Die Gartenlaube (1870)/Heft 21
[321]
No. 21. | 1870. |
(Fortsetzung.)
Es waren furchtbare Wochen, die nun über das verödete Haus der Salten hinzogen, dessen geheime Schande durch den Proceß des Grafen und des Candidaten unbarmherzig an die Oeffentlichkeit gezogen wurde. Adelheid’s Ehre war vernichtet. Die Schwestern Bella und Wika sagten sich los von ihr und zogen sich mit dem kleinen Legat, das ihnen der Freiherr vermacht, auf die jetzt Alfred gehörigen Güter zurück. Nur Lilly, die gute Kleine, wollte sich nicht von Alfred trennen und theilte ihrer Schwägerin Unglück und Schmach.
Die Voruntersuchung gegen Egon und Feldheim war beendet. Die Anklagecommission hatte Beide vor das Schwurgericht verwiesen, Egon wegen Tödtung im Zweikampf, Feldheim wegen Beihülfe zu demselben und an Egon verübter Gewaltthätigkeit. Von der schweren Beschuldigung des Mordversuchs hatte sich Feldheim, dessen Wunde im Gefängniß rasch geheilt war, glänzend gereinigt. Daß er auch jener Vergehen von den Geschworenen nicht schuldig befunden würde, darüber war in Zürich nur eine Stimme.
Unvergleichlich schlimmer war Egon’s Lage. Die Züricher Gesetzgebung ahndet die Tödtung im Duell wie einen Todtschlag, und er erfuhr, daß ihn möglicherweise eine langjährige Zuchthausstrafe treffen könne. Er war dem Wahnsinn nahe. Ein Mensch, wie er, auf den Höhen der Gesellschaft geboren und erzogen, verurtheilt, wie ein gemeiner Verbrecher sein Leben unter dem Abschaume der Menschheit hinzuschleppen, – es war ein Gedanke, zu furchtbar für das arme schwache Gehirn des feigen, haltlosen Menschen, der nicht einmal den Muth hatte, sich die eigene Schuld zuzugestehen und das Ganze als eine unerbittliche Consequenz des Schicksals zu betrachten. Der Ruf seiner Fassungslosigkeit verbreitete sich durch ganz Zürich, und Doctor Schäfer erzählte Adelheid, daß man ernstlich für seine Gesundheit fürchte. Was sie dabei empfand, wußte Niemand. Aber am Abend desselben Tages, als es zu dunkeln begann, schlich sie sich ganz allein aus dem Hause und schlug den Weg nach Zürich ein. Sie ging nach einer der abgelegensten Gassen der Stadt. Vor einem hohen, fast überhängenden Giebelhause blieb sie stehen. Hier wohnte ein berühmter Juwelenhändler, der sogenannte Bernsteinjude, von dem sie oft gehört, und ein wurmstichiges Schild über einer niedrigen Thür trug die Inschrift: „Aaron Itzel, Niederlage von Bernsteinwaaren, An- und Verkauf von Pretiosen, Gold und Juwelen aller Art, Diamantschleiferei etc.“ Es war schon die Stunde, wo die Magazine geschlossen werden, und ein Lagerjunge hatte bereits die eisernen Stangen vor die Fensterladen gelegt, nur die Thür war noch offen. Adelheid trat rasch ein.
„Sie wünschen?“ fragte ein verdrossener, abgestandener Commis, der sich nach seinem Abendtrunk sehnte. „Wir sind eben am Schließen.“
„Das sehe ich!“ sagte Adelheid. „Ich habe mit dem Herrn des Geschäfts zu sprechen; wollen Sie ihn gefälligst rufen?“
Der Commis ging rückwärts, die Blicke wachsam auf Adelheid gerichtet, nach dem Bureau und rief hinein: „Herr Itzel, es ist noch ein Frauenzimmer da, das mit Ihnen sprechen will.“
Herr Itzel kam befremdet heraus und faßte die sonderbare Kundin, die keine andere Zeit zu ihren Einkäufen hatte wählen können als die des Zwielichts, scharf in’s Auge. Doch selbst durch den dichten schwarzen Crèpeschleier erkannte er sogleich die wegen ihrer Schönheit und ihrer rothen Haare in ganz Zürich berühmte Frau von Salten. Er war indessen discret genug, sich nichts merken zu lassen.
Adelheid betrachtete ihn mit stillem Entsetzen. Er war ein kleiner alter Mann von auffallend israelitischem Typus und stechenden schwarzen Augen, deren eines an einer Thränenfistel litt, denn es lief beständig. Eine scharfgebogene, von Tabak gebeizte Nase und krauses weißes Haar vollendeten das abschreckende Bild. Adelheid schlug das Herz, als er sie fragte: „Womit kann ich Se dienen?“
Sie wollte zum ersten Male in ihrem Leben nichts kaufen, – sie – Adelheid von Salten – wollte etwas verkaufen! Die Stimme versagte ihr, als sie leise begann: „Wollten Sie nicht die Güte haben, dem jungen Herrn Urlaub zu geben? Er scheint darauf zu warten.“
Herr Itzel war ein feiner Mann; er liebte die Kunden, welche mit ihm allein zu sein wünschten, am meisten und winkte sogleich dem abgestandenen Commis zu gehen. Als sie allein waren, zog Adelheid mit zitternden Händen ein Päckchen aus der Tasche. Sie enthüllte es und ein ledernes Schmucketui kam zum Vorschein.
„Herr Itzel,“ begann sie stockend, „ich habe da einen Schmuck, den ich zu veräußern wünsche, da ich gesonnen bin, die Trauer nie wieder abzulegen, und keines solchen mehr bedarf. Würden Sie geneigt sein, ihn mir abzukaufen?“
„Warum sollt’ ich nicht abkaufen die Waare von so ’ne feine
[322] Dame? Schöne Leute – schöne Sachen! Wenn se mer werden machen ’nen Preis, wo kann bezahlen so ’n armer Jubelier wie ich?!“
„Ich überlasse es ganz Ihnen, den Preis zu bestimmen,“ sagte Adelheid und öffnete das Kästchen.
Herr Itzel that einen Blick hinein und schlug die Hände zusammen. „Soll mer Gott helfen! Wollen Se mer führen in de Versuchung, daß Se mich wollen bestimmen lassen ’n Preis? Wollen Se mer stellen auf die Probe, ob ich bin ein ehrlicher Mann?“
„Wenn ich das nicht überzeugt wäre, käme ich nicht zu Ihnen, mein Herr!“
Itzel blinzelte sie schlau an. „Wie heißt überzeugt? Se sind von ’n Juden nie überzeugt, daß er ist ’n ehrlicher Mann, wenn Se nicht wissen, daß ’n seine Ehrlichkeit bringt Gewinn. Nun gut, das können Se denken: aß ich nicht bin gewissenhaft auf ’n Centime, ruinir’ ich mer’s ganze Geschäft.“
Es war mittlerweile Nacht geworden in dem geschlossenen Laden. Herr Itzel zündete die Gasflammen an, nahm den Schmuck heraus, hielt ihn gegen das Licht und ließ die Steine spielen. Es war das Collier, welches Adelheid einst von ihrem Gatten als Brautgeschenk bekommen und bei ihrer Hochzeit getragen hatte. Und als sie es jetzt in dem vollen Lichte schimmern sah, da kam ihr plötzlich die Erinnerung an eine schwüle Sommernacht, wo sie hingerissen von fieberhaften Träumen des Glanzes und Glückes aus dem Halsband ein Diadem gemacht, ihre Schönheit damit zu krönen. Was war aus all’ diesen Träumen geworden? Was geblieben? Ein Wittwenschleier und ein Brandmal der Scham auf der Stirn. Und das Geschmeide, an dem jeder Stein der Krystallpalast eines kleinen verführerischen Kobolds war, der sie mit lüstern glänzenden Blicken daraus anfunkelte – das Geschmeide, das ihren Hals geschmückt, als sie vor dem Altar ihrem Gatten Treue schwur, es lag jetzt in den Händen eines Juden, um – o Gott, wie tief war sie gesunken! Heiße Thränen quollen ihr hervor. Noch einmal blitzte der Schmuck sie an wie mit lauter liebeflammenden Augen, noch einmal flimmerte und glitzerte er in seiner ganzen Pracht, die Lichtstrahlen schossen hin und her wie feurige Fäden, aus denen ihr die rastlosen Kobolde einen neuen Brautschleier weben wollten, – umsonst! Die verweinten Lider schlossen sich schmerzlich vor dem grellen Schein und Adelheid sank todesmüde auf einen Stuhl.
„Die Steinlich sind gut,“ sprach Itzel bedächtig. „Das Gold is auch gut. Was wollen Se haben dervor?“
„Ich weiß ja nicht, was der Schmuck werth ist! Taxiren Sie ihn gefälligst selbst.“
„Nu, sen wollen Se mer den Schmuck bis morgen anvertrauen, damit ich’n kann wägen und Ihnen genau sagen, was ich kann geben dervor?“
„Es kommt mir auf einige hundert Francs mehr oder weniger nicht an, mein Herr,“ bat Adelheid, „wenn wir nur heute noch einig werden könnten, würde ich gerne warten. Ich habe morgen eine große Zahlung zu machen, wozu ich das Geld brauche!“
Herr Itzel sah die Pein Adelheid’s: „Wie Se sind in der Aufregung! Wenn ich nu wär’ ’n Hallunk’, der sich das machte zu Nutzen? Wie? Ne, ne, sein Se ruhig, der Itzel is der Itzel! Wenn Se ’n Augenblick verziehen wollen, so werd’ ich jetzt gleich machen die Probe.“
Er ging zu einem Tischchen, wo allerhand feines Handwerkszeug lag, und fing an die Diamanten auszubrechen. Adelheid fuhr bei dem Geräusch zusammen, sie hatte ein Gefühl, als würden ihr nach der Reihe ihre eigenen Perlenzähne ausgebrochen.
Itzel war mit seiner Arbeit fertig. Er hatte die Steine gewogen, das Gold mit Scheidewasser geätzt und seine Berechnung gemacht. Endlich kam er an den Tisch zurück, die Diamanten wie gesammelte Thautropfen in der hohlen Hand. War es doch auch der Thau einer gebrochenen entblätterten Blüthe. Er schüttete die Brillanten vorsichtig in eine Schachtel und legte das geplünderte Collier dazu vor Adelheid hin. Es starrte sie mit den leeren Höhlen traurig glanzlos an, wie ein augenloses Gesicht. Sie schob es weg und sagte. „Das Gold gebe ich Ihnen drein, wenn Sie mir nur die Steine bezahlen wollen.“
Der Juwelier schnitt ein Gesicht, als sei ihm ein großer Schmerz widerfahren. „Ah, o,“ jammerte er, „’s geht mer dorch und dorch, seh’ ich so verschleudern das liebe Gut! Dreingeben! Giebt mer enen Werth von fünfzig Louisd’ors ‚drein‘? Müßt ich doch sein ’n Schuft, wenn ich’s nähm’ drein! Soll mer Gott helfen, was ’ne leichtsinnige Frau! Wenn Se nicht wären gekommen an den Rechten – wie hätten Se können werden betrogen!“
Adelheid zitterte vor Ungeduld. „Nun, so geben Sie mir, was Sie wollen!“ rief sie.
„Werd’ ich Se nicht geben, was ich will, werd’ ich Se geben, was recht ist. Daß ich will machen bei’s Geschäft en Profit von nicht bloß elende fünf Perzent, das können Se denken. Wenn ich muß hinlegen en ganzes Capital, weil Se’s wollen haben gleich in Baarem, denn will ich auch rausschlagen meine Zinsen –“
„Ich bitte Sie, fassen Sie sich kurz,“ rief Adelheid aufspringend, „oder ich gehe.“
Der Jude sandte einen Blick gen Himmel. „Was ene Frau, was ene Hitze! Macht mer so en Geschäft ab? Nu, wenn Se’s denn dorchaus wollen – will ich Se geben vor den Bettel in Bausch und Bogen fünfzehntausend Frank! Na, was sagen Se zu dem Gebot?“
„Ich bin zufrieden!“
Itzel betrachtete sie mitleidig überlegen. „Das glaub’ ich! Se wären auch zefrieden gewesen, wenn ich Se hätte geboten zehntausend Frank! Sehen Se, sehen Se, wie Se hätten können kommen um Ihr Geld! Kann ich Se doch nich geben fünfzehntausend, muß ich Se doch geben achtzehntausend Frank! Oder ich bin nich besser als Einer, der ’n Kinde de Ohrringe rausreißt!“ Er schöpfte tief Athem. „Ist kein Vergnügen, mit Einem zu handeln, der nichts versteht von’s Geschäft, das er will machen, und sich hinstellt wie ’n Opferlamm und immer nur spricht: ‚Geben Se, geben Se, was Se wollen, ich bin’s zefrieden!‘ Daß mer muß strampeln mit Händen und Füßen, wenn mer will bleiben en ehrlicher Mann! Da ist nichts abzuhandeln, da muß mer werden en Dieb oder zahlen, was die Geschichte werth ist!“
„Das müssen Sie ja immer, wenn Sie kein Dieb werden wollen,“ sagte Adelheid, unwillkürlich frappirt von der seltsamen Logik des Juden.
Er lächelte wehmüthig. „Kann mer doch machen seinen Schnitt, ohne daß es ist gestohlen. Wenn ich handel’ mit Einem, der mer ist gewachsen und der mich übervortheilt, wenn ich ihn nicht übervortheil’, so ist das ’n ehrlicher Kampf; und bin ich geblieben in dem Kampf Sieger und hab’ ihm abgeschwatzt de Waare for de Hälfte, was se werth is, – so lach’ ich mer in’s Fäustchen, daß ich bin gewesen so ’n geriebener Kerl. Wenn ich mer aber mach’ zu Nutzen die Unwissenheit von Einem, der nix versteht und mer – mit Erlaubniß zu sagen – traut, und ich nehm’ ihm ab sein’ Sach’ unter’m Preis, so bin ich kein geriebener – nur ’n schlechter Kerl. Da is nix zu holen; was wollen Se machen – wollen Se spielen Schach mit Einem, der nicht kennt die Figuren?“
So vor sich hin murmelnd ging der Alte verdrießlich, das Geld herbeizuschaffen. Unter der Thür blieb er stehen. „Was wollen Se haben, Gold, Silber, Pepier?“
„Papiergeld, womöglich preußisches, wenn ich bitten darf.“
„I, i!“ sagte er, „Frauenzimmer wollen sonst immer lieber Gold, weil’s schöner aussieht. Pepier –!“ wiederholte er nochmals und verschwand.
Adelheid schaute ihm mit einem ihr selbst unerklärlichen Gemisch von Widerwillen und Theilnahme nach. Er hatte die Thür aufgelassen und Adelheid hörte ihn an einem, wie es schien, metallenen Schranke wirthschaften und dabei in Einem fort mit sich selbst mauscheln. Endlich kam er wieder, und nun hatte sein Gesicht völlig den leidenden Ausdruck seiner Race. Es war, als krümme er sich unter der Peitsche des Henkers, während er Adelheid die Geldscheine hinzählte. Sie schienen mit Leim bestrichen zu sein; so langsam brachte er sie aus den Händen und so oft netzte er den Zeigefinger dabei, um nicht zwei miteinander zu erwischen. Endlich lag das schmutzige Häuflein gezählt vor ihr, und eine gelbliche Thräne aus dem kranken Auge des Juden fiel darauf. Ihr ekelte.
„Bitte, wickeln Sie es ein!“ bat sie.
Der Jude that, wie sie wünschte. „Schlecht Geschäft!“ wimmerte er. „Wenn mer müßten machen lauter solche, – mer könnten verhungern derbei!“
„Aber mein Gott, es stand Ihnen ja frei, den Preis zu bestimmen –“ sagte Adelheid erschreckt bei dem Gedanken, Jemanden zu benachtheiligen.
[323] „Gehen Se, gehen Se!“ stöhnte Itzel wie erschöpft von einer großen moralischen Anstrengung.
Adelheid konnte nichts thun, als seiner Weisung folgen und stumm das Zimmer verlassen.
Itzel legte hinter ihr die schweren Eisenstangen vor die Thür. Plötzlich ging der leidende Ausdruck seines runzeligen beweglichen Gesichts in einen pfiffigen Humor über, und er mauschelte vergnügt vor sich hin: „Pepiergeld – preußisches?! For wen wird se morgen zu machen haben die Zahlung? Die Saltens sind gewesen solide Leute, wo kämen auf einmal her de Schulden?“ Er rieb sich schadenroh die Hände. „Morgen wird’s geben offene Thüren in’s Gefängniß – und offene Mäuler im Rath! Glück auf’n Weg, Herr Graf! Geld genug kriegen Se mit, – aber die Steinlich sind’s werth – und die offenen Mäuler von den hohen Rath auch!“
Adelheid eilte mit dem Gelde, so schnell sie konnte, hinweg. Sie nahm eine Droschke und fuhr nach Hause. Sie ging unbemerkt auf ihr Zimmer und warf das Päckchen von sich, als sei es ein Scorpion, der sie in die Hand gebissen. Dann sank sie auf ihr Bett und brach in Thränen aus. – –
Die Morgensonne warf ihre Strahlen auf die kaum geschlossenen Lider Egon’s und zwang sie, sich zu öffnen. Aber er kehrte sich ab und verbarg das Gesicht stöhnend in den Armen, denn die grellen Strahlen zeichneten den Schatten der Eisengitter vor den Fenstern schwarz auf den Fußboden, und sein Anblick that ihm weher als die Sonne; der Schatten bildete ein Kreuz. Dies Kreuz verfolgte den Unglücklichen. So oft ein Sonnenblick oder ein Mondesschimmer in seine Zelle fiel, führte er ihm stets das verrathene geschändete Abzeichen seiner Würde mahnend vor die Seele. Es war bei ihm zu einer fixen Idee geworden, welche den Aerzten Grund zu den schon erwähnten Besorgnissen für ihn gab. Es war seltsam, welchen Eindruck das auf den Gefangenen machte, und der Gefängnißarzt hatte für nöthig befunden, den Verschluß des Fensters mit einem Brett anzuordnen. Aber dann hatte Egon zu ersticken gemeint und nach Luft gejammert. So blieb Alles wieder beim Alten.
Eine tiefe Stille umgab den einsamen Mann in der einsamen Zelle. Wäre es eine Klosterzelle gewesen, man hätte sie friedlich nennen können. Das kleine Fenster war offen und draußen zwitscherten die Sperlinge in der vorspringenden Dachrinne. Dann und wann glitt ein zweiter Schatten über das unbewegliche schwarze Kreuz am Boden hin, wenn ein Vogel am Gitter vorbeiflog. Egon setzte sich wieder auf und nun heftete er seine Augen mit einer Art von Verstocktheit auf den Schatten und sah zu, wie er sich mit jeder veränderten Stellung der Sonne verwandelte und immer kürzer und breiter ward, immer ähnlicher einem Johanniterkreuz. Der Gehülfe des Gefangenwärters brachte das Frühstück, er kannte schon die Art des Gefangenen, und er schüttelte ihn an der Schulter: „Essen Sie, bevor ’s kalt wird.“ Egon erhob sich mechanisch von dem Lager und gehorchte dem Befehl.
„Sie werden an meine gute Bedienung denken, wenn Sie erst im Zuchthaus sind. Morgen wird Ihr Proceß entschieden und dann kommen Sie gleich in die Strafanstalt,“ sagte der Gehülfe, ein roher verschmitzter Bursche, mit einer wahren Galgen-Physiognomie. „Ich wollte, ich wäre Kellner geworden statt Gefangenwärtersgehülfe. Die Kellner kriegen doch ein Trinkgeld, wenn die Fremden abreisen, aber von den Gästen in unserem Hôtel kriegt Niemand was.“
Egon gab ihm das Frühstück zurück und erwiderte nichts. Der Bursche verließ das Gemach, und er war wieder allein, allein mit seiner Angst und seinem Kreuz.
Eine Stunde mochte vergangen sein, da klirrte von Neuem der Schlüssel in der Thür. Egon nahm sich nicht die Mühe aufzublicken. Er wußte nicht, was die Uhr war, und glaubte, es sei schon der Bursche mit dem Mittagessen.
„Egon!“ tönte es von der Schwelle her, und es war, als habe ihn der Athem, mit dem das leise Wort gesprochen, niedergeworfen, wie der Windhauch eine Binse niederbeugt. „Ermanne Dich,“ sprach die Stimme wieder, „fasse Dich, wenn ich meinen Entschluß nicht bereuen soll!“
Egon hob unwillkürlich den Kopf, als wolle er sehen, ob es wirklich Adelheid sei, die so sprach. Er wollte ihre Kniee umfassen, sie trat einen Schritt zurück.
„Berühre mich nicht!“ sagte sie. „Wenn Du es wagst, eine Hand nach mir auszustrecken, verlasse ich Dich auf der Stelle!“
Egon erhob sich und starrte Adelheid sprachlos an. Sie erschraken Beide, als sie sich gegenseitig in das Gesicht sahen, solche Verheerungen hatte die Verzweiflung in ihrer Schönheit angerichtet, und Egon rief mit wahrer Reue: „Adelheid, was hab’ ich aus Dir gemacht!“
„Laß es gut sein,“ sagte sie mit der wunderbaren Todesruhe, die sie seit ihrem Eintritt beibehalten, „Du hattest nicht die Macht, mich so elend zu machen, wie ich bin. Beruhige Dich, was mich zerstörte, das warst nicht Du, das war meine eigene Schuld! Nicht Du hast meinen Gatten gemordet, ich hab’ es gethan, mit dem ersten Schritt über die Grenze der Pflicht! Du hattest eine Entschuldigung, denn Du hast mich wenigstens geliebt – ich aber habe keine, denn ich liebte Dich nicht einmal!“
„Adelheid!“ schrie Egon auf, „das ist ein Todesstoß!“
„Höre mich zu Ende,“ sprach sie weiter. „Ich habe in letzter Zeit wie aus einer andern Welt auf die Dinge herabsehen gelernt und da habe ich Mitleid für Dich bekommen, denn Du bist mein Opfer. Ich aber bin das Opfer meiner eigenen Fehler. Nicht Dich, selbst nicht die unnatürlichen Verhältnisse, in denen ich lebte, klage ich an, nur mich, mich allein, und sieh, seit ich dazu die Kraft fand, ist kein Groll gegen Dich mehr in meiner Seele.“
„O Gott, ich dachte nicht, daß ich noch elender werden könnte,“ rief Egon, „und dennoch war es möglich! Wozu kamst Du in meine Zelle, unseliges Weib, um mir das Einzige zu nehmen, was mir noch geblieben, den Glauben an Deine Liebe? Allmächtiger, halt’ ein mit Deinem Zorn; es ist zu viel! Einen Mord begangen, Ehre und Freiheit verloren, das ganze Dasein zerstört, und das Alles um ein Weib, das mich nicht einmal geliebt! O Teufel, schöner verführerischer Teufel! Du sollst Deiner Strafe nicht entgehen, Du sollst nimmer froh werden im Arm eines Anderen, denn der Fluch eines zu Grunde Gerichteten wird Dich verfolgen bis an Dein Ende!“
„O Egon, Dein Fluch ist machtlos!“ sprach Adelheid, „denn ich habe abgeschlossen mit dem Leben und fürchte nichts mehr, weil ich nichts mehr hoffe. Kann einem Vergifteten das Gift, einem Ertrunkenen das Wasser noch etwas anhaben? Willst Du verbrennen, was schon Asche ist? Armer Mann, Dein Fluch ist machtlos.“ Sie schwieg und ihr Auge ruhte mit einem unaussprechlichen Ausdruck auf ihm.
Er schaute sie an, wieder und wieder, und der Anblick war so übermächtig, daß er die Hände faltete und wie im Traume sprach: „O Gott, das Weib ist so schön, ist es denn möglich, daß solch ein Gesicht lügen konnte?“ Er wankte zu seinem Lager und brach zusammen.
Sie trat ihm einen Schritt näher und sagte leise: „Willst Du hören, was ich Dir zu sagen kam?“
„Was willst Du mir noch sagen?“ fragte er. „Ist noch ein Stück meines Herzens übrig, das Du nicht zerfleischt hast? Ist noch Platz da für einen neuen Dolchstoß?“
„Ich bin nicht gekommen um Dich zu quälen,“ sprach Adelheid milde. „Ich habe mich an Deine Ordensbrüder, die Johanniter, gewandt und um Hülfe für Dich gebeten“ – sie hielt einen Augenblick inne, die Lüge wurde ihr schwer, aber sie war nothwendig – „der Orden hat mir sogleich eine Summe von achtzehntausend Francs geschickt, mit welcher Du das Gefängnißpersonal bestechen und Deine Flucht bewerkstelligen sollst.“ Egon sah sie ungläubig an. Sie drückte ihm das Päckchen mit dem Geld in die Hand und fuhr fort: „Dein heutiger Wächter ist begehrlicher als pflichttreu, denn er nahm, als ich ihn bat, uns ungestört zu lassen, ein Goldstück von mir an; halte Dich an diesen und es muß gelingen. Handle rasch. Hast Du erst die leichte Untersuchungshaft mit dem Zuchthaus vertauscht, dann ist es zu spät.“
„Adelheid,“ rief Egon wie betäubt, „das ist alles so plötzlich, so unbegreiflich! Kann ich solch ein Geschenk vom Orden annehmen?“
„Der Orden macht es Dir zur Pflicht, Dich zu befreien,“ fuhr Adelheid in tödtlicher Verlegenheit fort. „Der Orden erklärt, daß er diese Summe nicht um Deinetwillen sende, sondern um der Ehre der ganzen Gemeinschaft willen, die mit Deiner Verurtheilung zum Zuchthaus geschädigt werde. Sie wollen ein Mitglied ihrer Verbindung nicht so tief sinken sehen und befehlen Dir bei Deinem Eid des Gehorsams, daß Du entfliehst.“
[324] „Ah, daran erkenne ich den stolzen Geist der Johanniter!“ sprach Egon. „Um die Ehre des Ganzen, nicht um mich zu retten, bringen sie ein solches Opfer. Gut denn, in diesem Sinne werde ich es annehmen und ihnen die Schande ersparen, einen Zuchthäusler zum Bruder zu haben!“
Adelheid athmete tief auf und ein unwillkürliches „Gott sei Dank“ entschlüpfte ihr.
Er sah sie traurig an. „Adelheid, Du hast mich tief beschämt durch Deine Fürsorge. Aber Du nimmst mir in demselben Augenblick, wo Du mir die Freiheit giebst, das Einzige, was sie mir theuer machen würde, die Hoffnung auf Deine Liebe –! Es ist ein trauriges Geschenk, Adelheid, für das ich Dir nicht danken kann. Wie arm sendest Du mich in’s Leben, wie viel ärmer als vorher bleibe ich zurück, wenn der Fluchtversuch mißlingt! O Adelheid, konntest Du mich nicht retten, ohne mir, wie die Johanniter, zu sagen, daß Du es nicht aus Liebe thust?“
„Nein, das konnte ich nicht, Egon; Dich hierüber in einem Irrthum zu lassen, wäre eine Sünde gewesen!“
„Und weshalb, räthselhaftes Weib, weshalb thatest Du es überhaupt? Die Johanniter hatten doch einen Grund, den der Ordensehre – Du aber, die kein Mitleid kennt, aus welchem Grunde thatest Du ’s?“
„Weil ich es nicht ertragen kann, daß Du schwerer gestraft seist, als ich, die so schwer gefehlt wie Du. Ich glaube nicht, daß dies der Wille des gerechtesten aller Richter ist, und darum darf ich die Strafe von Dir abwenden, welche nur äußere Umstände über Dich verhängten. Die innere Strafe aber, die Gott selbst Dir auferlegt, darf und kann ich nicht lindern. Ich kann Dir die wiedergeschenkte Freiheit mit keiner Hoffnung, keiner Freude schmücken. Wir sind dem Zorn des Herrn verfallen; noch ein Glück für uns zu begehren, hieße uns gegen Gottes Willen auflehnen.“
Egon lächelte bitter. Sie fuhr fort: „Du denkst, es sei wohlfeil zu sagen ‚ich darf nicht‘, wenn man nicht will! Ich sage Dir aber, Egon, es giebt einen Mann, den ich liebe, und ich weiß jetzt, daß auch er mich liebt; es wäre mir ein Leichtes, die unterdrückte Gluth zur Flamme anzufachen, aber so durchdrungen bin ich von diesem ‚Ich darf nicht‘, daß ich nur bete: ‚Vater, führe mich nicht in Versuchung!‘ Und Dir, unglücklicher Mann, Dir schwöre ich bei allem, was heilig ist, ich werde ihm nicht angehören und wenn es mein Tod wird. Sieh’, das ist die einzige Sühne, die ich Dir, die ich meinem geopferten Gatten geben kann. Bist Du nun zufrieden?“
„Du bist ein Wunder, Adelheid, wie’s kein zweites giebt. Du quälst Andere wie ein Teufel und leidest selbst wie ein Engel. Ich muß Dir fluchen und die Thränen des Mitleids ertränken mir den Fluch auf den Lippen! Nein, ich rechte nicht mehr mit Dir, Du bist eines jener Geschöpfe, die untergehen müssen, weil sie auf der haarscharfen Grenze stehen zwischen Mensch, Gott und Dämon. Sie sind außerhalb des Gesetzes. Menschen, Gott und Teufel streiten sich um sie, bis die Natur die Ordnung wieder herstellt und die fragwürdige Schöpfung vernichtet! – Nein, ich rechte nicht mehr mit Dir!“
„Dies ist ein trauriges Wort,“ sagte Adelheid. „Aber ich fühle es, Du bist versöhnt. So laß mich scheiden. Was zwischen uns noch zu schlichten war, ist abgethan. Das Maß unserer Schmerzen ist nun gleich gemessen, wir sind quitt! Lebe wohl und handle rasch. Ich werde auf meinen Knieen für Dich beten, bis ich höre, daß Du gerettet bist.“
Sie klopfte an der verschlossenen Thür. Der Bursche öffnete von außen. „Adelheid!“ flehte Egon. Leise, wie sie gekommen, war sie entschwunden und Egon’s verzweifelter Ruf verhallte an den nackten Wänden. – – –
Am Morgen des folgenden Tages saß Alfred mit Tante Lilly in seinem Zimmer am Fenster. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich möchte nur wissen, was mit der Mutter ist. Sie kommt so lange nicht herunter.“
Lilly flüsterte wichtig: „Ich habe vorhin durch’s Schlüsselloch“ – sie hielt erschrocken inne, sie hatte sich schrecklich verschnappt, denn Alfred hatte ihr das Schlüssellochgucken und Horchen streng untersagt.
Aber der Knabe war wohl mit andern Gedanken beschäftigt und frug zerstreut: „Sahst Du sie?“
„Ja, sie lag auf den Knieen und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt.“
„Hm!“ Alfred schaute in offenbarer Spannung zum Fenster hinaus. Heute sollte Egon vor die Geschwornen kommen und seine Mutter lag auf den Knieen und betete! Das waren zwei in verhängnißvollen Zusammenhang tretende Gedanken. Da kam der Bediente, der als Zeuge vor dem Schwurgericht erscheinen sollte, plötzlich sehr erhitzt durch den Garten gerannt.
„Was ist das? da kommt ja Anton schon wieder!“ rief Alfred. „Anton, was ist geschehen?“
„Ach, denken Sie nur, junger Herr,“ schrie der Diener und brachte vor Laufen fast die Worte nicht heraus. „Es ist nichts mit dem Schwurgericht – der Herr Graf sind entwischt!“
Alfred stand da wie eine Bildsäule. Er war erblaßt bis in die Lippen hinein, seine Fäuste ballten sich krampfhaft, seine Augen flammten, es war als sträubten sich ihm die Haare, so ganz in Zorn verwandelt war der Knabe.
„Entkommen!“ stammelte er tonlos – „fort!“
„Ja,“ berichtete der Diener; „als man ihn heute früh zur Sitzung holen wollte, war er verschwunden und der Gehülfe des Gefängnißwärters mit ihm. Man hat Alles gethan, was nöthig ist zur Verfolgung, aber was wird es nützen? Sie haben wohl schon einen zu großen Vorsprung.“
„So soll er frei ausgehen, ungestraft, mein Vater soll nicht gerächt werden?“ tobte Alfred. „O, o – er ist entflohen und ich muß es mit ansehen und kann ihn nicht packen!“
„Alfred, wie böse Du bist, man fürchtet sich ja vor Dir!“ rief Lilly.
„Tante, wenn man erlebt, was ich erlebte, da müßte ein Lamm zum Tiger werden. Der Mörder, der mir meinen Vater erschoß, ist gerettet und ich bin nichts als ein kranker Bube, der ihm nicht nach kann, soll man da nicht rasen, Tante? Begreifst Du denn nicht, was das heißt? Mit Nägeln und Zähnen möcht’ ich ihn zerreißen, und die Schurken lassen ihn entlaufen!“
„Wen?“ fragte Adelheid, die eben in’s Zimmer trat.
„Ihn,“ schrie Alfred, am ganzen Leibe zitternd. „Er ist fort.“
„Wer – Egon?“ stammelte Adelheid und Thränen einer unbeschreiblichen Erleichterung stürzten ihr aus den Augen.
Da trat Alfred auf sie zu und faßte ihren Arm und sein Auge bohrte sich mit einem erschreckenden Ausdruck in das ihre. „Mutter, Du weinst vor Freude bei dieser Nachricht?“
Adelheid erbleichte, aber sie sprach mit Würde: „Ja, und Gott möge diese Thränen richten.“
Es waren wenige Worte und sie bewiesen nichts, aber sie ergriffen den Knaben in tiefster Seele und er schlang mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit seine Arme um die Mutter. „O liebe Mutter!“ rief er. „Ich will Dir nicht mehr weh thun! Wenn ich aber erwachsen bin und ich bekomme den Grafen jemals in meine Gewalt, dann sollst Du Dich nicht mehr über seine Rettung freuen – denn dann will ich mit ihm abrechnen, dann will ich ihn festhalten, daß er kein zweites Mal entkommen soll. Gott hat’s gehört und er wird mir helfen, meinen Schwur zu halten!“
Einige Meilen östlich von dem alten welfischen Stammsitze Braunschweig, am Fuße des Elmes, eines durch prachtvolle Buchenwaldungen ausgezeichneten Höhenzuges, liegt das Städtchen Königslutter. Dieser Ort war einst im deutschen Reiche bekannter als heutzutage, und zwar bekannt durch viel getrunkenes und weit versandtes Bier, jetzt „Duckstein“, in alter Zeit aber „Luttertrank“ genannt, das Hauptlabsal auch der Helmstädter Studenten, die an schönen Sommertagen hinüberzogen, um den edlen Gerstensaft an der Quelle zu trinken, der in den Kneipen des alten „Elmathen“[1] damals allgemein zu finden war. Im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, wo das Biertrinken bei unseren Altvordern
[325] so im Schwange war, daß Luther einst schrieb: „Jedes Land hat seinen eigenen Teufel, wir aber haben den Saufteufel“, – gab es in den braunschweigischen Landen vier Städte, die im nördlichen Deutschland durch ihre Biere ebenso berühmt wie reich geworden sind: Braunschweig selbst durch seine „Mumme“, – Hannover durch den von Lord Broihan erfundenen und nach ihm genannten Trank, bei dessen erstmaligem Genusse Herzog Erich, die silberne Kanne erhebend, ausrief: „Nun sehe ich, daß Gott meine liebe Stadt Hannover nicht verlassen will!“ – dann Einbeck, dessen vortreffliches Bier durch ganz Deutschland versandt wurde und davon obengenannter Herzog Erich dem Doctor Luther eine Kanne voll in seine Herberge zu Worms schickte, nachdem der theure Gottesmann erschöpft von der geistigen Anstrengung aus der berühmten Reichstagssitzung vom 17. April 1521 zurückgekehrt war; – und endlich, als Vierte im Bunde, Königslutter, dessen „Luttertrank“ wir bereits erwähnt haben.
Aber wer weiß heute, wo das „bairische Bier“ mit seiner schäumend braunen Fluth alle seine Nebenbuhler weggespült hat, – wer weiß heute in Worms noch etwas vom Einbecker Bier, das Luther vor drei Jahrhunderten dort erquickte, oder wer weiß jetzt über die Grenzen des Weichbildes hinaus etwas von Hannovers Broihan? Nur der Curiosität halber fordert der Durchreisende in der Braunschweiger Bahnhofsrestauration wohl ein Fläschchen Mumme, und so würden wir denn auch kaum mehr des „Luttertrankes“ wegen den Leser zu einem Besuche des Städtchens Lutter auffordern, wäre es nicht ein ehrwürdigeres und interessanteres Denkmal aus alter Zeit, das wir ihm zeigen möchten.
Hat man auf dem Wege von Braunschweig nach Königslutter hinter dem Dorfe Bornum die Höhe erreicht, über welche sich die mit Obstbäumen eingefaßte Heerstraße hinzieht, dann tauchen in der Ferne, von den Ausläufern des bewaldeten Elmes begrenzt, drei graue Thürme empor, anfangs in noch unbestimmten Formen verschwimmend, bis sich, nachdem auch das Städtchen Königslutter vor uns ausgebreitet daliegt, ein majestätischer dreithürmiger Dombau unserm Auge darbietet; – das ist die alte Benedictiner-Abtei Königslutter, die Stiftung Kaiser Lothar des Sachsen, einst der Sitz reicher und mächtiger Prälaten, und jene weit in’s Land hinaus schauenden Thürme bezeichnen die Stätte, wo der fromme Stifter, wie die Grabschrift sagt, seiner fröhlichen Auferstehung harrt. Uralte, hohe Linden breiten ihre grünen Zweige aus, als wären sie dahingestellt, um dadurch, daß sie den ganzen Ueberblick verhindern, das Imposante des romanischen Prachtbaues noch imposanter zu machen.
Von großartiger Wirkung ist besonders die Ostseite der Kirche, der Chorbau, mit der reich ornamentirten Apsis, dem Querschiff und dem aus letztern kühn emporstrebenden östlichen Thurme. Die beiden westlichen Thürme sind leider nicht zu der ursprünglichen Höhe fortgeführt, was indeß dem Ganzen keinen sonderlichen Abbruch thut. Treten wir durch das löwengeschmückte Portal an der Nordseite in das Innere des Gotteshauses, dann werden wir durch die überaus schönen Verhältnisse desselben überrascht. An das Mittelschiff legen sich zu beiden Seiten in halber Höhe und Breite desselben die Seitenschiffe, und setzen sich bis auf das Chor, mit Apsiden schließend, fort. Während die Gewölbe des Langschiffes davon zeugen, daß dieser Theil des 1135 begonnenen Baues wie alle Pfeilerbasiliken anfangs nur eine Holzdecke hatte, und die Ueberwölbung in eine spätere Periode fällt, stehen Querschiff und Chor, wie sie Lothar selbst noch gesehen, in der ganzen durch ihre erhabene Einfachheit wirkenden Pracht des romanischen Stils vor uns; und denken wir uns dieses Gotteshaus im Schmuck eines hohen katholischen Festtages, vor dem im Kerzenlicht strahlenden Hochaltare den Abt im von Gold und edeln Steinen strotzenden Meßgewandes um ihn her die Schaar der Chorherren und Priester, im Schiffe aber das den Segen empfangende Volk: dann gewinnt das, wenn auch durch seine eigene architektonische Schönheit wirkende, jetzt aber mit grauvermalten Kirchenstühlen, einer unbedeutenden Kanzel, und einer der Blüthezeit des Zopfes angehörigen großen Orgel nur dürftig ausgestattete Gotteshaus ein wärmeres Colorit.
Kehren wir vom Chor in das Langschiff zurück, dann stehen wir in Mitte desselben am Grabe Lothar’s des Zweiten von Supplingenburg, Herzogs von Sachsen und deutschen Kaisers, der hier am 31. December 1137 im Beisein einer großen Schaar von Fürsten und Edeln beigesetzt wurde. Im Herbste des Jahres 1125 hatte er im Dome zu Aachen aus den Händen des Erzbischofs Friedrich von Köln die Krone Karls des Großen empfangen, zu der ihn die Mainzer Wahl berufen hatte, nachdem am 23. Mai der letzte Salier Heinrich der Fünfte, der Sohn jenes unglücklichen vierten Heinrich, der einst „barfuß und im Büßerhemde“ im Schloßhof zu Canossa vor Papst Gregor gestanden, zu Utrecht gestorben war. Zwölf Jahre regierte Lothar, männlich und mild; da, auf der Heimkehr von einem zweiten Römerzuge starb er plötzlich, von jäher Krankheit überfallen, in den Tiroler Alpen, unfern Trient, in einem kleinen ärmlichen Häuschen, um hier, in dem von ihm begründeten, lindenumschatteten Stift die letzte Schlummerstätte zu finden. Ihm zur Rechten ruht seine Gemahlin Richenza, die Erbtochter des Grafen Heinrich von Nordheim, welche ihm einst die reichen väterlichen Besitzungen als Morgengabe brachte und 1141 starb. Zur Linken des Kaisers aber fand der Schwiegersohn Beider die Ruhestätte, Heinrich der Stolze, Herzog von Sachsen und Baiern, auch Herr zu Braunschweig, der Vater Heinrich’s des Löwen, gestorben 1139.
Länger denn sieben Jahrhunderte schon hat sich die Gruft über diesem kaiserlichen Paare geschlossen, – draußen stürmt und gährt es in ewigem Wechsel und drängt nach neuer Gestaltung der Dinge, hier hat der Friede seinen Platz und wie zwei Reihen gewappneter Riesen stehen die gewaltigen Pfeiler, welche die Gewölbe tragen, da, als wollten sie die ihnen anvertraute Kaiserasche vor unwürdiger Berührung bewahren.
Leider sind die Grabplatten, welche ursprünglich diese Stätte bezeichneten, verschwunden und seit 1708 auf Veranstaltung des Abtes Johann Fabricius durch einen geschmacklosen Sarkophag von blauem Marmor, auf welchem die Steinbilder Lothar’s, Richenza’s und Heinrich’s des Stolzen ruhen, ersetzt; zum Ueberfluß hat sich der Verfertiger noch mit der Inschrift: „Michel Helwig, Sculpteur“ an seinen Werke verewigt. Zum anderweitigen Ersatz der alten Inschrift ließ Abt Fabricius, dem das [326] zweifelhafte Verdienst mehrerer Neugestaltungen solcher Art gebührt, am ersten Pfeiler rechter Hand vom Grabe eine ovale Steintafel mit lateinischer Inschrift aufhängen, welche das Geschehene der Nachwelt verkündet.
An dem gegenüber stehenden Pfeiler hängt ein dem sechszehnten Jahrhunderte angehörendes Oelgemälde, den Kaiser im Harnisch mit der Krone auf dem Haupte darstellend, mit der lateinischen Inschrift: „Kaiser Lothar der Sachse, der Stifter dieses Klosters.“ – Außerdem ist das Grab selbst mit einem grau vermalten hölzernen Gatter umfriedigt, welches, dem Geschmacke des durch Gelahrtheit ausgezeichneten Professors der Theologie und Abtes Fabricius wenig Ehre machend, sich besser zu einem Treppengeländer, als zur Umfriedigung eines Kaisergrabes eignet, und das man jetzt, wo einestheils der Sinn für die Erhaltung dessen, was aus alter Zeit in unsere Tage noch hinübergerettet wurde, neu erwacht ist, anderntheils aber derartige Arbeiten für ein Billiges herzustellen sind, durch ein stylgemäßes eisernes Gitter ersetzen sollte.
Durch ein am westlichen Ende des südlichen Seitenschiffes belegenes Pförtchen gelangt man in den Kreuzgang, in architektonischer Hinsicht einer der schönsten und interessantesten Theile des alten Stiftes. Vollständig erhalten und vortrefflich restaurirt ist allerdings nur der an das Seitenschiff der Kirche stoßende Flügel, sicher ist dieser aber der schönste Theil des Ganzen gewesen. Er ist zweischiffig, die das Gewölbe tragenden Säulen sind in Formen und Ornamenten jede von einander unterschieden, die Capitäle derselben gehören, was Zeichnung sowohl als Ausführung betrifft, zu dem Schönsten, was man in dieser Art sehen kann. Der große, mit saftig grünem Rasen bewachsene Hof, in welchen man durch die offenen Arcaden dieses Kreuzganges blickt, und der ehemals ganz von demselben umschlossen wurde, ist jetzt der angrenzenden, neuerbauten Landes-Irrenanstalt zugelegt, deren weißgetünchte Façaden, mit ihren endlosen Reihen eintöniger Fenster, sich wunderlich genug in unmittelbarer Nähe des Kaiserdomes ausnehmen.
Es war an einem heiteren Nachmittage im Spätherbst vorigen Jahres, als wir den Dom Lothar’s zu besuchen ausgezogen waren; mehrere Stunden hatte uns diese in historischer wie architektonischer Hinsicht interessante Oertlichkeit gefesselt, als uns die eintretende Dämmerung zum Aufbruch mahnte. Noch einmal, ehe wir schieden, traten wir an das Kaisergrab, in dessen Betrachtung „der Vorwelt silberne Gestalten“ vor uns aufzusteigen schienen. Da unterbrachen die Klänge der Betglocke die Stille. Ernst und feierlich schwammen die Glockentöne durch den weiten Raum, endlich in den Grüften und Gewölben verklingend, wie eine Mahnung an das uralte Grundgesetz alles Irdischen: Staub zu Staube, Asche zu Asche! –
Draußen aber rauschte es in den Wipfeln der hohen Linden, als wollten auch sie uns noch erzählen von alle Dem, was, vielleicht in fünf Jahrhunderten, an ihnen vorübergegangen, vor Allem aber von dem Kaisergrabe drinnen in der Kirche, das sie, von jedem Lenze neu verjüngt, mit frischem Grün zu beschatten, einst gepflanzt wurden.
(Schluß.)
Den empfindlichsten Rückschlag seiner egoistischen Rücksichtslosigkeit sollte Spontini an der empfindlichsten Stelle seiner Position, an der Anziehungskraft seiner grands ouvrages, erfahren; er büßte schon 1829 mit dem Talente der Frau Milder den größten Glanz seiner Opern ein. Sie hatte sich schon seit geraumer Zeit gegen Spontini’s Anstrengungsforderungen bei meistens unnützen Proben gesträubt, sie hatte schließlich mehrmals die Aufführung der Statira verweigert; seine Ungeduld, sein Ereifern richtete bei der majestätischen Dame nichts aus, so sah er sich in seinen Interessen verletzt, achtete darüber den Werth dieser künstlerischen Persönlichkeit für das Kunstinstitut überhaupt nicht, sondern drang auf ihre Pensionirung, die er denn auch in der Zeit des Intendanz-Interregnums im Jahre 1829, trotz ihrer Protestationen, durchsetzte. Er lebte in dem hochmüthigen Wahne, es müßten ihm die ersten Gesangscapacitäten auf seinen Wink zufliegen; er wußte nicht, daß im Gegentheile seine Opern und seine Anforderungen bei deren Ausführung von allen Gesangstalenten gescheut wurden. So erlangte er kein Talent wieder, das auch nur annähernd der Milder sich vergleichen, den grands ouvrages den verlorenen Reiz der poetischen Hoheit wiedergeben konnte. Das Theater aber hatte ein unersetzliches Talent wenigstens um fünf Jahre zu früh eingebüßt; das bewiesen die Gluck’schen Opern Armida und Iphigenia, welche Frau Milder als Gast noch 1830 und 1834 auf der Bühne sang, von der sie vorzeitig vertrieben worden. Auch die ausdauernde Stütze seiner Opern, die Darstellerin der Julia, Amazily, Olympia, vermochte nach schwerer Erkrankung im Jahre 1830 nicht mehr Spontini’s Ansprüchen zu genügen, und mußte auf ihr Verlangen 1832 pensionirt werden.
Den besten Ersatz für Frau Milder, das Talent der Frau Fischer, verscherzte sein Uebermuth. Sie sang 1831 und 35 in Berlin zu Spontini’s großer Befriedigung, war auch bereit seine Anträge anzunehmen, aber sie hatte noch mehrjährige Verpflichtungen gegen den badischen Hof. Diese zu lösen schrieb Spontini persönlich an den Großherzog, ihm die sofortige Entlassung der Frau Fischer als einen Act der Billigkeit darstellend, um das Talent von der ehrenvolleren Stellung und der höheren Vervollkommnung nicht zurückzuhalten, welche er ihm biete. Der Großherzog antwortete durch eine lebenslängliche Anstellung der Sängerin, und Spontini’s Jagd auf große Talente wurde immer hitziger und rücksichtsloser. Als er aufmerksam gemacht wurde, daß eine junge schöne Choristin mit schöner Stimme gute Aussicht gebe, bei vorsichtiger Bildung, für die großen Aufgaben geeignet zu werden, unternahm er sofort, sie in die Partie der Statira hineinzutreiben. Vergebens warnte man ihn vor dem Nachtheil, den das junge unreife Talent von dieser verfrühten und übereilten Anstrengung davontragen müsse – den grands ouvrages konnten auch Menschenopfer fallen. Nach kurzer Zeit war der Glanz einer schönen Stimme gebrochen, und das junge Mädchen mochte von Glück sagen, daß sie sich in’s bürgerliche Leben und in die Ehe retten konnte.
In dieser letzten Epoche, welche ihn zu dauernder Arbeit nicht mehr fähig fand, beschäftigte ihn um so mehr sein Hang, an seinen fertigen Werken zu ändern. So grübelte er, nach dem Mißerfolge von „Agnes von Hohenstauffen“, über neue dramatische Motive, durch welche er dem allerdings sehr einfachen Gange der Handlung mehr Anziehungskraft geben könne.
Nach einer der ersten Vorstellungen von Marschner’s „Templer und Jüdin“ ersuchte mich eines der freundlichen Billets von Madame Spontini: im Vorübergehen ihren Gatten zu besuchen. Ich kam. Er sprach von der Aufführung des „Templer“ und versuchte zunächst, mir die Darstellung der Titelpartie, als zu anstrengend für mich, zu verleiden, und da er sah, daß ich darauf nicht eingehen wollte, sagte er mir gerade heraus: es liege ihm daran, daß die Oper nicht mehr auf dem Repertoire erschiene, weil die Darstellung des Gottesgerichtes einen Eindruck mache, den er seiner „Agnes“ zu gewinnen wünsche. Ich war erstaunt und fragte ihn: wo denn in seiner Oper Platz für ein Gottesgericht zu finden sei? – Er werde sich finden lassen, erwiderte er, einstweilen wünsche er nicht, daß dieses Motiv in dem Marschner’schen Werke abgenützt würde. Ich mußte ihm nun antworten, daß es an mir nicht sei, ein geachtetes Werk vom Repertoire zu entfernen, sondern daß meine Pflicht von mir fordere, die mir sehr liebe Partie so oft zu singen, als mir Gelegenheit dazu gegeben würde. Er brach das Gespräch ab: „eh bien, n’en parlons plus!“ und ich ging voll Verwunderung davon über eine so scheulose Pflichtverletzung von einem Manne in Amt und Würden. Noch öfter suchte er mich in’s Interesse seiner Abänderungspläne [327] zu ziehen, und nachdem mehr als eines meiner Stücke günstigen Erfolg gehabt, trug er mir eines Tages förmlich die Umarbeitung seiner einactigen Oper „Milton“ an, über die er schon so lange gegrübelt, und die er zu einer dreiactigen großen Oper ausdehnen wollte, wozu der Stoff – soweit er mir bekannt – sich gar nicht eignete. Da ich nun verlangte, zunächst das Originalgedicht zu kennen, sagte er mir die Uebersendung desselben zu; für viel wichtiger hielt er aber: daß ich Motive zu interessanten Situationen und zu frappanten Momenten sammle. Zu diesem Zweck empfahl er mir die Lesung Walter Scott’s. Er habe von einer Zigeunerin gehört, die in einem dieser Romane vorkäme, und die sehr anwendbar sein müsse. Ich versicherte ihm, daß mir der Roman „Guy Mannering“ sehr wohl bekannt sei, daß ich aber nicht zu ahnen vermöge, in welche Verbindung „Meg Merilles“ mit Milton zu bringen sei. Auf diesen Einwand legte er keinen Werth. Vor Allem sei es nöthig, meinte er, Motive verschiedener Art zu suchen, um schließlich ihre Verwendung zu finden; er selbst habe schon viele Momente aufgezeichnet, von denen ich sagen würde: où diable lui sont venus de telles idées! „Adieu, mon cher,“ schloß er, „lisez votre Walter Scott, nous en parlerons davantage.“
So weit ab von allem dramatischen Verstande hatte die Effectjagd den Componisten von Vestalin, Cortez und Olympia geführt! Natürlich lehnte ich die Mitschuld an solchem Mischmasch unter plausibeln Vorwänden ab.
Bei der Zerfahrenheit, in welche der Maestro immer tiefer gerieth, konnte er mit der Welt nicht zufrieden sein. In dieser Stimmung fand ich ihn öfter sehr mittheilend. Er sah das Ende aller Tage vor sich. Das moderne Frankreich sei der Ausgangspunkt der Fäulniß der europäischen Gesellschaft, die nur durch Zertrümmerung des französischen Staates gerettet werden könne. Daß Paris dem Boden gleichgemacht werden müsse, war in den dreißiger Jahren der Lieblingsgedanke des Hofkreises, dem Spontini sich gern anschloß. Als der vertriebene Karl der Zehnte in die Nähe von Berlin kam, fuhr auch Spontini nach Schloß Bellevue hinaus, um dem „Märtyrer“ die Hand zu küssen. Große Angst flößte ihm das Erscheinen der Cholera ein, sie traf mit den Bedrängungen zusammen, welche ihm die veränderte Generalintendanz bereitete. Wir waren einstmals in seinem Zimmer, während seiner Beschwerden über die Anfechtungen, die er erfahre, an’s Fenster getreten. Gegenüber stand die französische Kirche, in deren Unterbau die Leichenwagen geborgen waren, die man soeben herausschob. Spontini verstummte und sah den Zurüstungen zu. „Toujours des sarcophages,“ sagte er vor sich hin, „toujours, toujours!“ Auf meine Frage, ob er Furcht vor der Seuche habe, verneinte er und behauptete, daß nur die allgemeine Calamität ihn bewege. Er für seine Person fürchte diese Krankheit so wenig als alle seine Feinde, sie würden Alle an ihren Angriffen gegen ihn zu Grunde gehen. „Sehen Sie Adams,“ fuhr er fort, „sehen Sie Tschukke“ – das waren zwei kürzlich verstorbene, dem Grafen Brühl sehr anhängliche Intendanzbeamte – „sie sind nicht mehr. Sehen Sie, wer dem gleichen Schicksal nahe ist.“ Er meinte offenbar den von ihm krank geärgerten Grafen Brühl. „Nein!“ rief er aus, „man wird gegen mich nichts ausrichten!“ und schloß mit einem düstern Blick durch das Fenster nach oben: „il y a là un certain point qui me tient.“
Ich war erstarrt über den frevelvollen Dünkel des Italieners und mir fiel Napoleon der Erste ein, der dem warnenden Cardinal Fesch seinen Glücksstern am hellen Mittagshimmel zeigte. Dergleichen Sterne aber fallen wie die Sternschnuppen, sobald ihre Zeit kommt; Spontini sollte es erfahren.
Er hatte endlich die Geduld verloren, länger vergeblich gegen den Ritterpanzer des Generalintendanten anzurennen, und 1840 eine Klage über Beeinträchtigung seiner verbrieften Rechte an den König gerichtet. Wie diese Schrift gefaßt war, was darauf geschehen, blieb dem Personal sowohl als dem Publicum dunkel, bis eine Besprechung der Berliner Opernzustände in der Leipziger „Zeitung für die elegante Welt“ vom 28. und 29. December 1840 eine Aufklärung unternahm.
Dieser Artikel kommt, nachdem er das Suchen nach Sängerinnen, die Unerklärlichkeit mancher Verschmähungen und die daraus hervorgegangene Verlegenheit besprochen, dann auch auf den Competenzstreit zwischen den beiden Autoritäten und sagt: „Wie man hört, hatte Herr Spontini dem Könige eine Denkschrift eingereicht, in welcher er alle Mängel und Schwächen der Bühne und ihrer Einrichtungen auseinandersetzte und Vorschläge zur Umgestaltung machte. Herr Spontini schien dabei auf die Gnade Seiner Majestät zu rechnen, die ihm oft in früherer Zeit beschützend leuchtete, und soll die Verwaltung sowohl, wie die Person des Intendanten wenig geschont haben. Der Ausgang des Unternehmens war jedoch durchaus anders, als man vermuthete. Die Denkschrift kam aus dem Cabinet direct an den Grafen Redern mit einem Schreiben, daß Herr Spontini zwar so berichtet, der König aber nur von dem Grafen, als von dem ersten und alleinigen Vorstande der Anstalt, Vorschläge annehmen könne, übrigens auch keine andere Autorität dort gelte, als die seine, die ihm allein verantwortlich sei.
Ein solcher Ausgang ist niederschlagend für Herrn Spontini, und wir müssen nun abwarten, ob derselbe seine oft angedrohte Entlassung fordern, oder den Umständen sich fügen werde. Vorläufig scheint er ruhig zusehen zu wollen, was aus der Verlegenheit wird.
Auf der andern Seite ist es doch sehr erfreulich, daß endlich eine Entscheidung darüber erfolgt ist, wer zu befehlen hat. Unleugbar kommt das dem General-Intendanten zu, und der General-Musikdirector muß sich fügen etc.“
Der vorbereitende Charakter dieses Artikels war unverkennbar und Spontini, der eine Witterung hatte, daß ernstlich an eine Verkürzung seiner Prärogative gedacht werde, glaubte mit einem kühnen Frontangriffe dem Könige Schach bieten zu sollen. Er fand in seiner Umgebung willfährige Leute, ihm bei diesem unvorsichtigen Schritte behülflich zu sein. So brachte die „Zeitung für die elegante Welt“ Nummer 9 des Jahres 1841 eine Erwiderung Spontini’s, vom 20. Januar datirt, folgenden Inhaltes:
- „Mein Herr Redacteur!
Ihr Berliner Correspondent ist auf meine Rechnung übel unterrichtet worden. Er veranlaßt, ja er zwingt mich, seinen Irrthum zu berichtigen, und bringe ich hiermit zu Ihrer Kenntniß, daß ich in einer von der Hand Seiner Majestät des Königs Allerhöchstselbst vollzogenen Cabinetsordre vom 30. September vorigen Jahres den Befehl erhalten habe, die Verstöße, welche sich der Generalintendant der königlichen Schauspiele, Herr Graf von Redern, seit nunmehr zwölf Jahren gegen mehrere Bestimmungen meines Contracts und meiner Dienstinstruction zu Schulden kommen lassen, näher zu bezeichnen und speciell anzuführen, und daß ich zur Zeit noch immer die Allerhöchste Entscheidung hierauf, und zwar in einer gleichfalls von der Hand Seiner Majestät gezeichneten Cabinetsordre erwarte. Sollte diese so ausfallen, wie Ihr Correspondent im Voraus bestimmt und Sie es in den soeben von mir gelesenen Nummern Ihrer Zeitschrift vom 28. und 29. December vorigen Jahres veröffentlicht haben, so würde ich Sie und Ihre Leser auf eine Mittheilung darüber, ob ich mich dem fügen werde, nicht warten lassen, sondern ich erkläre hierauf (und Sie können es ihnen bekannt machen) ein bestimmtes Nein. Sie können sogar hinzufügen (und ich autorisire Sie ausdrücklich dazu): daß ich in dem von Ihrem Correspondenten im Voraus bestimmten Falle – und dieser ist unmöglich, denn er würde die Unterschrift und das geheiligte Wort zweier preußischer Könige compromittiren – eher meine Stellung als General-Musikdirector und erster Capellmeister des Königs, nach einundzwanzigjährigen, so ehrenvollen Diensten, aufgeben würde. Wohlverstanden, daß, bevor ich meiner Ruhe, meinen Neigungen und meinem Interesse ein so übermäßiges Opfer auferlegte – ein Opfer, welches die Ehre mir geböte – ich mit Ehrerbietung von solcher Entscheidung auf das Urtheil des Publicums und der competenten Gerichtshöfe provociren, und die zahlreichen und gewichtigen Beweggründe bekannt machen würde, welche mich, zu meinem lebhaften Schmerz, zu einem so äußersten Entschluß hätten hinreißen müssen.
Berlin am 20. Januar 1841.Diese Erklärung machte begreiflicherweise großen Lärm. Daß es unziemlich, ja unverschämt war, öffentlich der Entscheidung vorzugreifen, welche sein Dienstherr, der König, nehmen werde, ihn öffentlich zu provociren, mit Recurs an die Gerichte, ja an das Publicum im Voraus zu drohen, wenn die Majestät nicht entscheiden würde, wie der General-Musikdirector es verlange, das Alles war allerdings frech bis zur Verrücktheit; ob es aber Hochverrath und Majestätsbeleidigung war, wie man es charakterisiren [328] wollte, das wurde von einigen kühnen Stimmen bestritten. Indessen hatte doch nun das Publicum in dieser unbestreitbaren Straffälligkeit endlich einen Rückhalt gefunden, um seinen langgenährten Groll gegen Spontini auszulassen. Man wußte, daß der König eine Untersuchungs-Commission eingesetzt habe, und suchte die Gelegenheit, einen Stein in die Wage der Gerechtigkeit werfen zu können. Als nun auf den 2. April die Vorstellung des „Don Juan“ angesetzt wurde, die Oper, welche Spontini gewöhnlich dirigirte, so bereitete sich für ihn ein Empfang, der ihn das Urtheil des Publicums, auf das er sich so kühn berufen hatte, hinlänglich sollte kennen lehren.
Viele seiner Anhänger warnten ihn, an diesem Abende zu dirigiren; er zeigte sich entschlossen, Allem, was kommen könne, die Stirne zu bieten. Am Tage der Aufführung ließ ihn der Polizeipräsident noch abmahnen; er antwortete, daß nichts ihn abhalten könne, seiner dienstlichen Function zu genügen.
So kam der Abend heran. Das Opernhaus füllte sich enggeschichtet bis in den letzten Winkel, und als Spontini in’s Orchester trat, empfing ihn ein Höllenlärm von Pochen, Pfeifen, Stampfen und Geschrei: „Hinaus! Hinaus!“
Ich war des Glaubens, Spontini werde nun nicht mehr weichen, sondern eher auf seinem champ de bataille sich tödten oder gewaltsam hinweg schleppen lassen; wozu hätte er sonst dem Publicum die Stirn geboten? Er hielt auch lange Stand, tactirte die Ouvertüre unbeweglich fort, obschon vor dem Lärmen nicht ein Ton der Musik vernehmbar war. Der Vorhang erhob sich, Leporello versuchte vergeblich sich hörbar zu machen, das Toben wurde wo möglich noch ärger. Nun schien Spontini die Partie für verloren zu geben, er fragte den Concertmeister, ob die kleine Thür, die vom Orchester in die Untermaschinerie führte, unverschlossen sei. Er dachte zu entwischen.
Als nun Donna Anna mit Don Juan erschien, und auch die Rücksicht für die Dame den Lärm nicht dämpfte, die Minorität der „Ruhe!“ gebietenden Stimmen gar nichts ausrichtete, der Regisseur, Baron von Lichtenstein, in’s Orchester kam und eifrig auf Spontini einredete, sah man diesen endlich den Tactstock niederlegen und mit Baron von Lichtenstein das Orchester verlassen, um es nie wieder zu betreten. Hohngeschrei und Gelächter des Publicums verfolgte ihn, und als nach einiger Zeit der Capellmeister Hennig am Dirigirpulte erschien, wurde er mit Jubel empfangen und die Oper hatte ihren Verlauf.
Damit war Spontini aus der öffentlichen Wirksamkeit in Berlin, von dem Kunstinstitute schimpflich ausgewiesen, das er einundzwanzig Jahre lang mit solchem Uebermuth beherrscht hatte. Mochten die Feinfühlenden im Publicum das Verfahren der Masse brutal schelten, achtungslos vor künstlerischer Berühmtheit, unwürdig, weil die Majestätsbeleidigung jetzt zum Anlaß der Züchtigung genommen wurde, die Spontini um Beleidigung deutscher Kunstinteressen längst verdient hatte, – das Publicum läßt sich auf solche Unterscheidungen nicht ein, sein Urtheil ist summarisch. Hier constatirte es, daß Spontini ein verhaßter Mann geworden war, dem dies fühlbar werden sollte, sobald die Gelegenheit dazu gekommen.
Natürlich nahm der Vorgang das Stadtgespräch ganz und gar in Beschlag. Gerüchte über die Verhandlungen der Untersuchungscommission wurden geschäftig hin und her getragen. Große Sensation machte es, daß der König, bei einem Spaziergange auf dem sehr besuchten Königswege Spontini begegnend, bei ihm stehen geblieben sei und lange mit ihm gesprochen habe. Man fürchtete eine Beeinträchtigung der öffentlichen Genugthuung durch eine zartfühlende Regung des Königs.
Erst am 25. August 1841 wurde die höchste Entscheidung bekannt, sie war königlich. Spontini wurde aller seiner contractlichen Verpflichtungen enthoben, unbeschadet seiner Besoldung, der ihm verliehenen Titel und des Rechtes, seine etwaigen neuen Compositionen bei ihrer Aufführung in Berlin zu dirigiren. Den letzten Punkt nahmen die Berliner für ungeheure Ironie.
Mit Mühe brachten seine Anhänger ein bescheidenes Abschiedsfest im Saale der Singakademie zu Stande. Hier vermochte Spontini doch nicht ganz seine unberührte Haltung zu bewahren, er brach beim Abschiede in Thränen aus und in die unverhohlene Klage: daß er nach einundzwanzig Jahren voll aufopfernder Arbeit also aus dieser undankbaren Stadt scheiden müsse. Am 31. August verließ er Berlin und reiste wieder, wie er oft gethan, zu seinem Schwiegervater, dem Flügelfabrikanten Evrard nach Paris, kehrte aber im December auf einige Zeit nach Berlin zurück, um seinen Haushalt aufzulösen.
In Paris fand er keine neuen Anknüpfungspunkte; ich war schon im Jahre 1839 Zeuge gewesen, wie wenig man ihn dort beachtete. Er zeigte sich in verschiedenen deutschen Städten, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen. Im November 1844 sahen wir uns in Dresden wieder, wo ich, mit der künstlerischen Leitung des Hoftheaters betraut, ihm eine Aufführung der Vestalin, mit trefflichen Talenten, nach seiner Berliner Einrichtung, geben konnte, aber auch ohne große Aufmerksamkeit des Publicums zu erregen. Er hatte seine alte Haltung wieder, seine selbstgenügsame Miene war so unverändert, wie seine Frisur und der Anzug, in dem ich ihn vor vierundzwanzig Jahren zum ersten Male auf dem Berliner Opernplatz gesehen.
Im August 1847 hat er endlich, als ein vergessener Mann, in Majolati, nahe seinem Geburtsorte Jesi im Kirchenstaate, seinen Wohnsitz genommen und noch eins der Ziele seines eitlen Lebens erreicht: der Papst ernannte ihn für seine letzten dunklen Tage noch zum Grafen von St. Andrea. Sein längst projectirtes Wappenschild konnte er also doch noch aufrichten, aber sein Schiff ging nicht mit vollen Segeln der Sonne zu, es glitt mit schlaffen Segeln in die Nacht. Er starb – dreiundsiebenzig Jahre alt – am 24. Januar 1851.
Der Unsinn ist unsterblich! Davon habe ich vor wenigen Tagen, auf einem kleinen Osterausfluge, wieder ein eclatantes Beispiel erlebt. Ich will erzählen, was ich gesehen und gehört, schlicht und recht, ohne viel Raisonnement. Die Sache spricht für sich selber schlagend genug.
Blau und klar lachte, nach langen Schneeschauern, der Ostersonnabend zu mir in’s Zimmer herein. Rasch entschlossen, einen alten Vorsatz auszuführen, gürtete ich mir die Lende, das heißt hing meine vielgewanderte kleine Touristentasche über die Schulter und dampfte durch unsere schöne sächsische Schweiz elbaufwärts nach Böhmen und auf der neuen Nordbahn zwischen einer überraschend imposanten Wald- und Bergscenerie, die freilich noch hie und da tief im Winterkleide stak, in jenen nördlichsten Winkel des Landes hinein, welchen das sogenannte Lausitzer Gebirge vom Gros des kaiserlichen Königreiches gewissermaßen absondert.
Landschaftlich ist dieser Zipfel ein prachtvolles Stück Erde, herrlich umrahmt von den pittoresken Linien des in einzelnen Gipfeln zu beträchtlicher Höhe aufsteigenden Bergzuges, zugleich aber eine außerordentlich betriebs- und verkehrsreiche Gegend. Haus reiht sich fast an Haus; in jedem klappert der emsige Webstuhl, hier Beinkleiderstoffe, dort Leinwand oder Bänder producirend, und die ausgedehnten Fabrikdörfer, unter ihnen das größte Dorf der gesammten österreichisch-ungarischen Monarchie, Warnsdorf, mit mehr als zwanzigtausend Einwohnern, übertreffen wie durch ihren Umfang so durch die Stattlichkeit ihrer Gebäude manche ansehnliche Stadt.
Die Hauptstadt des Bezirkes, zugleich der Endpunkt der böhmischen Nordbahn, ist der Liechtenstein’sche Herrschaftssitz, das alte Rumburg, das sich mit den angebauten Dörfern weit hinein in’s Land verliert. Hier kam ich am Vorabend des Osterfestes an und wohnte in der dichtgedrängten vom Gesang der Menge und dem Brausen der Orgel erfüllten Kirche der Feier der „Auferstehung“ bei, indeß von draußen der Lärm von Kanonenschlägen und Flintengeknatter hereinscholl. Als ich wieder in das Freie trat, erwartete mich ein neues Schauspiel: der ganze Ort schwamm im Lichte. An den Berglehnen, zwischen den Waldparcellen, [329] auf den Wiesen, überall wo eines der verstreuten Häuser und Häuschen stand, hatte man Lämpchen und Kerzen entzündet zur Feier des heiligen Begebnisses und damit in der That eine überraschende Wirkung erzielt. Die halbe Nacht dauerte das Gewehrfeuer fort, um am frühen Morgen von Neuem zu beginnen; dabei zogen „Ostersänger“, Männer und Weiber mit Geigen, Harfen und Guitarren, im Orte umher, verkündeten, oft recht musikalisch, die frohe Botschaft und sammelten fleißig österreichische Neukreuzer und Zehner ein.
Ich dünkte mich in eine fremde Welt versetzt, obschon nur wenige Meilen von meinem Wohnorte entfernt. Das Ganze war zugleich eine treffliche Vorbereitung auf den eigentlichen Zweck meiner Ostertour.
In der Frühe des zweiten Festtages wanderte ich zu Fuß noch ein Stündchen weiter nordwärts, dicht bis an die sächsische Grenze. Sowie ich den Höhenkamm überschritten und den „Busch“, wie es dort zu Lande heißt, das heißt ein Fichtenwäldchen, im Rücken hatte, that sich mir ein neues wunderschönes Panorama auf. Mir im Rücken lag das höhere Gebirge, von der noch schneebedeckten Lausche im Osten flankirt, vor mir sah ich die sanfteren Waldhügel der Lausitz, aus denen im Sonnenlichte funkelnd eine Menge von Häusern herüberblickten, und dazwischen in ununterbrochener Kette Ort an Ort, sämmtlich Fabrikdörfer, böhmische und sächsische hart an- und durcheinander. Rechts ein wahres Prachtdorf, das protestantische Gersdorf, mit großen Wohn- und Fabrikgebäuden und vielen hohen Dampfschloten. Unmittelbar daneben auf grüner Matte liegt sehr reizend das, wenn auch ärmere, doch immer gar freundlich sich präsentirende böhmische Philippsdorf mit etwa tausend Bewohnern, meistens Webern, welche theils für die Fabrikanten des erwähnten protestantischen Gersdorf, theils nach dem links anstoßenden böhmischen und katholischen Georgswalde arbeiten, dem Centrum der sogenannten „Rumburger“ Leinwandindustrie.
Noch vor wenigen Jahren kannte man draußen in der Welt nichts von diesem bescheidenen Philippsdorf, heute spricht und schreibt man von ihm selbst jenseit des Oceans. Ein unscheinbares Weberhäuschen darin, eines der dürftigsten des Ortes, hat es buchstäblich „über Nacht“ berühmt gemacht. Dies merkwürdige strohbedachte Weberhäuschen war das Ziel meiner Osterfahrt, wie es, allerdings aus anderen Gründen, schon für Tausende und Abertausende ein Wanderziel gewesen ist und voraussichtlich noch sein wird.
Viele meiner Leser werden im Allgemeinen schon wissen, was sich in diesem „von Gott begnadeten“ Philippsdorf zugetragen hat, um dasselbe zu einem neuen Loretto oder Maria-Einsiedeln zu erheben. Der speciellere Vorgang des „wunderbaren“ Begebnisses ist indeß doch wohl nur wenigen bekannt.
In dem erwähnten Hause lebte bei ihrem Bruder ein armes Mädchen, Magdalena Kade mit Namen. Bis zu ihrem neunzehnten Jahre völlig gesund und robust, half sie tüchtig mit schaffen, am Webstuhl und in der kleinen Haushaltung ihrer Geschwister. Da befiel sie im Jahre 1854 jählings, „in Folge eines Schreckens“ eine geheimnißvolle Krankheit. Aus heftigen Krämpfen, die ihr zeitweilig das Bewußtsein raubten und sie mehrmals in der Kirche zusammenbrechen ließen, entwickelte sich eine Art Blasenausschlag. Von der linken Brust ausgehend, hatte er nach und nach den Leib schon bis zum Beine herab mit bösartigen eiternden Geschwüren ergriffen. So berichtet der Stiftscaplan von Georgswalde, Herr Pater Storch, in den von ihm über das merkwürdige Ereigniß herausgegebenen Heften, die ich im Laufe meiner Skizze noch verschiedene Male wörtlich zu citiren Gelegenheit nehmen werde. Ihm, um dies gleich hier anzuführen, gebührt überhaupt der Ruhm der eigentlichen Urheberschaft des „Wunders von Philippsdorf“.
„Nach der Ansicht vieler Laien“, meint der fromme Pater, ging das Uebel bereits in ein krebsartiges Leiden über und wurde von zwei Aerzten, einem in dem böhmischen Georgswalde, dem andern in dem benachbarten evangelischen Gersdorf, vergeblich bekämpft. Der erstere hatte es für ein „Ekzem“, ein Bläschengeflecht, erklärt und einer ihn darum befragenden Anverwandten der Kranken versichert: „die Magdalena Kade hat ein unheilbares fressendes Uebel an sich.“ Das Alles erzählt, wohlgemerkt, Caplan Storch.
Die Krankheit – ich folge genau dem Berichte desselben – wuchs und wuchs. Seit Monaten schon konnte die Leidende ohne Hülfe nicht mehr das Bett verlassen, fiel, wenn sie aus demselben heraus- oder in dasselbe wieder hineingehoben wurde, stets in langwährende Ohnmachten und erlitt „unerträgliche Schmerzen“, namentlich in der linken Brust. „Ihre Stimme war kaum noch vernehmbar“. Offenbar ging es dem Ende entgegen, so daß Caplan Storch ihr in der zweiten Hälfte des Decembers 1865 die Sterbesacramente reichen mußte. Dazu verpesteten die eiternden Geschwüre der Unglücklichen mit ihrem Geruche das Haus und machten die Pflege der Kranken für ihre Angehörigen zu einem Martyrium.
Am zwölften Januar 1866 hatten ihr Bruder und dessen Frau „mit Schaudern“ noch die entsetzlichen Wunden ihrer Schwester gesehen. Es war der schmerzensvollste Tag Magdalena’s, und unablässig stöhnte und jammerte sie. Sie selbst war überzeugt, der Tod nahe sich. Eine Freundin wollte in der Nacht bei ihr wachen; die Kranke vermochte sie jedoch, sich ein wenig niederzulegen. Auf einer neben dem Bett stehenden Bank schlummerte die Pflegerin ein, während Magdalena, von Schmerzen gepeinigt, keinen Augenblick Ruhe fand.
„Auf einmal, es konnte in der vierten Morgenstunde des dreizehnten Januar, eines Samstages, sein, entstand in der durch eine kleine Oellampe nur spärlich beleuchteten Wohnstube eine Helle und besonders in der Nähe des Bettes ein Glanz wie am lichtesten Tage, so daß die Kranke ihre schlafende Freundin aufweckte mit den Worten: ‚Steh nur auf und sieh, wie licht es in der Stube wird!‘. Während die Letztere aufsprang, sah die Kranke am niedern rechten Bettrande zu ihren Füßen eine große, herrlich glänzende, ganz in einen lichtvollen weißen Mantel gehüllte Frauengestalt mit einem wie die Sonne strahlenden Gesicht und mit einer goldgelb glänzenden Krone auf ihrem Haupte (Hände und Füße sah sie nicht), und da überfiel die Kranke ein heiliges Zittern und Beben, so daß ihre von alledem nichts bemerkende Freundin sie kaum im Bett erhalten konnte, wobei die Kranke dieselbe bat: ‚Knie doch nieder; siehst Du sie nicht stehen?‘ – was diese jedoch nicht that, weil sie weder von der Gestalt noch von dem Glanze etwas sah und nur glaubte, es sei etwa der Kranken die Hitze gegen den Kopf gestiegen.“
Blendender und blendender wurde das Licht der Erscheinung, welche die Leidende sofort für die „heiligste Jungfrau Maria“ hielt. Erst suchte sie ihre Augen vor dem gewaltigen Glanze zu schützen, dann faltete sie die Hände und betete laut. Darauf sprach die Gestalt „mit einer überaus lieblichen und unbeschreiblich angenehmen Stimme“ die Worte: „Mein Kind, von jetzt an heilt’s!“ und verschwand, mit ihr Glanz und Tageshelle. Wie uns der Pater versichert, hat dies Alles Magdalena nachmals „mit einem feierlichen Eide bekräftigt“.
Und von Stunde an war die seit zwölf Jahren Siechende, von zwei Aerzten erfolglos Behandelte und „für unheilbar Erklärte“ gesund – und verblieb es. Auf der Stelle endeten ihre Schmerzen, und ihre Stimme hatte mit Einem Male einen so kräftigen, sonoren Klang bekommen, daß Bruder und Schwägerin, welche sie unverweilt holen ließ, sich nicht genug verwundern konnten. Nichtsdestoweniger – wir halten uns immer an die Aufzeichnungen des Caplans – waren Beide anfangs geneigt, Magdalena’s Erzählung für das Product einer Fieberaufregung zu nehmen, bis sie ihnen ihren Körper zeigte. Welches Erstaunen! Alle bösen Wunden waren geheilt und trocken, mit frischer Haut überzogen, und blos eine kleine, kaum thalergroße Stelle, die noch „ein wenig näßte“, zeugte von der vormaligen furchtbaren Krankheit.
Wer konnte jetzt noch zweifeln? Gemeinschaftlich warfen sich alle im Zimmer Anwesenden auf die Kniee und dankten lobpreisend der „heiligsten Jungfrau“; Magdalena aber, sie, welche seit Jahren ohne fremde Unterstützung kein Glied zu bewegen im Stande gewesen war, sie stieg „ganz allein aus dem Bette“ und marschirte frank und frei durch die Stube. Auch die übrigen Hausgenossen, mehrere im nahen Gersdorf beschäftigte Fabrikarbeiter, blieben sprachlos vor Verwunderung stehen, als sie, zum Mittagessen heimkehrend, die, welche sie dem Tode nahe, vielleicht mittlerweile schon verschieden geglaubt hatten, frisch und wohlauf einherwandeln sahen.
Mit Blitzesschnelle verbreitete sich das Geschehene durch den Ort. In den Augen des Publicums war das Wunder fix und [330] fertig; um ihm indeß auch auswärts, in der weiten Welt zu Ansehen und Geltung zu verhelfen, dazu bedurfte es noch anderer Kräfte und Hebel, als sie die armen Weber von Philippsdorf anzuwenden vermochten. Diese Kräfte und Hebel fanden sich „zum Glück für den Ort“ alsbald in der Person des Beichtvaters der „Gottbegnadeten“, des geschickten und energischen Pater Storch in Georgswalde. Er wußte die Sache am rechten Ende anzugreifen und das Feuer der Begeisterung zu schüren, um „die neue Gnadenstätte“ und Glücksquelle, welche die „Ehre Gottes“ wiederum so sehr „gemehrt“, der alleinseligmachenden Kirche zu neuer Glorie gedient und dem bis dahin unbemittelten Orte alljährlich Tausende und Tausende von Gulden gespendet hat, in’s Leben zu rufen und, was vielleicht schwieriger, inmitten einer von Protestanten umwohnten und viel in der Welt verkehrenden Geschäfts- und Handelsbevölkerung zu erhalten.
Obschon alle Perspectiven in’s Auge fassend und im Herzen sicher entzückt über den – sagen wir gelinde – Fiebertraum der Kranken, verhielt sich der Stiftscaplan mit weiser Politik anfangs anscheinend ablehnend gegen das Ereigniß. Zwar erfährt er es, wie man sich denken kann, noch im Laufe des dreizehnten Januar, allein erst zwei Tage später begiebt er sich „gelegentlich“ eines Berufsweges in die Wohnung Magdalena’s und läßt sich das Erlebniß von ihr erzählen.
Ueberhaupt hat ja erst die Kirche, in unserem Falle der Bischof von Leitmeritz, zu dessen Diöcese Philippsdorf gehört, zu entscheiden, ob das Begebniß wirklich als Wunder anzuerkennen ist, da nach einer Bestimmung des tridentinischen ökumenischen Concils „neue Wunder“ nur nach Erkenntniß und Bestätigung des Bischofs „unter Zuziehung von Theologen und frommen Männern“ zuzulassen sind. So nahm die Geistlichkeit wenigstens officiell keine Notiz von dem Vorfall, wenn sie auch acht Tage danach, wo die „Gottbegnadete“ zum ersten Male wieder zur Kirche ging, auf Veranlassung Pater Storch’s ein feierliches Dankhochamt mit „Segenmesse“ zu Ehren der wunderbaren Heilung abhielt und in einem in vielen Tausenden von Exemplaren verbreiteten Flugblatte – der Herr Stiftscaplan behauptet zwar, es sei nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt gewesen und „wider alles Erwarten“ vor das Publicum gekommen! – den an den Leitmeritzer Oberhirten gesandten amtlichen Bericht über das Geschehene veröffentlichte.
Was konnte sie dafür, wenn immer neue Wallerschaaren nach der Gnadenstätte strömten, wenn von nah und fern manchmal in einem Tage mehrere Hunderte frommer Gläubiger sich einstellten, denen die Wunderjungfrau wieder und wieder von ihrer Heilung berichten mußte? „Das Wunder ist ja Niemandem octroyirt oder aufgezwungen worden!“ Aber man durfte doch die religiösen Gemüther nicht irre werden, nicht dem Zweifel verfallen lassen, nachdem sich die Opposition zu rühren begann, nachdem in freisinnigen katholischen und protestantischen Blättern gegen den „Philippsdorfer Humbug“ zu Felde gezogen wurde, nachdem der frühere Arzt der Visionärin sein Schweigen brach und in einer Zeitschrift der Gegend erklärte, daß ihm die Kranke seit fast vier Wochen eine Besichtigung ihrer Wunden verwehrt habe – „aus Schamgefühl“, meint der Pater –, daß der Ausschlag weder Ekzem noch Krebs, sondern ein allerdings selten vorkommender Blasenausschlag von „weit geringerem Umfange, als in mehreren öffentlichen Blättern angegeben“, und keineswegs absolut unheilbar gewesen sei, die übrigen krankhaften Zustände der Magdalena Kade aber einfach den Charakter der Hysterie getragen haben, die bekanntlich den Kranken mancherlei Leiden vorspiegelt und einbildet, welche in Wirklichkeit nicht bestehen. Gegen solche Freigeisterei mußte man sich wehren. Zuerst wurden einige „Philippsdorfer Freunde der Wahrheit“ – wer in Philippsdorf die Feder zu führen versteht, ist freilich schwer zu begreifen – angefeuert, „scharf zu entgegnen“, und hierauf der Bezirksvicar und Oberpfarrer von Georgswalde, welchem die ganze Geschichte sehr wenig erbaulich gewesen zu sein scheint, der indeß, wie ich vielfach vernahm, „von maßgebender Stelle“ bedeutet wurde, aus seiner Reserve herauszutreten, zur Abfertigung „eines naseweisen Kritikers“ gedrängt, der sich vermessen hatte, in dem Hauptorgane des ganzen Bezirkes, der „Reichenberger Zeitung“, rundheraus zu behaupten, dergleichen Wunder seien der heutigen Naturwissenschaft unerklärlich, darum undenkbar und unmöglich.
Noch eine Weile währte das Geplänkel auf beiden Seiten, bis endlich die Zweifler schwiegen, vermuthlich weil sie von Neuem erkannten, daß mit der Dummheit und – Lügenhaftigkeit auch die Götter selbst vergeblich kämpfen. Der Herr Caplan aber lachte sich in’s Fäustchen, sein „Wunder“ gedieh über alle Erwartung, wenn es auch officiell noch kein Wunder war. Aus Böhmen, Sachsen, Schlesien, ja selbst aus viel größerer Entfernung zogen die Pilger in immer dichteren Haufen heran und „in der Gemeinde Georgswalde nahm durch das Philippsdorfer Ereigniß die Verehrung der Gottesmutter von Tage zu Tage zu“, je mehr man von anderer Seite „die Georgswalder als Bewohner des Sitzes der Bigotterie und die Wallfahrten zu dem ‚Wunderhaus‘ als ‚Unfug‘ und ‚Fanatismus‘ zu verspotten anfing.“ Inzwischen war auch von Leitmeritz eine bischöfliche Untersuchungscommission eingetroffen. Volle acht Tage lang hat sie, und zwar täglich acht bis zehn Stunden, conferirt, Zeugen vernommen und geschrieben, „mit der größten Vorsicht und Geduld“ dabei zu Werke gehend, und ihr Referat in einem Actenstücke von sechsundvierzig Bogen niedergelegt. „Die Untersuchung,“ schreibt Herr Storch, „wollte kein Präjudiz für ein Wunder schaffen, das sieht Jedermann ein,“ allein ganz ebenso wird es aller Welt klar sein, wie die oberhirtliche Entscheidung auf dieses voluminöse Protokoll ausfallen mußte. Ob dieselbe bereits erfolgt, ob das Wunder bischöflich als Wunder bestempelt und besiegelt worden ist, habe ich aus den mir vorliegenden Druckschriften über die Sache und mündlichen Erkundigungen nicht erfahren können.
Und immer zahlreicher wurden die „Heilungen Schwerkranker, jahrelang Leidender“, welche die „Gnadenstätte“ vollbrachte. Schon im Monat Mai mußten Webstühle, Hausrath und Ofen aus der „auserwählten“, nun mit Altar, Kerzen und Bildern geschmückten Webstube hinausgeräumt werden, weil sie sonst den von Tag zu Tage steigenden Besuch von andächtigen Pilgern nicht zu fassen vermocht hätte. Dennoch warteten immer noch Hunderte draußen vor dem Häuschen, bis auch an sie die Reihe kam, den geweihten Raum betreten zu dürfen. An einzelnen Tagen waren die ankommenden Wallerschaaren nur nach Tausenden zu zählen und Processionen mit Musik, Gesang und Fahnen nahmen kein Ende.
Der Krieg von 1866 drohte zwar, das blühende Wundergeschäft etwas beeinträchtigen zu wollen, selbst der fromme Caplan scheint so etwas gefürchtet zu haben. Doch mit Nichten. Die Gnadenstätte wirkte neues Wunder: Maria schützte die Gegend vor dem Feinde und bewahrte sie vor den Schrecken des Krieges. Nicht der Feldzugsplan des Generals von Moltke war schuld, daß sich das Gewitter des Kampfes nicht über dem heiligen Philippsdorf entlud, sondern daß die feindlichen Heere fern ab bei Königsgrätz und Sadowa auf einander geriethen, – nein, Niemand anders als die „heilige Gottesmutter“, welche nun einmal für dies kleine Philippsdorf ihre Schwäche hatte. Sie hatte es anzuordnen gewußt, daß „die ersten feindlichen Vorposten, die Ende Juni in der Gegend einbrachen – katholische Rheinländer“ waren, von denen gar manche „die Gnadenstätte besuchten, um sich dem Schutze der Gottesmutter zu empfehlen.“ Auch von allen Nachwehen des Krieges, von Hungersnot und Seuche blieb Philippsdorf verschont, Alles nur – Pater Storch hebt es ausdrücklich hervor – wegen der heiligen Gnadenstätte, welcher die gebenedeite unter den Jungfrauen ihren besonderen Schutz angedeihen ließ.
Man blieb übrigens bei der schon erwähnten Ausschmückung der ehemaligen Webstube nicht stehen. „Gewiß war es auch eine höhere Fügung, daß ein großmüthiger, doch ungenannt sein wollender Wohlthäter“ dem eifrigen Förderer des Wunders die Summe von nahezu viertausend Gulden übergab, damit dieser das Häuschen, mit dem zu ihm gehörenden Areal von dem Bruder seiner Clientin käuflich erwerben und in geistlichen Besitz bringen könnte, um „jedem niedrigen Eigennutze vorzubeugen“ und für immer eine „dem Zwecke des Gebetes geweihte Stätte“ zu gründen. Auch dies ist nur ein vorläufiger Schritt; das Häuschen soll nämlich niedergerissen und auf dem Grunde desselben eine Kirche erbaut werden. Dazu hat „die hülfreiche Fürbitte Maria’s“ schon recht erkleckliche Beiträge fließen machen; einmal hat die Pfarrgemeinde Georgswalde eine freiwillige „marianische“ Subscription eröffnet, und sodann sind von nah und fern unablässig und manchmal sehr erhebliche Spenden eingelaufen, im Ganzen bis zum Schlusse des vorletzten Jahres schon fast vierundvierzigtausend Gulden, so weit Herr Storch in seinem dritten Hefte „Maria, das [331] Heil der Kranken“ darüber Rechenschaft ablegt. Ein frommer Künstler in Wien hat außerdem sämmtliche Zeichnungen zu dem beabsichtigten Kirchenbaue unentgeltlich geliefert und will den Bau des neuen Loretto, eines Gotteshauses und der eigentlichen Bet- und Gnadencapelle, persönlich leiten, – ein Vorhaben, zu dessen glücklicher Vollbringung er „mehrmals an der Gnadenstätte knieend zur heiligen Jungfrau um Beistand gebetet hat.“ Noch im Laufe des heurigen Sommers soll das Werk beginnen, das unter solchen Auspicien sicherlich gelingen muß.
Ein Theil der Bruchsteine und Sandsteinquadern, von verschiedenen Einwohnern in Georgswalde ebenfalls als Scherflein zu dem rühmlichen Unternehmen gestiftet, liegt schon an Ort und Stelle bereit und harrt seiner Verwendung. Diese Steinhaufen, die sich wie ein Wall um das Grundstück ziehen, waren das Erste, was ich von der „Gnadenstätte“ zu Gesichte bekam.
„Schau’n ’s die Steine dort,“ sagte der aufgeweckte Rumburger Bursche, der meinen Führer abgegeben hatte, als wir beim österreichischen Mauthamte in Gersdorf auf den freundlichen Wanderort hinabblickten. „Da drinnen steht halt das Bethäusl.“
In wenigen Minuten war das Ziel erreicht. Mitten auf einer im ersten Grün des Frühlings prangenden Wiese stand der mehr als simple Bau aus Brettern mit einem Strohdach, nichts als ein Erdgeschoß und nach Landessitte einen engen Stall für eine etwaige Ziege nebst einer angebauten winzigen Scheuer umschließend. Vor dem Hause erhob sich ein gewaltiger, prachtvoller Birnbaum, der alle seine Brüder rundum überragte. Er hatte sich in seinen alten Tagen noch gefallen lassen müssen, zum Bilderstock zu werden; denn auch an seinem Stamme waren, ebenso wie an der äußeren Wand der Hütte, etliche grellfarbige Heiligenschildereien sammt verschiedenen Lampen angebracht. Weiter links hatte sich eine Art Markt angesiedelt, aus acht bis zehn Buden bestehend, die, in gemüthlicher Eintracht, Bäckerwaaren und allerhand geweihte Gegenstände, Crucifixe, Rosenkränze, Kerzen, Weihwasserbecken, Gebetbücher und dergleichen feilboten. Weiterhin gab es Bier- und Weinschenken, Branntwein- und Kaffeehäuser, und Gasthöfe zur Auswahl – Alles eine Frucht des Wunders, denn vor demselben hatte sich Philippsdorf solcher Segnungen der Civilisation nicht zu erfreuen gehabt.
Um erst ein wenig das Terrain zu sondiren, trat ich zunächst in das Dießner’sche Wein- und Bierhaus, das stattlichste der Umgebung, ein. Es war noch früh am Tage, allein wie überall in Böhmen fehlte es in der ungelüfteten schwülen Stube an Zechern nicht. Der Wirth schien mir ein Schlaukopf ersten Ranges zu sein, welcher die Frömmigkeit zweckmäßig mit dem Geschäft verband. Vorsichtigst suchte ich ihn denn auszuholen, was er selbst von dem wundersamen Begebniß meine. Geschickt wich er einer directen Antwort aus.
„Schaun’s,“ sagte er mit einem verschmitzten Lächeln, „ich hab’ halt die Wunden der Magdalen’ nit gesehn, aber jetzt weiß i, daß sie umherspringt gesund wie der Fisch im Wasser. Und wenn der Herr Caplan die Sach’ glaubt, der ein g’studirter Mann ist, und wenn alle Tage feine Herrschaften ankommen, die die G’schicht’ auch glaub’n, was kann mir’s schaden, wenn ich’s glaub’?“
Geschadet hat dem biedern Gastwirth sein Glaube freilich nicht. Aus Polen, aus Frankreich, ja sogar einmal ein katholischer Bischof aus dem äußersten Nordwesten von Amerika, von der Vancouverinsel, sind sie gekommen und haben bei Dießner gewohnt oder doch gegessen und getrunken, und seine Taschen sind nicht leerer geworden dadurch. Eben war eine „gebildete“ Familie aus Wien und eine andere aus der Gegend von Teplitz bei ihm, um an der heiligen „Gnadenstätte“ die Novene, d. h. die neuntägige Andacht, zu verrichten. Der Säckel des Herrn Caplan und der übrigen geistlichen Herren in Georgswalde hat durch das Wunder auch keine Einbuße erlitten, denn die meisten der frommen Waller sind erst vor seinem oder seiner Amtsbrüder Beichtstuhl erschienen, ehe sie im Bethäuschen von Philippsdorf die Gottesmutter verehrten. Da kann man schon im Jahre etwa fünfhundert Briefe beantworten, welche, wie Pater Storch berichtet, durchschnittlich in der Wunderangelegenheit bei ihm einlaufen, zumal, wenn sie mit baaren Spenden beschwert sind.
„Kann ich wohl die Jungfer Kade sprechen?“ frug ich weiter.
„G’wiß, wenn sie nit halt schon zur Kirch’ nach Georgswalde gegangen ist. Gehn ’s lieber gleich ’nüber und klappern Sie an der Thür,“ lautete die Antwort.
Ich begab mich, meinen „Stamper“ weißen Oesterreicher unberührt stehen lassend, zur Gnadenstätte und „klapperte“ an der Thür zur Linken des engen Hausflurs.
„Ist die Jungfrau Magdalena zu sprechen?“ rief ich höflich durch die Thür hinein.
„Net!“ ward mir der peremptorische Bescheid.
Vorläufig also abgewiesen, überschritt ich jetzt die Schwelle des eigentlichen Heiligthums, aus welchem mir, von zahlreichen Stimmen gebetet, der Rosenkranz entgegentönte. Es war zum Ersticken angefüllt von Andächtigen, Männern so gut wie Frauen. Theils saßen sie auf den rundum laufenden Holzbänken, theils knieten sie mitten im Zimmer oder auf der zu dem improvisirten Altar führenden Stufe. Die Mehrzahl waren Landleute aus der Gegend, aber auch städtische Elemente sah ich darunter, so die „gebildete“ Wiener Familie. Längs der Wände waren höchst primitive Bilder, Buntdruck, Oelpinseleien, ausgemalte Lithographien und Photographien, eines dicht an dem andern in doppelter Reihe angebracht, während sich die fünf Holzbalken, welche die Decke stützten; ebenfalls bis zum Uebermaße mit geschmacklosen Kränzen von bunten Papierblumen behangen zeigten, zwischen die man die kleinsten „Votivbildchen“ gruppirt hatte. Eine Farbenstellung, welche dem Auge förmlich wehe that!
Zur rechten Seite des Altars bemerkte ich einen eigenthümlichen viereckigen Kasten, der mir der Hauptmagnet des Ganzen zu sein schien, so sehr ward er von Betenden umkniet und geküßt. Nicht ohne Mühe schlug ich mich bis zu dem Platze durch die mich verblüfft anstarrende Menge. Ich sah einen in den Fußboden eingefügten Marmorstein, auf welchem eingegraben stand: „Mein Kind, von jetzt an heilt’s!“ jene Worte, welche, wie berichtet, die Jungfrau Maria an die kranke Magdalena richtete. Der Stein selbst war von einem sammetnen Kasten beschützt, auf dessen jetzt aufgeschlagenem Deckel in Goldschrift zu lesen war: „Maria, du Heil der Kranken“. Das Monument bezeichnete die Stelle, wo der Leidenden die Gestalt der Gottesmutter erschien; selbstverständlich ist dieser Platz das Allerheiligste im Heiligthume. An ihm zu beten, ihn mit seinen Lippen zu berühren, kranke Körpertheile mit ihm in Contact zu bringen oder auch nur Tücher, Kleidungsstücke, Wundenbandagen etc. abwesender Leidenden auf ihn zu legen, drängt sich Alles. Von hier gehen ja jene „wunderbaren Heilungen“ aus, von denen Pater Storch in seinen drei Heften so viel zu berichten weiß.
Nach dieser Atmosphäre erschien mir das dumpfe Gasthofszimmer, wohin ich mich bald zurückrettete, als ein leibhaftiger Luftcurort.
„Nun, haben ’s die Jungfer Magdalen’ gesehn?“ rief mir Biedermann Dießner gleich beim Eintreten entgegen.
Kopfschüttelnd erzählte ich von der mir zu Theil gewordenen Abfertigung.
„Ach, was,“ versetzte der Wirth, „so müss’n ’s halt nit sprechen. Gehen ’s glei noch eimal hinüber und sagen ’s, Sie wollten die Hefteln (die zum Besten des Kirchenbaues verkauften, oft citirten Schriften Pater Storch’s) hab’n; da wird sie Ihnen schon aufsperren.“
Ich verfügte mich wieder zur Gnadenstatt hinüber. Mein schlauer Dießner hatte Recht gehabt. Sein Sesam wirkte. Magdalena Kade that mir die Thür ihres jungfräulichen Gemaches auf, das ihr, nach dem Ankauf des brüderliche Hauses, als Leibgedinge überwiesen ist. Gott im Himmel, dachte ich, hätte man statt zum gräulichen Ausputz des Betzimmers ein paar Gulden daran gewandt, die Stube der „Gottbegnadeten“ weniger zu einer Einsiedlerzelle als zu einer menschenwürdigen Wohnung herzurichten! Es fehlte dem niedrigen kleinen Raum auch an jedem, selbst dem allernothdürftigsten Comfort; keine Diele, nur Ziegelfußboden, über den ein paar Lumpen als Decken lagen, kein ordentlicher Stuhl, kein Tisch, kein Schrank, nichts von alledem. Doch vielleicht sollte diese Aermlichkeit den Nimbus der „Gottbegnadeten“ erhöhen.
Jungfrau Kade hatte sich soeben zur Kirche angekleidet; recht schmuck und sauber in schwarze Gewandung. Sie ist eine magere Gestalt von mittlerer Größe, ihr Gesicht nichtssagend und stumpf, hager, aber von gesunder rother Farbe. Den Kopf bedeckte dünnes blondes Haar, nach hinten à l’enfant gekämmt. Den Eindruck einer Betrügerin oder einer exaltirten Schwärmerin machte sie nicht im Entferntesten, wohl aber schien sie mir ganz
[332][333] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [334] die Person zu sein, welche in bornirter und stupider Bigotterie in den Händen ihres Beichtvaters sich zu Allem gebrauchen läßt. In einem jeglicher beleckenden Cultur entbehrenden Dialecte antwortete sie auf meine Frage, ob sie sich fortwährend wohl befinde:
„Die heilige Jungfrau Maria hat mi g’heilt.“ Weiteres brachte ich nicht aus ihr heraus. Sie wiederholte stehend diese Antwort. Dann kramte sie geschäftig in einem mit allerhand Plunder gefüllten Kasten umher und brachte endlich die von mir begehrten „Heftele“ zum Vorschein. Ich legte eine Anzahl blanker Zehner auf den Tisch. Meine Zahlung mochte ihre Erwartungen übersteigen, denn sie durchwühlte noch einmal das Chaos ihres Kastens und zog eine kleine photographische Nachbildung des vornehmsten Gemäldes im „Betstüble“, Maria die Immaculata darstellend, hervor.
„Da, nehmen’s das zum Andenken an die Gnadenstätt’ mit,“ sprach sie, mir das Kunstwerk überreichend, „und jetzt b’hüt’ Sie die allerheiligste Jungfrau.“
Damit entließ mich das Wundermädchen von Philippsdorf, an welchem mir als das einzige Wunderbare erscheint, daß die Mutter Jesu gerade es in so besondere Affection genommen hat. „Unsereinem freilich,“ meinte der brave Dießner, „passirt so etwas nicht, weil wir nicht in Glauben stehen.“ –
Als ich am Nachmittag von meiner „Wallfahrt ohne Heiligenschein“ wohlbehalten in meinem Rumburger Wirthshause wieder anlangte, frug mich die runde Besitzerin desselben:
„Nun, haben’s sich den ganzen Philippsdorfer Scandal mit ang’schaut?“
Diese Frage drückte die Ansicht des gesammten aufgeklärten Theils der Bevölkerung der Gegend aus, und dieser bildet zum Glück nicht die Minderzahl derselben. Das Philippsdorfer Wunder ist in der That ein Scandal, welcher der ganzen Landschaft zur Schande gereicht. Auch mehrere unbefangene Geistliche des Bezirks haben die Sache ohne Weiteres als solchen anerkannt. So hat, wie ich aus zuverlässiger Quelle erfuhr, unter andern der zuständige Priester von Nixdorf, auch einem der kleinen Industrieorte Nordböhmens, seiner Gemeinde jedwede Wallfahrtsprocession nach der neuen „Gnadenstätte“ ausdrücklich untersagt.
Die an der Gnadenstätte bewirkten Heilungen sind mannigfaltiger Natur, betreffen indeß meistens Frauen und Mädchen aus Philippsdorf und Georgswalde, die mit „Krämpfen“ behaftet, lange Zeit leidend gewesen und nun plötzlich gesund und frisch von dem Wunderorte heimgewandelt sind. An ärztlichen Ausweisen – man achte wohl auf dieses Hauptmoment! – fehlt es in allen diesen Fällen fast gänzlich, und es dürfte schwer zu entscheiden sein, in wie weit die erwähnten Leiden in die Kategorie der Einbildung, der Simulirung und des Selbstbetrugs gehören.
Daß aber sogar der „bekannte Professor Bock in Leipzig“, der leibhaftige Bock der Gartenlaube, von dem hochwürdigen Stiftscaplan als Autorität citirt wird, dürfte jenen selbst und die Leser unseres Blattes nicht wenig amüsiren. Der Arzt des Wundermädchens hatte, wie erwähnt, nach der Behauptung des Paters, die „geheimnißvolle“ Krankheit für ein Ekzem erklärt – eine Behauptung, welche der Doctor in seiner öffentlichen Entgegnung nachher entschieden in Abrede stellt. Nun wußte der gute Caplan nicht, was das fremde Wort bedeute, scheute sich jedoch, als studirter Mann, den Arzt nach dem Sinne des medicinischen Ausdrucks zu fragen. Da finden er und die anderen Geistlichen von Georgswalde „die deutsche Bedeutung des Wortes Ekzem in einem medicinischen oder vielmehr anatomischen Werke des bekannten Leipziger Professors Dr. Bock als Bläschengeflechte bezeichnet.“ So verirrt sich denn „das Buch vom gesunden und kranken Menschen“ auch bis in die wunderschaffende Stiftscaplanei von Georgswalde und hilft den frommen Vätern „auf den Trichter“.
Und das Endurtheil über das Wunder von Philippsdorf? Die Eingangsworte meiner Skizze enthalten es: „Der Unsinn ist unsterblich!“ Aber ein Jeder von uns hat die Pflicht, sein Scherflein dazu beizutragen, daß dieser Satz hinfällig werde und daß allenthalben auf Vernunft und Wissen gebaute Erkenntniß jenen auf Unkenntniß und Denkfaulheit sich gründenden blinden Glauben verdränge, dessen liebstes Kind das – Wunder ist.
Mögen diese Zeilen ein solches Scherflein werden!
Am rechten Ufer der Zschopau, eine halbe Stunde von der Stadt Frankenberg gegen Mittag gelegen, erhebt sich aus den bewaldeten Hügelreihen, welche den Fluß geleiten, ein malerischer Felsen. Jäh steigt er aus den Wellen, die seinen Fuß bespülen, bis zu einer Höhe von hundertfünfzig Fuß empor, während auf der andern Seite sanft ansteigende Waldpfade auf seinen Scheitel führen.
Ist’s der Liebreiz der Gegend allein, der so manchen Wanderer anlockt, seine Schritte auf diese Höhe zu lenken? Wohl bietet sich von hier aus ein ungemein anmuthiges Landschaftsbild den erfreuten Blicken. Unten im Thale zieht sich in sanften Windungen das breite blitzende Silberband des Flusses hin. Rechts erweitert sich die Aussicht. Dort liegt in gesegneten Fluren das freundliche Dorf Niederlichtenau; dahinter erheben sich Anhöhen, auf deren Kamme die Dampfwagen der Chemnitz-Riesaer Eisenbahn dahineilen. Kehrt das Auge von diesem Ausblicke in das enge Flußthal zurück, so verliert es sich in ein grünes Meer von dichten Baumkronen, welche die Ufer und die Abhänge der von ihnen aufsteigenden Hügel allenthalben schmücken. Zur Rechten, gegenüber, zur Linken, wo ein quer vorstehender Berg die Aussicht begrenzt – überall üppiges Laubwerk, besonders von mächtigen Eichen und reichästigen Linden, dazwischen auch dunkles Nadelholz. Kaum daß die Thürme und rothen Dächer des Schlosses drüben auf der Bergeshöhe und dort die Mühle im kühlen Grunde daraus hervorzuschimmern vermögen; kaum daß hie und da ein durch die Zweige leuchtendes helles Kleid verräth, wie unten auf dem lauschigen Uferpfade manche jugendliche Gestalt lustwandelt. Nur an einer Stelle hebt sich aus der Waldung das Grün einer Wiese hervor, die sich, immer schmaler werdend, am gegenüberliegenden Hügel hinanzieht.
Die Natur hat diese Höhe, indem sie vor ihr ein so liebliches Landschaftsbild ausgebreitet, besonders bevorzugt. Aber größer noch ist der Reiz, mit welchem die Sage diese Stätte überkleidet und für das ganze deutsche Volk denkwürdig gemacht hat.
Die Sage vom muthigen Springer Harras, die unser patriotischer Sänger Theodor Körner so anmuthig besungen, ist durch ihn jedem deutschen Schulkinde bekannt geworden. Wer hat nicht in früher Jugend mit Enthusiasmus die Verse gelesen:
Unbezwingbar nur, eine Felsenburg,
Kämpft Harras noch und schlägt sich durch,
Und sein Roß trägt den muthigen Streiter
Durch die Schwerter der feindlichen Reiter.
Und er jagt zurück in des Waldes Nacht,
Jagt irrend durch Flur und Gehege;
Doch flüchtig hat er des Weges nicht Acht,
Er verfehlt die kundigen Stege.
Da hört er die Feinde hinter sich drein,
Schnell lenkt er tief in den Forst hinein,
Und zwischen den Zweigen wird’s helle,
Und er sprengt zu der lichteren Stelle.
Da hält er auf steiler Felsenwand,
Hört unten die Wogen brausen;
Er steht an des Zschopauthals schwindelndem Rand
Und blickt hinunter mit Grausen.
Aber drüben auf waldigen Bergeshöhn
Sieht er seine schimmernde Veste stehn;
Sie blickt ihm freundlich entgegen,
Und sein Herz pocht mit lauteren Schlägen.
Ihm ist’s, als ob’s ihn hinüber rief,
Doch es fehlen ihm Schwingen und Flügel,
Und der Abgrund, wohl fünfzig Klafter tief,
Schreckt das Roß, es schäumt in die Zügel.
Und mit Schaudern denkt er’s und blickt hinab,
Und vor sich und hinter sich sieht er sein Grab,
Er hört, wie von allen Seiten
Ihn die feindlichen Schaaren umreiten.
Noch sinnt er, ob Tod aus Feindes Hand,
Ob Tod in den Wogen er wähle;
Dann sprengt er vor an die Felsenwand
Und befiehlt dem Herrn seine Seele.
Und näher schon hört er der Feinde Troß,
Aber scheu vor dem Abgrund bäumt sich das Roß;
Doch er spornt’s, daß die Fersen bluten,
Und er setzt hinab in die Fluthen.
Und der kühne, gräßliche Sprung gelingt,
Ihn beschützen höh’re Gewalten:
Wenn auch das Roß zerschmettert versinkt,
Der Ritter ist wohl erhalten,
Und er theilt die Wogen mit kräftiger Hand,
Und die Seinen stehn an des Ufers Rand
Und begrüßen freudig den Schwimmer. –
Gott verläßt den Muthigen nimmer.
Wo die „Seinen“ gestanden haben mögen, da beschattet eine uralte Eiche, die, wenn sie reden wollte, die beste Auskunft über das muthige Wagniß zu geben vermöchte, ein steinernes Denkmal, welches in alterthümlichen Buchstaben die Aufschrift trägt: „Ritter von Harras, der tapfere Springer.“
Und „die schimmernde Veste“ der Harras? Die alte Burg und das ritterliche Geschlecht, das sie bewohnte, ist längst zu Staub zerfallen. Ein Schloß aus dem vorigen Jahrhunderte, Lichtenwalde genannt, mit gastlich offenstehenden, vielbesuchten und bewunderten Garten- und Parkanlagen, majestätischen, sich domartig wölbenden Lindenalleen und bedeutenden, des Jahres oftmals sprudelnden Wasserkünsten (1869 erneuert), eine Nachbildung von Versailles im Kleinen, krönt jetzt jenen Hügel.
Auf diesen Schauplatz der aus dem Mittelalter herüberklingenden Sage ist der Leser gewiß schon einmal in rosiger Jugendzeit durch Theodor Körner’s allbekanntes Gedicht im Geiste geführt worden. Die nebenanstehenden Abbildungen stellen ihn nun in der Hauptansicht und den mittleren Seitenansichten naturgetreu vor das Auge. Das Kreuz, welches über dem Harrasfelsen oder Haustein hervorragt, ist von Bewohnern Frankenbergs jenem unter der Eiche bei Wöbbelin schlummernden Heldenjünglinge zu Ehren errichtet, der vor etwa sechszig Jahren von dieser Höhe in’s Thal hinabsah und die Harrasthat nicht nur besungen, sondern auch in edlerer Weise nachgeahmt hat, da er sich, getrieben von heiliger Vaterlandsliebe, in die wilden Strömungen des Befreiungskrieges hineinstürzte.
In solcher Umgebung wird die Seele des Wanderers, der sich da oben gelagert hat, gänzlich von der Vergangenheit hingenommen. Doch schon schreckt ihn die lärmende Gegenwart aus seinem Sinnen. Unten im Flußthale braust und rollt es daher. Ein Wagenzug kommt heran. Jetzt legt sich ihm der Haustein in den Weg. Ein gellender Pfiff und der Zug ist in dem Felsenleibe verschwunden, um erst nach einiger Zeit auf der entgegengesetzten Seite wieder zu Tage zu kommen. Die erst in vorigem Frühjahre eröffnete Hainichen-Frankenberger Eisenbahn, welche bei Wiesa in die Chemnitz-Annaberger Gebirgsbahn einmündet, hat durch die felsigen Thalwände ihren Schienenweg gebahnt. Fürwahr eine romantische Straße! Am Fuße eines Buchenhaines tritt sie von Wiesa her in das Lichtewalder Thal ein. Kühn überbrückt sie die Zschopau, passirt alsdann die Haltestelle Braunsdorf, Station für Lichtenwalde mit Schloß gleichen Namens, welch’ letzteres auf jenseitigem Ufer der Zschopau in seiner idyllischen Lage dem Auge sich darbietet, arbeitet sich in ziemlicher Höhe auf dem rechten Ufer durch Gneismassen, durchbricht in einem zweihundertachtzig Fuß langen, durch Grünstein gesprengten Tunnel den Haustein, verläßt den Fluß und zieht sich auf mächtigen Dämmen und von schlanken Pfeilern getragenen Brücken über reizende Thäler hin. Zwei Abbildungen lassen einen Blick in das Hammerthal diesseits und das vom Hopfenberge überragte Lützelthal jenseits des Frankenberger Bahnhofs hineinthun.
Vom letztern aus bietet sich eine entzückende Aussicht in die breite Sachsenburger Thalmulde. Das Landschaftsbild ist vollständig abgeschlossen. Der Rahmen wird von drei Höhenzügen gebildet. Links erheben sich, von einem Dorfe gekrönt, die Merzdorfer Höhen, rechts reichbewaldete Berge. Beide verbindet im Hintergrunde der breite Rücken des Treppenhauer, von welchem herab einst die Burg Gozne das Thal beherrschte. Vor dem Treppenhauer thront auf niedrigerem Felsenberge das Schloß Sachsenburg und neben diesem Wahrzeichen einer alten Zeit liegt unten im Thalwinkel das Wahrzeichen der neuen, ein stattliches Fabrikgebäude von C. G. Reichelt.
Das also eingerahmte Thal ist recht eigentlich der Lustgarten der Frankenberger. Der am Flusse hinlaufende, am Schilfteiche und an prächtigen Wiesen vorüberführende Dammweg ist, wie auch der Künstler auf der Abbildung andeutet, ihr Lieblingsspaziergang. Er führt an der Spinnerei links in das Krumbacher Thal ab, wo die Zschopau, die schmucke Tochter des Fichtelberges, sich mit immer neuen Reizen schmückt. Nicht minder angenehm ist ein Gang durch die frischen Wälder, welche zur Rechten des Thales die Höhen bedecken. Zahlreiche Vögel lohnen für den Schutz, den sie dort finden, durch hellen Gesang, und in der Dämmerung huschen Rehe mit elfenleichten Sprüngen über die Waldschneußen.
Am Ausgange des Waldes gelangt man nach Schloß Sachsenburg. Früher im Besitze der Herren von Schönberg, wurde es im Anfange des siebenzehnten Jahrhunderts vom Kurfürsten Johann Georg dem Ersten als Kammergut gekauft und diente der Wittwe seines Nachfolgers, Magdalena Sibylle, als Aufenthalt. Gegenwärtig sind die Gebäude zu landwirthschaftlichen Zwecken bestimmt und seit dem Jahre 1867 ist eine Besserungsanstalt für jugendliche Sträflinge daselbst eingezogen. Die freundliche Schloßschänke gewährt eine herrliche Fernsicht auf die Höhen des Erzgebirges, auf die weithin über die Lande glänzende Augustusburg und Lichtenwalde.
Und unten im Thalgrunde, zwischen dem Lichtenwalder und Sachsenburger Thale mitten inne, da liegt, wie eine Perle in der Muschel, die Stadt Frankenberg mit Neubau und Gunnersdorf. Der Bergbau, früher in nächster Umgebung von Frankenberg gefördert, hat sich nur noch in dem etwa eine Stunde entfernten Schönborn und Dreiwerden erhalten. Seine Bedeutung verdankt es dem Handel, der Fabrikation und dem Gewerbfleiße. Schon seit zweihundert Jahren hat hier der Handel mit dem Auslande geblüht, und seit nahezu sechszig Jahren hat sich der Groß- oder Zwischenhandel mit Manufacturwaaren hier niedergelassen, welcher jetzt in zwölf bedeutenden Geschäften einen großen Theil Deutschlands mit Kleiderstoffen aller Art versorgt. Im Jahre 1784 zog die Kattundruckerei in die Stadt ein; unter den jetzt bestehenden sieben Etablissements dieser Branche befindet sich die größte sächsische Druckwaarenfabrik der Herren Uhlemann und Lantzsch. Eine Seidenwaarenfabrik, Firma Behr und Schubert, welche glatte Kleiderstoffe und hauptsächlich schwere Möbeldamaste liefert, hält allem diesen Fabrikationszweig in Sachsen aufrecht. Sechs Cigarrenfabriken, zum Theil über ein Vierteljahrhundert bestehend, beschäftigen gegen neunzehnhundert Einwohner. In und unmittelbar vor der Stadt liegen drei Spinnereien.
Das Hauptgewerbe aber ist die Weberei. Diese ist wahrscheinlich schon bei der in das erste Jahrhundert des jetzigen Jahrtausends zu setzenden, vielleicht durch hessische Ansiedler erfolgten Gründung der Stadt hier eingezogen. Im Jahre 1585 schickte Brigitte von Schönberg, geborene Pflug, einen Frankenberger Weber Namens Thomas Rockardt nach Brabant, um das Grobgrünmachen und Färben zu erlernen. Außer der Kenntniß hiervon brachte Rockardt das Modell einer Zwirnmühle mit zurück, nach welcher er eine größere fabricirte. Er lehrte nun auch Andere die Zwirnfabrikation. Als der Kurfürst Vater August davon hörte, soll er gesagt haben: „Wollt’ Gott, ich hätt’ ein ganzes Schock solche Zwirnmüller in meinem Lande.“ Jetzt bestehen in der Stadt sechszehn größere Weberwaarenfabriken und etwa der sechste Theil der neuntausendfünfhundert Seelen zählenden Einwohnerschaft betreibt diesen Erwerbszweig. Die Maschinenfabrik von Uhland und Carstens steht mit Uhland’s Technicum, einer mehr und mehr aufblühenden technisch-mercantilen Lehranstalt in Verbindung, welche jetzt über hundertdreißig Zöglinge aus verschiedenen Ländern Europas und Amerika’s zählt.
Die neuerrichtete, die Stadt berührende Eisenbahnlinie führt ihr einen neuen Lebensnerv zu, eröffnet aber auch zugleich den bequemsten Zugang zu einem Stück deutscher Erde, dessen herzerfreuende Naturschönheiten nur in näheren Kreisen bekannt und bisher wenig aufgesucht sind.
Alexander der Erste und die Frauen. Alexander der Erste von Rußland hatte sich die weibliche Schönheit fast zum Studium gemacht. Er stellte einst scherzhaft sechs Grundtypen derselben auf; erstens: die absolute Schönheit; zweitens: die kokette Schönheit; drittens: die pittoreske Schönheit; viertens: die hausbackene Schönheit; fünftens: la beauté du diable, diesen unübersetzbaren Begriff der Franzosen von der schnell verfliegenden Schönheit, und sechstens: die herzgewinnende Schönheit.
Zwischen diesen sechs Grundtypen variirten nun wohl die schönen Frauengestalten, die dem mächtigen Selbstherrscher auf seiner bewegten Lebensbahn begegneten, in’s Unendliche! Alexander, wie meistens die feinsinnigeren Männer, stellte die Frauen sehr hoch und liebte vorzugsweise ihren Geist und ihren Umgang. Die wichtigsten Eingebungen, die Wandlungen in seinem Gemüth, die Richtung seiner religiös-romantischen Politik, kurz die hauptsächlichsten Seelenmomente entstanden unter weiblichem Einfluß. Auch er konnte sagen, was Lord Byron in sein Tagebuch schrieb: „Schon die bloße Anwesenheit einer Frau hat etwas Beruhigendes für mich, selbst wenn mich kein persönliches Gefühl beseelt; gewiß, ich bin zufriedener mit mir und aller Welt, wenn eine Frau in meiner Nähe ist.“
Die Vorliebe für die Frauen begleitete den Kaiser durch’s ganze Leben. Er hatte das Glück, echte Perlen des Geschlechtes kennen zu lernen und in den wichtigsten Augenblicken psychologischer Entwickelungen geist- und herzvollen Frauen zu begegnen.
Drei Kaiserinnen standen ihm nahe, Katharina die Zweite, seine berühmte Großmutter, Marie Feodorowna, seine Mutter, und Elisabeth, seine Gemahlin. Alle drei waren deutsche Prinzessinnen. Katharina erzog ihren Enkel sehr strenge. Sie hatte den weichen Sinn des Knaben erkannt und suchte seinen Charakter zu stählen. Kaiserin Marie überlebte ihren Sohn, der mit großer Pietät ihr während seiner ganzen Laufbahn eine gewisse Obervormundschaft gestattete.
Indeß war Alexander trotz seines Frauencultus doch kein guter Ehemann. In seinem sechszehnten Jahre bereits vermählt mit der gleichaltrigen Elisabeth, Tochter des Erbprinzen Karl Ludwig von Baden, gingen seine Wege und die seiner Gemahlin weit auseinander. Auf die Kaiserin Elisabeth läßt sich der geistreiche Ausspruch des atheniensischen Staatsmannes Perikles beziehen: „daß diejenigen Frauen die besten sind, von denen weder im Guten noch im Bösen öffentlich gesprochen wird.“ Sie liebte ihren Gemahl zärtlich, wenn auch ihr Herz sich dabei an Dornen ritzte.
Als Alexander 1805 nach Berlin kam, erschien seinem für das Höchste und Schönste empfindlichen Sinn die edle Königin Louise als das vollkommene Ideal der Weiblichkeit und königlichen Würde. Vom Zauber der Freundschaft und Verehrung hingerissen, machte er in Begleitung des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten und der holden Königin jenen oft beschriebenen und besungenen Besuch am Grabe Friedrich’s des Großen zur Mitternachtszeit.
Bei der Zusammenkunft mit Napoleon in Erfurt 1808 zeigte sich der Kaiser dem ängstlich athmenden Europa als der eifrigste Bewunderer seines Nebenbuhlers in der Weltherrschaft und schien sich weit mehr für eine hübsche Schauspielerin vom Theatre Français zu interessiren als für die europäischen Angelegenheiten. Später fesselte ihn eine dauernde Neigung an die verwittwete Madame Narischkin, eine Dame aus jener stolzen russischen Familie, die den Adelstitel verschmäht und sich doch eines uralten Stammbaums und der höchsten verwandtschaftlichen Beziehungen rühmen kann. Diese Herzensangelegenheit griff tief in sein Leben ein. Madame Narischkin gebar ihm eine Tochter, die er über Alles liebte und der er gewissermaßen eine legitime Stellung gab dadurch, daß er seine edle selbstlose Gemahlin für das Kind interessirte; sie erzog es wie eine wahre Mutter, und die zarte Blume wurde ebenso geliebt von ihr wie vom Kaiser selbst.
Als diese Tochter sechszehn Jahre alt war und im Begriff stand, sich nach ihrem Herzen zu vermählen (der Kaiser hatte ihr eine fast königliche Ausstattung aus Paris kommen lassen), machte ihr Tod plötzlich allen Hoffnungen ein Ende. Unvorsichtige Höflinge meldeten dem Kaiser die Botschaft, als er gerade auf der Parade war. Er wurde todtenblaß und soll ausgerufen haben: „Dieser Tod ist meine Strafe!“
Zu diesem traurigen Ereigniß kam noch der Umstand, daß Madame Narischkin sich mit seinem Adjutanten verheirathete; Beides vereint soll zu seiner Lebensmüdigkeit und zu seinem Entschluß, der Regierung zu entsagen, woran ihn bekanntlich nur der Tod verhinderte, viel beigetragen haben.
Doch wir greifen vor; kehren wir zurück zum lebensmuthigen Alexander, der mit vollen Zügen den berauschenden Becher des Genusses trinkt.
Folgendes Bild von ihm giebt uns ein Zeitgenosse, der den Kaiser auf dem Wiener Congreß sah, zu einer Zeit, da Alexander auf dem Culminationspunkte seines Glanzes stand. Unser Gewährsmann beschreibt ihn also: „Groß, von muskulöser, doch eleganter Gestalt, röthlich gekräuseltes Haar, feine Züge, sprechende, rasch den Gegenstand erfassende Augen, der Mund vorzüglich schön, der Teint fast mädchenhaft rosig, Mienenspiel und Anstand von unvergleichlicher Anmuth.“
In Wien entschädigte sich der Kaiser für die Entbehrungen der Kriegsjahre. Eine sehr zur Schau getragene Neigung für die schöne Fürstin Gabriele A… veranlaßte die allzeit schlagfertigen Wiener zu dem Witzworte: „Heinrich der Vierte ohne Henriquatre (ohne Knebelbart), aber nicht ohne die schöne Gabriele.“ Die Hofetiquette suchte er zu lockern, und schlug vor, nicht der Rang, sondern das Alter solle für den Vortritt entscheiden; scherzhaft äußerte er dabei, er wünsche, daß die Damen Wiens durch diese Anordnung erführen, daß er erst siebenunddreißig Jahre alt sei, und der Jüngste von allen Potentaten.
In Wien standen damals die „Salons“ in höchster Blüthe. Der Fürst von Ligne, die Herzogin von Sagan, die Schriftstellerin Caroline Pichler, die leider so früh gestorbene Gräfin Julie Zichy und die Gräfin Fuchs, von der Varnhagen schreibt: „Die Gräfin führt fast im Ernste den scherzhaften Titel ‚Königin‘,“ versammelten an bestimmten Abenden uneingeladen glänzende schöngeistige Cirkel in ihren Häusern, die auch der Kaiser mit besonderer Vorliebe besuchte. Die Fürstin Bagration hatte einen ganz russischen Salon, zu ihr kam Alexander am häufigsten. Graf de la Garde giebt von der Fürstin eine so reizende Schilderung in seinen Memoiren, daß wir sie im Interesse moderner Salondamen hier folgen lassen:
„Die Fürstin Bagration, Gemahlin des Feldmarschalls, strahlte im Glanze aufblühender Schönheit, man bewunderte ihr liebliches Gesicht, Alabaster mit Rosengluth durchleuchtet; schlug sie ihre Augen zu Boden, so glich sie einer Madonna, blickte sie auf, so erschien sie königlich gebietend. Nie machte sie sich zum Mittelpunkt der Gesellschaft, sondern war stets darauf bedacht, ihren Gästen die bestmögliche Geltung zu verschaffen. Durch den Zauber ihres Geistes und ihrer Manieren schien sie bestimmt, der russischen Aristokratie in Wien den höchsten Glanz zu verleihen.“
Es ist nothwendig, Alexander’s Freundschaft für zwei berühmte geistreiche Frauen zu erwähnen. Die erste ist Frau von Staël-Holstein, Tochter des Finanzminister Necker, die Freundin des Schriftstellers Benjamin Constant de Rebeque, die Verfasserin der „Corinna“ und der „Delphine“. 1812 gab er ihr eine Zufluchtsstätte in Petersburg, da der übrige Continent ihr seit Napoleon’s Verfolgung keinen sicheren Aufenthalt bot. Der Kaiser schätzte sie aufrichtig, doch bis zur Liebe ging seine Empfindung nicht. Der schöne Alexander hat nie eine Häßliche geliebt!
Die andere geistreiche Freundin war Julie Freifrau von Krüdener, geborene von Vietinghoff aus Curland. Eine ehemals ziemlich leichtsinnige Weltdame, bekannt durch ihren Roman „Valerie“, in dem die Liebe als ein Triumph weiblicher Eitelkeit gefeiert wird, hatte sie nach ihrem vierzigsten Lebensjahre eine mystisch-religiöse Richtung angenommen. Uebrigens war sie in ihrer Art keine Heuchlerin, sondern durchdrungen von der Nichtigkeit der Welt. Sie blieb bis zum letzten Athemzuge eine Kokette, nicht aus Grundsatz, sondern weil es einmal ihre Natur war. Unter ihrer Einwirkung stiftete Alexander die heilige Allianz. Keine Handlung charakterisirt den Kaiser so, wie diese, es war das Praktischwerden seiner religiös-romantischen Politik, sehr viel guter Wille, wahre Frömmigkeit, auch etwas Effecthascherei und persönliche Eitelkeit dabei.
Alexander stiftete mit Frau von Krüdener zusammen in Paris im Jahre 1815 eine Art religiösen Club, den er trotz der vielfachen Zerstreuungen des Pariser Lebens viel besuchte. Man nimmt an, daß er neben der Verehrung für den Geist und die Richtung der berühmten Frau einem persönlichen Gefühl nicht ganz fremd gewesen ist. Frau von Krüdener vergötterte ihn. Die Frau von vierzig Jahren besaß noch jugendliche Lebendigkeit. Wenn sie Abends ihren kaiserlichen Freund empfing, lag sie auf den Knieen im langen weißen Kleide vor einem kleinen Altar; das Zimmer, matt erleuchtet durch dicke Altarkerzen, war mit purpurrothem Stoff ausgeschlagen. Die blonden Haare, den Nacken überfluthend, die wunderbar schönen blauen Augen verzückt empor gerichtet, soll sie für den Beschauer noch sehr reizend gewesen sein. Sie nannte ihren Beschützer einen weißen Engel und hat viel dazu beigetragen, den poetischen Nimbus des mächtigen Zaren zu erhöhen. Später beging sie eine Indiscretion mit Briefen, die den Kaiser tief verwundete; er wandte sich von ihr, sie setzte Alles daran, eine Erklärung herheizuführen, es gelang ihr auch, seine scheinbare Versöhnung zu erringen, doch ihr Zauber war gebrochen.
Vielfach ist der wohlmeinende Alexander gekränkt und mißverstanden worden. Sein schon in den glücklichsten Lebenszeiten zur Melancholie sich neigender Sinn wurde mehr und mehr verdüstert. Er hatte ernstlich die Absicht, die Krone niederzulegen. Mit seiner Gemahlin versöhnte er sich vollständig, und beide faßten die Idee, ein zufriedenes Privatleben beginnen zu wollen, doch das Schicksal wollte es anders. Die Kaiserin Elisabeth erkrankte bedenklich, das Kaiserpaar reiste in’s südliche Rußland und nahm seinen Aufenthalt in Taganrog am asow’schen Meere. Hier starb der schöne begabte mächtige Alexander am 1. December 1825 an einer kurzen Erkältungskrankheit. Seine Gemahlin schrieb die denkwürdigen Worte an die Kaiserin-Mutter: „Unser Engel ist nicht mehr und ich lebe noch.“
Dies Wort der edelsten feinfühlendsten Frau legt das schönste Zeugniß für den Kaiser Alexander ab, er hatte die Blumenpracht der Schönheit in den verschiedensten Graden kennen gelernt, und kehrte doch zur einfachen, reinen Immortelle ehelicher Liebe zurück. Ein solcher Roman des Wiederfindens der Liebe in der Ehe wäre eine schöne Aufgabe für unsere Dichter.
Wilhelm Bauer, der hochbegabte Mann, welchem die Theilnahme unserer Leser in so großartiger Weise sich zugewandt, liegt seit Jahr und Tag hart an den Folgen seiner fast übermenschlichen Anstrengungen und Wagnisse darnieder. Eben mit der Ausführung eines unterseeischen Versuchbootes für den Starnberger See in königlichem Auftrag beschäftigt, zog sich Bauer durch rasche heftige Erkältung eine Lähmung beider Füße zu, in welcher sofort die Aerzte ein langwieriges Leiden mit gänzlicher Arbeitsunfähigkeit erkannten. Der Gebrauch von Wildbad brachte wohl Linderung, aber der lange Winter verschlimmerte den Zustand des armen Kranken so, daß er kaum eine Viertelstunde außer dem Bett zubringen kann und die Lähmung bereits auch drei Finger von jeder Hand ergriffen hat. Gleich nachdem König Ludwig von dem Mißgeschick Bauer’s unterrichtet worden, bestimmte er ihm für die nächsten drei Jahre eine Subvention von vierhundert Gulden jährlich aus der königlichen Cabinetscasse. Vom König von Würtemberg ist Bauer kostenfreie Aufnahme und Verpflegung in Wildbad zugesichert, falls er fähig sein wird, die Reise von München dorthin zu ertragen.
So ist der einst so kräftige Mann, mit einer Gesundheit, die unverwüstlich schien, von der Gicht bis zur Hülflosigkeit herabgebracht, als ob alle von ihm überstandenen Gefahren sich auf einmal zu rächen hätten.
Möge wenigstens Bauer’s Wunsch, noch einmal mit einer neuen That, mit dem fertigen unterseeischen Boote, an die Oeffentlichkeit treten zu können, ihm recht bald in Erfüllung gehen.
- ↑ Helmstädt, die gleich nach Einführung der Reformation gegründete, 1809 aber durch König Jerome von Westphalen aufgehobene Universität, bezeichnete man, ihrer Lage am Elme wegen, mit dem Namen „Elmathen“.