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Die Gartenlaube (1871)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

No. 15.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Mit diesem letzten Opfer schien das Unglück endlich erschöpft,“ fuhr Forest in seiner Erzählung fort, „von dem ersten Schritt an, den ich auf amerikanischen Boden that, folgte mir das Gelingen. In New-York traf ich mit Atkins zusammen, den dort ein Schreiberposten nur nothdürftig nährte, er rettet mich und meine kleine Habe vor einer Bande von Schwindlern, die den Unerfahrenen schon halb in ihren Netzen hatten. Dankbar bot ich ihm an, mit mir nach dem Westen zu ziehen, er hatte nichts zu verlieren und folgte mir hierher, damals noch in die Wildniß. Wir haben die erste Axt an den Urwald gelegt, das erste Blockhaus gezimmert; vielleicht erinnerst Du Dich noch aus Deiner frühesten Kinderzeit, daß Dein Vater selbst mit Axt und Hacke auf’s Feld hinausging, und die Mutter im Hause die Arbeit der Mägde that, aber es dauerte nicht lange. Unsere Colonie wuchs mächtig und schnell, der Boden, die Lage waren unendlich günstig, die Stadt entstand, der Hafen ward gebaut, die Ländereien, die ich zu einem Spottpreise gekauft, stiegen bald auf das Zwanzig- und Dreißigfache ihres früheren Wertes, Unternehmungen, zu denen ich mich mit Anderen verband, hatten einen ungeahnten Erfolg. Auch die einst so heiß ersehnte Teilnahme am öffentlichen Leben und Wirken, die Bedeutung darin, die Anerkennung dafür ward mir im reichsten Maße zu Theil, und jetzt, Jane, lasse ich Dich in einer Stellung und in Verhältnissen zurück, die es selbst einem Mr. Alison als eine Ehre erscheinen lassen, wenn er Deine Hand erringt.“

„Ich weiß es, mein Vater!“ Das Selbstbewußtsein in Jane’s Haltung trat in diesem Moment schärfer als je hervor, aber es lag kein gewöhnlicher Hochmuth darin, ihr Stolz wurzelte augenscheinlich in dem Bewußtsein, die Tochter ihres Vaters zu sein.

Mit einer Anstrengung, die deutlich bewies, daß seine Kräfte im Sinken waren, eilte Forest zum Schlusse.

„Daß ich die Nachforschungen nach Deinem Bruder nicht aufgab, daß ich sie immer und immer wieder erneuerte, und später, als mir die Mittel zu Gebote standen, mit allem Aufwande von Geld und Verbindungen fortsetzte, noch jahrelang, brauche ich Dir nicht erst zu sagen. Das Resultat blieb das gleiche, ich fand schließlich Ersatz in Dir, Deine Mutter konnte den Verlust ihres Sohnes nie verschmerzen. Sie klammerte sich bis zu ihrem Ende an die Hoffnung seines Lebens, seines Wiederauftauchens, die mir längst geschwunden war, und noch auf dem Sterbebette nahm sie mir das Versprechen ab, nach ihrem Tode selbst nach Europa zu gehen, um persönlich noch einen letzten Versuch zu machen. Ich habe es ihr zugesagt, da die jüngste Amnestie den Bann gelöst hatte, der mir bis vor Kurzem noch verbot, die Heimath wieder zu betreten, und ich war eben im Begriff, die Vorbereitungen zu einer längeren Abwesenheit zu treffen, als die Krankheit mich niederwarf. Aber der letzte heiße Wunsch Deiner Mutter soll nicht unerfüllt bleiben! Nicht, als ob ich auch nur die leiseste Hoffnung hätte, eine Spur, die sich zwanzig Jahre lang den angestrengtesten Nachforschungen entzog, könne jetzt wiedergefunden werden – Du sollst einfach eine Pflicht der Pietät erfüllen, indem Du das Versprechen einlösest, das ich nicht mehr zu halten vermochte, Du sollst einer Form genügen, indem Du Dich, ehe mein gesammtes Vermögen Dir zufällt, versicherst, daß Du in der That die einzige Erbin bist, und einzig und allein deshalb sende ich Dich nach dem Rhein. In Bezug auf die geschäftlichen Schritte, auf die zu erlassenden Aufrufe und dergleichen wird Dein Oheim Dir gern zur Seite stehen, Du sollst nur die Leitung, die Energie dazu hergeben, deren er nicht fähig ist. Unsere hiesigen Kreise wird es nicht befremden, wenn Du das Trauerjahr um Deinen Vater bei seinen Verwandten, in seiner Heimath zubringst. Wenn Alison es wünscht, so kann er am Schluß seiner europäischen Reise Deine Hand dort empfangen und mit Dir zurückkehren, indessen das überlasse ich Euch allein. Ich lege nur einzig jene Pflicht in Deine Hände, Jane, Du wirst sie erfüllen.“

Jane erhob sich und stand dem Vater aufgerichtet, mit der vollen Energie ihrer ganzen Erscheinung gegenüber.

„Wenn eine Spur meines Bruders zu finden ist, so werde ich sie finden, Vater! Ich weiche nur der Unmöglichkeit, nimm meine Hand darauf!“

Forest schloß ihre Hand in die seinige, auch jetzt trat das eigenthümlich Ernste in dem Verhältniß zwischen Vater und Tochter hervor, kein Kuß, keine Zärtlichkeit – ein Händedruck wie unter Männern besiegelte das gegebene und genommene Versprechen. Einige Secunden lang herrschte tiefes Schweigen, dann sagte der Kranke plötzlich mit gepreßter Stimme.

„Und jetzt ziehe die Vorhänge auf, ich kann die Dämmerung nicht mehr ertragen! Laß das Licht herein!“

Jane gehorchte, sie schlug die schweren grünen Damastvorhänge zurück, und durch das breite Erkerfenster strömte der volle, blendende Glanz der Mittagssonne in’s Zimmer. Der Kranke hatte sich aufgerichtet und blickte unverwandt hinaus in die weite Aussicht, die sich seinen Blicken darbot. Da lag die Stadt mit ihren Straßen und

[242] Plätzen, ihrem ganzen Häusermeer, der Hafen mit seinen Schiffen, da wallte der Riesenstrom hin mit seinem glänzenden Wasserspiegel und den darüber hingleitenden Booten und Dampfern, da lagen die einzelnen Landhäuser und Ortschaften nah und fern zerstreut, und weit am Horizont dehnte sich eine dichte, dunkle Masse, dehnte sich der Urwald aus, dem all dies abgerungen war von Menschenhänden. Forest blickte unbeweglich darauf hin; ob er an die Zeit dachte, wo er hier in der Wildniß den ersten Axthieb gethan, ob er mit Stolz auf die Stadt niedersah, die hauptsächlich ihm ihr Gedeihen verdankte, oder ob es ihm wehe ward bei dem Gedanken, dies Alles verlassen zu müssen – er sank plötzlich mit einer fast convulsivischen Bewegung, in die Kissen zurück. Besorgt beugte sich Jane zu ihm nieder, aber es war kein Anfall der Krankheit, der ihn so plötzlich erfaßte.

„Wenn Du nach Deutschland kommst, so grüße mir die Heimath, den Rhein! Hörst Du, Jane? Grüße mir meinen Rhein! Grüße mir Deutschland!“

Die Worte kamen schmerzvoll gepreßt, fast unhörbar von seinen Lippen, betroffen sah Jane auf ihn nieder.

„Liebtest Du denn das einst, mein Vater? Mich hast Du es beinahe hassen gelehrt!“

Forest schwieg einen Moment lang, seine Lippen zuckten, und wie einem furchtbaren inneren Kampfe abgerungen, rollten zwei schwere Thränen über seine Wangen.

„Die Heimath hatte für mich nur das Elend übrig!“ sagte er tief bewegt. „Sie hat mich verfolgt, geknechtet, ausgestoßen, sie versagte mir selbst das Brod für mich und die Meinen. Amerika gab mir Freiheit, gab mir Reichthum und Ehre, und jetzt, Jane, gäbe ich das Alles, Alles hin – könnte ich nur am Rheine sterben!“

Es lag ein so schneidendes Weh in diesem gewaltsamen Ausbruch eines langverhaltenen Schmerzes, daß Jane erschreckt davor zurückwich. Dies unselige Heimweh! Die Mutter war daran gestorben, die schwache zarte Frau hatte jahrelang gekrankt und gelitten, aber der Vater, dieser stolze energische Mann, der mit der Heimath und ihren Erinnerungen so völlig gebrochen, der sich seinem Adoptivvaterland mit so voller Seele angeschlossen, und im Haß gegen die Vergangenheit versteint schien, er hatte tief im Innersten verborgen dieselbe qualvolle Sehnsucht mit sich herumgetragen, erst die Todesstunde entriß ihm das Geständniß.

Jane stand stumm und völlig verständnißlos vor dieser Entdeckung, aber sie fühlte, daß hier, gerade hier dies seltsame Etwas lag, in dem Vater und Mutter, trotz alles Mißverstehens, doch stets einig gewesen waren, und daß sie gerade hierin Beiden ewig fern gestanden. Sie blickte auf den Kranken, er lag jetzt still, mit geschlossenen Augen und fest zusammengepreßten Lippen, sie wußte, daß in solchen Momenten selbst sie ihn nicht stören durfte. Leise zum Fenster gleitend ließ sie die Vorhänge wieder herab, und bald herrschte die vorige matte Dämmerung wieder im Krankenzimmer.




„Nun, das ist ja eine vielversprechende Introduction, mit der dieser hochgepriesene Rhein uns empfängt! Ich habe dies ganze Land in den sechsunddreißig Stunden bereits gründlich satt bekommen! Beim Landen ein Nebel, daß man die Küste nicht eher sieht, bis der Fuß darauf tritt, den Tag in Hamburg ein Regen, als wollte die Sündfluth von Neuem losbrechen, und hier am Rhein nun vollends diese Situation. Ich begreife nicht, Miß Jane, wie Sie dabei so ruhig bleiben können!“

Die Situation, welche Mr. Atkins so in Aufregung brachte, war in der That keine beneidenswerthe. Im dichtesten Nebel und leise, aber unaufhörlich herniederrieselnden Regen lag die Extrapostchaise zur Hälfte umgestürzt mitten auf der Landstraße, die Pferde, deren Stränge bereits gelöst waren, standen mit gesenkten Häuptern davor, und im Chausseegraben, neben dem zerbrochenen Hinterrade, saß der Postillon, den Kopf mit einem Taschentuche verbunden, und stöhnend den gleichfalls verletzten Fuß mit beiden Händen haltend. Jane, die mit resignirter Miene neben ihm stand, zuckte statt aller Antwort die Achseln.

„Wir können unmöglich hier länger im Regen bleiben!“ fuhr Atkins im vollsten Aerger fort, „zumal Sie nicht! So viel ich beurtheilen kann, sind die Verletzungen unseres Kutschers nicht gefährlich, und er behauptet, daß B. höchstens noch eine Stunde entfernt ist. Das Beste wäre, wir machten uns auf den Weg dorthin und schickten ihm dann die nöthige Hülfe –“

„Nein,“ unterbrach ihn Jane ruhig, aber mit vollster Bestimmtheit. „Er blutet noch immer und droht jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Wir können ihn unmöglich allein und hülflos zurücklassen, zum Mindesten müssen Sie bei ihm bleiben, während ich versuche, die nächste Ortschaft zu erreichen.“

„Allein? Im fremden Lande? Bei diesem Nebel, der Sie vielleicht geradewegs in den verhexten Fluß hineinführt, den man da unten nur hört, ohne eine Spur von ihm zu sehen? Nein, das gebe ich denn doch unter keiner Bedingung zu.“

„Ich fürchte mich durchaus nicht!“ erklärte Jane mit einer Entschiedenheit, welche bewies, daß sie nicht gewohnt war, sich selbst von Atkins irgendwelche Vorschriften machen zu lassen, „und wenn ich der Landstraße folge, so ist ein Verirren unmöglich. Jedenfalls ist es das Einzige, was uns zu thun übrig bleibt.“

„Aber, Miß Jane, so bedenken Sie doch – Wenn sich nur irgend ein menschliches Wesen zeigen wollte! Halt, da kommt Jemand! Auf ein Wort, Sir, wenn es Ihnen beliebt!“

Die letzten Worte, obwohl deutsch gesprochen, mußten dem Kommenden wohl durch ihren stark englischen Accent den Ausländer verrathen haben, denn eine leise, aber wohllautende Stimme fragte im reinsten Englisch zurück: „Was giebt es, Sir?“

„Gott sei gelobt, es ist ein Gentleman, er spricht englisch!“ sagte Mr. Atkins aufathmend, und sich rasch dem Fremden nähernd, der bisher im Nebel nur halb sichtbar gewesen war, fuhr er eiligst fort:

„Wir haben einen Unfall mit dem Wagen gehabt, er ist zerbrochen, der Postillon verwundet und wir völlig fremd hier. Darf ich fragen, ob Ihr Weg Sie vielleicht nach B. führt?“

„Allerdings.“

„Nun, dann bitte ich Sie, uns den ersten besten Wagen, den Sie auffinden können, herauszuschicken. Und noch Eins! Sie haben wohl die Güte, eine junge Lady bis B. unter Ihren Schutz zu nehmen.“

Der Fremde, der bei dem ersten Verlangen sich höflich zustimmend verneigt hatte, trat bei dem letzten einen Schritt zurück, und es klang fast wie Entsetzen aus seiner Stimme, als er wiederholte:

„Eine junge Lady – soll ich –“

„Nach der Stadt begleiten, ja, und bis zu dem Hause führen, das sie Ihnen bezeichnen wird. Miß Jane, darf ich Sie bitten, sich diesem Gentleman anzuvertrauen? Sie können unmöglich länger hier im Regen stehen.“

Jane, die bisher ziemlich theilnahmlos der Unterredung zugehört, wandte sich jetzt zu dem Fremden, den Atkins ihr als Begleiter vorstellte. Sie blickte in ein feines, bleiches Gesicht, in ein Paar blaue, träumerische Augen, die jedoch in diesem Augenblick nur halbes Entsetzen und grenzenlose Verlegenheit verriethen; es ward ihm auch durchaus keine Zeit gelassen, der letzteren Herr zu werden.

„Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden,“ sagte Mr. Atkins, ohne im Geringsten eine Einwilligung abzuwarten. „Und nun würde ich Sie noch bitten, Ihren Weg möglichst zu beschleunigen, sowohl der jungen Lady wegen, als um meiner Erlösung von der Landstraße willen. Leben Sie wohl, Miß Jane, und seien Sie außer Sorge wegen des Verwundeten, er bleibt in meiner Obhut. Auf baldiges, hoffentlich trocknes Wiedersehen!“

All diese Anordnungen wurden so schnell und geläufig, mit solcher dictatorischen Höflichkeit und solchem unwiderleglichen Commandotone gegeben, daß in der That ein Einspruch gar nicht möglich schien. Der Fremde machte auch gar keinen Versuch dazu, er ließ das Alles in vollster Bestürzung über sich ergehen und folgte mechanisch der ihm gewordenen Weisung, indem er mit einer stummen Verbeugung die junge Dame aufforderte, sich ihm anzuschließen; in der nächsten Minute befanden sich Beide bereits auf dem Wege und waren durch eine Biegung desselben den Augen der Zurückbleibenden entzogen.

Ob der Fremde mehr überrascht war von der echt amerikanischen Manier, die Dame dem ersten Besten anzuvertrauen, dem man auf der Landstraße begegnete, oder mehr erschreckt von dem ihm aufgedrungenen Ritterdienst, ließ sich schwer entscheiden; sichtbar war nur Eins, die unendliche Verlegenheit, in die jene Zumuthung ihn versetzte und die ihn sogar von jedem Unterhaltungs- und Annäherungsversuche abzuhalten schien. Miß Forest aber faßte [243] sein Benehmen anders auf; sie war gewöhnt, überall, wo sie nur erschien, Gegenstand der größten Aufmerksamkeit zu sein, war überhaupt an die oft übertriebenen Rücksichten gewöhnt, welche in Amerika jede Dame selbst von dem Fremdesten beanspruchen darf, und nun zeigte sich dieser Mensch, dem Aussehen und der Sprache nach doch ein Gentleman, so wenig empfänglich für die Ehre, eine Lady begleiten zu dürfen, daß er es nicht einmal der Mühe werth hielt, ein Wort an sie zu richten. Jane streifte mit einem vollen Zornesblick den Unverschämten und preßte dann die Lippen fest aufeinander, entschlossen, nun auch ihrerseits während des ganzen Weges kein Wort zu reden.

Ungefähr zehn Minuten waren sie so schweigend nebeneinander hingeschritten, als ihr Begleiter plötzlich stehen blieb und mit derselben leisen wohllautenden Stimme wie vorhin sagte: „Die Landstraße macht einen weiten Bogen. Darf ich Sie den näheren Weg führen, den ich zu gehen pflege?“

„Ich habe mich Ihrer Führung anvertraut,“ gab Jane kurz und kalt zur Antwort, und mit einer zweiten stummen Verneigung lenkte er von der Chaussee ab und schlug die Richtung nach links ein.

Der bezeichnete Weg mochte nun allerdings näher und für einen Mann auch zur Noth passirbar sein, für eine Dame war er aber jedenfalls nicht geeignet. Es ging über sumpfigen Boden, durch nasse Wiesen, durch tropfende Hecken, immer mitten durch die Felder und Gebüsche, nicht allein zum Nachtheil, sondern zum völligen Ruin von Jane’s eleganter Trauerkleidung, die allerdings für die Reise, aber jedenfalls nur für eine Reise in der Extrapostchaise berechnet war. Das leichte Mäntelchen vermochte sie so wenig zu schützen wie die feinen Stiefelchen, ihr Anzug war völlig durchnäßt, während ihr Begleiter, ganz in einen dichten wollenen Plaid gehüllt, die Witterung kaum zu empfinden schien und natürlich nicht daran dachte, ihr diesen Schutz dagegen anzubieten. Dabei schien er die Weisung Mr. Atkins’, den Gang möglichst zu beschleunigen, buchstäblich zu nehmen, denn er eilte in einem Schritte vorwärts, daß Jane die größte Anstrengung nöthig hatte, um an seiner Seite zu bleiben. Jede Andere hätte wahrscheinlich erklärt, daß dieser Weg und dieser Lauf über ihre Kräfte gingen. Miß Forest hatte sich nun aber einmal vorgenommen, die Stadt möglichst schnell zu erreichen, um den Zurückgebliebenen Hülfe senden zu können, und Klagen und Zögern war dabei ihre Sache nicht. Sie zog daher ihre Schuhe tapfer immer auf’s Neue aus dem Sumpf und Moor, der große Neigung zeigte, sie festzuhalten, setzte den Fuß energisch in das hohe feuchte Gras und riß ihren Schleier immer wieder von den Hecken los, an denen er hängen blieb; dabei ward ihre Miene aber immer finsterer, und als es eine Viertelstunde in dieser Weise fortgegangen war, blieb sie plötzlich stehen.

„Ich muß Sie bitten, zu warten. Ich bedarf einen Augenblick der Erholung.“

Diese im schärfsten Tone gesprochenen Worte schienen ihrem Begleiter denn doch das Bewußtsein seiner Rücksichtslosigkeit wachzurufen. Er blieb stehen und blickte erschreckt auf seine Schutzbefohlene, die erschöpft und völlig athemlos am Saume einer großen Fliederhecke stand.

„Verzeihung, Miß! Ich hatte ganz vergessen, ich –“ er stockte und fuhr dann entschuldigend fort: „ich bin wirklich nicht gewohnt, mit Damen zu verkehren.“

Jane machte eine Bewegung, als wollte sie sagen: „Das habe ich erfahren!“

Ihr Begleiter schien jetzt erst den Zustand ihrer Toilette zu gewahren. „Mein Gott, Sie sind ja ganz durchnäßt!“ rief er besorgt, blickte dann nach oben und setzte in sichtlicher Verwirrung hinzu: „Ich glaube, es regnet!“

„Ich glaube auch!“ sagte Jane mit einer Ironie, die zum Glück dem Fremden entging, denn er blickte sich suchend um. Sie standen jetzt Beide an der Fliederhecke, die sich auf einem Erdwall erhob, welcher allerdings nach einem mehrstündigen Regen keinen besonders einladenden Ruheplatz bot, dennoch schien ihr Führer ihn dafür zu halten. Er riß mit einer hastigen Bewegung seinen Plaid von den Schultern, legte ihn sorgfältig ausgebreitet auf die feuchte Erde und lud seine Schutzbefohlene mit einer Handbewegung ein, darauf Platz zu nehmen.

Jane blieb stehen und sah ihn an. Das überstieg denn doch wirklich alle Begriffe: dieser Mann hatte eine halbe Stunde lang mit der gleichgültigsten Miene von der Welt zugesehen, wie sie völlig durchnäßt ward, und jetzt warf er das Tuch, das sie während der ganzen Zeit hätte schützen können, ohne weiteres in den Schlamm, um ihr auf zwei Minuten einen Ruhesitz zu ermöglichen. Etwas Lächerlicheres und Unpraktischeres war ihr noch niemals vorgekommen, und trotzdem lag in der Bemühung eine so ängstliche Sorgfalt, eine so schüchterne Abbitte der vorherigen Rücksichtslosigkeit, daß Jane fast unwillkürlich der Einladung folgte und sich zögernd niederließ.

Zum ersten Male blickte sie jetzt mit voller Aufmerksamkeit auf ihren Begleiter, der dicht neben ihr stand. Er hatte, gleichfalls erhitzt vom raschen Gange, den Hut abgenommen und strich sich das blonde regenfeuchte Haar von der hohen Stirn. Es waren edle, feine, im höchsten Grade durchgeistigte Züge, auf denen jedoch eine durchsichtige, krankhafte Blässe lag, und dazu diese großen blauen Augen mit dem seltsam träumenden Ausdruck, die da aussahen, als hätten sie so gar nichts mit der Welt und der Gegenwart zu thun, als blickten sie weit darüber hinaus in unendliche Fernen – die junge Dame mit dem kalten schönen Antlitz und dem energisch stolzen Blick beobachtete mit einem eigenthümlichen, ihr selbst unerklärlichen Interesse dies von dem ihrigen so unendlich verschiedene Gesicht.

Ringsum braute der Nebel und wob seine grauen Schleier um Bäume und Gebüsche, die undeutlich, schattenhaft daraus hervorblickten, leise rieselte der Regen nieder, der erste warme Frühlingsregen, dem die ganze Erde entgegenzuathmen schien, mit einem feuchten würzigen Hauch, leise zogen durch die Luft jene seltsamen Stimmen, jenes Flüstern und Hallen, das nur der Regenlandschaft eigen ist, und durch das Nebelgeriesel tönte fern und geheimnißvoll das Wallen und Rauschen des noch immer unsichtbaren Stromes – die ganze Situation hatte etwas Fremdartiges, etwas Beklemmendes, und Jane, der diese Empfindung völlig neu war, riß sich rasch davon los.

„Ist das der Fluß dort unten?“ fragte sie in den Nebel zeigend.

„Der Rhein! Wir sind am Ufer desselben.“

Wieder eine Pause, Miß Forest brach ungeduldig einen Zweig von der Fliederhecke, betrachtete einen Moment lang zerstreut die aufspringenden Knospen, aus denen soeben das erste Grün hervorbrach, und warf ihn dann achtlos zu Boden. Ihr Begleiter bückte sich danach und hob ihn auf; sie blickte ihn befremdet an.

„Es sind die ersten Frühlingsknospen,“ sagte er leise, „ich möchte sie doch nicht im Schlamm umkommen sehen.“

Jane’s Lippen zuckten spöttisch. Wie sentimental! Aber freilich, sie befand sich ja in Deutschland! Verstimmt und fast gereizt durch den indirecten Vorwurf erhob sich die junge Dame plötzlich und erklärte völlig ausgeruht zu sein.

Ihr Begleiter war sofort zum Gehen bereit, Jane warf einen halben Blick auf den noch immer am Boden liegenden Plaid, da er ihn aber gänzlich vergessen zu haben schien, so hielt sie es nicht der Mühe werth, ihn mit einem Worte daran zu erinnern. Sie schritten also vorwärts, ebenso wortlos wie vorhin, nur daß der Führer jetzt seinen Schritt mäßigte, und sich oft besorgt umsah, ob sie auch zu folgen vermöge. Wieder eine Viertelstunde war vergangen, da tauchten die Umrisse von Häusern und Thürmen aus dem Nebel auf, und der Fremde wandte sich zu seiner Schutzbefohlenen.

„Wir sind in B. Darf ich fragen, Miß, wohin ich Sie führen soll?“

„Nach dem Hause des Doctor Stephan.“

Er blieb überrascht stehen. „Doctor Stephan?“

„Ja! Sie kennen ihn?“

„Allerdings. Ich wohne in seinem Hause, und in der That,“ er fuhr nachdenkend mit der Hand über die Stirn, „ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, daß man Jemand dort erwartet, eine junge Anverwandte, glaube ich.“

„Ich werde allerdings erwartet,“ sagte Jane ungeduldig, „und Sie würden mich verbinden, wenn Sie dies Warten meiner Verwandten möglichst abkürzen wollten.“

„Wie Sie befehlen, Miß! Darf ich bitten, sich rechts zu wenden, ich führe Sie den nächsten Weg durch den Garten.“

Jane folgte, aber sie fand bald genug Gelegenheit, diese „nächsten Wege“ ihres Begleiters zu verwünschen, denn der Heckengang zwischen Gärten hindurch, den er sie jetzt führte, übertraf an Bodenlosigkeit und Beschwerlichkeit noch den vorhergehenden.

[244] Er schien das selbst zu fühlen, denn er hielt nach einer Weile plötzlich inne und sagte in sichtbarer Verlegenheit:

„Ich vergaß, daß der Weg sich nicht für eine Dame eignet. Wollen wir umkehren?“

„Ich meine, daß wir bereits die Hälfte zurückgelegt haben,“ gab Jane in etwas gereiztem Tone zur Antwort. „Das Ziel kann nicht mehr weit entfernt sein.“

„Dort hinten, das Gittertor!“

„Nun, dann lassen Sie uns vorwärts gehen.“

Es ging in der That noch etwa hundert Schritt vorwärts, dann aber tauchte ein völliges Hinderniß auf. Die ganze tiefer gelegene Stelle des Weges war vom Regen überschwemmt, der hier einen förmlichen See bildete und, die ganze Breite des Ganges einnehmend, nicht zu umgehen war. Der unglückliche Führer stand ratlos davor.

„Sie können unmöglich hier hindurch!“ sagte er ängstlich.

„Ich will es versuchen!“ antwortete Jane resignirt und setzte die Spitze ihres Fußes in das Wasser, aber er hielt sie eifrig zurück.

„Unmöglich! Das Wasser ist fußtief! Wenn nur – wenn Sie mir gestatten wollten, Sie hinüber zu tragen.“

Die Frage kam sehr schüchtern heraus und Jane streifte mit einem halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick die zwar hohe, aber äußerst schlanke und zarte Gestalt mit ihrer gebückten Haltung!

„Ich danke!“ entgegnete sie mit unverhehlter Ironie. „Die Last möchte doch zu schwer für Sie sein.“

Der Spott hatte eine ganz eigenthümliche Wirkung auf den bisher so schüchternen Fremden. Eine Purpurgluth schoß plötzlich in dem bleichen Antlitz auf, mit einem Ruck hatte er sich emporgerichtet, die junge Dame auf seine Arme gehoben und stand bereits mit ihr mitten im Wasser. Das alles ging so blitzschnell, daß Jane, überrascht und bestürzt, gar keine Zeit fand, sich zu sträuben, jetzt aber machte sie eine rasche Bewegung, entschlossen, lieber in das fußtiefe Wasser zu gleiten, als eine Freiheit zu dulden, die man sich gegen ihren Willen genommen – da begegnete sie auf einmal seinen Augen. War es die stumme, beinahe flehende Bitte darin, oder lag noch irgend etwas Anderes, Seltsames in diesem Blick – Jane senkte langsam den ihrigen, das beklemmende Gefühl von vorhin kam mit verdoppelter Macht zurück, und regungslos verharrte sie in ihrer Stellung, während er mit einer Kraft, die Niemand diesen Armen zugetraut hätte, sie vollends hinübertrug.

„Ich bitte um Verzeihung!“ sagte er leise, während er seine Last scheu und ehrfurchtsvoll drüben am Gartenthor niedersetzte.

„Ich danke!“ erwiderte Jane kurz und kalt, stieß selbst die Gittertür auf und trat ein.

Sie hatten nur wenige Schritte in den Garten hineingethan, als eine große, fast hünenhafte Gestalt dicht vor ihnen auftauchte.

„Herr Professor, um Gotteswillen, Sie sind wirklich ausgewesen in diesem Wetter! Und noch dazu ohne Regenschirm! Sie werden sich den Schnupfen holen, das Fieber, den Tod – und der Plaid! Herr Professor, wo ist denn Ihr Plaid geblieben?“

Mühsam und beinahe unwillig wehrte der Professor den Besorgten von sich ab, der mit einem großen Regenschirm bewaffnet, in etwas aufdringlicher Weise ihn zu schützen bemüht war.

„Aber Friedrich! Siehst Du denn gar nicht?“ Er wies auf Jane, die Jener in seinem übergroßen Eifer noch nicht bemerkt hatte, diese neue Thatsache aber, die Erscheinung einer jungen Dame an der Seite seines Herrn, schien gänzlich über die Fassungskraft Friedrichs zu gehen, er ließ den Regenschirm sinken und starrte die Beiden mit offenem Munde an, in einer so grenzenlosen Verwunderung, daß man deutlich sah, dergleichen war ihm noch niemals vorgekommen.

Der Professor machte rasch seinem stummen Entsetzen ein Ende. „Es ist die junge Dame, welche beim Doctor Stephan erwartet wird,“ sagte er. „Geh jetzt und sage dem Doctor –“

Weiter kam er nicht mit seinem Auftrage, denn Friedrich hatte kaum die ersten Worte vernommen, als er einen unarticulirten Laut ausstieß, plötzlich Kehrt machte und in mächtigen Sätzen davonschoß. Jane blieb stehen und sah den Professor an, ihre Miene verrieth deutlich, was sie von ihren deutschen Landsleuten zu denken begann, und daß sie nach der Begegnung mit den ersten beiden Exemplaren derselben sich einigen Zweifel an deren Zurechnungsfähigkeit überhaupt erlaubte. Der Herr sowohl als der Diener waren in ihren Augen gleich lächerlich.

Im Hause hatte inzwischen der Alarmruf Friedrich’s einen förmlichen Aufruhr veranlaßt. Thüren wurden aufgerissen und zugeschlagen, Treppen krachten unter schweren und leichten Tritten, man schien in stürmischer Eile noch einige Empfangsfeierlichkeiten zu improvisiren, oder doch die bereits vorbereiteten in Ordnung zu bringen, und als sich Jane endlich in Begleitung des Professors dem Haupteingange näherte, wartete ihrer denn auch eine Ueberraschung. Reiche Blumenguirlanden umgaben Thür und Pfeiler, ein riesiges „Willkommen“ prangte über der ersteren, Blumen waren auf Flur und Treppe gestreut, und am Fuß derselben stand der große Friedrich, ein ebenso großes Bouquet in den Händen, das er mit einem stolzen Lächeln auf seinem breiten Gesichte in ziemlich ungeschickter Weise der jungen Dame dicht vor die Nase hielt.

Ein solcher Empfang war jedoch augenscheinlich nicht im Geschmack von Miß Forest. Man hatte in ihrem Vaterhause wahrscheinlich dergleichen „überflüssige Sentimentalitäten“ ebenso sehr gemieden, wie man dort die „unpassende Vertraulichkeit“ der Dienstboten in Schranken hielt. Jane’s Augenbrauen zogen sich zusammen, sie sah den ihr entgegentretenden Diener von oben bis unten an, und als er, eingeschüchtert durch diesen sehr ungnädigen Blick, zur Seite wich, rauschte sie mit einer vornehmen Handbewegung, in der sehr wenig von Dank und sehr viel von kalter Zurückweisung lag, an ihm vorüber, die Treppe hinauf und trat, ohne die ihretwegen getroffenen festlichen Anstalten auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, in den Flur, wo jetzt eben Doctor Stephan und seine Frau erschienen.

Der Professor stand noch immer wie gebannt unten und blickte ihr nach, durch die noch eine Minute offen bleibende Thür. Er sah, wie die junge Dame, durch die doch gewiß eigenthümliche erste Begegnung mit ihren Verwandten, zu denen sie unerwartet, durchnäßt, durch’s Gartenpförtchen und in Begleitung eines völlig Fremden kam, auch nicht einen Augenblick aus der Fassung gebracht, auf ihren Oheim zuschritt, ihm mit kühler Artigkeit die Hand reichte, mit genau demselben Ausdruck der Tante die Wange zum Kusse bot, sich dann emporrichtete und Beiden gegenüberstand, so entschieden, so hoheitsvoll und selbstbewußt, als wolle sie gleich im ersten Moment der Begrüßung gegen jede etwaige Bevormundung oder Unterordnung ihrerseits protestieren.

Die Thür fiel zu und wie aus einem Traum erwachend fuhr der Professor auf und blickte sich nach Friedrich um. Der arme Bursche stand noch immer am Fuß der Treppe; die Blumen waren seinen Händen entfallen, und regungslos starrte er der schönen stolzen Erscheinung nach, die ihn so herb abgewiesen. Sein Herr legte die Hand auf seine Schulter.

„Komm mit hinauf, Friedrich.“

Bei dieser Anrede kam einiges Leben in die Züge des Burschen, die allmählich den Ausdruck tiefster Gekränktheit annahmen, er fuhr mit der Hand durch sein staubblondes Haar und blickte mit den hellblauen Augen, in denen ein paar bittere Thränen standen, seinen Herrn an.

„Ja, was habe ich denn eigentlich gethan?“ fragte er im kläglichsten Tone.

„Laß gut sein, Friedrich,“ sagte der Professor gepreßt. „Die junge Dame ist vermuthlich an diese deutsche Art des Empfanges nicht gewöhnt, Komm jetzt.“

Friedrich gehorchte, er bückte sich nach seinem Bouquet und hob es auf, beim Anblick desselben aber schien sich seine bisherige Gekränktheit in Zorn zu verwandeln. Mit dem Ausdruck vollster Wut ergriff er den Strauß und schleuderte ihn weit hinaus in den Garten.

„Friedrich!“ Der Ruf und der ernste Ton seines Herrn brachte den Burschen sofort zur Besinnung.

„Ich komme schon, Herr Professor!“ antwortete er demüthig, und mit der Hand die Thränen aus dem Auge wischend, schlich er mit gesenktem Haupte hinter seinem Herrn die Treppe hinauf.

(Fortsetzung folgt.)
[245]

In der Kirche von Sevran, am 21. October 1870. Nach einer Skizze von Lorenz, ausgeführt von Sundblad.

[246]
Ein fahrendes Lazareth.
Von Friedrich Hofmann.
2. Der Sanitätszug auf der Heimfahrt.

Gerade in diesem Augenblick, wo die Räumung der französischen Lazarethe von den Tausenden unserer Verwundeten einen Artikel der Friedensbedingungen ausmacht, haben auf den Schienen Frankreichs und Deutschlands die Sanitätszüge die wichtigste Pflicht zu erfüllen. Möge dies ihnen weniger schwer gemacht werden, als es mit dem Sanitätszug der Fall war, welchem ich mich hatte anschließen dürfen.

Derselbe fuhr am zwölften Januar früh zehn Uhr vom bairischen Bahnhof in Leipzig ab und war nach Epernay bestimmt. Von Militärzügen aufgehalten, gelangte er erst am 10. Nachts nach Nanzig und war am 20. Abends auf der Fahrt nach Chalons hin bereits bei der Station Blesme angekommen, als von der „Evacuationscommission“ zu Epernay an den dirigirenden Arzt Dr. St. der Befehl eintraf, seinen Zug auf der hier einmündenden Bahn nach Orleans zu führen. Diese nahe an hundert Meilen lange Strecke der Schienenverbindung von Weißenburg und Straßburg bis Tours, war als die südlichste im Machtbereich der Deutschen den Angriffen der Franctireurs am häufigsten ausgesetzt, erst seit ein paar Tagen von den letzten Zerstörungen wieder hergestellt und in ihrer ganzen Länge mit starken Feldwachtposten versehen, in der ersten und schlimmsten Hälfte meist von preußischer und sächsischer Landwehr. Wir hatten auf der ganzen dreitägigen Fahrt fabelhaftes Glück. Nicht selten an schauerlich aufstarrenden Trümmern von Häusern und Villen, Dörfern und Städten und zertrümmerten, über aufgerissenen Schienen entgleisten Eisenbahnwagen vorüber und, wie wir, Gottlob, erst später in den Zeitungen lasen, mehrmals zwischen „feindlichen Abtheilungen“ hin, kamen wir unangefochten an das befohlene Ziel.

Am Dreiundzwanzigsten, Abends zwischen acht und neun Uhr, fuhren wir in den Bahnhof von Orleans ein. Unser Aufenthalt daselbst schien ein sehr kurzer werden zu sollen. Die Kunde von der Ankunft des ersten Sanitätszugs an diesem fernen Lazarethorte wurde von Aerzten und Kranken mit Freude begrüßt, und schon für den zweiten Tag nach unserer Ankunft war Alles zur Beladung unserer Krankenwagen vorbereitet.

Am 25. früh neun Uhr wurde dieses Geschäft begonnen. Noch heute fühle ich das Grauen und den tiefen Schmerz nach, der mich ergriff, als ich in Leipzig dem ersten Transportwagen mit Schwerverwundeten begegnete. Es waren zwei Franzosen und deren Köpfe wackelten bei jedem Stoß des Wagens wie die von Todten hin und her. Dasselbe Gefühl wollte wieder Herr über mich werden, als man die ersten Bahren mit Verwundeten und Kranken herbeitrug und auf dem Perron des Bahnhofs hinstellte. Diesmal galt es aber, alle Scheu und alles Grauen niederzukämpfen, denn mein Wille und meine Pflicht war, hier, so viel ich vermochte, helfende Hand mit anzulegen. Vor der Hand waren die Kranken ganz in Wollendecken eingehüllt, ihre Verstümmelungen waren dem Anblick entzogen, und aus den Augen Aller, ohne Ausnahme, leuchtete das Gefühl der Freude über die Hoffnung, in die Heimath zurückzukommen. Nach und nach füllte sich der Perron, die Bahren standen zu Dutzenden da, denn das Hereinheben der Einzelnen in die Krankenwagen und in die Betten ging nicht so rasch vor sich, als das Herbeischaffen aus den Lazarethen der Stadt. Uebrigens mußten nicht alle Verwundeten und Kranken getragen werden, manche humpelten, von zwei Cameraden geführt, daher, andere wurden von kräftigen Männern rittlings auf dem Rücken herzugetragen und einige, namentlich an den Armen Verwundete und Brustkranke, kamen auch nur von einem Cameraden geführt zu den Krankenwagen.

Bis drei Uhr waren hundertsiebenundsechszig Verwundete untergebracht. Die letzten schwer Transportabeln wurden in den letzten, außerhalb der Halle im Freien stehenden Wagen gleich auf den Bahren hineingeschoben. Eben hob man einen solchen, der einen Fuß verloren hatte, zur Plattform des Wagens hinauf und vier lagen noch auf ihren Bahren davor, als ein Eisenbahnzug herbeikam, voll von neuen und blutjungen Truppen mit nagelneuen sauberen Uniformen und frischen Gesichtern mit kräftigrothen Backen. Der Contrast war ergreifend. Ich sah manches dieser Antlitze sehr ernst und lang werden und manches sich verfärben. Sie hatten so fröhlich zum Bahnhof herein gesungen, aber Wagen um Wagen, wie er vor dieser Scene vorüber fuhr, schwieg, und als alle vorbei waren, waren auch alle still geworden.

Punkt vier Uhr sollte der Sanitätszug abfahren, in Tonry warteten noch zwölf Verwundete auf ihn. Da, nur noch fünf Minuten vorher, meldete eine telegraphische Depesche aus Sens, bei La Rochelle hätten die Franctireurs eine Eisenbahnbrücke gesprengt. Der Zug mußte bleiben, um genauere Nachrichten abzuwarten. Anstatt einer tröstlichen Kunde kam die von der Zerstörung einer zweiten und noch wichtigeren Brücke, der bei Fontenay, zwischen Toul und Nanzig.

Die Erklärung der Sachverständigen, daß unter acht bis vierzehn Tagen die Herstellung von Nothbrücken nicht möglich sei, führte die Nothwendigkeit herbei, sämmtliche Kranke und Verwundete wieder auszuladen und in ihre Lazarethe zurückzubringen. Das war eine harte, aber unumgängliche Maßregel. Der Sanitätszug darf nicht mehr sein wollen, als er ist: ein möglichst bequemes Transportmittel für die Verwundeten, aber nicht Heilanstalt, nicht Lazareth; wie der Gesunde muß auch der Kranke sich während der Fahrzeit mancherlei Beschränkungen seiner Lazarethgewohnheiten und Bequemlichkeiten gefallen lassen, die ihm solange nicht lästig sind, als die fahrende Bewegung ihn dafür mit der Freude entschädigt, der Heimath mit jedem Ruck näher zu kommen; denselben Beschränkungen und Bequemlichkeitsentbehrungen wochenlang ausgesetzt sein, das würde die Mehrzahl der Kranken unerträglich gefunden haben. Dies wurde den so bitter getäuschten Insassen der Krankenwagen so mild und freundlich, als nur möglich, zu Herzen geführt, und so fügten sich Alle der Nothwendigkeit, aber nicht Alle auf einmal; einzelne der Kranken, namentlich Officiere, hatten bis zum fünften Tage die Hoffnung auf die rascher ermöglichte Abfahrt festgehalten, bis auch sie von der Vergeblichkeit derselben überzeugt waren. Der Anblick der Armen, wie sie mühsam von ihren Betten wieder herabgehoben und auf die Bahren gelegt wurden, um dahin zurückgetragen zu werden, wo sie, wenn auch dankbar, doch gern geschieden waren, die Verstimmung, die sich in den verschiedensten Graden der Aeußerung kund gab, war mir fast schwerer zu ertragen, als die erste grausige Erscheinung der entsetzlichen Verstümmelungen. Ein brustkranker Holsteiner war während der einen Nacht im Wagen gestorben; das gab wenigstens einen Fingerzeig für die möglichst sorgsame Auswahl der Kranken für den Sanitätszug.

So stand nun die stattliche Reihe der achtundzwanzig Wagen da, „vom Vaterland getrennt“, und einzig darauf angewiesen sich in ihr Schicksal zu fügen und höchstens den Kriegszustand zur vorsichtigen Füllung ihrer Depotwagen durch Requisitionen zu benutzen, um die Kosten der Unterhaltung des Zugs dem Staate nach gesetzlicher Möglichkeit zu erleichtern. Das war die schwere Aufgabe für den Inspector H., der dabei eine Umsicht und Thätigkeit entfaltete, die unsere Bewunderung verdiente.

Auch in Orleans gab es Zeichen der nahen Kriegsgefahr; nicht nur wurden fast täglich Gefangene aus den Gefechten mit den Franctireurs eingebracht; auf den beiden Loirebrücken standen Doppelposten an höchst verdächtigen Stellen, wo sie jedem Vorübergehenden das Rauchen untersagten: man hatte hier Minen gelegt, um bei einem Angriff vom linken Ufer her durch Sprengung beider Brücken die Stadt vor einem Ueberfall zu sichern.

Wir erlebten in Orleans noch die Capitulalion von Paris und feierten sie, aber sie half für unsern Zweck uns nichts, weil auch die directe Eisenbahnverbindung von Paris mit Lagny noch nicht hergestellt war. Erst am 6. Februar kam die Nachricht, daß die ganze Bahnstrecke von Orleans bis Nanzig wieder fahrbar sei und der Sanitätszug am Neunten seine Rückkehr antreten solle.

Diesmal war das Einladen der Verwundeten und Kranken bereits geschehen, als ich am Achten Nachts von meiner Pariser Fahrt zurückkam. Am Neunten früh noch einen Abschiedsgang durch Orleans, und Nachmittag vier Uhr erschallte das Hurrah, welches die zahlreich auf dem Perron versammelten Cameraden den in die deutsche Heimath Abfahrenden nachriefen.

Als die Thürme der prächtigen Kathedrale zum heiligen Kreuz [247] von Orleans meinen Augen entschwunden waren und der „Wald von Orleans“, aus dem so manche Todeskugel unsere Braven getroffen hatte, zur Rechten die Ebene begrenzte, machte ich mit Dr. St. einen Gang durch die Krankenwagen. Sie beherbergten hundertzweiundneunzig Mann, darunter zwanzig Hessen, sechzig Baiern, die Uebrigen waren Norddeutsche; in drei Wagen lagen dreißig Officiere beisammen. – Den schlimmsten Anblick boten, natürlich nur während des Verbindens, die Amputirten. Es waren deren siebenundfünfzig, und zwar kamen zweiundvierzig nur mit einem Bein und fünfzehn nur mit einem Arm aus dem Kriege heim. Sie waren aber fast durchweg die Heitersten im ganzen Zuge, denn da ihre Wunden der Heilung zuschritten, so plagte sie nichts als ein ungeheurer Appetit, der ihnen reichlich gestillt werden konnte. Von den Uebrigen trugen die Meisten schwere Schußwunden und Kopfverletzungen durch Granatsplitter. Die Stillsten waren die durch Bajonnetstiche in die Brust Verwundeten; von ihnen hatten sich mehrere aufgelegen. Diese vor Allen trieb die Sehnsucht in die Heimath, wo mancher sein frühes Grab finden wird. Einige lagen in Folge des Typhus im höchsten Grade der Erschöpfung da und andere litten noch schwer am Gelenkrheumatismus. Am bejammernswürdigsten waren zwei bairische Artilleristen, die in der Hitze des Kampfs dasselbe Geschick erreicht hatte: das Versehen, ihre Hinterlader nicht gehörig zu schließen, hatte verursacht, daß die Pulverentladung ihnen Hände und Gesicht verbrannte. Einer davon war bereits erblindet, der Andere dem Erblinden nahe, und welch’ gräßlichen Anblick boten diese Köpfe! – Ein Paar der Kranken mußten unterwegs wieder in Lazarethen untergebracht werden, weil sie das Fahren noch nicht vertragen konnten. Diese traurigen Ausnahmen abgerechnet, herrschte durch alle Wagen ein heiterer Geist, der Einem in dieser Umgebung außerordentlich wohl that.

Die erste Nacht verbrachten wir in Corbeil, wohin von Chaumont am selben Tage der Sitz der deutschen Eisenbahnbetriebs-Commission über die Bahnstrecke von Tours bis Blesme verlegt worden war. Hier gab’s zum bestellten Abendessen auch Bier. War das eine Lust, zu sehen, wie besonders unsere Süddeutschen nach so langer Entbehrung das erste Glas des geliebten Labsals an den Mund setzten! – Am Morgen begleitete ich Dr. St. beim Verbinden. Gleich im ersten Wagen fragte er den im untern Bett links liegenden Baiern: „Nun, wo fehlt’s?“ Da hebt der die Decke weg und zeigt statt des rechten Beins ein kurzes Stummelchen. „Armer Mann!“ fuhr’s mir heraus. Er aber meinte: „’s ist allweil besser so, als gar nit heimkumme.“ Bei der Abnahme des Verbandes staunte ich über den Haufen Charpie, der aus der Umhüllung der Wunde hervorquoll, bis endlich der Knochen mit seiner Fleischumgebung bloß lag. Im Bette über diesem Leidensgefährten streckte sich ein hessischer Jäger, ein hübscher junger Mann, dem der linke Fuß fehlte, der aber in dem Eisernen Kreuz auf seiner Brust vollen Ersatz dafür gefunden zu haben schien, denn auch er begegnete meiner bedauernden Miene mit den Worten: „Mancher gäbet alle zwoi Boin’ drum her, wenn er das Kreuzche da derfür haben kunnt’.“ – Ihm lächelte gegenüber ein Armloser zu, d. h. er hatte den linken Arm verloren und die rechte Hand war schwer verletzt; er war damit einverstanden und meinte: „Es wird halt immer besser, je näher es der Heimath geht.“ – Auf[WS 1] seinem Parterrebette – die Soldaten nannten scherzweise die unteren Lager so zum Unterschied von denen „zum ersten Stock“, den oberen – saß ein durch die Brust Geschossener; er sah recht elend aus, aber den ganzen Tag leuchtete die Freude aus seinen Augen, weil ihm das Sitzen so wohl that.

Aehnliches wiederholte sich in allen Wagen; in allen aber war es schade, daß nicht ein Stenograph die Mittheilungen der Erlebnisse niederschreiben konnte, mit denen die Leute sich die Zeit verkürzten und versüßten. Während man in einem Wagen den Erzählungen zuhörte, wie viel versäumte man da in den übrigen neunzehn Wagen! So viel ich übrigens erhorchen konnte, sprach man durchweg weniger von den Gefechten und Verwundungen, als von den furchtbaren Strapazen der Wintermärsche, den Leiden nach den Kämpfen und den Racheacten gegen die Franctireurs, gegen welche namentlich die Baiern in Haß glühten. Sie hatten besonders in den Loirekämpfen entsetzlich gelitten. Officiere, welche drei Tage später über die Schlachtfelder ritten, fanden noch von Mann und Roß Todte und Verwundete am Wege liegen. Den furchtbarsten Eindruck hatte diesen abgehärteten Männern der Anblick in einem Schlosse bei Blois gemacht. Es war ein erster Zufluchtsort der Verwundeten gewesen und mußte eiligst geräumt werden, um als Einquartierungsplatz zu dienen. Man fand nicht nur alle Räume hoch mit Stroh und Schmutz bedeckt, als man den Unrath wegschaffte, fand man unter denselben nicht nur eine Anzahl Leichen und Arme und Beine von Amputirten liegen, sondern auch noch mehrere Verwundete! – Ein baierischer Jäger des Zugs behauptete, daß er Einer dieser Verwundeten sei. Er erzählte, er sei zweimal gefunden worden, das erste Mal auf dem Schlachtfelde, wo er schon ganz erstarrt gewesen, das zweite Mal in einem großen Hause, wo er mit einigen hundert oder gar tausend Verwundeten zusammen gelegen. „Ich lag in einer Flur, so groß wie ein Saal, und mitten inne stand ein Tisch, auf welchem die Doctoren immer ihrer etliche Mann zugleich unter’m Messer hatten. Und wie ich nun sah, wie bald ein Stück Arm, bald ein Fuß oder gar ein Bein von dem Tisch herunterflog auf den Boden, und hörte das Mordgeschrei, da bekam ich eine Angst wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Ohne zu wissen, was ich that, riß ich mit beiden Händen alles Stroh und Heu an mich, das ich erreichen konnte, und schob es über mich, um mich vor den Doctoren zu verbergen. Das muß mir nicht schlecht gelungen sein, denn als man plötzlich alle Verwundeten wieder auspackte, und weiterschaffte, wartete ich vergeblich auf’s Wiederkommen der Krankenträger. Sie hatten mich nicht gesehen, oder für todt gehalten, und da lag ich in meinem Elend und schrie aus Leibeskräften, aber es war zu spät. Ich fühlte nach links und rechts und spürte nichts, aufrichten konnte ich mich nicht, warm lag ich wohl, aber so einsam, so schrecklich einsam, und es kam die Nacht. Ich muß endlich eingeschlafen oder ohnmächtig worden sein, denn ich kam erst wieder zu mir, als ich einen Stoß verspürte und mit dem Haufen Stroh und Schmutz über mir mit fortgeschoben wurde. Da raffte ich noch einmal alle Leibeskraft zusammen zu einem Schrei, den ich selber mein Lebtag nicht vergesse. Und da haspelten sie mich aus dem Unrath heraus, nicht schlecht verwundert, und meinten: Nu wär’s klar, warum der Dreck so schwer gewesen sei. So bin ich zum zweiten Mal gefunden worden und verlang’s kein drittes Mal zu erleben. Wegen dem Bein hat’s Verstecken freilich nichts geholfen, das ist doch weg, aber ich bin noch da.“

„Da kommt sie!“ rief ein Krankenwärter, durch den Wagen rennend.

„Was denn?“

„Die gesprengte Brücke!“

Ich eilte vor die Thür auf die Plattform. Richtig, da flatterte, noch weit in der Ferne, die schwarze Fahne bei der verdächtigen Stelle. Aus dem nächsten Wagen trat die Diakonissin, Schwester Gertrud, heraus und rief: „Ach, wenn nur nichts geschieht! Ich habe kein Bangen um mich, aber um diese armen Menschen da drinnen!“

Sie sprach auch mein Gefühl aus, die brave Schwester. Wir waren herwärts über vier solcher Nothbrücken gefahren, und damals hatte sogar der Wagenzugführer gestanden, der Anblick sei so schauerlich gewesen, daß er die Augen davor habe zudrücken müssen; ich war ruhig geblieben. Aber jetzt kam auch mir der Gedanke: wenn die Balken die Last nicht tragen, was wird aus all den hülflosen Verwundeten! – Indeß donnerten bereits die ersten Wagen darüber, und nun kamen auch wir daran, wir schauten durch die Balkenlage hinab in die brausende Yonne – und überstanden war’s, drüben lag La Rochelle, der für den Franctireursfrevel des 25. Januar hart gestrafte Ort, und vor uns lag die Aussicht, am kommenden Tage noch fünf solcher Brücken zu überfahren.

Schwester Gertrud war seelenfroh und erzählte mir von mancher ähnlichen Gefahr, die sie erlebt. Sie hat, trotz ihrer Jugend, schon eine reiche Vergangenheit ihres Wirkens hinter sich. Ihre Erlebnisse während der Typhusnoth in Preußen, im Kriege von Sechsundsechszig, wo ein von ihr verbundener Österreicher sie zum Dank dafür durch einen Pistolenschuß verwundete, und im jetzigen Kriege, wo sie unter Anderen durch ihre nimmermüde Sorge einem Officier das Leben gerettet – „und er hat sich nicht einmal dafür bedankt“ – das Alles verdiente erzählt zu werden; aber wie noch so Manches, das zu dieser Fahrt gehört, muß auch dies für mein Reisebuch bei Seite gelegt werden.

Es war wieder Abend geworden und ich hatte eine Einladung [248] zur „Musikalisch-declamatorischen Soirée“ in den Officierswagen erhalten. Im Sanitätszuge? Allerdings, und es gab auch große Tafel dabei und war die originellste Lustbarkeit. Wer von den dreißig Officieren nur irgend sein Lager verlassen konnte, der humpelte, hinkte oder schlich in den mittleren der drei von ihnen besetzten Wagen. Alle Schemel und Stühle aus der Wagennachbarschaft waren in den engen Gang zusammengeschleppt zu Sitzen für ein hochansehnliches Publicum. Eine Laterne mit einem Talglicht hing an der Wagendecke; in, an und zwischen den äußersten vier Betten war die Capelle versammelt, und die getheilte Portière stellte den Vorhang für die scenischen Ueberraschungen vor. – Das Programm war reichhaltig. Erst die große Frohnleichnamsmusik vom ersten Trompetenstoß bis zum letzten Trommelschlag nebst allen Ehrensalven; dann eine Capuzinerpredigt über die Frauensleut’; die Ouverture zum „Tannhäuser“, dann Vorstellung eines Käsperles-Theaters, die üblichen Charakterpuppen des Todes und des Teufels aus einem Stiefelknecht und einer kurzen Tabakspfeife fein hergestellt; Solo mit Brummchor, dann diverse Declamationen – und mittendrin überraschte die Abendmahlzeit auf den großen hölzernen Präsentirtellern Darstellende und Publicum. Wer sich nicht in einem der zehn Betten befindet, nimmt die liebe Gottesgabe in die Hand und ißt sie aus freier Faust; die in den Betten benutzen ihre Beine als Tisch, wenn sie deren noch zwei haben. Das ist aber nicht immer der Fall, denn gleich der Capellmeister, ein bairischer Hauptmann, und sein Nachbar, Husarenrittmeister und Trompetenvirtuos, haben jeder nur noch ein Bein – und mehrere andere Künstler müssen das Essen mit einem Arme lernen. Aber es geht, im Nothfall mit Hülfe getreuer Nächstenliebe. Der Wein muß nicht immer aus Weingläsern getrunken werden; es thun dazu auch andere Gefäße gut; man ist ja im Kriege. Und nach der Tafel das Programm noch einmal von hinten mit Variationen, und „Bravo!“ – „Hier bleiben!“ – „Zulage kriegen!“ bis zur Mitternacht. Wenn die Franzosen draußen im hellen Mondenschein solchen Jubel hinter dem rothen Kreuze hörten, sollten sie nicht auf den Gedanken kommen: „Wenn die deutschen Kranken so sind, was ist da gar mit den Gesunden anzufangen?“

In Chaumont, das wir am nächsten Nachmittag wiedersahen, wimmelte der Bahnhof von Reconvalescenten aller deutschen Völker und Waffen, wie sie der Krieg in die Lazarethe zusammengeworfen hatte. Für sie wurden noch drei Personenwagen dem Zuge angehängt. Viele trugen Wollendecken und ihre ganze Armatur bei sich und alle sahen noch ziemlich hinfällig aus; einige mußten sogar auf den noch freien Betten des Sanitätszuges untergebracht werden.

Bei Fontenay passirten wir die letzte gesprengte Brücke; der Ort lag niedergebrannt da, und diesem Bezirk Französisch-Lothringens kostete die Heldenthat der Besatzung von Langres zehn Millionen Franken Strafe – auf kaiserlich deutschen Befehl.

In Nanzig blieben wir nur wenige Nachtstunden; der Morgen des zwölften Februar führte uns den Vogesen und dem neuen und alten Deutschland zu. Auf der ganzen Bahn lauerte ich auf die Station, wo das Volk zuerst deutsch sprechen werde. Das war in Saarburg. Ein hübsches Mädchen kommt mit einer Flasche und mit einem Glas daher.

„Was giebt’s da, Mädel?“

„En Cognac!“

„Ist er gut?“

„Ei ja, mein Herr! Wollen’s Einen?“

„Hurrah, da geht Deutschland los! Gieb Einen her!“ –

Durch die herrlichen Vogesen war’s jetzt eine ganz andere Fahrt: sie waren nun unwiderruflich deutsch und auf allen Bahnhöfen flatterten die deutschen Fahnen. – Aber erst im alten Vaterlande begann für unsere Kranken wieder die Freude der Liebesgaben: in Landau, Neustadt an der Haardt etc.; jenseits des Rheins, den wir am frühen Morgen des Dreizehnten wieder begrüßten, nahm der Abgang vom Sanitätszug seinen Anfang. Viele Officiere begaben sich nach Wiesbaden; in Babenhausen und Darmstadt blieben die Hessen, in Würzburg die Baiern zurück, und als wir am Vierzehnten die sächsische Grenze wieder erreichten, bestand die Besetzung des Zuges noch aus etwa hundert Kranken, darunter siebenzehn Officiere. Sie Alle wurden von den Jungfrauen der Stadt Plauen im Voigtland mit schönen Sträußchen geschmückt, und ein grünes Blättchen rief allen zu: „Den deutschen Siegern über französischen Uebermuth freundlichsten Gruß!“

Um zehn Uhr Nachts fuhren wir im Magdeburger Bahnhof zu Leipzig ein, und meine große Fahrt mit dem Sanitätszuge war vom Anfang bis zum Ende glücklich vollbracht.




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.[1]
Nr. 1. In der Gefangenschaft.


Am 11. November vorigen Jahres, wie ich Euch von Nantes aus in der höchsten Eile geschrieben, wurde ein Zug meiner Escadron beordert, einen Patrouillenritt nach Bonneval zu unternehmen. Meinen schriftlichen Gruß an Euch, den vielleicht letzten für dieses Leben, hatte ich in die Hände eines meiner Cameraden gegeben, denn ein Patrouillenritt ist ein Ritt auf Tod und Leben. Vor Bonneval Morgens elf Uhr angekommen, beorderte mich mein Zugführer in das freundlich gelegene, von zwei Chausséen rechtwinklig durchschnittene Städtchen, indem er mir zwei Husaren zur Begleitung gab. Er wies mich an, von links her in die Stadt zu reiten, er selbst wollte mit dem Rest des Zuges geradeaus gehen und mit mir auf dem Marktplatze wieder zusammentreffen.

Hätte ich doch beachten wollen und mit Rücksicht auf den mir gewordenen Auftrag meines Zugführers beachten dürfen die freundliche Warnung einer Dame, die, aus Bonneval kommend, den guten Preußen zur schleunigen Umkehr rieth, da Chasseurs und Franctireurs die Stadt besetzt hielten, ich hätte mir viel Noth und Schmerz erspart! Aber den Befehlen meines Vorgesetzten gehorchend, führte ich meinen Auftrag aus, nahm unterwegs von einem Bauer, der uns wiederholt mit „bon Prussien“ begrüßte und unseren Pferden liebkosend den Hals streichelte, ein Glas Madeira dankend an, erfuhr von ihm, daß weit und breit keine Seele von seinen bewaffneten Landsleuten zu finden sei, fand auch wirklich keine Spur derselben und ritt mit meinen Begleitern wohlgemuth nach dem Kreuzungspunkt der Chausséen. Mein Officier war noch nicht angekommen, was mich befremdete, da er den kürzeren Weg reiten wollte. Jetzt ahnete mir nichts Gutes und nachdem ich etwa fünf Minuten gewartet hatte, beschloß ich, meinem Lieutenant entgegen zu reiten. Kaum hatte ich hundert Schritt zurückgelegt, als ich im Stande war, die Straße bis zum freien Felde zu übersehen, aber auch mit Schrecken gewahr wurde, daß drei Züge Chasseurs aus einem Hinterhalte hervorbrachen und gestreckten Laufes meinen Cameraden auf den Fersen waren. Dies sehen, Kehrt machen und im Galopp den Weg, den ich gekommen, wieder zurückreiten, war das Werk weniger Augenblicke. Ich wußte den Weg frei und einmal im freien Felde hätten die schwerfälligen Chasseurpferde Mühe gehabt, uns behende Husaren einzuholen. Aber meine Rechnung war falsch. Wir waren noch fünfzig Schritte vom Thore entfernt, als, wie aus der Erde gewachsen, zwei Compagnien Franctireurs uns den Weg versperrten und eine volle Salve auf uns abgaben. Einer meiner Cameraden fiel vom Pferde von fünf Kugeln im Kopf getroffen, wie ich später sah. Wir wollten abermals Kehrt machen, aber unsere Pferde standen vor Schreck wie versteinert. Wir stießen ihnen die Sporen tief in die Seiten, aber sie rückten und rührten sich nicht! Eine zweite Salve streckte meinen zweiten Cameraden nieder, indeß mein Pferd durch den Hals geschossen wurde. Kurz darauf stürzte mein Pferd, an dessen Steigbügel sich mein Camerad angeklammert hatte, und ehe ich meinen Säbel fest fassen konnte, um mein Leben so theuer wie möglich zu verkaufen, war ich fast erdrückt von Franctireurs.

[249] Im Umsehen war mir meine Baarschaft von sechsunddreißig Thalern geraubt, meine schöne goldene Uhr, mein Album, das ich für Euch zum Andenken bestimmt hatte, und das mit Ansichten hervorragender Gebäude aller der Städte geschmückt war, die ich in diesem Feldzuge gesehen, und was mich am meisten schmerzte, das prachtvolle goldene Bandelier, das mir mein Regiments-Commandeur als Andenken an Artenay auf dem Schlachtfelde geschenkt hatte. Als in meinen Taschen nichts mehr zu finden war, riß man mir die Kleider vom Leibe, bis ich buchstäblich im bloßen Hemde dastand. In diesem Aufzuge führte man mich barfuß durch die Stadt, der Pöbel bewarf mich mit Steinen und Unrath aller Art, und unter wahnsinnigem Geschrei „Prussien caput“ wurde ich außerhalb der Stadt an einen Pfahl gebunden. Man schlang mir einen Strick um den Hals, umwickelte meine Arme und Beine mit Binden, und die Rotte schritt dazu, ihrer Grausamkeit ein Ende zu machen. Sechs Mann stellten sich mir gegen über auf und unter betäubendem Geheule der entmenschten Zuschauer legten sie ihre Gewehre an. Da, in dem Augenblicke, als ich meine Seele Gott empfahl und Euer, wie ich glaubte, mit inniger Liebe zum letzten Male gedachte, Euch von Herzen beklagte, daß nun auch Euer zweiter Sohn sein Leben lassen müsse für seinen König, da sprang ein Officier herbei, der seitwärts hinter einer Hecke gestanden hatte, stellte sich vor mich hin, und soviel ich aus seiner schnell gesprochenen Anrede verstand, protestirte er energisch gegen meinen Tod, den ich als Kriegsgefangener nicht verdient hätte. Wie ich später erfuhr, war dieser edle Mann ein preußischer Pole, der 1848 sein Vaterland verlassen hatte und in französische Dienste getreten war. Seinen Namen habe ich leider nicht behalten können, doch das Andenken an ihn werde ich hoch und heilig halten. Mein Retter hatte nicht umsonst gesprochen. Man band mich vom Pfahl los, warf mir ein Paar alte leinene Hosen zu, gab mir ein Paar Holzschuhe und führte mich nach der Stadt zurück, wo man mir einen tiefen, stockfinstern Keller zum Aufenthalt anwies. Nach einer halben Stunde kamen zwei Männer zu mir, die mir beide Hände mit eisernen Fesseln zusammenbanden und mich wieder meinem Schicksal überließen. In dieser Einsamkeit brachte ich schreckliche Stunden zu. Ich habe dem Tode oft in’s Auge gesehen, er hat mich in der Schlacht nicht geschreckt, aber unter der Erde in trostloser Oede sterben zu sollen, das war mehr, als ich mit Gleichmuth ertragen konnte. Endlich nach wohl fünf bis sechs Stunden, die ich ohne Wasser und Brod, vor Kälte zitternd, in der Eisesluft des Kellers zugebracht hatte, that sich wieder die Thür auf und ich blieb nicht mehr allein.

Ein Camerad vom sechsten Kürassierregiment, Klauck mit Namen, theilte mein Schicksal. Ehe wieder eine Stunde verflossen war, wurden wir an das Tageslicht geholt. Man legte uns eiserne Klammern um den Arm, die mit einer etwa acht Zoll langen Kette verbunden waren, und so aneinander gefesselt, ohne weitere Kleider in kalter, nasser Witterung wurden wir nach Chateaudun getrieben, wo wir ebenfalls einen Keller als Nachtlager angewiesen erhielten.

Die Ketten nahm man uns nicht ab, nicht einen Augenblick, hier nicht, wie auf dem ganzen langen Marsch, der uns noch bevorstand. Nicht lange waren wir in diesem Nachtlager angekommen, als man uns herauszukommen befahl, da General Garibaldi uns verhören wolle. Wir wurden vor einen Mann geführt, der über dem linken Auge einen schwarzen Flor trug und ziemlich gut deutsch sprach. Er befragte uns über die Zahl und Stärke der ihm gegenüberstehenden Armee, Fragen, die wir nur sehr unvollständig beantworteten, und wollte namentlich bestimmte Auskunft von uns darüber haben, ob die Armee des Prinzen Friedrich Karl zu unseren Truppen gestoßen sei. Diese Frage beantworteten wir mit aller Bestimmtheit bejahend, er bezweifelte aber immer noch und erklärte uns mit dem allergemüthlichsten Tone, daß wir erschossen werden würden, wenn wir gelogen haben sollten. Einer seiner Begleiter, der mir als Sohn Garibaldis bezeichnet wurde, sagte mir, er habe mit unseren Officieren in Alençon Billard gespielt, ohne erkannt worden zu sein, worauf er sich viel zu Gute zu thun schien. Der alte Herr, ob Garibaldi oder nicht, das weiß ich nicht, war trotz seiner Kürze und Entschiedenheit nicht unfreundlich; das gab mir Muth, mich über die mir widerfahrene Behandlung zu beklagen und ihn zu bitten, dafür zu sorgen, daß ich meine Kleider und mein Eigenthum wieder erhalte.

Garibaldi, so will ich den alten Herrn nennen, antwortete nicht gleich, dagegen ergriff ein anderer seiner Begleiter das Wort und erklärte kurz und bündig, mein Eigenthum sei rechtmäßige Beute der Franctireurs. Ich glaubte auf diese Aeußerung eine unwillige Miene an Garibaldi zu bemerken, der bald darauf mir sagte, er werde sehen, was sich meiner Kleider wegen thun ließe.

Nicht lange nachher konnte ich meinen Attila wieder anziehen, die Mütze aufsetzen und mich in meinen Mantel hüllen. Gott segne es dem alten Herrn. Meine Werthsachen blieben in den Händen der Räuber. Man führte uns wieder in den Keller zurück, wo wir bis zum andern Morgen ruhten. Schlaf kam nicht in unsere Augen; wir hatten beständig an unserem Armringe hin und her zu drehen, weil wir nur dadurch unsere unsäglichen Schmerzen lindern konnten.

Am andern Tage führte man uns nach Vendôme und sperrte uns, Abends 9 Uhr dort angekommen, natürlich immer an einander gekettet, in einen Verschlag, der sich in nichts von einem Schweinestall unterschied, aber doch nicht so wohnlich eingerichtet war, da er uns statt der Streu nur die blanke Diele als Lager bot. Wir erhielten Reis in warmem Wasser und ein winziges Stück Fleisch; unterwegs hat man uns nur Brod gereicht. Von Vendôme ging unser Weg nach Tours, wo wir gegen 6 Uhr Nachmittags vor der Präfectur anlangten. Nachdem unser National aufgenommen worden war, wurden wir in das Gefängniß geführt, um wenigstens auf einer Matratze unsere müden, zerschlagenen Glieder ausstrecken zu können. Ich sage „zerschlagen“: denn mit Wunden, die uns mit Steinen, Stöcken und Messern zugefügt worden waren, von Koth starrend, mit dem uns hoher und niederer Pöbel aller Orten beworfen hatte, glichen wir kaum noch menschlichen Wesen. Dazu der ewige Druck des Armringes, das uns als Cavalleristen ungewohnte angestrengte Marschiren in plumpen Holzschuhen, die Aussicht, fort und fort Mißhandlungen ausgesetzt zu sein, Hunger leidend und Durst, es war fast zum Verzweifeln! Aber ganz so trostlos sollte unsere Lage doch nicht bleiben.

Ein Officier der päpstlichen Leibgarde, Franzose von Geburt, besuchte uns, schenkte jedem von uns einen Frank und ließ eine Flasche Wein holen, die er mit uns austrank. Mit freundlichen Worten schied er von uns, uns von Herzen beklagend, der brutalsten Behandlung ausgesetzt gewesen zu sein.

Am andern Morgen wurden wir früh aus dem Gefängniß geholt und zwei Minuten später saßen wir in Begleitung eines Gensdarmen auf einem Wagen, der uns nach Nantes brachte. Die Mißhandlungen seitens des Pöbels wollten kein Ende nehmen. Mit Furcht und Zagen sahen wir jedem Dorfe entgegen. Ich habe nur einmal gezittert, vor dem ersten Gefecht, später nicht mehr. Aber geschlossen in Eisen, wehrlos einem wüthenden Menschenhaufen gegenüber, gefoltert von unerhörten Schmerzen in meinem, wie Ihr wißt, sehr umfangreichen Arm, für den französisches Maß zu klein war, habe ich gebebt vor Furcht und Schmerz und Zorn und gern hätte ich in jedem Dorfe mein Leben hingegeben für einen guten Säbel und eine Minute Freiheit! In Nantes endlich war die Stunde der schwersten Prüfung überstanden. Wir wurden im Gefängniß abgeliefert, bekamen etwas Essen und wurden vom evangelischen Prediger besucht, der in freundlicher Weise uns Schreibmaterial anbot und uns versprach, unsere Briefe getreulich zu besorgen. Er hat Wort gehalten, der brave Mann, wie ich aus Eurem lieben Schreiben ersehen konnte. In Nantes trafen wir zahlreiche Gesellschaft. Zwei Züge vom vierten Ulanen-Regiment waren in der Nacht gefangen eingebracht worden. Sie hatten alle ihre Werthsachen bei sich, da sie in die Hände von regulären Truppen gefallen waren, aber ihre Freude darüber sollte nur von kurzer Dauer sein. Vor ihrem Weitertransport wurden sie untersucht, alles dessen beraubt, was aus Frankreich zu stammen schien, und wie sich von selbst versteht, wurde Alles, was sie bei sich trugen, unzweifelhaft als französisches Eigenthum anerkannt. Arm wie Hiob gingen auch sie aus Nantes, aber sie hatten doch Stiefeln und sahen stattlich aus gegen uns Reiter mit Holzschuhen.

Nach abermals einer bösen Nacht ging es auf der Eisenbahn nach Vannes. Beim Anhalten des Zuges wurden ich und mein unzertrennlicher Gefährte aus dem Wagen herausgerufen, drei Gensdarmen nahmen uns in Empfang und zurück ging es wieder nach Tours. Unsere Begleiter kannten nicht den Zweck unserer Rückreise, wir aber wußten, daß wir wieder einmal dicht beim Galgen vorbei laufen sollten. Garibaldi hatte uns holen lassen, um uns zu sagen, daß wir ihm hinsichtlich des Anmarsches der Metzer Armee die Wahrheit mitgetheilt [250] hätten und daß uns nunmehr das Leben geschenkt sei. Die Audienz war in einer Minute abgemacht. Mag Garibaldi auch von allen meinen Landsleuten ein Narr gescholten werden, dieser wenigstens war ein offener, freundlicher und ehrlicher Mann und ein gutes Herz hat er auch. Wie viele Heerführer in seiner Lage hätten noch nach drei bis vier Tagen der zwei armseligen Gefangenen gedacht, die er mit dem Tode bedroht hatte und von denen er glaubte, sie seien besorgt um ihr elendes Leben? Diese Sorge wollte er uns nehmen, denn nicht anders konnte ich mir unsere Rückbeförderung erklären. – Mit dem nächsten Zuge wurden wir nach Vannes zurückgeschafft und andern Tages waren wir am Ziele unserer Reise. In Lorient verließen wir die Eisenbahn und traten unseren Marsch nach dem Hafen durch die Stadt an. Steinwürfe, faule Eier und alter mögliche Unrath flogen uns in üblicher Weise um die Köpfe. Die Rufe: „da kommen die Kindermörder!“ „schlagt sie todt, die preußischen Hunde!“ wollten gar kein Ende nehmen, doch in Gesellschaft von vierundfünfzig Mann tragen sich solche Angriffe schon leichter, als wenn sie auf den Schultern von zwei Personen ruhen, und so trat ich mit einem Anflug von Behagen auf das Schiff, das uns in zwanzig Minuten quer über den Hafen nach Fort Louis und aus dem Bereiche der Tollhäusler brachte.

Fort Louis öffnete uns seine ungastlichen Räume; aber o Wonne! die Kette fiel und ich und mein Gefährte waren wieder unabhängige Herren unserer Körper, wenngleich mein linker und sein rechter Arm uns für lange Zeit noch die Dienste versagten. Es wurde uns Quartier angewiesen auf dem Boden eines Speichers, der sein spärliches Licht durch eine schmale Ritze im Dache empfing. Von Tischen, Bänken und sonstigen bei civilisirten Völkern eingeführten Luxusbedürfnissen bot sich unseren umherspähenden Augen keine Spur. Wir glaubten anfänglich uns über den gänzlichen Mangel der nothwendigsten Utensilien zu täuschen; aber als sich auch unsere Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und die tastende Hand auch im fernen Winkel nichts finden konnte, sank uns der Muth gar sehr. Essen bekamen wir nicht, es war so schon sechs Uhr Abends; aber Trinkwasser wenigstens konnten uns unsere Peiniger nicht entziehen. Es war eine böse Nacht, die über uns hereinbrach. Müde, zerschlagen, hungrig, vor Frost klappernd, ohne Stroh, ohne Decke, ohne Erhöhung unter dem Kopfe, so lagen wir nebeneinander, das Vieh in den Ställen um seine Bequemlichkeit beneidend. Andern Tages wurde uns um zehn Uhr Vormittags eine Schüssel mit Reis in Wasser gekocht, Nachmittags ebenfalls dies Gericht mit drei Loth Fleisch pro Mann gegeben und zwar allemal für zehn Mann in Einer Schüssel. Dies Gefäß setzte unser Wächter auf die Diele; wir knieten herum und sättigten uns mit Hülfe von Löffeln, die wir von unserer Löhnung bezahlen mußten. Auch empfingen wir drei Pfund Stroh pro Kopf, um uns daraus ein Lager zu bereiten, gerade so viel, um den Mangel an Stroh erst recht fühlbar werden zu lassen. Und dies Stroh wurde nur einmal in viertehalb Monaten erneuert! Ich glaube, daß diese Sparsamkeit eine raffinirte Grausamkeit der Regierung gewesen ist.

War es ein Wunder, daß sich bald ungebetene Gäste einstellten, deren wir bei der Unmöglichkeit, uns gründlich reinigen zu können, nicht Herr werden und vor deren Angriffen wir zuletzt Tag und Nacht nicht Ruhe finden konnten?

In meinem Elende habe ich viel gelitten, nicht am wenigsten dadurch, daß es den französischen Weibern bei strenger Strafe verboten worden war, für uns zu waschen. In Fort Louis fanden wir ungefähr hundert deutsche Schiffer vor, die mit Frau und Kind gefangen waren, und allmählich stieg die Zahl unserer Leidensgefährten auf fünfhundertsechszig. Unter ihnen befand sich auch der Sergeant Frankenfeld vom dreizehnten Husarenregiment, der bei Ablis gefangen worden war. Dem armen Manne hatte man die Kinnlade am Oberkiefer abgerissen und ihn an seinem Backenbarte so lange geschleift, bis das Fleisch von den Knochen abgerissen war. Er litt entsetzliche Schmerzen. In den ersten Tagen unserer Gefangenschaft durften wir keinen Schritt vor die Thür thun. Bajonnete drängten uns zurück; später erlaubte man uns, innerhalb der Citadelle umherzugehen, und endlich erhielten wir Erlaubniß, zwei Stunden täglich am Strande zu promeniren, auch die dicht bei der Citadelle liegende kleine Stadt Fort Louis zu besuchen, natürlich mit angemessenem militärischen Gefolge. Am Strande brachte ich meine schönste Zeit zu. Ich konnte mich nach Möglichkeit waschen und reinigen, suchte Muscheln, die ich Euch als Andenken mitbringen wollte, und einige Male war ich so glücklich, während der Ebbe mich an selbstgebrochenen handgroßen Austern laben zu können. Einförmig löste ein Tag den andern ab, Nachrichten drangen spärlich zu uns, Briefe aus der Heimath selten und alle vorsichtig abgefaßt. Nur einmal wurde unsere Stille durch einen überlauten Jubel unterbrochen, der aus Lorient zu uns herüberdrang. Es war dort die Kunde von Bourbaki’s glänzenden Erfolgen bekannt geworden; ja die Klügsten wollten sogar wissen, er stände bereits mit fünfundzwanzigtausend Mann vor Berlin. Wir lachten im Stillen über die unvergleichliche Leichtgläubigkeit der Franzosen, und nicht Einer war unter uns, der nicht gegen diese Nachricht sein Leben gewettet hätte.

Ein Sonnenstrahl fiel in unsere freudeleeren Zustände, als uns der englische und amerikanische Consul ihren Besuch machten und uns Wäsche, Stiefeln und Decken, Bedürfnisse, die für uns die dringendsten waren, schenken. Sie wünschten auch unsere Wohnungen in Augenschein nehmen zu dürfen, diese Bitte wurde ihnen aber vom Commandanten mit der Bemerkung abgeschlagen, wenn sie uns sehen und sprechen wollten, würden wir herunter geholt werden. Und so geschah es auch, aber die drei Pfund Stroh blieben nach wie vor und von Bänken und Stühlen, Waschdecken und Zubehör erzählten wir uns nur noch wie von einer Sage. Die Langeweile nahm überhand. Wir wurden vom Commandanten aufgefordert, beim Wegebau Hand anzulegen. Gern hätten wir die Zeit mit Karre und Schippe todtgeschlagen, aber wir wurden auch störrisch und weigerten uns entschieden, da wir als Kriegsgefangene zur Arbeit nicht verpflichtet zu sein glaubten. Darauf wurden fünfundsiebenzig der Unsrigen eingesteckt. Entsetzlicher Scandal, Ruf nach dem Commandanten, der auch endlich erschien, immer enger werdende Umzingelung desselben und endlich Freilassung der Arrestanten. Mit wahrer Freude und mit Stolz gedenke ich hier eines Landsmanns, des Marketenders Lehnik aus Königsberg i. Pr., der mit größter Unerschrockenheit dem Commandanten zu Leibe ging und ihn zwang, sich unserem Willen zu fügen. Ich komme später noch einmal auf diesen Mann zurück.

War es bei unserer jammervollen Verpflegung ein Wunder, daß Krankheiten ausbrachen? Viele meiner guten Cameraden werden ihre Heimath nicht wiedersehen, sie deckt französische Erde. Begraben haben wir unsere Todten selbst, man wies uns für sie einen Platz an und überließ es uns, wann und wie wir sie bestatten wollten. Von Begleitung eines Geistlichen oder Erweisung militärischer Ehren war niemals die Rede. Einmal besuchten wir die katholische Kirche in Fort Louis, kurz nach der Zeit, als sich die Einnahme von Berlin nicht bestätigt hatte. Als wir nach beendetem Gottesdienst in’s Freie traten, hatte sich vor der Kirche ein zahlreicher Pöbel versammelt in der menschenfreundlichen Absicht, uns todtzuschlagen. Nur dem energischen Dazwischentreten der uns begleitenden Gensd’armen, die uns in die Kirche zurückdrängten, hatten wir die Rettung unseres Lebens zu verdanken. Festtage waren es für uns, wenn Briefe aus der Heimath kamen.

Viele meiner Cameraden haben weder Geld noch Briefe erhalten, anderen sind Briefe zugekommen, aus denen das Geld verschwunden war. Auf ihre Beschwerden bei der Regierung in Tours erhielten sie die beruhigende Versicherung, daß in Frankreich nicht gestohlen würde. Für diesen herrlichen Trost konnten sie sich aber nichts kaufen und nach wie vor fuhren wir fort, zu theilen, so lange noch etwas zu theilen da war.

Unsere Peiniger wurden allmählich unruhiger und höflicher. Es mußte etwas in der Luft liegen, und bald erfuhren wir denn auch, daß uns unsere Landsleute näher rückten und bereits bei Le Mans ständen. Große Freude und der Beschluß, auszubrechen und uns durchzuschlagen. Die fünfzig Mann Besatzung würden uns ein Kinderspiel gewesen sein, und einmal erst in Freiheit, hätten wir uns Alle lieber todtschlagen als noch einmal zurückbringen lassen. Aber wie bestimmte Nachricht einziehen? Da half unser Marketender wieder aus. Er hatte als Civilist größere Freiheit als wir und war der richtige Mann, uns als Kundschafter zu dienen.

Nach einigen Tagen schon brachte er uns die Nachricht zurück, wir hätten etwa sechszehn Meilen zu marschiren und würden dann auf deutsche Vorposten stoßen, die er bereits gesehen und gesprochen haben wollte. Unser Plan wurde nun in sorgfältige Erwägung gezogen, ehe er aber zur Reife gedieh, erhielten wir eines Morgens Befehl,

[251] vorzutreten und uns reisefertig zu machen. Wir jubelten schon im Stillen, denn wohin sollte es anders gehen, als zu den Unsrigen, dahin, wo wir acht Tage früher thränenden Auges unsere Schiffer hatten ziehen sehen? Also leichten Herzens ging’s nach Lorient zur Eisenbahn, auf der wir alsbald dahinfuhren. Es verging Stunde auf Stunde, Deutsche sahen wir nicht. Sollte uns unser Marketender etwas vorgeschwindelt haben? Die sechszehn Meilen hatten eine bedenkliche Länge, weiter ging es und weiter, es verging ein Tag und eine Nacht, es vergingen fünf Tage und fünf Nächte. Die Sonne schien wärmer als sonst, aber statt preußischer Helmspitzen sahen wir ein Meer vor uns – wir waren in Marseille. Dort angekommen, wurden wir sogleich auf ein Schiff gesetzt und nach fünf Tagen angenehmer Reise landeten wir in Algier. Auf dieser gegen zehn Tage dauernden Fahrt speiste man uns mit Brod und Suppe und ließ uns das doppelte Tractament zukommen, das heißt also, man gab uns statt fünf Pfennige deren zehn pr. Tag. Was übrigens sich ein junger Soldatenmagen in Frankreich für zehn Pfennige auf einem Eisenbahnhofe kaufen soll, das ist mir auf der ganzen Fahrt nicht recht klar geworden und wird mir immer ein Räthsel bleiben. In Algier wurden wir von keinem Pöbel empfangen, alle Welt benahm sich anständig und es schien uns beinahe etwas zu fehlen, als die französische Begrüßungsformel ausblieb. Diese Behandlung blieb sich gleich; wir wurden zwar in der Citadelle einquartiert, es wurde uns aber ohne Schwierigkeiten erlaubt, die Straßen der Stadt, natürlich unter Begleitung, zu durchwandern, und niemals wurde uns ein böses Wort zu Theil. Bei der herrlichen warmen Sommerluft fühlte ich mich in meinen leinenen Hosen ordentlich wohl, aber ein Bad in der See nehmen zu dürfen, wurde uns zur Freude unserer Kleidergäste nicht verstattet.

Elf Tage blieben wir in Algier, da lud man uns wieder in ein Schiff, nach einer sieben Tage dauernden, stürmischen Ueberfahrt fanden wir uns wieder in Marseille, und fünf Tage später öffnete unsere Zwingburg, Fort Louis, abermals ihre Pforten. Wir fanden unsere Wohnungen in demselben Zustande, wie wir sie verlassen, und ihre zurückgebliebenen Bewohner ließen ihre Wuth an unseren müden Gliedern in verdoppeltem Grade aus! Leider muß ich noch erwähnen, daß uns bei unserer Abreise von Algier alle die Liebesgaben, die wir durch den englischen und amerikanischen Consul erhalten hatten, abgenommen und uns nur die ursprünglichen Kleidungsstücke gelassen worden waren. Auf unsere Vorstellung, daß man diese Sachen uns geschenkt habe, wurde einfach entgegnet, daß wir im Irrthum seien und die Sachen nur als geliehen zu betrachten hätten. Selbst meine Muschelsammlung, die doch nur allein für mich einen Werth haben konnte und für die mir kein Mensch einen Sou gegeben hätte, verschwand, und trauriger und ärmer, als ich ausgegangen, kam ich in Fort Louis wieder an. Endlich am 1. März hieß es, wir würden nach zwei bis drei Tagen ausgewechselt werden. Unsere Freude war unbeschreiblich und sie war diesmal nicht vergebens.

Am 4. März Nachmittags vier Uhr schaffte man uns nach Lorient. Wir bestiegen die Eisenbahn, fuhren die Nacht hindurch und langten um zehn Uhr Vormittags etwa zwei Meilen vor Le Mans an. Unser Kundschafter Lehnik hatte uns recht berichtet, die Preußen waren da. Auf dem Bahnhofe sahen wir die heiß ersehnten Pickelhauben, sie bedeuteten für uns die goldene Freiheit, nach der wir seit Monaten geschmachtet hatten. Aber auch unsere Begleiter, etwa hundertsechszig gut ausgerüstete französische Soldaten, hatten die zehn Pickelhauben bemerkt. Sie sehen, die Thüren der Waggons aufreißen, aus den Wagen springen, ehe der Zug zum Stehen gekommen war, sich rückwärts concentriren weit draußen im Felde aus dem Bereich der Zündnadel, war das Werk weniger Minuten.

Ein schallendes Gelächter unsererseits folgte den davonlaufenden Franzosen, die Helden der großen Nation ließen sich dadurch nicht stören.

„So seid Ihr schon bei Spichern und Wörth gelaufen“, rief ihnen einer unserer Cameraden nach, „und so lauft Ihr auch heute noch.“

Der Officier allein hatte Stand gehalten und vollzog durch unsere Uebergabe seine Pflicht. Durch unsere Uebergabe! Wie warm schüttelten wir den harrenden Cameraden die Hände, wie ging das Erzählen herüber und hinüber, und wie frisch athmete die Brust, wie fröhlich schlug das Herz im Bewußtsein der Freiheit, des Friedens! In diesem Augenblick auch, im Moment ihres Abschlusses, ließ ich mich durch die erlittene Trübsal zum letzten Mal bekümmern und warf das Traurige und Herbe der Erinnerung von mir, wie eine drückende, unwürdige Last. In die Zukunft, in den hoffentlich noch reichlich zugemessenen Theil meines Lebens will ich nur die Erinnerung an die großen und herrlichen Momente des glorreichsten aller Kriege mit hinübernehmen.

Wilhelm Clement.     




Deutsche Denkmäler in der Schweiz.
Auch eine deutsche Kaiserburg. – Capelle Leopold’s von Oesterreich. – Die erste Buchdruckerei der Schweiz.


Es war eine wilde und stürmische Novembernacht – es ist nun zwanzig Jahre her –, als sich mühsam durch Regen und Schneegestöber ein einspänniges „Bernerwägeli“ hindurcharbeitete. Im Ländeli (Gabeldeichsel) schaffte ein kernhafter Ackergaul. Vom Bocke herab ließ der „Karrer“, wie man hier zu Lande die Pferdeknechte betitelt, sein lebensmüdes, hochtönendes „Hi! Hii!“ von Zeit zu Zeit erschallen. Auf dem Hintersitze, unter schmalem Lederverdecke, rüttelte und schüttelte es zwei Personen: „’s Bäbeli“, die Haushälterin, und neben ihr, tief in den Mantel gehüllt, meine Wenigkeit, berufen, noch heute „vor dem deutschen Kaiser zu erscheinen“.

Es währte wohl eine Stunde lang und Roß und Reitern – denn in der Schweiz nennt man auch das Fahren „Reiten“; man sagt: Chaiserite, Sattelrite, uf em Isebah oder uf em Dampfschiff rite! – mochte es noch länger geschienen haben, ehe wir auf schmalen, holperigen Wegen das höchste Dorf zwischen Thur und Untersee erklommen hatten. Bald dann senkte sich diese gewaltige Landwelle wieder nördlich und die kleine vierräderige Arche schaukelte thalwärts. Der Regen und Schneesturm hatte sich beruhigt. Die zerrissenen Wolken hielten im blauen Aether ihr Novemberwettrennen.

Der Mond, der alte Schwerenöther, lächelte auf dieses unbekannte Stückchen Erde ebenso traulich hernieder, als wenn es meine heimathliche Scholle gewesen wäre, deren „gastfreundlichem“ Zuchthaus ich soeben entsprungen war. – Nicht lange jedoch, und ich begriff die sentimentale Stimmung der himmlischen Nachtlampe. Vor unseren Augen tauchte eine vollständig romantische Mondscheinlandschaft empor. Eilende zackige Wolken jagten über die im Sommer rebenumkränzten Hügel. Flüsternde Lüfte bewegten die dunkeln Wipfel alter Buchen und Tannen. In der Ferne rauschte ein Waldbach. Tief unten ein breiter, zauberischer silberglänzender See. Klosterglocken klangen aus nebelgrauer Ferne vom jenseitigen Ufer herüber, Kauzenruf und Rüdengebell durfte nicht fehlen, und wie vom Schooße der Erde urplötzlich geboren, stieg mitten aus diesem lieblichen Wald- und Seemärchen eine kleine, altersgraue Burg empor. Eine schmale Brücke führte zu ihr hinüber. Eine starke Eichenpforte mit mächtigem „Klopfer“ wehrte den Eingang. Ein kühngezackter Giebel verkündete die eiserne Stirn jener Zeit, die dieses Haus gebaut. Ein hoher, viereckiger Thurm beherrschte Burg, Wald, See und Gau.

Nur einige große Oekonomiegebäude hatten sich schüchtern in nächster Nähe der Burg niedergelassen. Kein Dörflein mit „Hörigen“ lag zu Füßen des Rittersitzes, keine Vasallenburg in der Nähe. Nur weit, tief unten am träumenden See, schlummerte eines der lieblichsten Dörfer des Thurgaus, das reben- und obstumkränzte Mammern. Diesem gegenüber, am jenseitigen Ufer, ruhte, ebenfalls an des plätschernden Sees Gestaden, das erste deutsche Dorf. „Deutsche Berge! Deutsches Land!“ rief ich damals wehmüthig, recht wehmüthig aus; denn damals war da drüben das Revier der Flüchtlingsjäger, und diese „Wacht am Rhein“ war eine recht traurige.

Wir sind am Ziel. Wir haben sie betreten, die „Herrschaft“ [252] Liebenfels, Schloß und Burg des – bis damals – letzten deutschen Kaisers.

Capelle Leopold’s von Oesterreich bei Beromünster.

Wem, der einige unvergeßliche Jahre auf deutschen Universitäten zugebracht hat, wäre wohl der Name Adolf August Follenius unbekannt? Nehmt sie her, die alten, urchigen Burschenliederbücher! Durchblättert sie, die traurige Geschichte der deutschen Burschenschaft! und Ihr werdet ihn wiederfinden, den alten Burschenschafter, Dichter, Freiwilligen des Befreiungskrieges, den „Hochverräther“, Hausvogteibewohner, Flüchtling und – Professor in der Schweiz. Hier, auf diesem etwas steilen Höhenzuge, abgelegen von den Straßen des „Reiches“, „frei von dem Pesthauch der Städte“, wie der Dichter singt, einsam und romantisch, das deutsche Vaterland im Auge, hatte der alte Aar seinen letzten Horst erbaut. –

Welch ein Contrast zwischen dem prachtvollen Limmathathen, das wir am Morgen verlassen hatten, an dem lachenden Gestade des Zürichersees, und den Lehmhügeln, auf welchen der alte Herr, wie Cincinnatus, seine Rüben pflanzte! Und dennoch war diese kleine, abgelegene Burg in den ersten Jahren nach der deutschen Bewegung von 1848 und 1849, an welcher der „deutsche Kaiser“ nur geistig den lebhaftesten Antheil nahm, ein vielbesuchter Ort. Unberühmte und berühmte deutsche Größen, die meist nichts gerettet aus der Heimath, „als den Flaus und ein alterndes Haupt“, legten sich in diesem Hafen oft wochen- und monatelang vor Anker.

Burg Liebenfels – auch eine deutsche Kaiserburg.

Hier residirte nun der „deutsche Kaiser“ mit seinen beiden liebenswürdigen Töchtern und deren Erzieherin in patriarchalischer Zurückgezogenheit. Follenius, der aus Hessen stammte und auf deutsch Follen, nach seinem Familienwappen eigentlich Fohlen hieß und der Sohn eines Försters war, hatte bekanntlich noch zwei Brüder. Beide starben im fernen Amerika als Verbannte. Alle drei Brüder gehörten „damals“ zu der berühmten und von allen Regierungen gefürchteten Burschenschaft, besonders zu den „Schwarzen von Gießen“. Alle drei Brüder waren sehr bedeutend in die Demagogenhetze jener traurigen Zeiten verflochten. Karl stand dem Burschenschafter Sand von Wunsiedel auf der Hochschule zu Jena sehr nahe. Zu jenen Zeiten oder später, wie, wann und wo, wissen wir nicht anzugeben, ward August Adolph Follenius von irgend einer deutsch-poetischen Genossenschaft zum zukünftigen Kaiser der Deutschen erwählt und hat diesen Titel und Namen zeitlebens bei den Deutschen in der Schweiz, mehr aber noch bei den Schweizern selbst, behalten. Ihn hörten wir diese Taufe nie berühren.

Ich traf ihn, an jenem Novemberabende, in einer großen, hohen, mit altgothischen Tapeten reich verzierten Halle, die aus der einen Hälfte des alten Rittersaales gebildet worden war und nun das Eß- und Sprechzimmer darstellte. In einem [253] rothen, langen Schlafrock, der den Hermelin des Kaisers ersetzte, thronte Follenius vor mir auf einem kleinen Sopha, das kahle Haupt mit einer leichten, großbeschirmten Mütze von weißem Pferdehaar bedeckt. (Bei feierlichen Gelegenheiten zierte ihn ein schwarzer, altdeutscher Rock und statt der Krone ein Sammetkäppchen, das die geistreichen Züge trefflich gab.) Um seinen Mund spielte die leichtgekrümmte, nach beiden Seiten herabgezogene Halbmondlinie, die uns in der Regel die Launen eines unumschränkten Gebieters ankündet, besonders wenn, wie hier, eine scharfgebogene, hochbewurzelte Römernase darüber thront. Zu deren Seiten blitzten zwei große, blaue Augen, die einen Himmel und eine Hölle bargen. Ueber ihnen wölbten sich kühn die blonden, buschigen Augenbrauen und eine schmale, aber hohe und glücklich gewölbte Stirn vollendete nach oben, ein markiges, vorstehendes Kinn nach unten, das Antlitz. Im wohlthuenden Contraste prangte über ihm in Lebensgröße ein wunderholdes Frauenbild, voll inniger Sanftmuth und Milde in allen seinen edeln Zügen: sein verstorbenes Weib, die Tochter eines reichen Landmüllers, in ihren ledigen Jahren nach der militärischen Rangstufe ihres Vaters und nach der Titelsucht jener Gegenden überhaupt mit dem seltsamen Titel einer „Jungfer Lütenant“ beglückt.


Das Schlößli zu Beromünster – die erste Buchdruckerei in der Schweiz.


Der deutsche Kaiser, wie wir nun den alten, wohlbekannten Burschenschafter nennen wollen, konnte der gemüthlichste und unterhaltendste Mensch von der Welt sein. Einen Schatz geistiger Perlen nach dem anderen holte er, halbe Nächte lang, aus der tiefsten Tiefe seiner Seele herauf. Sprudelnder Humor, von den hellsten Funken durchwirkt, zog Jeden unwiderstehlich zu dem „Tyrannen“ hin. Er war die Liebe, die hingebende Freundschaft selbst, glücklich, überschwenglich, begeistert bei jeder neuen, einigermaßen ansprechenden Bekanntschaft. Allein, handkehrum, das Gegentheil, dann rollte der Donner seines Zornes fürchterlich durch die Hallen der Burg. Die blauen Augen schossen wie Blitze hernieder, die Fäuste ballten sich. Das blaurothe Schnupftuch – nebst der Schnupftabaksdose sein steter Begleiter – „flatterte im Winde“ und seine sonst so hochpoetische Sprache verwandelte sich in ein prasselnd Hagelwetter.

Er haßte den Weihrauch im Allgemeinen, der specielle that ihm wohl. Er duldete nicht gern Widerspruch, desto kräftiger opponirte er. Er zog an, wie der stärkste Magnet, stieß aber auch ab, wie der gleichnamige Pol. Seine Freunde gewann er mit der Schnelle des Sturmes, um sie mit der des Blitzes zu verlieren. Er achtete keine Kritik, er selbst war der ausgezeichnetste Kritikus. Arm, mit dem Buche in der Hand, als „fahrender Schüler“, direct aus der berüchtigten Berliner Hausvogtei, hat er, spazieren gehend, die Schweiz betreten. Arm, nur noch von Büchern und den Ueberresten eines beträchtlichen Heirathsgutes umgeben, starb er, im Kreise seiner Kinder, zu Bern, nachdem er seine geliebte „Herrschaft“ Liebenfels – wie er sie so gern schrieb und mit einem alten Petschafte aufmerksamst besiegelte (zum Aerger geborener Junker) – wohlfeil verkauft hatte. So ging der letzte, nun der vorletzte, deutsche Kaiser, August Adolph, der Gelehrte, ein zu seinen Vätern und zu den Ruhmeshallen Walhallas.

So oft ich die alten, grauen, damals so gastlichen Zinnen dieser Kaiserburg erblicke vom blauen Bodensee herauf, beim wunderschönen Dörflein Mammern, wie sie so hoch über die dunkelgrünen Tannenwipfel dem deutschen Ufer jenseits des schwäbischen Meeres ihren ehrwürdigen Gruß vermelden, so muß ich immer und immer wieder des alten wunderbaren Mannes und seiner treuen Kinder freundlich und dankbar gedenken, die dort manch deutsches Herz erquickten und manch armem Teufel von Flüchtling ein tröstend Wort, ein gastlich Obdach boten. Begraben aber liegt dieser deutsche Kaiser auf dem wunderschönen Friedhofe der Schweizer Bundesstadt, prachtvoll umstrahlt von dem Silber- und Diamantenglanze einer zauberischen Alpenwelt. –

Es war um das Jahr 1386, vor fünfhundert Jahren. Die [254] Morgenröthe bürgerlicher Freiheit brach sich allmählich sichere Bahnen. Einundfünfzig freie Reichsstädte am Rhein, darunter das nun so vielgenannte, vielbeklagte Straßburg, verbanden sich mit den ehrenfesten und kernigen Städten der heutigen Eidgenossenschaft, mit Zürich, Bern, Zug, Solothurn und indirect auch mit der alten Laternenstadt, Luzern. Es entwickelte sich immer mehr und mehr der gewaltige Kampf, der noch heute nicht allüberall ausgekämpft in in Europas Gefilden, der Kampf zwischen Ritter und Bürger, zwischen Burg und Stadt. Ehrliche, aber freiheitsliebende Bürger sowohl, wie Raubrittersitze wurden von den „währschaften Burgern“ erstürmt, Ritter, Zwingherren, Vasallen und Knechte erschlagen, von den freien Städten und freien Bauern der Herren Länder annectirt, Unterthanenland daraus gemacht, dessen Bewohner nach einigen Jahrhunderten wiederum das neuerstandene Junkerthum der Städte zu überwältigen hatten im blutigen oder unblutigen Kampfe, bis endlich und endlich die wahre, auf Bildung, Sitte und Gesetz begründete bürgerliche Freiheit heraufdämmerte.

Damals, um das Jahr 1386, war aber dennoch eine schöne und große Zeit. Luzerns „Jungen“ hatten auf eigene Faust mit den Zollwächtern und Burgleuten Oesterreichs zu Rothenburg – eine Stunde von der Stadt – Händel angefangen, die Beamten fortgejagt, die Burg demolirt. Da die „Alten“ sie nicht bändigen konnten, blieb nichts Anderes übrig, als mitzuthun und nachzufahren. Es ging nun auf Eine Rechnung. Burgen wurden geschleift, Vögte verjagt weit und breit, ganze österreichische Amteien annectirt, die Bauern Entlebuchs, ein kriegerisches Völklein und das Städtchen Sempach in’s Burgrecht aufgenommen. Das warf natürlich Staub auf. Herzog Leopold von Oesterreich zog heran mit vielen Tausend Rittern; er wollte Luzern und die Bauern der Waldstädte züchtigen, sie wiederum zu Unterthanen machen. Luzerner und die Waldstädter rückten dem Leopold entgegen bis vor Sempach am schönen lieblichen See. Dort kam’s, wie männiglich bekannt, am 9. Juli 1386 zur weltberühmten Schlacht. Winkelried’s weltkundig gewordenes „Der Freiheit eine Gasse“ durchbrach die Phalanx des österreichischen Heeres. Herzog Leopold fiel, mit ihm die Blüthe seiner Ritter. Oesterreichs Herrschaft war in jenen Gegenden gebrochen für immer.

Die deutschen Mannen aber trugen den deutschen Herzog, ihren Feldherrn, als Leiche hinauf gegen das uralte Chorherrenstift zum heiligen Michael in Beromünster, eine starke Stunde vom blutgetränkten Schlachtfelde. Dort, nahe am Stifte, legten sie den todten Leopold auf einen großen Findling (Alpenstein) und baten die Stiftsherren um eine Ruhestätte für den gefallenen Bedränger der Eidgenossen. Die Stiftsherren aber, sonst Oesterreichs Freunde, schlossen ihre Pforte, schüttelten ihr Haupt; die treuen Mannen aber trugen den Todten noch weiter hinab bis zu den herrlichen Gestaden der Aare, da wo das Kloster Königsfelden sich in den Wellen spiegelte und unfern deren das alte Stammschloß Habsburg trauernd auf den von Bauernhand erschlagenen Habsburger herniedersah.

Doch meine Erzählung gilt nicht der Verherrlichung jenes Herzoges, des Besiegten, nicht den Siegern, sie gilt einer guten alten, frommen und schönen Sitte der katholischen Völker. Diese gedenken nicht mehr des Uebels, das der Lebende ihnen thun wollte, wenn er todt ist; sie setzen dem armen Verunglückten dem nun Heimgegangenen, dem Seligen ein freundlich Denkmal, am Weg, da wo er todt gelegen, ein Kreuzlein oder auch ein Kirchlein, das den Vorüberwandelnden mahne an das:

„Rasch tritt der Tod den Menschen an,
Es ist ihm keine Frist gegeben!“

So bauten denn auch fromme Hände dem gefallenen Feinde auf jenem Stein, wo der todte Herzog ausgeruht, eine kleine freundliche Capelle, an der alten Straße von Sempach nach Münster, am Fuße eines leider dermalen etwas vernachlässigten Buchenhaines, aus welchem vor alten Zeiten ein „Schlößli“ ins weite Land hinausgelacht haben soll, hinab zum himmelblauen Auge des Hallwylersees, weit hinüber zum rebenumkränzten Heideggschloß am waldgekrönten Lindenberg und weit, weit nach Süden, hinein in die majestätische eis- und schneeumpanzerte Alpenwelt, vom zackigen Sentis bis zum Silbersattel des breitgeschulterten Titlis.

„Da steht die Kapelle so still und klein,
Und ladet den Pilger zum Beten ein.“

Mitten in einem blühenden Obstwalde, „wenn der Frühling seine Blumen streut.“

Jahrhunderte lang hat sich hier das Andenken an Herzog Leopold erhalten durch diesen Stein, und lange, lange Jahre mag wohl auch das schmucke Kirchlein prangen, mit Altar und Bild, als Leopoldscapelle. Jener Stein, worauf es steht, hat, nebenbei bemerkt, viele Aehnlichkeit mit Gustav Adolph’s Stein bei Lützen. Die Männer, von denen beide Steine erzählen, ähnelten sich wenig.

An der blüthenweißen Wand des Kirchleins gegen Nordosten aber giebt der biderbe Vers eines Beromünsterer Dichters dem Denkmal seine Deutung:

„Eine deutsche edle Eiche
Ruhte einst auf diesem Stein.
Herzog Leopoldens Leiche
Soll allhie gerastet sein.“

In demselben Flecken Beromünster, Canton Luzerns, bei welchem das älteste Denkmal eines flüchtenden Deutschen steht, in Gestalt der Leopoldscapelle, wurde nicht ganz hundert Jahre nach der Schlacht bei Sempach und vierhundert Jahre vor dem denkwürdigen Jahre 1870 die erste Buchdruckerei in der Schweiz errichtet. Wohl auch ein deutsches Denkmal, jedwede Buchdruckerei! Das vierhundertjährige Jubiläum, das das lebensfrische und freie Münster in diesem Jahre abzuhalten gedachte, ward durch den Krieg wider die Franzosen von der Tagesordnung verdrängt. Hoffen wir, es werde im nächsten Jahre um so herzlicher gefeiert. Ich skizzire Ihnen diese erste Buchdruckerei, in dem thurmartigen „Schlößli“, von einem Priester etablirt, so gut es ein Autodidakt vermag. Das Gebäude hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten.

Der Begründer dieser Druckerei war ein Chorherr des Stiftes zum heiligen Michael von Beromünster, das noch heute existirt. Er war aber in erster Linie ein Luzerner und hieß Elias Elie von Laufen. Seine Voreltern stammten aus Basel, seine Ahnen aber jedenfalls aus dem Städtchen Laufen im Birsthale. Der alte gelehrte Herr erlernte, trotz seiner siebenzig Jahre, die Buchdruckerei noch selbst und gab im Verein mit dem Magister Ulrich Gering, als erstes Werk heraus: „Primicerus et imprimendi“ etc. Von Laufen starb 1475. Wohin die Buchdruckerei gerathen, weiß man nicht. Das erste Druckwerk existirt noch in der Bibliothek des obengenannten Stiftes.

Magister Ulrich Gering, ebenfalls ein Luzerner, hatte die genannte Buchdruckerei einge- und den Chorherrn von Laufen unterrichtet. Interessant ist es, daß der damalige Rector der Universität zu Paris, Wilhelm Fichet, den Gering noch im Jahre 1470 nach Paris berief und so die edle Buchdruckerkunst aus einem winzigen Flecken der Schweiz nach Paris verpflanzte. Gering starb erst 1510, nachdem er vierzig Jahre in Paris gelebt und sich dort, an der Sorbonne, wo noch heute sein Gedächtniß alle Jahre gefeiert wird, sehr großen Ruf erworben hatte.

Kein Wunder, wenn schon Beromünster von Zeit zu Zeit einen unverkennbaren Anstrich, etwa wie Kleinparis, annimmt. Ganz besonders, wenn es nationale Feste feiert.

Friedrich Alpland.




Die Zuwider-Wurzen.
Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


4.

Die ganze Jachenau hatte noch einmal ihr schönstglänzendes Festgewand angezogen, als das Schweizerwägelchen vom Kurzenhofe durch dieselbe dahinrollte. Obwohl Nachts schon Reif gefallen war und die geschorenen Halme gebräunt hatte, leuchteten die Matten und Hänge noch einmal auf mit einem Schimmer von Grün, als sollten eben die ersten Spitzen keimen, und als wären [255] die weißen Spinnweben, die der Herbst zum Zeichen seiner Ankunft an ihnen flattern ließ, nicht ein Wittwenschmuck, sondern ein Brautschleier, den die Erde zur Frühlingshochzeit angelegt. Der Himmel war so blau und die Luft so mild wie im Auswärts, und die beschneiten Bergrücken standen hell und sonnig, als hätten sie die Winterlast nicht eben erst auf sich genommen, sondern gingen schon wieder der Befreiung von ihr entgegen – es geschieht wohl öfter, daß ein Leben, das schon dem Ende zuneigt, sich noch einmal auf seine Jugend besinnt, und daß bei dem Gedanken noch ein letztes Mal Reiz und Schimmer der Jugend über die verwelkten Züge und den verblichenen Scheitel gleiten.

Auf dem Wägelchen saßen drei Personen, sämmtlich in Gott vergnügt, wie sie seit Monden nicht gewesen. Der Kurzenbauer ließ die Pferde traben und auftreten, als ob es gälte, noch in der nächsten Stunde das Ziel der Reise zu erreichen; hinter ihm, neben der Schwester, saß Stasi im schönsten Sonntagsstaat und in einer Stimmung, die nicht minder sonntäglich war, denn es geschah, woran Niemand seit langer Zeit sich zu erinnern vermochte – sie lachte hell auf und fing sogar halblaut zu singen an. Dem Alten ging das durch’s Gemüth, wie Schwalbenzwitschern im März, daß er nahe daran war, einzustimmen und mitzubrummen – er ließ es aber nicht merken, sondern lachte nur in sich hinein, denn darin irrte er sich gewiß nicht – die Weise, die sie sang, war ihm wohl bekannt – sie gehörte dem Schnaderhüpfel, das er neulich vom Schießen heimgebracht, und das ihr, so sehr sie auch anfangs darüber geschmäht, insgeheim doch gefallen haben mußte, denn das „Ueber’m Baum, unter’m Baum“ war mitunter ganz deutlich zu verstehen. Zum eigentlichen, hellen Singen kam es freilich nicht; immer nach den ersten Tönen war es, als ob der Sängerin etwas in die Kehle gekommen, was sie plötzlich verstummen machte. Die Base saß neben ihr und that, als habe sie nicht ausgeschlafen und müsse nickend den Morgenschlummer nachholen; dabei fand sie Gelegenheit genug, unter den Wimpern hervorzublinzeln und mit einem Blick auf das Antlitz der Nachbarin zu prüfen, ob die rothen Wangen, welche dort sichtbar zu werden anfingen, von der scharfen Morgenluft gefärbt oder von innen neu aufgegangene Rosen waren.

Stasi war unverkennbar aus dem langen ungewissen Schwanken zu einem Entschlusse gekommen – ein jeder Entschluß aber, und wäre sein erster Anblick noch so schmerzlich, hält hinter einer Maske immer das Antlitz eines Friedensengels verborgen.

So ging die Fahrt zwar meist schweigsam, dennoch aber fröhlich und rasch von statten, und der Abend dunkelte noch nicht völlig, als das leichte Wägelchen schon aus dem tannengrünen Hachinger Forst heraus gegen den Rand der Isarhöhen heranrollte, und vor seinen Insassen die Thürme von München emporstiegen, umlagert von Duft, Nebel und Qualm und überragt von den braunen Kuppelsäulen der Frauenkirche. Trotz der Dunkelheit war es noch lebendig in allen Gassen. Der Ruf der besonderen Pracht, mit welcher das Fest in diesem Jahre gefeiert werden sollte, hatte noch größere Volksmengen, als sonst, herbeigelockt, und auch das Wetter, das so spät im Jahre schon manchmal die Freude verdorben, verhieß, das Seine zum Gelingen des Festes beitragen zu wollen.

Die Erwartung wurde auch nicht getäuscht.

In tadelloser Schönheit lag am andern Morgen der Herbst auf der Festwiese, und lang vor Beginn des Festes war die sie umkränzende Hügelreihe schon Kopf an Kopf mit einem dichten Menschengewimmel besetzt, und noch strömte es über die Wiese heran von allen Seiten nach, als sei die ganze Stadt und das halbe Land auf der Wanderung, das seltene Schauspiel nicht zu versäumen.

Besonders lebhaft ging es auf dem Hügel selbst zu. Dort hatte, wie jedes Jahr, der Wirth von Thalkirchen seine Schenke aufgeschlagen, zwar nur aus rohen Brettern gezimmert und einer Scheune ähnlicher als einem Gasthause, dennoch aber fast immer von Gästen belagert, denn Meister Halbinger, der Wirth, ließ jedes Jahr seine Fässer in dem damals bierberühmten Tölz füllen, dessen Stoff selbst die damals noch unerreichte Münchener Bierbrauerei zu überflügeln drohte. Die feinsten Städter drängten sich, einen Krug an der Schenke zu erkämpfen, die kein anderes Abzeichen trug, als eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide „Tölzer Bier“ angeschrieben war, und darüber einen ausgestopften Raben, der auf die Schenke und das Gewühl davor spöttisch heruntersah, als sei es seine Aufgabe, die Fässer zu zählen und zu überwachen, die von Viertelstunde zu Viertelstunde schwerfällig herangewälzt wurden, um bald darnach spielend und hüpfend hinwegzukollern. Die größte Zahl von Gästen stellte aber doch das Oberland; denn Wirth Halbinger war aus dem schönen Tegernsee nach der Stadt übergesiedelt, und Alles, was aus den baierischen Bergen kam, machte daher dem bekannten und erprobten Landsmann seinen Besuch; und auch die Jachenauer Burschen hatten dort ihren Sammelpunkt. Es war also ganz natürlich, daß auch der Kurzenbauer mit seinen Weibsleuten dort seine Einkehr zu nehmen vorhatte, und daß man unter sich die feste Verabredung traf, wenn man etwa durch das Gedränge voneinander getrennt werden sollte, sich oben beim Halbinger entweder vor dem Festzuge oder doch nach dem Pferderennen wieder zusammenzufinden. Diese Vorsicht erwies sich auch sehr bald als höchst zweckmäßig, denn Wunsch und Geschmack der Drei stimmten nicht eben besonders überein. Während der Kurzenbauer sich nicht nehmen ließ, die in den blauweißen Ständen auf der Wiese hinter dem Königszelte aufgestellten Preispferde zu bewundern, fühlte die Schwester sich mehr auf die andere Seite gezogen, zu den Kühen mit den stattlichen Halsbändern, den bekränzten Hörnern und den melodisch bimmelnden Glocken; Stasi aber fand mehr Wohlgefallen an der Bude, in welcher gegenüber schöne bunte Tücher aus inländischer Seide feilgeboten oder durch ein Glücksrad ausgeloost wurden. Ehe sie sich’s versahen, waren die Drei getrennt und Jedes auf sich selber angewiesen.

Die Mahm war die Erste, welche, des Gewühls müde werdend, den Hügel zum Tölzer Wirth hinanstieg, um die Anderen zu erwarten, die ja doch wohl bald nachkommen mußten. Die Tische vor der Schenke waren eben nicht besetzt, nur seitwärts in der Ecke hatten ein paar Männer Platz genommen, die schon durch den Gegensatz ihres Aussehens die Aufmerksamkeit der Alten auf sich gelenkt haben würden, hätte sie auch nicht sofort in dem Einen den Störenfried oder den guten Engel des Hauses, den verhaßten Flößer-Martl aus Länggries erkannt, der in der Tracht als Hauptmann der Bergschützen noch schöner und stattlicher aussah, und fast mehr einem wirklichen Officier, als einem Bauern glich. Der lange hellgrüne Rock mit den thalergroßen, überzogenen Knöpfen von gleicher Farbe, war an Nähten und Knopflöchern zierlich mit gelber Seide ausgenäht, ebenso die Weste und das bis an’s Knie reichende weite Beinkleid; an dem breiten, gleichfalls grasgrünen Hute und dem darum geschlungenen Bande aber war die Seide durch Fransen, Schnüre und Quasten von Gold vertreten. Zum Zeichen seiner Hauptmannswürde prangten auf dem grünen Stehkragen des Rockes drei stattliche Goldborten; auf dem Hute aber neben Spielhahnfeder, Gemsbart und Adlerflaum erhob sich ein stattlicher weißer Federbusch mit blauer Spitze, während an einem über der Weste befestigten Gürtel das Commandoschwert herunterhing – ein alter stattlicher Reitersäbel – wohl eine Kriegsbeute aus längst vergangener Zeit und ihren Kämpfen – um den Hals, an einem silbernen Kettlein hing wie ein Orden die Kapsel mit dem Glasdeckel und dem Sechser darunter. Die Mahm betrachtete den Burschen nach allen Seiten; war er ihr doch durch Alles, was sie von ihm wußte und ahnte, merkwürdig genug geworden, als daß sich nicht der Wunsch in ihr hätte regen sollen, ihn in nächster Nähe zu beobachten, ja vielleicht Gelegenheit zu einer kleinen Zwiesprach zu erhalten oder doch den Inhalt der Unterredung zu erhaschen, die er mit seinem Cameraden führte, und die nach dem Eifer, mit dem sie geführt wurde, immerhin etwas sehr Wichtiges zum Gegenstande haben mußte.

Der Camerad sah durchweg aus, als wäre er eigens ausgesucht worden, um als Gegenstück des schmucken Burschen zu dienen; wie Martl auf dem Ansteig des Lebens sich befand, wandelte er schon stark auf dessen Niedersteig. Dichtes Haar hing um ein bartumwachsenes, verwittertes Gesicht; aber Haar und Bart waren wüst und grau. Im Eifer des Gespräches hatte der Mann den alten Hut achtlos hinter sich auf den Tisch geschleudert, daß er im Rücken Beider lag – er brauchte auch keine Sorge um denselben zu haben; denn der Filz war ebenso brüchig und löcherig, als der ganze Anzug fadenscheinig und abgetragen aussah. Unbeachtet stellte die Mahm ihren Krug auf den Tisch nebenan und setzte sich so, daß sie dem Paare den Rücken zuwendete.

„Für so dumm wirst mich nit halten,“ hörte sie den Schützenhauptmann [256] sagen, „daß ich Dir den Blimelblamel geglaubt hab’, den Du mir selbiges Mal vorgemacht hast! Ich hab’ mir gleich denkt, was das für eine Waar’ sein wird, die Du aus Tirol herausgeschwärzt hast – ein Wildschütz bist, ein nixnutziger, und wenn Du noch eine Viertelstund’ länger in meiner Hütten geblieben wärst, hätt’ Dich der Jäger erwischt.“

„Ich weiß wohl,“ erwiderte der Zerlumpte, und die Base fuhr beim ersten Laute seiner Stimme zusammen, wie wenn ein Donner ihr Ohr berührt hätte. Die Hand, die sie nach dem Kruge erhob, sank wie blitzgetroffen vom Henkel zurück, und halbgewendet starrte sie weitgeöffneten Auges den Wilddieb an, dessen Gesicht nur seitwärts und auch da nur halb zu sehen war, weil er es in der aufgestemmten Hand verbarg. „Ich hab’s wohl gemerkt, daß Du mich gern hast durchrutschen lassen und daß Du halt ein braver Kerl bist, der nur mir so in der Gutheit durchg’holfen hat – das vergess’ ich Dir niemals, und weil ich Dir’s durch nix Ander’s zeigen kann als durch’s Danken, so hab’ ich Dich angered’t, wie ich Dir vorhin begegnet bin, damit ich Dir’s wenigstens nochmal hab’ sagen können, wenn ich auch ein alter Lump bin und dem, den ich anred’, schier eine Schand’ anthu’!“

„Verdächtig siehst freilich uns,“ sagte Martl mit einem Seitenblicke auf den Mann; „aber wenn Du schon ein Lump bist, mußt denn nachher auch ein Lump bleiben?“

„Wird schon so sein müssen,“ entgegnete der Mann finster; „ich denk’, es ist einem Jeden aufgesetzt, wie’s ihm gehn soll in seinem Leben. Das ist, wie wenn man in ein Moos hineinfallt; da verschwind’t Einem der Boden unter’n Füßen, und je mehr man sich abarbeitet, um herauszukommen, um so tiefer sinkt man hinein, bis Einem der Morast zusammenschlägt über’m Kopf … meinetwegen,“ fuhr er fort, indem er den Krug gierig faßte wie Einer, der sich zu betäuben im Sinne hat. „Einmal muß ein End’ hergehn – bei mir wird’s bald so weit sein!“

„Was thust nachher in München?“ fragte Martl. „Bist nit in Tirol daheim?“

„Ich bin gar nirgends daheim – ich darf mich nirgends mehr recht sehn lassen! Aber nach München bin ich herein, weil ich ’denkt hab’, ich könnt’ vielleicht ein Platzl finden – aber es ist nix; es will halt nit sein, daß ich ein Glück hab’.“

„Du bist ein narrischer Kund’,“ sagte Martl theilnehmend. „Du kommst mir vor wie ein rechter Hallodri, und nachher ist doch wieder was in Deiner Art, daß ich mein’, es könnt’ noch nit ganz und gar gefehlt sein mit Dir … Wie ist’s denn nachher kommen, daß Du so hast werden müssen?“

„Wie ich so worden bin?“ sagte der Mann vor sich hin, als müßte er sich selbst erst darauf besinnen. „Das weiß ich schier selber nimmer. Ich kann’s nit sag’n – das ist, wie wenn Du eine Schüssel in’ Regen hinstellst: es fällt nur Tropfen für Tropfen hinein, und doch wird sie nach und nach voll und läuft über; oder wie wenn in einem G’wand ein Fädel reißt: das giebt erst nur ein kleines Löch’l, auf das man nit acht’t; bald aber wird’s größer, bis zuletzt die Fetzen herunterhängen … Man merkt’s anfangs gar nit, wenn’s bergab geht mit Einem; man hat wohl gar noch seine Freud’ daran, daß’s so gar lüftig dahingeht, bis man nachher in’s Fallen kommt, in’s Kugeln und Stürzen – da möcht’ man freilich anhalten, aber da hilft kein Besinnen mehr; und so ist’s besser, man schlagt sich gleich Alles aus’m Sinn und purzelt freiwillig kopfüber, kopfunter … Freilich,“ fuhr er nach einer Weile in einem Tone fort, der fast wie Rührung klang, „wenn man mich in meiner Jugend gefragt hätt’, hätt’ ich auch nit geglaubt, daß’s so weit mit mir kommen müßt’ … vielleicht hätt’ es auch nit so kommen müssen, aber ich hab’ halt kein Glück! Ich bin auch einmal ein junger Bursch gewesen, frisch und gesund und alert wie Du – Mein Unglück ist ein Madel gewesen; das will ich Dir erzählen, damit Du Dir’s merkst, damit Du nit auch so hineintappst … sie war eine reiche Bauerntochter, und ich bin nix als ein armer Jagdgehülf’.“

„Was Du mir da sagst!“ rief Martl mit eigenthümlicher Betonung. „Ich glaub’, ich kenn’ mich schon aus in der Geschicht’; aber erzähl’ nur zu – sie war reich und Du arm; ja, ja, das thut niemals nit gut. Sie ist wohl stolz und hoffärtig gewesen gegen Dich?“

„Nein,“ sagte der Alte kopfschüttelnd; „das Madel war gut und lieb und hat mich gern gehabt für sein Leben, und wie ich ihr mein Lieb’ gestanden hab’, hat sie das schlechte silberne Ring’l, das Einzige, was ich ihr hab’ geben können, angenommen und hat’s ’küßt, wie wenn’s das kostbarste Geschmeid’ wär’ … sie hätt’ wohl auch nit von mir gelassen; aber ihre Leut’ haben’s nit zugeben! Sie haben s’ gemartert bis auf’s Blut, mir aber haben s’ mit’m Erschießen gedroht, und weil mich das nit erschreckt hat, haben s’ mich beim Förster verklamperlt, daß er mich fortgeschickt hat und hat gemacht, daß mich kein Forstner in der Gegend mehr angenommen hat. Da bin ich eine Zeitlang herumgestrichen in der Irr’ voll Aerger und Verdruß, bis das Gerstel verklopft war, das ich mir zuvor zusammengehaust hab’ – und wie ich nix mehr gleich gesehn hab’, hab’ ich auch keinen mehr gefunden … Da ist das Schwärzen und ’s Wildschießen noch das einzige Geschäft gewesen, das mir frei war und bei dem sich wenigstens das Maul hat fortbringen lassen – so hab’ ich halt zu’griffen; es ist mir ja sonst auch nix Ander’s übrig geblieben.“

Martl erwiderte nichts; das Schicksal des Alten gab ihm überraschend viel zu denken und zu vergleichen.

„Bin mit allerhand Leuten in der Welt herumgefahren,“ begann der Alte wieder, „und jetzt, wie ich wieder in die Gegend gekommen bin, da hat’s geheißen, in München wär’ ein reicher Graf, der hätt’ große Güter in Ungarn oder gar in der Walachei und braucht tüchtige Jäger und Förster – da hab’ ich gemeint, so weit weg thät’ man’s vielleicht nit so genau nehmen und nit so viel nach der Kundschaft und nach’m Testimoni fragen; ich hab’s probiren wollen, ob ich nit wieder ein ehrlicher Kerl werden könnt’, wie ich einmal einer gewesen bin, aber mein Unstern will’s halt nit haben. Ich hab’ das Palais richtig gefunden, wo der Graf logirt, es ist auch Alles wahr gewesen, wie man mir’s gesagt hat; aber der Graf ist schon fortgereist nach Wien, und wenn ich aufgenommen werden wollte, so hat’s geheißen, müßt’ ich ihm halt nach Wien nachreisen. Wie soll ich armer Teufel das machen? Morgen geht freilich am Grünen Baum der Ordinarifloß hinunter – aber wenn ich mich auch zum Rudern verdingen wollt’, damit ich die freie Fahrt hätt’, was sollt ich drunten in Wien anfangen ohne einen Kreuzer Geld und in dem Aufzug? Sie thäten mich für einen Bettelmann halten oder gar für –“

„Sonst ist’s nix?“ rief Martl fröhlich. „No, wenn’s Dir blos da fehlt, Alter, da ist Dir g’holfen – ich hab’ freilich nit so viel bei mir; aber der Floßer-Martl von Länggries, der hat schon so viel Credit! Komm wieder daher, wenn das Pferd’rennen vorbei ist – ich will derweil’ schaun, daß ich so viel zusammenbring, als Du brauchst zu der Wienerreis’ und zu einer Ausstaffirung!“

Dem alten Jäger war es, als ob er plötzlich aus einem bösen Traume erwachte; er wußte sich in die Wirklichkeit nicht zu finden. „Wie? was?“ rief er lachend, während ihm zugleich ein paar dicke Thränen in den grauen Karl kugelten. „Mir sollt’ wirklich noch geholfen werden? Es giebt wirklich noch Jemand auf der weiten Gotteswelt, der sich um mich alten Kerl annimmt? Und Du wolltest es thun, der selber nichts hat, als was er mit seiner schweren Arbeit verdient?!“

Ein Kanonenschuß, der aus dem Wäldchen unweit der Schenke aus den Geschützen der dort aufgestellten Bürgerartillerie erdröhnte, unterbrach die Unterhaltung und verkündete, daß der König, dem das Fest gegeben wurde, sich von der Tafel erhoben und die Residenz verlassen habe. Einige Bergschützen kamen eilig heran, den Hauptmann zu rufen; sie mahnten, es sei hohe Zeit, sich aufzustellen; Martl hatte nur noch Zeit, flüchtig seine Zusage zu wiederholen, und eilte hinweg.

In dem Reden und Drängen hatte kein Mensch beachtet, daß auch die alte Base sich stillschweigend erhoben und davon gemacht hatte, nachdem sie zuvor einen Augenblick an dem Hute des Jägers herumgenestelt. Dieser blieb eine geraume Weile allein; er stützte den Kopf in beide Hände, wie um sich durch Nachsinnen zu überzeugen, daß, was er gehört, nicht Spott und Scherz war, daß wirklich Jemand noch an ihm Antheil nahm, daß am späten Abend seines Lebens noch das Gewölk sich zertheilen und die Sonne durchbrechen lassen wolle. Dann sprang er hastig auf und griff nach seinem Hute, zog aber rasch die Hand wieder zurück; denn der leichte Filz war plötzlich schwer geworden, und als er näher zuschauend die ungewohnte Last untersuchte und das im Hute befindliche Päckchen behutsam öffnete, blinkte ihm ein stattliches Häufchen Kronenthaler entgegen – er hielt mit ihnen die sichere Erfüllung seiner Lebenshoffnung in der Hand. „Ja, wie ist denn

[257]

Das Eindringen der Bourbaki’schen Armeepferde in Neuenburg.
Nach der Natur aufgenommen von Aujourd’hui.

[258] das?“ rief der Erstarrte. „Wo kommt denn auf einmal das viele Geld her? Das kann kein anderer Mensch hingelegt haben als der Floßer-Martl – es war also nur eine Ausred’, daß er nit so viel bei sich hat; er hat mir’s nur so verstohlener Weis’ geben wollen, blos daß ich ihn nit soll danken können. O Du guter, Du braver Bursch! Du wärst werth, daß man Dich in Gold fassen ließ –“ Plötzlich verstummte der Ausbruch seiner Freude – zu unterst in dem Blatt Papier, in welches das Geld gewickelt war, lag ein kleiner silberner Ring, den er wie ein Träumender betrachtete. „Du kommst mir nochmal vor die Augen?“ sagte er in sich hinein. „Ich kenn’ dich gar gut, wenn ich auch nit gedacht hab’, daß du mir noch einmal vor die Augen kommst. … Das Geld ist also von ihr? Sie war also da, und ich hab’ sie nit erkannt und nit einmal gesehen. … Rosl, wo bist denn?“ rief er aufspringend und nach allen Seiten spähend. „Rosl, hör’ doch! Laß mich Dir wenigstens danken! Laß Dich wenigstens nochmal vor mir sehen!“ Nirgends war eine Spur der Gesuchten zu entdecken, nirgends eine Möglichkeit, die Gesuchte nach so langer Zeit in dem Gewühle wiederzuerkennen. Der Alte in seiner Freude überdachte das nicht; mit dem wiederholten Rufe „Rosl!“ drängte er durch die Menge, die ihn verwundert und lachend betrachtete und meinte, der alte weißhaarige Geselle hätte auch nicht mehr nöthig, so lebhaft nach seinem Schatz zu rufen.

Indessen hatte nicht ferne davon eine Begegnung von nicht minderer Wichtigkeit stattgefunden. Stasi war kaum gewahr geworden, daß sie sich von den Ihrigen verloren, als sie trotz ihres entschiedenen Wesens eine solche Anwandlung von Scheu und Muthlosigkeit verspürte, daß ihr die Wangen brannten, und sie die erste im Gewühl sich darbietende Lücke benützte, um hinaus auf eine freie Stelle und von da zum Tölzer Wirthe zu gelangen, denn dort mußten ihre Angehörigen bereits sein oder doch in kurzer Zeit eintreffen. Gesenkten Blickes und mit hastigen Schritten eilte sie über die Wiese, gejagt voll allerlei Bemerkungen und Ausrufungen der Städter, die einander verwundert die hübsche Oberländerin zeigten, die so ganz allein auf der Wiese herumspaziere. „Auf Cerevis, Bruder! “ rief ein Student. „Das ist einmal eine saubere Dirne! Der sollte man eigentlich nachsteigen.“ Früher wäre Stasi wohl nicht so furchtsam und blöde gewesen und hätte auf solche Zudringlichkeiten und Spöttereien zur Genüge zu erwidern gewußt; aber sie war eben so ganz von innen heraus eine Andere geworden, daß sie sich selbst nichts mehr zutraute: der trotzige Uebermuth, der ihr früher einen Halt gegeben, war gebrochen, und eine andere stützende Kraft hatte sie in sich noch nicht gefunden. Sie wußte kaum, wie sie den Fuß des Hügels erreichte und über denselben hinaufkam; sie athmete hoch auf, als sie, oben angelangt, die Hütte mit dem Raben erblickte. Schon war sie bis auf wenige Schritte herangekommen, als sie plötzlich anhielt, und wie ein Reh, das im Walde den spürenden Jäger wittert und vor demselben umschlägt, in das Gebüsch sprang, das sich an einem Feldrain in der Nähe der Schenke hinzog, eben so schnell aber hatte sie sich wieder eines Andern besonnen und blieb hart am Wege stehn, das Auge fest dahin gerichtet, von wo ihr der Schrecken gekommen war.

Dort stand der Flößer-Martl mit seinen Bergschützen zusammen.

Er schien ihnen Befehle zu ertheilen, und wie er so an ihrer Spitze herangeschritten kam, sah er vollends aus wie ein General, von seinem Stab und Commando umgeben. Noch wenige Schritte – dann mußte sie ihm gegenüberstehen; aber sie wartete seiner, festen Fußes und ruhigen Blutes, wenn ihr auch das Herzblut bis in die Kehle hinaufschlug und den Athem zuschnürte, daß sie dem Umsinken nahe war.

Der Augenblick, nach dem sie verlangt, auf dessen Eintritt sie gehofft, wegen dessen sie so gedrängt hatte, nach München zu kommen, war da.

Im Eifer des Dienstgespräches hatte der junge Hauptmann die seitwärts am Raine stehende Dirne kaum beachtet – er stand daher nicht minder betroffen, als sie, über und über mit Purpur bedeckt, plötzlich in seinen Weg trat. „Grüß Gott!“ sagte sie mit zitternder Stimme. „Gehts nur Eures Wegs, Ihr Bergschützen. Ich hab’ ein Wörtl mit Eurem Hauptmann zu reden.“

Martl hatte es die Sprache verschlagen; er konnte nur mit einem Wink seine Genossen verabschieden, die langsamen Schrittes, ein verwundertes Lächeln in den Mienen, sich entfernten.

„Hab’ ich denn recht gehört?“ fragte er. „Du hast was zu reden mit mir?“

„Ja“, entgegnete sie, „und Du kannst wohl errathen, was es ist … denn das wirst wohl auch begreifen, daß es nit so bleiben kann zwischen mir und Dir … drum hab’ ich eine Bitt’ an Dich.“

„Du? Eine Bitt’ an mich? Was soll das sein?“

„Frag’ nit!“ sagte sie, anfangs mit Anstrengung; allmählich aber wurde ihr leichter um’s Herz, und mit jedem Worte floß die Rede ihr natürlicher und so weichen Falles von den Lippen, daß sie den Eindruck nicht verfehlen konnte. Der Bursche, schon über Begegnung und Anrede betroffen, lauschte dem Tone, als wäre er in eine Märchenwelt verzaubert; allmählich und wie unbewußt hatte er den Hut vom Kopfe genommen, so war sie vor ihm gestanden beim ersten Begegnen, ehe die Wolken des Unmuths und Trotzes das schöne Angesicht entstellt hatten! Das waren die verstrickenden Augen, in die er damals geschaut, und deren ersten Eindruck, so sehr er sich selber gescholten, alle spätere Unbill nicht zu verwischen vermocht hatte! Sie stand wieder vor ihm, dieselbe an Schönheit, aber auch unendlich bestrickender durch die weiche, fast demüthige Haltung, mit der sie ihr Auge, das sonst so stolz zu blicken pflegte, gleichsam wie Schutz flehend zu ihm aufschlug. „Stell’ Dich nit so an!“ sagte sie. „Du errathst es wohl, was ich von Dir will; Da mußt es errathen, sonst wärst Du der Bursch nit, der Du bist! Es ist dieselbe Bitt’, wegen der ich mein’ Vater schon an Dich geschickt habe, und die Du mir damals abgeschlagen hast. –“

Martl antwortete nicht, und griff unwillkürlich nach der am Halse hängenden Goldkapsel. „Ah, Du willst dies da!“ rief er, nicht ohne Bitterkeit. „Jetz’ versteh’ ich Dich freilich. Es ist Dir nit recht, daß ich ein Andenken von Dir hab’; Du willst mir’s abnehmen und den Leuten damit die Mäuler stopfen.“

„Es ist nit derentwegen,“ entgegnete Stasi fest. „Ich verlang’s nit der Leut wegen, sondern Deinetwegen … es leid’t mich nimmer – ich muß Dir’s sagen, und wenn Du selbigesmal auf der Brettenalm nit gleich so fuchtig gewesen wärst, hätt’ ich Dir’s damals schon gesagt … Ich hab’ Dir Unrecht gethan – ich bin hoffärtig und trotzig gewesen gegen Dich … aber ich seh’s jetzt ein: ich bin das gewesen, was Du mich geheißen hast, aber ich hab’ auch angefangen, anders zu werden, und der gewisse Nam’ ist jetzt nimmer wahr. Wenn ich Dir das freiwillig sage und Dich um Verzeihung bitt’, dann kann das Ding da und was drinn’ ist doch keine Bedeutung mehr haben für Dich …“

„Weißt das so gewiß?“ sagte Martl warm werdend. „Wie ich den Sechser umgehängt und das Büchsel dazu ’kauft hab’, hab’ ich’s gethan aus Zorn über Dich, aus Gift und daß es mich alleweil mahnen sollt’ all den Spott, den Du mir angethan hast. – Freilich, wenn Du so mit mir redst, da ist’s mit Gift und Gall vorbei – da hat das Anhängen keine Bedeutung mehr, aber es ist mir derentwegen leid, – so gern ich Dir keine Bitt’ abschlagen möchte, das Büchsel kann ich Dir doch nit geben, – ich hab’ mir selber das Wort’ geben und hab’s verschworen, daß ich’s meiner Lebtag’ am Hals trag’ und Niemanden gib’, als –“

Er verstummte; Stasi hatte die Augen gesenkt. „Als Dein’ Schatz,“ setzte sie mit zitternder Stimme hinzu … „Ich weiß’s; der Vater hat mir’s erzählt … Aber gerad’ dann mußt Du mir’s geben und mußt Dein Wort halten – da hast mein’ Hand, Martl … Ich will Dein Schatz sein.“

„Stasi!“ rief Martl, und der Hut flog trotz Spielhahnstoß und Federbusch weithin in den Staub. „Träumt mir denn oder willst mich foppen? Na, das kannst nit; ich seh’s in Deinen Augen … es ist Dir wirklich Ernst mit dem, was Du red’st … Du wärst mir also nimmer bös, willst mir’s nimmer nachtragen, was ich Dir angethan hab’? Du könnt’st mich wirklich gern haben?“

„Von Herzensgrund,“ sagte das Mädchen, „wie stark ich mich dawider gespreizt hab’ – ich hab’ nit anders könnt … Du hast mich gezwungen dazu.“

„Und Du mich!“ jubelte Martl. „Du hast mir’s angethan vom ersten Augenblick und mit’m ersten Augenblick … aber ist denn das möglich, Stasi? Ich kann ja die Glückseligkeit gar nit glauben.“

„So schau’, Du ungläubiger Thomas!“ sagte sie, auf ihren Hut deutend. „Da steckt noch das Edelweiß, das Du mir’ auf die Brettenalm gebracht und über’n Berg hinuntergeworfen hast … Ich hab’ mir’s heraufg’holt mit Lebensgefahr.“

[259] „Und das tragst Du auf Deinem Hut? Du hast also wirklich an mich denkt, hast mich in Dein’ Sinn ’tragen und in Dein’ Herz? Ja, jetzt hast Recht, jetzt hat das Büchsel kein’ Bedeutung mehr für mich … da – da nimm’s! Ich verlang’ nix dafür als ein einzig’s von den Edelweißblümeln da auf Dein’ Hut.“ Er wollte das Medaillon von der Schnur am Halse reißen; aber Stasi hielt ihn zurück.

„Nit jetzt!“ sagte sie. „Behalt’s noch! Wir müssen erst mit mein’ Vater reden, daß Alles in Ordnung ist, wie sich’s gehört – am Hochzeitstag, vor’m Altar und mit’m Trauring gib mir das Büchs’l!“

„O Du – Du – Du Ausbund von einem Madl!“ rief Martl, indem er ihr beide Hände entgegenstreckte, in die sie freudig einschlug. „Wie soll ich’s denn nur anstellen, daß ich das Alles glauben kann?“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Emil Rittershaus als Prophet. Es dürfte den Lesern der Gartenlaube von Interesse sein, heute von einem Gedichte Kenntniß zu erhalten, das von Emil Rittershaus, unserm langjährigen Mitarbeiter, bereits bei Beginn des Jahres 1861 in der Form eines Prologs geschrieben, das zur Feier eben dieses Jahreswechsels am Stadttheater zu Elberfeld gesprochen und das sodann von den „Unterhaltungen am häuslichen Herde“ zum Abdruck gebracht wurde. In der zweiten Hälfte dieses ziemlich umfangreichen Gedichtes nun hat der Dichter mit überraschend prophetischem Sinne die Ereignisse der großen Gegenwart Wort für Wort vorausgesagt und wir lassen die bezügliche Stelle, welche das Glück hatte, eine so glänzende Erfüllung zu erfahren, nach dem Abdruck in den „Unterhaltungen am häuslichen Herde“ um so lieber hier folgen als wir dadurch unsern Lesern die beste Gelegenheit geben, das bekannte Sprüchwort von dem Propheten im Vaterlande Lügen zu strafen. Zum besseren Verständniß schicken wir voraus, daß der Dichter in der ersten Hälfte seines Prologs drei lebende Bilder vorführt: „Lagerscenen aus Shakespeares Coriolan“ – „Gartenscene aus Faust“ – „Wallenstein’s Lager“, dann fährt er fort:

Zum Worte greif’ ich nun zum letzten Mal!
Verblichen ist der Lagerfeuer Strahl,
Drei Bilder sah’t ihr längst vergang’ner Tage;
Aus der Geschichte, aus dem Reich der Sage
Hat Euer Aug’ Gestalten hier geseh’n;
Die Kunst ließ todte Zeiten auferstehn. –
Doch, wenn sie auch vergangne Zeit erweckt,
In’s Leben ruft, was Schutt und Moder deckt,
Nicht ist das alles, was sie kann und soll!
Das Herz der Kunst ist heißer Gluthen voll;
Es schuf sie Gott, daß sie die Welt entflammt!
Die rechte Kunst hat ein Johannesamt
Und hat Prophetenaugen! – Durch die Zeiten
Seht Ihr sie hin mit leisem Fuße schreiten,
Und wo ein Volk versinkt in finstre Nacht,
Da rufen ihre Jünger ein „Erwacht“! –
Einmal erwachte Deutschland schon vom Schlaf:
Der deutsche Mann, er stand, ein armer Sclav’,
Im Dienst des Corsen, niedrer Schmach geweiht,
Da standen auf die Männer großer Zeit,
Ein Körner, Schenkendorf und Arndt und Stein!
Ein Rückert sang! – In’s Völkerherz hinein
Drang funkengleich ihr Wort und sieh, es schlug
Der Knechtschaft Todesstunde! Seinen Flug
Nahm sonnenwärts der edle, deutsche Aar;
Da mußte fallen unsrer Feinde Schaar
Und über Leipzigs Blut und Pulverblitz
Sah aus den Wolken wohl der alte Fritz,
Und segnete die freigeword’ne Welt! – –
Weh, Kettenklirren tönt vom fernen Belt;
Im Elsaß herrscht noch heut Franzosenthum! –
Dahin der theure bluterkaufte Ruhm! –
Doch lauscht! Auch heute tönt ein mahnend’ Wort!
In West und Osten klingt’s, in Süd und Nord!
Es klingt am Rhein und an der Eider Strand
Der Dichtung Mahnruf: „Auf, mein Vaterland!
Es schallt ein Lied, das hat gar wilden Klang;
Es wachen auf die Völker beim Gesang.
Es tönt am Fuß der Alpen, an dem Meere
Das Lied von der zertretnen deutschen Ehre!
Noch klingt vereinzelt jene Melodei,
Doch glaubt’s! Das Lied, es wird ein Racheschrei,
Und klingt’s erst hell von allen deutschen Zungen,
Dann wird der Schmach das Todtenlied gesungen,
Und wenn’s die Welt mit Sturmesflug durchrauscht.
Dann wird die Leier mit dem Schwert vertauscht!
Nicht träumend in des Friedens weichem Schooß,
Im Kampf wird Deutschland einig, frei und groß!
Ich seh’s im Geist! – Ich hör’ das Feldgeschrei!
Das Streitroß stampft der Lerche Nest entzwei;
Haubitzen singen ihren Donnerpsalm;
Auf zu den Wolken steigt der Pulverqualm
Mit der Gefallnen letztem Stoßgebet,
Mit dem Hurrah der Schaar, die fechtend steht,
Das rothe Blut dampft aus des Ackers Schollen. –
Ich seh’ die Tage, die da kommen wollen!
Seh’ die Kanonen, seh’ die stolzen Heere.
Wir waschen rein den Schild der deutschen Ehre. –
Doch schau’ ich mehr noch! – Ueber Tod und Blut
Aufstrahlt es licht wie rothe Morgengluth!
Im Westen, fern auf der Vogesen Spitzen
Seh’ ich der Freudenfeuer Flammen blitzen!
Ich seh’ der neuen Lorbeer’n grüne Zier;
Auf Straßburgs Münster weht ein deutsch Panier!
Die Glocke ruft zum Lobgesang vom Dom
Und Deutschland nennt ihn sein, den deutschen Strom!
Und dort am Meerstrand! Wie es lustig kracht!
Doch ist’s nicht mehr der Donner blut’ger Schlacht;
In seiner Scheide darf der Degen schlafen:
Die deutsche Flotte segelt aus dem Hafen,
Und an dem Strand der Eider hallen wieder
Aus freier Brust die trauten, deutschen Lieder,
Germania drückt, o süße Himmelslust,
Die langentbehrten Kinder an die Brust! – –
Und dann ein Siegesmarsch, Trompetenton
Und Trommelwirbel! Seinem besten Sohn
Drückt auf die Stirn die deutsche Kaiserkron’
Das deutsche Land, reicht ihm das Scepter dar! –
Das ist das echte, rechte, neue Jahr!
Das ist der Zukunft großer Sonnentag!
Tönt, ihr Trompeten! klinge, Trommelschlag!
O Tag des Siegs, wann bist du endlich da? –
Gott sei mit Dir! Heil Dir, Germania![2]




Zu den Erinnerungen des heiligen Krieges bringen wir heute nachfolgende Stelle aus einem am 20. October 1870 geschriebenen Briefe, welchen der Verfasser, Lorenz, zugleich mit der sodann vom Maler Sundblad trefflich ausgeführten Skizze uns seiner Zeit zugeschickt hat. Es heißt dort:

„Sie ahnen wohl kaum, an welcher heiligen Stätte ich in spätester Abendstunde diese Zeilen schreibe! Auf den Stufen eines Altars, im Angesicht einer Kanzel, beim Schimmer düster brennender Altarkerzen, kurz, mitten in einer Kirche, deren Wölbung tagüber vom profanen Treiben der deutschen Soldateska widerhallt, und deren weite Räume, statt vom mystischen Weihrauch der Messe, vom Cigarrenrauch und Pfeifenqualm feindlicher Einquartierung erfüllt sind. Ich zweifle nicht, daß manchen Ihrer Leser bei dieser Schilderung ein gelindes Entsetzen erfaßt, wenn er nicht schon beim Anschauen meiner Skizze genug gehabt hat, die ich heute Nachmittag treu nach dem Leben aufgenommen habe, und die mein lieber Freund Sundblad gewiß recht hübsch und sauber für Sie ausführen wird.

Nachdem wir zehn Tage lang im Dorfe Villepinte in der Reserve gestanden sind – so langweilig, daß man seine Zeit nur zwischen Exerciren und Scatspielen zu vertheilen vermochte – stehen wir heute im Dorfe Sevran wieder auf Vorposten, unmittelbar vor Paris, dessen ausgehungerte Einwohner zu Hunderten herauskommen, Kartoffeln auszugraben und dabei auf beste Weise durch unsere Linien zu brechen. Sie wieder nach Paris zurückzutreiben ist für’s Erste unser Zweck.

Dabei sind wir aber auch in unserer Kirche ganz gut aufgehoben, und wenn die Herbstsonne nicht allzu früh ihren Dienst versagt, so werden wir uns auch in den Chorstühlen noch ganz erträglich warm halten können. Ob wir die Kirche mit Militär belegen sollten oder nicht, darüber blieb uns keine Zeit zum Besinnen, da wir bei unserer Ankunft das ganze Dorf von oben bis unten und vom Keller bis zum Dach schon voll Soldaten fanden. Dableiben aber mußten wir, und so übertrat denn unser unheiliger, staubbedeckter Fuß die Schwelle des heiligen Hauses, dessen Inneres bald mehr einer, freilich nur sehr provisorisch eingerichteten Caserne glich, denn einem Tempel des Friedens. Uebrigens waren Pfarrer und Meßner schon lange geflohen; der unmittelbare Anblick unseres heidnischen Gräuels blieb ihnen also erspart.

[260] Es war wirklich zum Verwundern, wie rasch sich Jeder zurecht und das Plätzchen herausfand, das ihm am behaglichsten dünkte. Auf und am Hauptaltar wurde sofort Brod, Kaffee, Erbswurst für unsere Corporalschaft ausgepackt und durch den Führer von den Stufen herab mit Stentorstimme an die hungernden Mannen vertheilt. Gegenüber hatten auf Bündeln Stroh unter einem an der Säule hochragenden Crucifix sofort unsere eifrigsten Scatspieler Platz genommen, und um den Taufstein drängte sich Einer um den Andern, Hals und Kopf den nicht ganz zu umgehenden Geboten der Reinlichkeit zu unterziehen, und weit im Umkreis die Steinplatten mit dem unsauberen Naß beplätschernd. Oben auf der Kanzel aber hatte der Lustigste von Allen Platz genommen, der in Leipzig wohlbekannte Studiosus M. aus R. Er war fast zuletzt gekommen, da Gänge und Stühle schon alle besetzt waren. Sein Blick fiel auf die Kanzel.

„Halt,“ rief er lachend, „nun kann ich meiner Mutter doch noch einen alten Wunsch erfüllen. Sie wollte ihren Sohn immer auf der Kanzel sehen. Ich widersetzte mich, ich schwur, nie eine Kanzel zu betreten, ich wollte Medicin studiren. So geschah es auch. Aber heut’ will ich meinen Schwur brechen, heut’ will ich die Kanzel betreten; schade nur, daß es mein altes Mütterchen nicht sehen kann.“

Sprach’s und eilte, unter dem Jubel der Cameraden, die Wendeltreppe hinauf; wie er aber oben mit Helm und Bajonnet erschien, ertönte plötzlich ein voller stolzer Klang durch die Kirche – ein Anderer hatte den Weg zur Orgel gefunden, ein Blasebalgtreter hatte sich auch gleich herangemacht, und nun brausten die mächtigen Töne herunter in das Schiff der Kirche, und alle die kräftigen Stimmen fielen in die wohlbekannte Melodie mit ein und aus wohl über hundert Kehlen scholl es: „Fest steht und treu die Wacht am Rhein.“ Studiosus M. aber, dem offenbar nicht entging, daß er zur Zeit nicht die wünschenswerthe Aufmerksamkeit für die von ihm beabsichtigte Predigt finden werde, verlegte sich auf eine praktischere Beschäftigung, und klopfte sich, die Cigarre zwischen den rothbebarteten Lippen, die staubigen Hosen aus, selbstverständlich nicht am Leibe.

Durch das Fenster aber fiel der volle Strahl der Nachmittagssonne und beleuchtete die in ihren Gegensätzen wahrhaft abenteuerliche Scene so wirkungsvoll, daß ich, wie gesagt, Stift und Skizzenbuch aus der Tasche zog, die Hauptumrisse des Bildes in aller Eile festzuhalten.

Inzwischen ist es Abend geworden und die Nacht ist hereingebrochen, die Gesänge der Leute sind verstummt, Einer um den Andern hat sich ermüdet in das Dunkel der Gänge und Chorstühle zurückgezogen, mir selbst sind die Augen so schwer, daß ich kaum diesen Brief an Sie vollenden kann. Dort in der Ecke nur, nahe am Altare, hat die alte unverbesserliche Scatgesellschaft ihren Platz noch immer nicht geräumt. Die schweren silbernen Kirchenleuchter spenden das nöthige Licht zu dem unheiligen Spiel, Karte um Karte fliegt aus der Hand der Spieler, mancher unchristliche Ausruf preßt sich durch die Lippen des Verlierenden, als Tisch aber dient, nur von den Knieen der einzelnen Umsitzenden getragen, ein großes Oelbild, auf dem eine Menge Namen verzeichnet stehen und das als Ueberschrift die Worte trägt: ‚Association des enfants de Marie.‘“


Prinz Friedrich Karl. Zu einer städtischen Deputation, die dem Feldmarschall Prinzen Friedrich Karl eine Dankadresse in seiner Wohnung im königlichen Schloß zu Berlin überreichte, that derselbe unter Anderm folgende Aeußerung: „Ja, es ist in diesem Kriege denen daheim doch nicht immer rasch genug mit den Siegen der Armeen und ihrer Führer gegangen. Haben mir doch meine eigenen Kinder mal geschrieben: ‚Warum hast Du denn so lange nicht gesiegt, Papa? Siege doch mal wieder!‘“

Von großem Interesse war, was der prinzliche Führer über die neu gestifteten französischen Armeen sagte. Es wäre ganz bewunderungswürdig, wie ihre Herstellung mit solcher Schnelligkeit und Sicherheit möglich gewesen; gewiß wäre das nirgendwo einem geschulten Kriegsminister gelungen, es gehörten dazu revolutionäre Elemente mit ihrem eigenthümlichen Einfluß auf die Menschen. Das wäre auch in ähnlicher Weise von den Generalen zu sagen, die aus der Mitte dieser Armeen hervorgegangen seien; sie hätten in der That Erstaunliches geleistet, und hätte man den Mann Gambetta in eine Generalsuniform gesteckt, er würde ohne Zweifel sie noch weit übertroffen haben. Auch in dieser Richtung sei die Bedeutung des revolutionären Geistes stark hervorgetreten. Beim ersten Anprall seien gerade auch die neu formirten Armeen sehr gewaltig gewesen, wie man das ja schon von Cäsar’s Zeit her kenne, und hier um so mehr, als die meist so jugendlichen Soldaten von den Gefahren des Kampfes keine Vorstellung gehabt hätten. Um so schneller wäre freilich auch die Muthlosigkeit gewesen. Uebrigens müsse immer wieder hervorgehoben werden, daß seine Armee mit alleiniger Ausnahme des 18. August stets gegen die größte Uebermacht, meistens eine dreifache, gekämpft hätte. Um so bewunderungswürdiger wären ihre Leistungen.


Die Parkirung der Bourbaki’schen Armeepferde. Nachdem wir bezüglich des Ueberganges der Bourbaki’schen Armee über die Schweizer Grenze in Bild und Wort bereits ausführlich berichtet haben, lassen wir – weil sie für das entsetzliche Elend der französischen Südarmee gar so charakteristisch ist – als begleitenden Text zu unserer heutigen Illustration aus Neuenburg noch nachstehende Mittheilung folgen:

Mannschaft und Officiere der in die Schweiz gedrängten Bourbaki’schen Armee waren vertheilt nach den verschiedenen Cantonen der Schweiz, die Nachzügler selbst hatten allmählich Obdach in einem Verpflegungsort gefunden, dem menschlichen Elend war nach Kräften gesteuert; allein nicht so stand es um die Pferde, um diejenigen nämlich, welche nicht Privat-, sondern Staatseigenthum waren und unter eidgenössische Verpflegung kamen.

Wir sahen die Train-, die Artilleriepferde mühsam ihre Last ziehen, die Reiterpferde unter ihren Reitern keuchen. Gleich den Soldaten war auch ihr erstes Ziel Neuenburg, um von da längs dem See nach dem sonst so lieblichen Colombier gebracht zu werden. Dort und auf der Neuenburger Promenade im Winterschmucke fanden die erschöpften, halb ausgehungerten Pferde, von denen viele noch rotzkrank waren, ein Unterkommen unter freiem Himmel. In dem Zustande, in welchem sich die meisten Thiere befanden, schon mehr oder minder gewöhnt an die Schneeluft der Berge, wäre eine zugleich auch ausgedehnte Räumlichkeiten erfordernde Bestallung den Thieren schädlich gewesen; die Verwahrlosung in ihrer Ernährung während der letzten Zeit hatte auch bei vielen den inneren Organismus gestört, sie vermochten die gewöhnliche Nahrung der Pferde nicht zu ertragen. Sie benagten die Bäume, die Bänke der Promenaden. Hunderte brachen verendend zusammen und mußten verscharrt werden.

Weder Trainsoldaten, noch irgend einer der Berittenen der Armee fanden sich verpflichtet, in irgend einer Weise des oder der ihnen anvertrauten Pferde sich anzunehmen, und so fiel die Sorge für diese Thiere, deren Zahl bis zu mehreren Tausenden anwuchs, allein den schweizerischen Mannschaften zur Last. Der Raum, wo die Thiere parkirten, war durch Wachmannschaften umstellt, welche keinem Unberechtigten den Eintritt gestatteten.

Schon in den ersten Tagen kamen von allen Seiten mit der Bahn Kauflustige, Speculanten, um für billigen Preis Pferde anzukaufen; allein nur solche, welche erwiesenermaßen das Privateigenthum Einzelner waren, durften von diesen verkauft werden, also einzig nur Officierspferde. Die meisten Officiere jedoch, welche noch diensttaugliche Pferde hatten, behielten dieselben. Eigenthümlicher Weise schienen die Pferde höherer Officiere, trotz dem doch allgemeinen Futtermangel bei der Armee in letzter Zeit und den Spuren der erlittenen Strapazen der Staatspferde, in sehr gutem Zustande; bei manchen bemerkte man kaum, daß sie einen Feldzug mitgemacht.

Es machte einen betrübenden Eindruck, dieses weithin ausgedehnte, „Pferdelager“, das klagende Wiehern der Thiere durch die kalte Abendluft, der verendende Kampf, das Zusammenbrechen – und wenn mit dem Morgengrauen die Runde ging, da lagen wieder Dutzende todt und starr!

Endlich schlug aber auch für die Thiere, welche der Tod nicht von ihren Leiden befreit, die Erlösungsstunde, die Stunde der Internirung, um nach einigen Cantonen vertheilt an die Meistbietenden versteigert zu werden. Schon waren manche zu vergleichsweise hohen Preisen losgeschlagen, als der unterzeichnete Friede die Versteigerungen hemmte und so die Uebrigbleibenden der Heimath, ihrer „Nationalität“, zurückgegeben wurden.

v. Cl.

Der Werth geographischer Kenntnisse hat schlagender als je sich dargethan in dem soeben vollendeten großen Kriege zwischen Deutschland und Frankreich. Während unsere Gegner bis zur höchsten Führerschaft hinauf sich durch Unkenntniß sogar ihres eigenen Landes auszeichneten, hatte fast jeder deutsche Soldat seine Karte vom Kriegsschauplatz in der Tasche und wußte Bescheid darin. Der geographische Unterricht wird daher auch jetzt mehr, als früher, in der Volksschule Platz finden. Soll er aber mit Erfolg betrieben werden, so darf der Zögling nicht auf die große Wandkarte der Schule angewiesen sein, sondern muß seinen Atlas auch daheim vornehmen können. Dieser Wunsch gehörte zu den schwer ausführbaren, so lange der Preis der Atlanten sich noch nach Thalern berechnete. Wir müssen deshalb ein Unternehmen mit Freuden begrüßen, welches im Stande ist, dem ärmsten Kinde seinen Atlas, und zwar in Farbendruck und in vierundzwanzig Karten, in die Hand zu geben. Das ist der „Volks-Atlas über alle Theile der Erde für Schule und Haus von Dr. E. Amthor und Wilhelm Ißleib“ im Verlag von Ißleib und Rietzschel in Gera, der nur 7½ Sgr. oder 27 Kreuzer s. W. kostet. Diese Karten sind nicht nur die billigsten, welche der Schulbuch-Handel kennt, sondern sie zeichnen sich auch durch gewissenhafte Arbeit in Entwurf, Schrift und Colorirung aus und verdienen die Verbreitung, die ihnen zum Theil jetzt schon in zwölf Auflagen geworden ist.


Vermißte Landsleute. Ist es uns auch noch nicht möglich, die regelmäßige Rubrik der Fragen und Auskunft über vermißte Deutsche schon jetzt wieder aufzunehmen, so wollen wir doch mit den dringenderen Fällen beginnen und bitten heute für folgende um die Theilnahme unserer freundlichen Leser.

Der Zimmermann Friedrich Koch, ansäßig in Zeitz, Sohn des Kaufmanns Karl Koch daselbst, ist vor ungefähr zwölf Jahren nach Nordamerika ausgewandert und hat seit länger als neun Jahren keine Nachricht von sich gegeben. Nach Mittheilungen Dritter soll er im Secessionskriege gefallen sein. Amtliche Ermittelungen haben ergeben, daß ein Mann des Namens Friedrich Koch in der Gegend von Glenhope gewohnt, verheirathet gewesen sei und Kinder gehabt habe; später wurde ermittelt, Friedrich Koch aus Zeitz sei bei Richmond gefallen und habe einen in der Nähe von Gem-Hope oder Glen- oder Glam-Hope wohnenden Sohn hinterlassen. Bei welchem Truppentheil Koch gestanden, ist ebensowenig ermittelt, als die genaue Adresse seines Sohnes. Es fehlt also die amtliche Bescheinigung seines Todes und die Feststellung der Existenz seines Sohnes – die beide unentbehrlich für eine Erbschaftsregelung sind. Ist einer unserer Leser im Stande, hierüber Andeutungen zu ertheilen, so bitten wir, dieselbe dem deutschen Consul in Philadelphia zugehen zu lassen, der darauf weitere Schritte zur Aufklärung der Sache thun wird.


Ein Sohn sucht seine Mutter! Die Schauspielerin Emilie Schneider, geborene Zimmermann, aus Berlin, hat vor sechszehn Jahren mit dreien ihrer Kinder, Marie, Albert und Antonie, sich plötzlich von der Conradi’schen Truppe in Schlesien entfernt, aber einen Sohn, Otto, bei dem Director Conradi, dem Oheim des Knaben, zurückgelassen. Dieser Sohn hat seitdem Mutter und Geschwister nicht wieder gesehen und bittet nun dringend, ihm durch die Gartenlaube Nachricht zu geben, wer von seinen verschollenen Angehörigen noch am Leben sei und wo er es auffinden könne. Der Fall ist so seltsam, daß ihm die allgemeine Theilnahme nicht entgehen wird.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir beginnen mit der heutigen Nummer die Reihenfolge der angekündigten „Erinnerungen aus dem heiligen Kriege“ und bitten, obwohl Material in umfassendster Weise bereits vorliegt, doch alle Freunde der Gartenlaube, namentlich Jene, welche selbst die Waffen getragen und den Sieg haben miterringen helfen, uns in unserer Aufgabe zu unterstützen. Interessante persönliche Erlebnisse und anregende Episoden aus den Erzählungen der heimgekehrten Freunde und Cameraden sind uns in hohem Grade willkommen.
    Die Redaction.
  2. Den vielen Freunden und Verehrern unseres geschätzten Mitarbeiters, namentlich aber den Subscribenten auf die im März vorigen Jahres angekündigte und bisher durch die Zeitverhältnisse zurückgehaltene Sammlung neuer Gedichte wird bei dieser Gelegenheit die Mittheilung willkommen sein, daß wir Veranlassung genommen haben, den Dichter zu bestimmen, der Sammlung auch diejenigen Schöpfungen einzuverleiben, welche den Ereignissen der Jahre 1870–71 ihre Entstehung verdanken und, von warmer Vaterlandsliebe eingegeben, nicht selten und nicht wenig dazu beigetragen haben, die Opferwilligkeit des Volkes in die rechten Bahnen zu lenken und seinem Streben für die Tage friedlicher Arbeit die richtigen Ziele zu weisen. Wir hoffen, damit eines Theiles die Subscribenten für das verzögerte Erscheinen zu entschädigen, anderen Theiles aber in noch weiteren Kreisen eine neue Anregung zur Betheiligung an der Subscription zu geben. Das Resultat der letzteren – bekanntlich soll dem Dichter der volle Reinertrag ohne Abzug zukommen – sichert übrigens bereits nicht minder unserem Unternehmen einen erfreulichen materiellen Erfolg, als es unserem Volke zur Ehre gereicht, und es ist deshalb nunmehr mit dem Druck begonnen, so daß die Sammlung in etwa zwei Monaten erscheinen wird. Es ist daher nothwendig, und wir bitten also darum, die Subscriptionslisten mit dem 15. Mai zu schließen und sodann alsbald an die betreffenden Herren Mitglieder des Comités zurückgelangen zu lassen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Aus