von Ihnen so heftig angegriffene „materielle Richtung der Neuzeit“ hat keine Macht, wenn in Schule und im Elternhaus die wahre Bildung des Herzens nicht vernachlässigt wird. Die wahrhaft rührende Opferfreudigkeit, mit der man zum Beispiel den Verschütteten von Lugau, den Abgebrannten in Chicago, und vor Allen den Verwundeten, Wittwen, Waisen des letzten Krieges helfend beigesprungen, beweist doch am besten, daß trotz aller Ungläubigkeit und allen materiellen Jagens und Rennens das Mitleid und die Menschenliebe nicht gelitten haben. Wir stimmen deshalb auch vollständig dem alten Freiheitsrecken Fr. Hecker bei, wenn er von seiner Farm Summerfield etwas derb schreibt:

„Das entsetzliche Unglück in Chicago hat neben seiner Gräßlichkeit eine der großartigsten, in der Weltgeschichte unerhörten Kundgebungen verzeichnet. Innerhalb acht Tagen hat wie ein Weltpulsschlag sich das Herz der Menschheit geäußert von der Ost- und Nordsee bis zum stillen Ocean, – ein Gefühl der Solidarität der Völker; allenthalben werkthätige Herzen.

Nur ein aus der Urzeit herüberverkreppelter Gorilla mag da noch an der Menschheit verzweifeln oder stupid fortstolpern. Man wirft unserer Zeit den Materialismus vor. Nun, wenn – das Herz die Hand öffnet, kann man sich den Vorwurf schon gefallen lassen. Wenn die Hand, die erwirbt, auch giebt, wenn die Hand, die greift, auch ausstreut, so ist die Welt nicht so schlecht, als man sie macht. Ich danke dem Schicksal, daß ich noch nicht mit dem Idealismus in die Vergantung gekommen bin und noch an die Menschheit glaube.

Blos Elende sind’s, die immer nur die Dreckseite des Völkerlebens sehen und nicht die idealen Seiten der Menschheit erkennen und ihr Statuen errichten, damit der Gemeinheit die Augen schmerzen. Wenn wir nicht auch die besseren Seiten des Menschenthums hervorheben und damit zur Nacheiferung, zum Glauben an dieselben anfeuern, so machen wir aus der Menschheit nur einen Pfuhl, in dem das Genußvieh sich säuisch wälzt.“



Weihnachten der Gartenlaube.

Wir kommen heute nur einer heiligen Pflicht nach, wenn wir den Lesern und Freunden der Gartenlaube, welche unsere Bitte für die

Beschädigten und Unglücklichen des Krieges

in so herzerhebender reichlicher Weise erfüllten, am bevorstehenden Feste der Liebesgaben und am Schlusse unserer Sammlung im Namen aller der Unterstützten unsern herzlichsten tiefgefühltesten Dank abstatten. Nicht ohne innere Befriedigung dürfen wir es sagen, daß durch die theilnehmende Hülfe unserer Freunde viel Kummer gestillt, viel Elend beseitigt, viele augenblickliche Sorge in den Familien und gar manche erschütternde Noth der heimkehrenden Kranken und Verkrüppelten gemildert worden ist. In rührender Weise ist uns dafür unter Thränen und Händedrücken und in Hunderten von Briefen gedankt worden, so oft wir auch versicherten, daß nicht uns, sondern all’ den Braven im Reich und den Brüdern drüben über dem Meere dieser Dank allein gebühre. Es sind das für uns unvergeßliche Augenblicke, die uns zugleich die Ueberzeugung aufdrängten, daß unsere treuen und tapferen Wehrmänner und deren Angehörige es niemals vergessen werden, mit welcher aufopfernden Hingebung die deutsche Nation ihnen gegenüber ihre Pflicht erfüllt hat.

Wir aber schließen nunmehr diese Sammlung und geben nachfolgend noch einen Ausweis über die Verwendung der uns anvertrauten Gelder.

Laut letzter Quittung waren im Ganzen 32,757 Thlr. 12 Ngr, 8 Pf. eingegangen. Seitdem sind an weiteren Gaben noch eingelaufen:

Freiwillige Feuerwache in Kalisch 26 Rubel; Totenweser in Birkinfeld (Ostpr.) 18 Thlr.; Gesammelt durch Clara Schuster in Marienberg 1 Thlr. 15 Ngr.; Waisen-Ersparnisse einer Weimaranerin 2 Thlr.; M. F. in Frankfurt a. M. 6 Thlr.; Frau Olga Schulz in Petersburg durch gesammelte Briefmarken 5 Thlr.; Fünfte Sendung aus Bistritz in Siebenbürgen, von den Gemeinden Tasch und Waltersdorf 18 fl. österr.; Die Deutschen in Terre Haute (Ind.), welche, nur 4000 Köpfe zählend, bereits 3800 Dollars nach Deutschland sandten, noch 236 Thlr.; Erlös aus dem Verkauf der eingegangenen Schmuck- und Werthsachen 71 Thlr. 22½ Ngr.,

in Summa also 33,131 Thlr. 16 Ngr. 3 Pf.

Verausgabt wurde dieser Betrag in folgenden Posten:

An die Frauen der Wehrmänner außerhalb Leipzigs, vom
1. Juli 1870 bis Ende Juni 1871, in wöchentlichen Gaben von 15 Ngr. bis 2 Thlr.
18,597 Thlr. 17 Ngr. 5 Pf.
Einmalige Gaben an besonders bedürftige Familien
von Wehrmännern, in- und außerhalb Sachsens
 2,419 Thlr. 25 Ngr. - ---
Einmalige Unterstützungen an hartbetroffene Gemeinden
und Kranke, laut brieflicher Eingaben
   741 Thlr. -- ---- - ---
Wittwen und Waisen    333 Thlr. -- ---- - ---
Auszahlungen an Verwundete von 2 bis 12 Thlr.  1,705 Thlr. 25 Ngr. - ---
Coursdifferenzen      3 Thlr. 18 Ngr. - ---
An die Wilhelmsstiftung zur Verwendung
für Kriegsbeschädigte aller deutschen Armeen, vorzugsweise für
Unterofficiere, Soldaten und deren Angehörige
 6,000 Thlr. -- ---- - ---
Dispositionsfond für weitere Unterstützungen,
über die später Abrechnung erfolgt
 3,330 Thlr. -- ---- 8 Pf.
in Summa 33,131 Thlr. 16 Ngr. 3 Pf.

Alle Spesen, ebenso alle Porti für ein- und ausgehende Gelder, sind von der Redaction allein getragen. – Zur etwaigen Einsicht liegen die betreffenden Bücher bereit.


Möge fortan unser nun glücklich geeintes Vaterland vor einem Geschick bewahrt werden, das uns abermals zwänge, durch Blut und Tod die heiligsten Interessen und Güter unseres Lebens gegen frevelhafte Herausforderung zu schützen. Für die wiederum bewiesene Opferfreudigkeit unserer Leser und Freunde aber nochmals unsern innigsten Dank.

Leipzig, im December 1871.
Die Redaction der Gartenlaube.
Ernst Keil.  



Zur Beachtung!
Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, die Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.