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Die Gartenlaube (1866)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193] No. 13.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Nie in ihrem ganzen Leben hatte Elisabeth eine so entsetzliche Veränderung in einem menschlichen Antlitz bemerkt, wie die, welche bei dem jähen Erscheinen von Fräulein von Quittelsdorf in Herrn von Walde’s Zügen vor sich ging. Auf der bleichen Stirn zeigte sich sofort eine starke blaue Ader, seine Augen sprühten und die Nasenflügel dehnten sich aus. Er stampfte heftig mit dem Fuße, und es sah aus, als habe er die größte Lust, die unwillkommene Störerin, die jetzt, ihr Kreppkleid hoch aufnehmend, sich durch die Büsche arbeitete, wieder dahin zurückzuschleudern, wo sie hergekommen war. Diesmal gelang es ihm nicht so rasch, Herr seiner innern Bewegung zu werden, vielleicht wollte er auch gar nicht, denn seine Augenbrauen falteten sich noch grimmiger, als Hollfeld hinter der Hofdame auftauchte. Bei dessen Erblicken schob Herr von Walde Elisabeth’s Arm heftig wieder in den seinigen und preßte ihn fest an sich, als solle sie ihm entrissen werden.

„Wie sehen Sie denn aus, Herr von Walde?“ rief Fräulein von Quittelsdorf, mitten in den Weg springend, „Sie machen uns ja wahrhaftig ein Gesicht, als wären wir Banditen, die es auf Ihr Leben oder mindestens auf Ihr kostbarstes Hab und Gut abgesehen hätten!“

Ohne ein Wort auf diese Ansprache zu erwidern, wandte er sich an seinen Vetter und fragte kurz: „Wo ist Helene?“

„Sie bekam plötzlich Angst vor dem weiten, unebenen Weg,“ entgegnete dieser, „und hat es vorgezogen, zu fahren.“

„Nun, ich denke, Du wirst es dem alten Grafen Wildenau nicht überlassen, Helenen aus dem Wagen zu helfen; ich begreife überhaupt nicht, wie Du als vielgetreuer Ritter den Hauptweg verlassen konntest … Einige rasche Schritte werden die Versäumniß ausgleichen, ich werde Dir nicht hinderlich sein,“ sagte Herr von Walde mit auffallend scharfer Stimme, während ein sarkastisches Lächeln um seine Lippen zuckte. Er trat mit Elisabeth seitwärts, um das Paar vorüberzulassen.

„Und warum sind Sie nicht auf dem Hauptweg geblieben, wenn man fragen darf?“ frug Fräulein von Quittelsdorf pikirt und schnippisch; sie war in diesem Augenblick bei Weitem mehr Kammerkätzchen, als Hofdame.

„Das können Sie erfahren; einfach, weil ich hoffte, auf diesem einsamen Weg der redseligen Zunge gewisser Damen zu entgehen,“ erwiderte Herr von Walde trocken.

„Hu, wie grob! … Gott behüte einen in Gnaden vor solch’ einem sauertöpfischen Geburtstagskind!“ rief die Hofdame sich schüttelnd und im komischen Entsetzen einen Schritt zurückprallend. „Es war sicher ein Mißgriff, daß wir heute nicht mit Leichenbittermienen, Citronen in den Händen und bis über die Nase in schwarzen Krepp gewickelt erschienen sind.“

Sie hing sich schmollend wieder an Hollfeld’s Arm und schob ihn vorwärts; allein es hatte den Anschein, als wolle dieser unerhörter Weise und vielleicht zum ersten Male in seinem Leben seinem Vetter trotzen. Langsam, wie ein Lebensmüder, schritt er weiter. Er sah angelegentlich rechts und links in die Büsche, als beschäftige ihn jeder Stein, jede vorbeihuschende Eidechse; dabei knüpfte er ein Gespräch mit seiner Begleiterin an; ihre Antworten waren scheinbar von großem Interesse für ihn, denn er blieb sogar einigemal stehen, um keines ihrer Worte zu verlieren.

Herr von Walde murmelte etwas zwischen den Zähnen, Elisabeth konnte es nicht verstehen, aber der feindselige Blick, den er auf seinen Vetter schleuderte, ließ sie errathen, daß er auf’s Aeußerste ergrimmt sei über dessen Gebahren. Mit ihr sprach er nicht mehr. Er wandte einmal langsam den Kopf nach ihr und sie fühlte, daß seine Blicke unverwandt auf ihr ruhten, allein es war ihr unmöglich, die Augen zu ihm aufzuschlagen. Hätte er nicht auf der Stelle sehen müssen, daß ihr ganzes Innere in Aufruhr war über jenen räthselhaften Glückwunsch, den er ihr mit tiefbewegter Stimme soufflirt hatte? … Er würde mittels eines einzigen Blickes errathen haben, was in ihr wogte und stürmte, und – sie mochte diesen Gedanken gar nicht ausdenken – infolge dieser Wahrnehmung seinen vielleicht sehr harmlos gemeinten Einfall bereuen. Es war eine natürliche Folge dieser Befürchtung, daß die Lider des jungen Mädchens sich noch tiefer senkten, als zuvor, und deshalb konnte sie auch nicht bemerken, wie ein leiser, unhörbarer Seufzer über die Lippen ihres Begleiters glitt, während der Groll aus seinen Zügen verschwand, um dem gewissen melancholischen Schatten über und zwischen den Augen Platz zu machen.

Ein schwacher, schnell hinsterbender Trompetenton, den ohne Zweifel die Ungeduld der auf der Galerie des Thurmes wartenden Musikanten hinausgeschickt hatte, verrieth die Nähe des Festplatzes. Bald summte und lärmte es, als ob ein großes Zigeunerlager in der Nähe sei; der Weg wurde breiter, hinter dem nächsten Buschwerk wogte ein buntes Gedränge, und plötzlich schmetterte eine wahre Salve von Posaunen- und Trompetentönen auf die Ankommenden herab. Elisabeth benutzte diesen Moment, ihren Arm leise aus dem Walde’s zu ziehen und sich unter die Gesellschaft zu mischen, die einen dichten Kreis um den Schloßherrn bildete, während Flora, als Dryade costümirt und von vier andern gleichdecorirten Waldnymphen umgeben, ihn in holprigen Hexametern im Waldrevier begrüßte.

[194] „Nun, der Walde hat wenigstens im geeigneten Moment seine aufgedrungene Dulcinea abzuschütteln gewußt, ich sehe die Kleine nicht mehr,“ flüsterte lächelnd die Oberhofmeisterin dem Grafen Wildenau zu, der neben ihr auf einem erhöhten Sitze unter den Eichen saß. „Der vergiebt es der Lessen und unserer vorwitzigen Hofdame nie und nimmer, daß er durch ihr einfältiges Arrangement gezwungen worden ist, dem kleinen Ding gegenüber einen Augenblick die Rolle des Ritters spielen zu müssen … Kindchen,“ wandte sie sich an Helene, die, zu ihrer Rechten sitzend, ihr getrübtes Auge suchend über den Menschenschwarm gleiten ließ, „wir müssen ihn nachher, wenn die dort drüben ihn freilassen, in unsere Mitte nehmen und Alles aufbieten, damit er den unerquicklichen Anfang des Festes vergißt.“

Helene nickte mechanisch mit dem Kopfe. Sie hatte offenbar nur die Hälfte von dem verstanden, was die alte Dame ihr zugeflüstert. Ihre kleine, verkrüppelte Gestalt, die ein schwerer, zartblauer Seidenstoff umhüllte, drückte sich hülflos und matt an die hohe Stuhllene, und ihre Wangen waren weißer, als der Seerosenkranz, der über ihrer Stirn lag.

Elisabeth hatte sich unterdeß im Gedränge wieder mit Doctor Fels und dessen Frau zusammengefunden. Letztere nahm das junge Mädchen sogleich bei der Hand, damit sie nicht wieder getrennt würden.

„Bleiben Sie noch so lange, bis man anfängt zu tanzen,“ meinte sie auf Elisabeth’s Aeußerung hin, daß vielleicht jetzt der passende Augenblick gekommen sei, wo sie sich unbemerkt entfernen und nach Hause gehen könne. „Ich verdenke es Ihnen gar nicht, wenn Sie die Gesellschaft sobald wie möglich zu verlassen wünschen,“ fügte sie lächelnd hinzu; „auch wir werden nicht lange bleiben, mir läßt die Sorge um meine Kleinen daheim keine Ruhe, und daß ich überhaupt hier bin, ist ein schweres Opfer, welches ich der Stellung meines Mannes bringe … Herr von Walde, dem Sie nun einmal heute durch das Loos angehören, tanzt nicht, er wird Sie gewiß frei geben, wenn der Tanz beginnt, denke ich.“

Der Menschenknäuel entwirrte sich plötzlich. Von der Zinne des Thurmes rauschte ein imposanter Marsch hernieder, und während die Herren schattige Plätze suchten, eilten die Damen nach den Büffets, um den Statuten des Festes gemäß das Beste für die Herren der Schöpfung herbeizutragen.

Herr von Walde schritt langsam über den Platz, er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und sprach mit dem Kreisgerichtsdirector Busch, der an seiner Seite ging.

„Mein bester Herr von Walde, nun kommen Sie zu uns!“ rief die Oberhofmeisterin zu ihm hinüber und streckte ihm in beinahe zärtlicher Weise die Hände entgegen. „Ich habe Ihnen ein reizendes Plätzchen reservirt .… Ruhen Sie hier aus auf den wohlverdienten Lorbeeren, die man Ihnen heute streut … Zwar sind sämmtliche junge Damen bereits durch das Loos gefesselt, aber hier unsere schönen, liebenswürdigen Waldnymphen sind bereit, Ihnen den Wein zu credenzen und von den Büffets herbeizutragen, was Ihr Herz begehrt.“

„Ihre Güte und Fürsorge rührt mich, Excellenz,“ entgegnete der Angeredete, „aber ich will nicht hoffen, daß Fräulein Ferber mich dem allgemeinen Mitleiden überlassen wird.“

Er sprach mit lauter Stimme und wandte sich um nach Elisabeth, die nicht sehr entfernt von ihm stand. Sie hatte jedes Wort gehört. Sofort schritt sie hinüber und stellte sich so ruhig und fest an seine Seite, als sei sie durchaus nicht gewillt, auch nur ein Haarbreit von ihrer Verpflichtung an Andere abzutreten. Es flog in diesem Augenblick etwas, wie ein freudiges Erschrecken, über sein Gesicht. Sein Auge begegnete aufleuchtend dem ihren, das, unbeirrt durch die Umgebung, lächelnd zu ihm aufsah. Er schien unerhörter Weise ganz und gar zu vergessen, daß die Frau Oberhofmeisterin ein „reizendes Plätzchen“ für ihn reservirt hatte, denn nach einer leichten Verbeugung gegen die Excellenz und die sie umringenden, willfährigen jungen Damen reichte er Elisabeth den Arm und führte sie über den Platz nach einer dickstämmigen Eiche, unter deren Schatten Doctor Fels soeben für sich und seine Frau einen Sitz zurecht machte.

„Nein, diese Sache geht denn doch ein wenig zu weit!“ wandte sich die Oberhofmeisterin entrüstet an den Grafen Wildenau und die sehr verblüfft dastehenden fünf Waldgrazien. „Er sucht das ganze Fest zu persifliren, indem er die Anwesenheit der kleinen Person in so auffallender Weise markirt… Jetzt fange ich an, mich über ihn zu ärgern… Niemand sieht es ja besser ein, als ich, daß er vollkommen Recht hat, wenn er zürnt; aber ich meine auch, er dürfte sich nicht so weit hinreißen lassen, die Rücksicht für die übrigen Anwesenden zu vergessen, die ja völlig schuldlos sind an dem geistlosen Machwerk der Lessen und der Quittelsdorf… Ich wette, schließlich bildet sich das Gänschen dort auch noch ein, das geschehe Alles nur um ihrer schönen Augen willen.“

Alle zehn Augen der schönen, liebenswürdigen Dryaden schleuderten a tempo einen vernichtenden Blick auf Elisabeth, die in diesem Augenblick unbefangen nach dem Marketenderzelt ging und bald darauf mit einer Flasche Champagner und vier Gläsern nach der Eiche zurückkehrte, wo sich Herr von Walde und das doctorliche Ehepaar bereits einträchtig hinter einem Tisch niedergelassen hatten.

„Unsere sämmtlichen Damen haben heute wahre Blumengärten auf dem Scheitel,“ sagte Frau Fels, als das junge Mädchen an den Tisch trat, „nur Fräulein Ferber geht schmucklos wie Aschenbrödel; das leide ich nicht.“

Sie zog aus dem großen Bouquet, das sie in der Hand hielt, zwei Rosen und stand auf, um Elisabeth mit denselben zu schmücken.

„Halt!“ rief Herr von Walde und hielt ihre Hand zurück. „In diesem Haar mag ich nur die Orangenblüthe sehen.

„Die ziemt eigentlich nur den Bräuten,“ meinte die Doctorin unbefangen.

„Ja, eben deshalb,“ entgegnete er, und so ruhig, als habe er etwas gesagt, das sich ganz von selbst verstehe, füllte er die Gläser und wandte sich an Fels.

„Stoßen Sie mit mir an, Doctor,“ sagte er. „Ich trinke auf das Wohl meiner Retterin, der Goldelse auf Gnadeck!“

Der Doctor schmunzelte und stieß kräftig an. Auf dies Signal näherte sich eine Schaar Herren mit den Gläsern in der Hand.

„Schön, meine Herren, daß Sie kommen!“ rief ihnen der Schloßherr entgegen, „trinken Sie mit mir auf die Erfüllung meines höchsten Wunsches!“

Ein Hoch schallte durch die Lüfte, und die Gläser klangen lustig an einander.

„Scandalös!“ rief die alte Excellenz und ließ die Gabel mit einem saftigen Stück marinirten Aales auf den Teller fallen. „Dort drüben geht es ja wahrhaftig zu wie in einer Studentenkneipe… Ich bin ganz consternirt! Welch unanständiger Lärm! Da schreit ja wirklich der Pöbel auf den Straßen manierlicher, wenn er unseren Durchlauchten ein Hoch zu bringen sich erlaubt. … Apropos, meine Liebe,“ wandte sie sich an Helene, „ich bemerke mit großem Erstaunen, daß Ihr Herr Bruder ziemlich familiär mit dem Doctor Fels verkehrt.“

„Er schätzt ihn hoch als einen durchaus rechtlichen Mann mit bedeutendem Wissen,“ erwiderte Helene.

„Das ist Alles recht schön und gut, aber er weiß sicher nicht, daß dieser Mensch gegenwärtig sehr übel angeschrieben ist an unserem Hofe. Denken Sie sich, er hat die unbegreifliche Kühnheit gehabt, unserer allgeliebten Prinzessin Katharine –“

„Ja, ich kenne diese Geschichte,“ unterbrach Fräulein von Walde die Entrüstete, „mein Bruder hat sie mir vor einigen Tagen selbst mitgetheilt.“

„Wie, er weiß das und berücksichtigt so wenig die Stimmung des Hofes, der ihn stets ausgezeichnet hat? … Unglaublich! … Ich versichere Ihnen, liebes Kind, mir schlägt schon jetzt das Gewissen, und ich werde bei Ankunft unserer Herrschaften sicher die Augen nicht aufschlagen können, in dem schuldigen Bewußtsein, daß ich mit diesem unmanierlichen Menschen hier zusammengekommen bin.“

Helene zuckte mit den Achseln und überließ die Oberhofmeisterin ihren Gewissensbissen und einem frisch gefüllten Glas Champagner, mit welchem sie sich ohne Zweifel jetzt schon für jenen großen, gefürchteten Ankunftsmoment Muth und Fassung einzuflößen suchte.

Fräulein von Walde litt neben der Dame alle jene Qualen, die uns so manchmal die Convenienz auferlegt; sie mußte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit auf tausend Nichtigkeiten hören und antworten, während ein heißer Schmerz ihr Inneres zerriß. [195] Aber auch nur eine Frau wie die Oberhofmeisterin, die das höchste Erdenglück in einem Gnadenblick aus fürstlichen Augen suchte und fand, eine Person, deren ganze Seelenthätigkeit sich darauf beschränkte, Schildwache vor dem Reich der Etikette zu stehen und den Nimbus ihrer sauer genug errungenen Excellenz ängstlich zu behüten, nur sie konnte wiederholt in das Gesicht der jungen Dame sehen, ohne die tiefe innere Erregung in den Zügen zu bemerken.

Hollfeld war nicht allein so unaufmerksam gewesen, Helenen bei ihrer Ankunft auf dem Festplatz der Fürsorge des Grafen Wildenau zu überlassen, er hatte auch, als er endlich erschienen war, kein Wort der Entschuldigung für seine Säumniß gehabt und mürrisch und zerstreut hatte er sich endlich an ihre Seite gesetzt. Sie fand ihn seltsam verändert, und ihr unruhiges Herz, ihr Kopf zermarterten sich in Vermuthungen. Zuerst folgte ihr argwöhnisches Auge Cornelien, die ihrer Quecksilber-Natur gemäß wie ein Irrwisch von Gruppe zu Gruppe flatterte und unaufhörlich plauderte und lachte. Ueber diesen Punkt war sie jedoch bald beruhigt; denn es gelang ihr nicht ein einziges Mal, einen Blick Hollfeld’s auf dem Weg nach der koketten, aber anmuthigen Hofdame aufzufangen. Ihre besorgten Fragen wurden einsilbig beantwortet. Sie ließ durch einen Diener Speisen herbeitragen und legte Hollfeld selbst vor, aber er rührte keinen Bissen an und trank nur rasch hintereinander einige Gläser starken Weines, den er sich am Marketenderzelt einschenken ließ. Dies nachlässige Benehmen, das sie zum ersten Mal an ihm bemerkte, that ihr unbeschreiblich wehe. Sie schwieg endlich und ließ wie ermüdet die Lider über die Augen sinken – Niemand bemerkte die zwei hellen Tropfen, die an ihren Wimpern hingen.

Mitten in den Toast-Jubel hinein, der augenscheinlich bedeutend erhöht wurde dadurch, daß der sonst so ernste, schweigsame Schloßherr ihn veranlaßt hatte, fiel plötzlich ein Schatten; wenigstens schien es Elisabeth, als verkünde das Gesicht des Hausverwalters Lorenz, das auf einmal zwischen den Baumstämmen in der Nähe auftauchte, nichts Gutes. Der alte Mann gab sich die größtmögliche Mühe, um die Aufmerksamkeit seines Herrn auf sich zu lenken, ohne daß es die Anderen bemerken sollten. Endlich gelang es ihm. Herr von Walde warf einen raschen Blick hinüber, stand auf und ging mit dem alten Diener tiefer in das Gestrüpp, während die anderen Herren ihre früheren Plätze wieder aufsuchten. Er kehrte sehr bald mit bleichem Gesicht zurück.

„Ich habe eine erschütternde Nachricht erhalten, in Folge deren ich sofort abreisen muß,“ sagte er mit gedämpfter Stimme zu dem Doctor. „Herr von Hartwig in Thalleben, ein alter Freund von mir, ist auf einer Spazierfahrt verunglückt, die Verletzung ist tödtlich; wie man mir schreibt, kann er höchstens noch einen Tag leben… Er beruft mich zu sich, um die Sorge für seine unmündigen Kinder in meine Hände zu legen… Theilen Sie der Baronin Lessen meine Abreise und deren Veranlassung mit; sie soll dafür Sorge tragen, daß das Fest nicht gestört werde. Meine Schwester und die Gesellschaft sollen in dem Wahn bleiben, daß ich in einer Geschäftsangelegenheit abberufen worden bin und möglicherweise bald wieder nach dem Festplatz zurückkehre. Man wird mich nicht mehr vermissen, sobald der Tanz begonnen hat.“

Der Doctor entfernte sich sogleich, um die Baronin aufzusuchen. Seine Frau war schon vor einer Weile nach dem Büffet gegangen, und so stand Elisabeth in diesem Augenblick Herrn von Walde allein gegenüber. Er näherte sich ihr rasch.

„Ich hatte geglaubt, wir würden heute nicht auseinandergehen ohne daß der Schluß des Glückwunsches ausgesprochen worden wäre,“ sagte er, während sein Auge ihren ausweichenden Blick aufzufangen suchte. „Ich gehöre nun schon einmal zu jenen Glückspilzen, denen noch in der letzten Stunde ein Unstern das gelobte Land verschließt.“ Er bemühte sich, diesen Worten einen humoristischen Anstrich zu geben, aber sie klangen deshalb nur um so bitterer. „Diesmal soll er mich jedoch zäher finden, sprach er in entschlossenem Tone weiter, „fort muß ich, das läßt sich nicht ändern, aber die Erfüllung dieser schweren Pflicht kann mir sehr erleichtert und versüßt werden durch ein Versprechen Ihrerseits… Wissen Sie noch die Worte, die Sie mir vorhin nachgesprochen haben?“

„Ich vergesse nicht so schnell.“

„Ah, das klingt schon bedeutend ermuthigend für mich! … Es existirt ein Märchen, in welchem ein einziges Wort ein Reich voll unermeßlicher Schätze und lieblicher Wunder erschließt; der Schluß jenes Glückwunsches ist auch ein solches Wort… Wollen Sie mir behülflich sein, daß es ausgesprochen werde?“

„Wie könnte ich Ihnen zu Schätzen und Reichthümern verhelfen?“

„Das ist meine Sache… Ich bitte Sie ernstlich, in diesem Augenblick keinen weiteren Ausweichungsversuch zu machen; denn die Zeit drängt… Ich frage Sie also, wollen Sie in den Tagen, die ich ausbleiben werde, sich bestreben, den Anfang des Glückwunsches in Erinnerung zu behalten?“

„Ja.“

„Und werden Sie bereit sein, wenn ich zurückkehre, das Ende zu hören?“

„Ja.“

„Gut, ich werde mitten in Trübsal und Leiden ein Stück blauen Himmels über mir behalten, und Ihnen – möge unterdeß mein guter Engel den Namen jenes Wunderreiches zuflüstern… Leben Sie wohl!“

Er reichte ihr die Hand und schritt hinter dem Thurm weg auf den nächsten Weg, der nach dem Schlosse führte.

Elisabeth blieb eine Weile in einer Art süßer Betäubung stehen, aus welcher sie erst durch die Doctorin geweckt wurde, die mit Tellern und Schüsseln beladen zurückkehrte und nun sehr erstaunt war, keinen der Herren vorzufinden. Das junge Mädchen theilte ihr das Geschehene mit. Bald darauf kam auch der Doctor und erzählte, die Frau Baronin sei sehr pikirt gewesen, daß ihr Cousin es nicht der Mühe werth gehalten habe, sie persönlich von dem Vorfall in Kenntniß zu setzen. Der unglückliche Doctor hatte einige Bitterkeiten der gereizten Dame in den Kauf nehmen müssen, aber er war so unhöflich, sich dadurch ganz und gar nicht in seiner Gemüthsruhe stören zu lassen. Er setzte sich behaglich hinter die vollen Schüsseln und aß mit vortrefflichem Appetit.

Währenddem ging Elisabeth hinüber zu Fräulein von Walde, um sich zu beurlauben. Es hielt sie ja hier nichts mehr zurück. Sie hatte das lebhafte Verlangen, mit ihren Gedanken allein zu sein, jedes Wort, das er zu ihr gesprochen, sich noch einmal ungestört zurückrufen und über den Sinn desselben nachdenken zu können.

„Sie wollen gehen?“ fragte Helene, als das junge Mädchen hinter ihren Stuhl trat und sich empfahl. „Was meint mein Bruder dazu?“

„Rudolph ist in einer dringenden Geschäftssache nach dem Schlosse gerufen worden,“ antwortete die Baronin, die eben erschien, schnell an Elisabeth’s Stelle, „Fräulein Ferber ist mithin der Verpflichtung des Hierbleibens enthoben.“

Helene warf der Sprecherin einen mißbilligenden Blick zu. „Das sehe ich noch nicht ein,“ sagte sie, „die Geschäfte werden doch wahrhaftig nicht der Art sein, daß er gar nicht wieder hierher zurückkehrt.“

„Ich denke nicht,“ erwiderte die Baronin zögernd, „aber seine Rückkehr kann möglicherweise sehr spät erfolgen… Fräulein Ferber wird sich voraussichtlich unterdeß sehr langweilen in einem ihr völlig unbekannten Kreise, und –“

„Hat mein Bruder Sie frei gegeben?“ wandte sich Fräulein von Walde an Elisabeth, ohne die Baronin ausreden zu lassen.

„Ja,“ antwortete das junge Mädchen, „und ich bitte auch Sie, mir zu erlauben, daß ich mich entfernen darf.“

Während dieses kurzen Wortwechsels bog sich die Oberhofmeisterin zurück und musterte Elisabeth von Kopf bis zu Füßen mit ihren kalten, stechenden Augen; Hollfeld aber stand auf und entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Fräulein von Walde sah ihm mit einer Art von schmerzlichem Unwillen nach und antwortete im ersten Augenblick gar nicht auf Elisabeth’s Bitte; endlich reichte sie ihr sichtlich zerstreut die Hand und sagte: „Nun, da gehen Sie, liebes Kind, und haben Sie vielen Dank für Ihre heutige freundliche Mitwirkung.“

Elisabeth verabschiedete sich noch rasch von Doctor Fels und Frau und schritt dann mit erleichtertem Herzen in den Wald hinein.

Sie athmete auf, als das Gewühl hinter ihr lag, als ein rauschender Accord den Walzer schloß, dessen jubelnde Töne sie noch eine Weile begleitet hatten… Jetzt durfte sie sich ungestört dem Zauber hingeben, der ihrem ganzen Denken und Sinnen einen süßen Bann auferlegte, der sie zwang, immer wieder auf jene längst verhallte Stimme zu hören, die mit ergreifendem Klange ihr Herz bestrickte und vor welcher alle Vorsätze ihres [196] Mädchenstolzes, alle Vorsichtsmaßregeln des Verstandes haltlos verwehten… Sie dachte daran, wie sie zuerst ihm widerstandlos gefolgt war, obgleich ihr tief gekränktes Ehrgefühl ihr gebot, den Kreis, in welchem sie so unwillkommen erschien, zu verlassen; sie empfand noch einmal jene Glückseligkeit, mit der sie an seine Seite geeilt war, als er es vor allen Anwesenden betont hatte, daß er ihr für heute angehöre und keine Stellvertreterin für sie wolle. Er hätte sie bis an das Ende der Welt führen können, sie wäre ihm blindlings gefolgt mit unerschütterlichem Vertrauen und der vollsten Hingabe ihres ganzen Wesens… Und ihre Eltern? … Jetzt begriff sie, wie eine Jungfrau das Vaterhaus verlassen könne, um einem Manne anzugehören, dessen Lebensbahn bis dahin, fernab von der ihrigen, über vielleicht ganz entgegengesetztes Gebiet gelaufen war; der nichts wußte von all’ jenen Neigungen, Beziehungen, großen und kleinen Ereignissen, durch die jede Faser ihres bisherigen Lebens mit dem ihrer gesammten Familie innig verwebt wurde. Noch vor zwei Monaten war ihr das ein unlösbares Räthsel gewesen.

Sie hatte einen Weg betreten, den sie oft in Miß Mertens’ Gesellschaft zurückgelegt hatte. Er mündete, in zahllosen Windungen schmal durch das Dickicht laufend, an der Chaussee, die den Wald durchschnitt und eine Strecke lang die Grenze zwischen dem Fürstlich L.’schen Forstgebiet und dem des Herrn von Walde bildete. Jenseits der Chaussee, dem Fußweg gegenüber, öffnete sich die breite Fahrstraße, die nach dem Forsthause lief.

In ihre Träumerei versenkt, hatte Elisabeth nicht gehört, daß schon längst rasche Schritte ihr folgten; deshalb erschrak sie jetzt doppelt, als dicht in ihrer Nähe ihr Name von einer männlichen Stimme genannt wurde – Hollfeld stand hinter ihr. Sie ahnte, was ihn hierher führte, und fühlte ihr Herz klopfen, aber sie faßte sich schnell und trat ruhig seitwärts, um ihn auf dem schmalen Weg vorüber zu lassen.

„Nein, so ist es nicht gemeint, Fräulein Ferber,“ sagte er lächelnd und in einem eigenthümlich vertrauten Ton, der sie tief verletzte. „Ich wollte mir erlauben, Sie zu begleiten.“

„Ich danke,“ entgegnete das junge Mädchen ruhig, aber zurückweisend, „es wäre eine nutzlose Aufopferung Ihrerseits, denn ich gehe stets am liebsten allein durch den Wald.“

„Und kennen Sie keine Furcht?“ fragte er, so nahe an sie heraustretend, daß sein heißer Athem ihre Wange berührte.

„Nur die vor ungebetener Gesellschaft,“ entgegnete sie, mühsam ihre Entrüstung bekämpfend.

„Ah, das ist wieder einmal jene hoheitvolle Haltung, hinter der Sie sich mir gegenüber stets verschanzen; weshalb? nun, das weiß ich mir schon zurechtzulegen … Heute jedoch werde ich sie nicht so respectiren, wie ich sonst folgsamer Weise thue – ich muß Sie sprechen.“

„Und ist das so wichtig, daß Sie um deswillen Ihre Freunde und das Fest verlassen?“

„Ja, es ist ein Wunsch, der mit meinem Leben zusammenhängt, der mich Tag und Nacht verfolgt. Ich bin krank und elend, seit ich fürchte, er könne sich vielleicht nie verwirklichen – ich –“

Elisabeth war unterdeß immer rasch vorwärts geschritten. Es wurde ihr unsäglich unheimlich diesem Menschen gegenüber, aus dessen Augen jetzt jene Leidenschaft unverhohlen loderte, die ihr schon einen heftigen Abscheu eingeflößt hatte, als sie noch beherrscht wurde. Sie fühlte aber auch, daß Ruhe in diesem Augenblick ihre einzige Waffe sei, und deshalb unterbrach sie ihn, während der schwache Versuch eines Lächelns um ihre Lippen zuckte.

„Ach,“ sagte sie, „unsere Clavierübungen sind also vom besten Erfolg gewesen, Sie wünschen meinen Beistand auf dem Gebiet der Musik, wenn ich recht verstehe?“

„Sie verstehen mich absichtlich falsch,“ rief er zornig.

„Nehmen Sie das als eine Art von Schonung meinerseits, ich müßte Ihnen sonst Dinge sagen, die Sie vielleicht noch weniger zu hören wünschen,“ erwiderte Elisabeth ernst.

„Sprechen Sie immerhin, ich kenne die Frauen genug, um zu wissen, daß sie es lieben, eine Zeit lang die Maske der Kälte und Zurückweisung vorzuhalten … die Beglückung ist dann um so süßer. Ich gönne Ihnen die Freude dieser unschuldigen Koketterie, aber dann –“

Elisabeth stand einen Augenblick starr und sprachlos vor dieser Unverschämtheit; solch’ häßliche Worte hatten noch nie ihr Ohr berührt. Scham und Entrüstung trieben ihr das Blut in das Gesicht und sie suchte vergebens nach Worten, um diese beispiellose Frechheit zu strafen. Er faßte ihr Schweigen anders auf.

„Sehen Sie,“ rief er triumphirend, „daß ich Sie durchschaut habe! … Das Erröthen des Ertapptseins steht Ihnen unvergleichlich! … Sie sind schön wie ein Engel; noch nie ist mir eine solche Nymphengestalt vor die Augen gekommen, wie die Ihre … Sie wissen recht gut, daß Sie mich bei unserer ersten Begegnung bereits zum Sclaven gemacht haben, der zu Ihren Füßen schmachtet … Welcher Nacken! … Welche Arme! und das Alles haben Sie bisher neidisch verhüllt.“

Ein Ausruf der höchsten Aufregung entrang sich Elisabeth’s Lippen.

„Wie können Sie es wagen,“ rief sie laut und heftig, „mich so zu beleidigen! … Haben Sie mich vorhin nicht verstanden, so sage ich Ihnen jetzt klar und deutlich, daß mir Ihre aufgedrungene Gesellschaft verhaßt ist und daß ich allein sein will.“

„Bravo, der befehlende Ton gelingt Ihnen vortrefflich!“ sagte er spöttisch. „Man sieht doch gleich, daß von der Mutter her ein Tröpflein adlig Blut in Ihren Adern rollt … Was habe ich Ihnen denn gethan, daß Sie so plötzlich die Entrüstete spielen? Ich habe Ihnen das Compliment gemacht, daß Sie schön sind, das aber lassen Sie sich des Tags unzählige Mal von Ihrem Spiegel sagen, und ich bezweifle sehr, daß Sie ihn dafür zertrümmern.“

Elisabeth wendete ihm verachtungsvoll den Rücken zu und schritt hastig weiter. Er hielt sich an ihrer Seite und schien durchaus nicht gesonnen zu sein, auf einen endlichen Sieg zu verzichten.

Sie hatten eben die Chaussee erreicht, als eine Equipage vorüberbrauste. Ein Männerkopf bog sich aus dem Wagenfenster, fuhr aber jäh, wie erschrocken, zurück – es war Herr von Walde. Noch einmal sah er heraus nach dem Waldweg, als ob er sich überzeugen wolle, daß er recht gesehen habe, dann verschwand der Wagen bei einer scharfen Biegung der Chaussee.

Elisabeth hatte unwillkürlich die Arme nach dem davonrollenden Wagen ausgestreckt, als möchte sie ihn zurückhalten; er, der da drinnen saß, wußte ja um ihre Abneigung gegen Hollfeld; nach ihrer vor wenig Stunden abgegebenen Erklärung durfte er keinen Augenblick im Zweifel sein, daß sie sich nicht freiwillig in dessen Gesellschaft befand. Konnte er nicht für einen Moment seine Reise unterbrechen, um sie von dem Zudringlichen zu befreien?

Hollfeld hatte ihre Bewegung gesehen.

„Ei,“ rief er unter boshaftem Lachen, „das sah ja beinahe zärtlich aus! … Müßte ich nicht an die siebenunddreißig Sommer meines Vetters denken, wahrhaftig, ich könnte eifersüchtig werden! … Ah, Sie dachten wohl, er solle sofort aussteigen und Ihnen galant den Arm bieten, um Sie nach Hause zu führen? Sie sehen, er ist zu tugendhaft, er verzichtet auf dies Glück und erfüllt lieber eine sogenannte heilige Pflicht. Er ist ein Eisblock, für den die Reize des schönen Geschlechts vergebens in der Welt sind … Daß er heute ausnahmsweise ritterlich gegen Sie war, das galt durchaus nicht Ihren bezaubernden Augen, schöne Gold-Else, es geschah lediglich, um meine Mama ein wenig zu ärgern.“

„Und scheuen Sie sich nicht, den Mann, dessen Gastfreundschaft Sie unausgesetzt genießen, einer so gemeinen Denkungsweise zu beschuldigen?“ rief Elisabeth empört. Sie hatte sich zwar vorgenommen, ihm mit keiner Sylbe mehr zu antworten, in der Hoffnung, daß sie ihn mit diesem Schweigen langweilen und endlich verscheuchen würde, allein die Art und Weise, wie er sich über Herrn von Walde äußerte, brachte ihr ganzes Innere in den heftigsten Aufruhr.

„Gemein?“ wiederholte er. „Sie reden in sehr starken Ausdrücken. Ich nenne es eine kleine Revanche, zu der er vollkommen berechtigt war… Und was die Gastfreundschaft betrifft, so genieße ich jetzt schon einfach von dem, was später doch einmal mein Eigenthum sein wird; ich sehe nicht ein, wie ich um deswillen das Urtheil über meinen Vetter ändern soll … Uebrigens bin ich derjenige, welcher sich aufopfert und Dank verdient; rechnen Sie meine Hingebung und Aufmerksamkeit für Fräulein von Walde gar nicht?“

„Es mag in der That eine schwere Aufgabe sein, hie und da einige Blumen zu pflücken, um sie einer armen Kranken zu bringen,“ sagte Elisabeth ironisch.

[197]

In den Katakomben Roms.
Nach der Natur aufgenommen von Blaschnik in Rom.

[198] „O, Sie sind über diese kleinen Huldigungen mißvergnügt, wie ich zu meiner großen Befriedigung bemerke,“ rief er triumphirend. „Haben Sie im Ernst geglaubt, ich könne da zärtlich fühlen, wo mein Schönheitssinn so stark beleidigt wird?… Ich schätze mein Mühmchen, aber deswegen vergesse ich doch keinen Augenblick, daß sie ein Jahr älter ist, als ich, einen Höcker und eine schiefe Hüfte hat und –“

„Abscheulich!“ unterbrach ihn Elisabeth, außer sich vor Entrüstung, und sprang hinüber auf die Chaussee. Er folgte ihr.

„‚Abscheulich‘ sage auch ich,“ fuhr er fort, indem er gleichen Schritt mit ihr zu halten suchte, „besonders, wenn ich Ihre Hebegestalt neben ihr sehe … Und nun laufen Sie nicht so, schließen Sie lieber Frieden mit mir und verzögern Sie nicht muthwillig das Glück, von welchem ich Tag und Nacht träume.“

Er legte plötzlich den Arm um ihre Taille und zwang sie, stehen zu bleiben, sein glühendes Gesicht mit den funkelnden Augen näherte sich dem ihrigen. Im ersten Augenblick starrte sie ihn an, wie gelähmt oder bewußtlos, dann flog ein Schauder durch ihre Glieder, und mit einer Gebehrde des tiefsten Abscheues stieß sie ihn von sich.

„Wagen Sie es nicht noch einmal, mich zu berühren!“ rief sie mit weithinklingender Stimme. In dem Augenblick scholl lautes Hundegebell in der Nähe. Elisabeth wandte freudig erschrocken den Kopf nach der Richtung.

„Hector, hierher!“ rief sie in den Wald hinein. Gleich darauf stürzte der Jagdhund des Oberförsters aus dem Dickicht und sprang mit einem Freudengeheul an ihr in die Höhe.

„Mein Onkel ist in der Nähe,“ wandte sie sich jetzt ruhig und kalt an den verdutzt Dastehenden, „er kann jeden Augenblick hier sein … Sie werden sicher nicht wünschen, daß ich ihn bitte, mich von Ihrer Begleitung zu befreien; ich rathe Ihnen deshalb, freiwillig den Rückweg anzutreten.“

Wirklich blieb er feige stehen, während sie sich mit dem Hunde entfernte, aber er stampfte wüthend mit dem Fuße auf und verwünschte seine rasende Leidenschaft, die ihn unvorsichtig gemacht hatte. Daß er dem jungen Mädchen in Wirklichkeit einen Widerwillen einflößen könne, das fiel ihm nicht im Entferntesten ein, ihm, dem Vielbegehrten, von dem ein karges Wort, eine Aufforderung zum Tanze in der gesammten L.’schen Damenwelt Sensation machte und oft zur Fackel der Zwietracht wurde, ihm konnte ein solcher Gedanke gar nicht kommen. Es lag viel näher, daß die Forstschreiberstochter eine Kokette war, die ihm die Eroberung so schwer wie möglich zu machen suchte. An die jungfräuliche Reinheit der Seele, die Elisabeth’s ganze Erscheinung so unwiderstehlich machte und deren Zauber gerade auf ihn, wenn auch von ihm unverstanden, hinreißend wirkte – an jenes keusche, unentweihte innere Leben glaubte er nicht, und deshalb konnte er auch nie zu dem Schluß gelangen, daß das junge Mädchen instinctmäßig vor seiner innern Zerrüttung und Verdorbenheit zurückbebe. Er machte sich heftige Vorwürfe, zu plump und stürmisch gewesen zu sein, wodurch er das heißbegehrte Ziel selbst wieder in unbestimmte Ferne gerückt hatte. Ueber eine Stunde lief er im Walde umher, um Herr seiner Aufregung zu werden, denn die dort drüben auf dem Festplatze, von welchem die heitern Klänge der Tanzmusik zu ihm herüberschallten, durften ja nie erfahren, daß hinter der interessant kalten, verschlossenen Außenseite ein solcher Vulcan tobte.

Elisabeth war scheinbar festen Fußes schnell weiter geschritten. Sie hütete sich jedoch, rechts oder links zu sehen, in der Furcht, sein verhaßtes Gesicht könne plötzlich wieder neben ihr auftauchen. Endlich wagte sie es, stehen zu bleiben und sich umzusehen – er war verschwunden. Aufathmend lehnte sie sich an einen Baumstamm, um vorerst ihre Gedanken wieder zu sammeln, während Hector ruhig und mit klugem Blick vor ihr stehen blieb, als wisse er genau, daß er heute die Rolle ihres Beschützers spiele. Er hatte ohne Zweifel einen Spaziergang auf eigene Faust durch den Wald gemacht, denn von seinem Herrn war keine Spur zu sehen. Elisabeth fühlte jetzt erst, wie ihre Kniee zitterten. Ihr Schrecken, als Hollfeld gewagt hatte, sie zu umschlingen, war ein unbeschreiblicher gewesen. In ihrer unschuldigen Seele war nicht einmal der Gedanke an eine solche Rohheit aufgetaucht; deshalb hatte der plötzliche Angriff sie momentan starr gemacht vor Entsetzen. Sie vergoß schmerzliche Thränen der Scham, als Herrn von Walde’s Bild vor ihr aufstieg, nicht mit dem milden Ausdruck der letzten Stunden, sondern in seiner ganzen Strenge und Unnahbarkeit; sie glaubte nicht zu ihm aufblicken zu dürfen, weil jener Mensch sie berührt hatte. Ihre ganze Glückseligkeit lag zertrümmert zu ihren Füßen. Die unselige Begegnung mit Hollfeld hatte sie schonungslos in die Gegenwart zurückgeführt; seine Aeußerungen über Herrn von Walde, wenn auch niederträchtig und verleumderisch, hatten doch Vieles wieder wachgerüttelt, was sie sich einst als Steuer gegen ihre wachsende Neigung eingeprägt … Sie dachte an seinen unerschütterlichen Ahnenstolz, an die sich selbst vergessende Liebe zu seiner Schwester und an die Meinung Aller, daß er ein völlig kaltes Herz habe gegenüber dem andern Geschlecht … All’ die bunten, schimmernden Träume, die sie umflattert hatten auf dem Weg durch den stillen Wald, sie legten jetzt die Flügel zusammen und starben einer nach dem andern unter dem prüfenden Blick des erwachten Auges … Sie war sich ja jetzt nicht einmal klar, worin jene Glückseligkeit bestanden. Daß er heute eine wunderbar weiche Stimmung ihr gegenüber gezeigt und sie gegen den Hochmuth seiner Verwandten hochherzig in Schutz genommen hatte, konnte dies nicht Alles aus dem einen Gefühl einer strengen Gerechtigkeitsliebe stammen? Hatte er nicht auch Miß Mertens geschützt und großmüthig das Unrecht auszugleichen gesucht, das ihr unter seinem Dache widerfahren war? Und der Glückwunsch … an den Glückwunsch und sein noch ungelöstes Ende durfte sie freilich nicht denken, wenn nicht alle die Traumleichen ein fröhliches Auferstehen feiern sollten.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Gang durch die römische Unterwelt.


Der 23. November 1862 war einer der regnerischesten Tage, die über die alte Roma angebrochen, dennoch galt es trotz Schmutz und Nässe sich in die Campagna zu wagen, denn in den Katakomben von St. Callisto sollte an demselben Tage zum Gedächtniß der heiligen Cäcilie, deren Grab daselbst in der Capelle des heiligen Urban verehrt wird, Gottesdienst gehalten werden. Diese Feier lockt Fremde und Einheimische in sonst ungewohnter Menge auf die Via Appia, und ich schloß mich dem mehr neugierigen als andächtigen Pilgerzuge um so lieber an, da Cavaliere de Rossi, der berühmte Erforscher dieser Todtenwelt, an den ich von gewichtiger Seite empfohlen war, mir für diesen Tag seine Führung durch das seltsame Gräberlabyrinth zugesagt hatte. Die Katakombe liegt fast eine Miglie vor Porta S. Sebastiano. Der Weg dahin führt an den gewaltigsten Ueberresten einer dahingestorbenen großartigen Vergangenheit vorüber; wie überall in Rom, so wandeln wir auch hier auf der Spur der Todten und die öde, schweigende Campagna, einst der Schauplatz des reichsten und blühendsten Lebens der Welt, jetzt ein sumpfiges, fieberdunstiges Gefilde, sie trägt in ihrer stillen, erhabenen Trauer, wie kein zweiter Ort, den Stempel der Vergänglichkeit alles Irdischen; Grabmäler auf ihr, Gräber unter ihr.

Zu diesen unterirdischen Gräbern gehören die Katakomben, die wir heute besuchen. Aus einem einfachen Gemüsegarten führt eine neuerrichtete Holztreppe in diese Todtenstadt hinunter und wir befinden uns nun in einer Welt von Grabstätten, die mit ihren düstern Oeffnungen uns traurig entgegenstarren. Am heutigen Tage war es lebhaft und bewegt da unten, eine bunte Gesellschaft drängte sich durch die Gänge, in der Grabkammer des heiligen Urban wurde Messe gelesen, ein Altar war in dem engen Raume errichtet, und das kleine Grab der heiligen Cäcilie, in dem ihr Leichnam in derselben Lage gefunden sein soll, in welcher Madernos’ rührende Statue sie verewigt, war in schönster Weise mit Blumen geschmückt und mit Lampen erhellt, gleich wie das Grab einer geliebten Anverwandten, die uns gestern entrissen wurde. Nicht lange währte es, bis ich [199] den Cavaliere de Rossi fand, der allerdings heute durch den Besuch des damals gerade anwesenden Kronprinzen und der Kronprinzessin von Preußen und des Prinzen von Wales in Anspruch genommen war, aber, soweit seine Zeit es ihm gestattete, durch die hauptsächlichsten Grabkammern und Gräbergänge mich führte und Bau und Construction, sowie Inhalt der Malereien mir erklärte. An seiner kundigen Hand wollen auch wir eine kurze Wanderung durch dies Leichengebiet unternehmen.

Ernst und monoton ist der Weg, dichtes Dunkel umgiebt uns, eine feuchte, giftigschwere Luft läßt die Lampen und Wachskerzen nur düster brennen, und in den Sommermonaten, wo die Malaria die verderblichen Fieberdünste über die Campagna führt, wäre der Besuch dieser Orte kaum rathsam. Lange, schmale Gänge ziehen bald hoch, mit Spuren von Wölbungen, bald niedrig, daß man kaum gebückt vorwärts gehen kann, sich düster dahin. Der Boden ist uneben, führt bald hinauf, bald hinab, neue Gänge durchkreuzen die ersten und führen seitwärts ab. Aus rohen Stufen, oft nur allmähliche Anhöhen emporsteigend, gelangt man zu einer höheren Galerie, die in derselben Weise schachtartig gegraben ist, von da zu einer dritten, so daß oft drei Stockwerke übereinander liegen. Die Seitenwände öffnen sich hier und da zu kleinen Eingängen, die in ein sogenanntes Cubiculum, eine Grabcapelle, führen, meist von viereckiger, doch auch mitunter von achteckiger, auch runder Gestalt. Oefter liegen mehrere davon nebeneinander und stehen durch Eingänge mit einander in Verbindung, öfter durchbrechen sie nach oben ein Stockwerk, auch werden zwei am Gange sich gegenüberliegende zu einer verbunden, durch die dann der Gang hindurchführt, wie wir es z. B. in unserer Abbildung sehen, die eine Capelle der Katakombe von S. Agnese darstellt, in welcher die rohen Formen eines Centralbaues zu erkennen sind. Ueberhaupt ist die Architektur dieser stillen Todtenstraßen einfach und roh, wie sie eben der Spaten und die Axt der Todtengräber beschaffen konnte. Nur die erwähnten Grabkammern sind durch gegliederte Wölbung der Decke und Spuren von Säulenverzierung ausgezeichnet. Die ganze Anlage macht den Eindruck, als wäre sie mehr in ängstlicher Hast gewühlt, als mit ruhigem Fleiße ausgebaut worden. Man sieht, es war eine bewegte und bedrängte Zeit für die, welche hier unten ihre schwierige Pflicht erfüllten.

An beiden Seiten der Gänge ziehen sich in ernster Monotonie Gräber an Gräber repositorienartig neben- und übereinander angelegt dahin; es sind horizontale Oeffnungen in die Wand gegraben, genau so breit und so lang wie der menschliche Körper; eine Marmor- oder Sandsteinplatte mit einer einfachen Inschrift, meist der Name mit dem Zusatz: „in Frieden“, „in Gott“ etc., auch wohl die roh eingekratzten Figuren eines Fisches, einer Palme, eines Ankers, einer Taube darauf, schließen die sogenannte Ruhestätte, die meist für eine, mitunter aber auch für zwei und mehrere Personen bestimmt war. Ein ausgezeichneteres Grab erhielten Kirchenfürsten und Märtyrer, auch wohl später die, welche für ihr Geld sich das Recht dazu erkauften. Ihr Grab oder Loculus war nämlich mit einem in die Wand gearbeiteten Bogen nischenartig überwölbt, die Marmorplatte verschloß hier das Grab nicht von der Seite, sondern von oben; oft kamen in eine solche Grabnische mehrere Leiber, die dann übereinander gelegt wurden.

Diese Grabnischen oder Arcosolia finden wir namentlich in den erwähnten Grabkammern und Capellen. Die Bestattung in Sarkophagen gehört erst einer spätern Zeit an. In dem Mörtel, womit die Grabstätte eingemauert worden war, finden sich die Fläschchen mit Abendmahlswein, die man fälschlich für Blutfläschchen hielt, außerdem Ringe, Gläser, Lampen. Die Leichen wurden in Linnen gewickelt und Gefäße mit Wohlgerüchen dazu gestellt, die noch, als Cavaliere de Rossi sie fand, geduftet haben sollen. – Dasjenige, was uns bei unserer Wanderung vor allen auffällt, sind die an den Wänden und Decken der Grabkammern befindlichen Malereien, und die Inschriften auf den Grabsteinplatten. Die letzteren sind denn auch die Urkunden für ein ganz neues Blatt in der Geschichte der ersten Jahrhunderte des Christenthums geworden.

Es ist ein Wort, das tausend Mal wiederholt auf den Grabsteinen eingegraben steht, das ist das Wort „in pace“ (in Frieden). Und dieser Friede des Todes, dem diese Orte geweiht, spiegelt sich in diesen Bildern ab. Der ganze Ort, auf dem die Katakombe sich befindet, weist auf diesen Frieden, diese Versöhnung hin. In nächster Nähe befindet sich die Katakombe der Juden, nicht weit davon die heidnischen Columbarien und das Grabmal der Cäcilia Metella; auf kleinem Raume liegen so die Vertreter der drei großen weltgeschichtlichen Potenzen, des Christenthums, des Heidenthums und des Judenthums, vereint. Wie sie auch im Leben in steten Ueberzeugungskämpfen sich zerfleischt, der Tod hat sie nebeneinander gebettet. Und das ist nicht blos Zufall gewesen. Damals war das Christenthum noch seiner großen Aufgabe treuer gewesen, als oftmals später, die Versöhnung zu predigen und selbst bei entgegenstehender Lehre nicht von der Liebe zu lassen gegen die Person. Die heilige Cäcilie, vielleicht die liebens- und verehrungswürdigste aller katholischen Heiligen, ließ sich, halb schon zu Tode gemartert, aus ihrer Wohnung noch in die Katakombe des Calixtus tragen, aus innigem Verlangen an der heiligen Stätte begraben zu sein, aber auch aus einer Sehnsucht, nicht fern von ihren heidnischen Verwandten zu liegen, zu denen sie die Anhänglichkeit nicht verleugnete, wenigstens nicht in der Stunde des Todes. Und so sind denn auch die bildlichen Darstellungen in den Katakomben durchaus nicht in dem schroffen Gegensatz gegen die heidnische Welt befangen, wie man wohl glauben möchte. Sie haben nicht verschmäht, die würdevolle Schönheit und die heitere Anmuth in ihren Kunstwerken zu verwerthen, die das schönste Erbtheil der Heidenwelt für alle Zeiten gewesen sind, Die ersten Malereien in den Katakomben, an den Decken ihrer Grabkammern und in den Nischenbogen ihrer Arcosolien sind noch von demselben Geiste angehaucht, der den Wandgemälden von Pompeji einen so unzerstörbaren Reiz verleiht: dieselbe gefällige Leichtigkeit der Composition, derselbe harmonische Schwung der Glieder, ja auch trotz der Unbequemlichkeit des Malens in diesen unterirdischen Räumen bei künstlicher Beleuchtung derselbe Geist feiner Farbennüancirung, der an den pompejanischen Gestalten uns entzückt. Erst später wurde die Technik flüchtiger und geschmackloser, und Leidenschaft und Inbrunst der Darstellung mußten ersetzen, was ihnen an Schönheit mangelte.

Auch in der Wahl der Gegenstände und der Art ihrer Auffassung haucht uns jener Geist des Friedens und der künstlerische Sinn der Antike aus den Katakombenbildern früheren Datums an. Da ist nichts von jenen widerwärtigen Zerfleischungs- und Hinrichtungsscenen, womit die spätere Zeit ihre Märtyrer zu verewigen suchte, ja selbst das Bild des gekreuzigten Erlösers scheute man sich darzustellen. In Zeiten der Verfolgung und Bedrängniß schmückten die Christen die Gräber ihrer theilweise grausam geopferten Brüder lieber mit Bildern des Lebens und der Auferstehung, zum Zeichen, daß die, welche hier lagen, die Kämpfe und Qualen des Lebens überwunden haben, den Ueberlebenden zur Ermunterung, wie sie zu überwinden und in der Erwartung des Sieges getrost zu dulden, und wie die Begebenheiten des Alten Testamentes in ihrem sinnbildlichen Hinweis auf das Neue meist gewählt wurden, das auszusprechen, was man im Bilde noch nicht auszudrücken wagte, so griff man auch zu heidnischen Symbolen, vertiefte und bezog sie auf christliche Ideen. Allmählich erst zog man die Gestalt Jesu Christi selbst in den Kreis der Darstellungen hinein, immer aber in jener jugendlichen Idealität gehalten, in der die Antike ihre Götter darzustellen liebte, bis man endlich zur Portraitdarstellung Christi und der Apostel selbst überging und einen bestimmten Typus dafür feststellte.

Wie diese Stätten den Todten geweiht waren, so waren sie zugleich zu Zeiten der Verfolgung die einzig sichern Heiligthümer der Lebendigen. Heilige Handlungen, deren Störung man auf der Oberfläche der Erde befürchten mußte, wurden deshalb hier vollzogen, namentlich die beiden Sacramente der Taufe und des Abendmahls. Hatte doch schon der Apostel Paulus von einer Taufe über den Todten geredet, und Bischof Felix gebot am Ende des dritten Jahrhunderts geradezu, das Abendmahl nur über den Gräbern der Märtyrer zu halten. Auch auf diese beiden Sacramente bezieht sich ein Kreis der symbolischen Wandbilder in den Katakomben, so Noah in der Arche, dem die Taube zufliegt, Moses, der Wasser aus dem Felsen schlägt, ein Mann, der Fische fängt, ein Hinweis auf die Taufe, und in der Darstellung des Fischers, der den Brodkorb auf dem Rücken trägt, des Weinwunders zu Cana, des Tobias, der die Hand in des Fisches Mund steckt, ja der Abbildung Christi und seiner Jünger selbst, wie sie zu Tische sitzen und essen, eine Verherrlichung des hier gefeierten Abendmahls, worauf noch Spuren eines Credenztisches in der Wand und Scherben emaillirter [200] Glasgefäße hinweisen, die, hier gefunden, mit ähnlichen Darstellungen verziert sind.

Einen großen Triumph erregte es in Rom, als man vor einiger Zeit in der Katakombe von Sta. Agnese ein sehr zerstörtes Bild entdeckte, das eine Frauengestalt mit einem Kinde zeigte. So hatte man denn endlich in diesen unterirdischen Grabesstätten das Palladium der katholischen Kirche, die Madonna, gefunden, und vierzig blasirte Engländer ließen sich durch dies Factum sofort bewegen, vor diesem Bilde in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche überzutreten. Uebrigens ist dieses nicht die einzige Darstellung der Maria, wir finden sie häufig in einem Bilde, das die Anbetung der drei Weisen aus dem Morgenlande uns vorführt; andere Bilder, die auf die Madonna von der katholischen Kirche gedeutet worden sind, sind mindestens zweifelhaft. Nur als ihre Verehrung geboten wurde, kehrt sie häufiger wieder, aber sie trägt in dem reichen Goldschmuck des Gewandes und dem Heiligenschein um das Haupt doch schon sehr den Stempel der spätern byzantinischen Kunst.

Mit dem Augenblicke, als das Christenthum, zur Staatsreligion geworden, Kirchen zu bauen und, statt die Decke der Grabkammern, Apsis und Triumphbogen der Basilika zu schmücken begann, hört die Malerei der Katakomben, sowie ihre Bedeutung überhaupt auf. Die künstlerische Ausschmückung dieser Todtenorte legte sich jetzt mehr auf die Sarkophage, deren Bearbeitung in den Zeiten der Verfolgung wegen der größern Umständlichkeit und der Gefahr, die sie mit sich brachte, unmöglich war. Die Darstellungen derselben sind wesentlich dieselben, wie in den Malereien, die Arbeit aber trägt schon die Zeichen des Verfalls der Kunst und ist flüchtig und roh. Auffallend ist das geflissentliche Hervorheben des Jüngers Petrus auf diesen Sarkophagbildwerken; man sieht, es ist schon jener hierarchische Zug in der Kirche erwacht, der, auf den Vorrang des Petrus gegründet, ein Uebergewicht Roms und seines Bischofs über alle andern Bischöfe und Bischofssitze beweisen wollte.

Bis zum fünften Jahrhundert hat man noch in den Katakomben begraben, und Leo der Vierte war der erste römische Bischof, der sich in der Vorhalle von St. Peter bestatten ließ. Wohl hat man noch in den Katakomben gemalt, aber die rührende Naivetät der Darstellungen ist vorüber; die zart verschleierte Symbolik, die das Unsichtbare noch nicht in sichtbarer Gestalt auszudrücken wagte, verwandelt sich in beherrschende Thatsachen. Das sichtbare Oberhaupt der Kirche trat an Stelle des unsichtbaren, feierliche strenge Bischöfe und Heiligengestalten mit ernsten, richterlichen Gesichtern an Stelle der formenschönen Sinnbilder der Auferstehung und des Lebens, und die liebliche Gestalt des guten Hirten verwandelt sich in das medusenartige, greisenhafte Christusantlitz, wie es uns aus den Mosaiken der byzantinischen Zeit starr und gespenstisch entgegenblickt.

Die christliche Kunst in ihrem Altes und Neues versöhnenden Geiste ging zu Grabe, um als kirchliche Kunst streng und fleischtödtend wieder aufzustehen. In dieser Zeit erhielten die Katakomben keine neuen Bewohner mehr, sie sind aber heilige Wallfahrtsstätten noch lange verblieben. Ein neues Geschlecht baute über ihnen die prächtigsten Kirchen des Erdkreises auf, der kleine Nischenbogen des Märtyrergrabes wurde zum Triumphbogen der stolzen Basilika. Die Gebeine der Blutzeugen, die man vor der Beschimpfung mit Mühe barg, wurden hervorgeholt, goldenen Altären erst Würde und Ansehen zu verleihen. Aber nach und nach wurden, wie alles Andere, auch diese Grabstätten vergessen; hin und wieder beklagt sich wohl eine Stimme, daß die Verehrung dieser Stätten abnähme, aber sie blieb doch nur vereinzelt; seit die Gothen, was Werthvolles in ihnen sich vorfand, geraubt und weggeschleppt hatten, verfielen die Katakomben mehr und mehr. Die wenig zugänglichen Reste wurden in Schafställe verwandelt und boten Füchsen und Räubern der Campagna einen willkommenen Schlupfwinkel dar. Und wenn eine Durchforschung und ein Besuch derselben stattfand, so geschah es nur, um die Gebeine der Märtyrer hervorzuholen und sie entweder dieser oder jener Kirche einzuverleiben, oder auch sie zu verkaufen, ein Handel, welcher der Kirche für Jahrhunderte Vortheil versprach.

Erst mit Papst Sixtus dem Fünften erfolgte eine mehr wissenschaftliche Durchforschung der Todtenlager, und eine Reihe von Männern haben sich um dieselbe bis auf unsere Tage größere oder geringere Verdienste erworben. Obenan steht in unserer Zeit der Cavaliere de Rossi, der Präsident der von Papst Pius dem Neunten ernannten Commission für christliche Archäologie, durch den nicht nur eine große Anzahl von Katakomben aufgedeckt sind, sondern auch das wissenschaftliche Material, das darin verborgen, auf das Geistreichste verwerthet worden ist. Durch ihn wurde namentlich das Eine festgestellt, daß die Katakomben nicht, wie man früher wohl meinte, die alten Sandgruben wären, aus denen man das Material zu den städtischen Bauten zog, ebensowenig, wie Andere glaubten, die Gruben, worin man die Sclaven verfaulen ließ, und daß sie, von Mönchen mit Malereien und Inschriften bedeckt, für die Grabstätten der ersten Christen ausgegeben worden wären, sondern daß sie wirklich zu dem Zwecke angelegt worden seien, dem sie dienten, die Ruheplätze zu bilden für die, welche des Lebens Kampf und Leid überwunden.

Vor allen Thoren Roms fast finden sich diese Katakomben. Im Alterthum kannte man deren vierzig, jetzt sind einige zwanzig bekannt; war es doch bei einer Stadt von so ungeheurem Umfang wie Rom von selbst geboten, verschiedene Begräbnißplätze anzulegen. Die fabelhaften Berichte, die früher über diese Todtenstraßen im Umlauf waren, als ob sie ein unterirdisches Netz bildeten, das ganz Rom unterminire und sogar bis Ostia sich erstrecke, bestätigen sich nicht, aber dennoch ist ihre Ausdehnung eine staunenswerthe, wenn man die verhältnißmäßig kurze Zeit bedenkt, die an ihnen gearbeitet, und erwägt, daß man die Bekenner nur eines unterdrückten Glaubens daselbst bestattete. Stammt doch nachweislich das erste Katakombengrab vom Jahre 71, das letzte vom Jahre 410.

Jetzt sind die Katakomben leer, der größte Theil dessen, was sie so interessant und merkwürdig macht an Malereien und Inschriften, ist, um es vor Beschädigung und Beraubung zu schützen, entfernt und in den Räumen des Lateran untergebracht worden. Nur der emsig forschende Gelehrte und der neugierige Fremde betreten noch diese stillen Gänge, und wie früher die Todtengräber beschäftigt waren, die Leichen hier zu bestatten, so sind jetzt Arbeiter thätig, die lange vermoderten Gebeine aus ihrer Ruhe wieder an’s Tageslicht zu ziehen.

Wir verlassen diese nächtlichen Orte, voll Dank gegen den gelehrten Führer, der uns ihre Bedeutung und ihren geschichtlichen Werth begreifen gelehrt hat, voll Verehrung gegen die Abgeschiedenen, an deren Gräbern wir gestanden und in denen der Geist des Christenthums reiner und großartiger sich offenbarte, als jemals später, und steigen wieder zum erquickenden Sonnenlichte empor. War es wirklich heller geworden in der Gemeinde, als sie zum Licht der Sonne aus diesen Stätten sich erhob und zu Macht und Ehre gelangte? Woher der Aberglaube, der, von Herrschsucht künstlich genährt, in jener spätern Zeit um die Gemüther gewoben wurde? Vertrug die der unterirdischen Nacht entstiegene Kirche das Licht der Sonne nicht, sehnte sie sich in das Dunkel zurück, oder gehören am Ende Druck und Kampf dazu, um selbst die höchsten geistigen Güter, sogar die Religion vor Entartung zu schützen?

C. B.     




Die Prophezeihung des Jacques Cazotte.
Von Alfred Meißner.


Die Schicksalstragödie ist verdientermaßen in die Acht erklärt; dessenungeachtet giebt es Geschichten von erfüllten Weissagungen. Manchem schon hat eine Ziffernreihe geträumt, die er setzte und die herauskam, nicht weil er sie geträumt, sondern weil es ja auch im Kreis des Möglichen lag, daß sie gezogen wurde. Solchen Nummerngruppirungen sind die Angaben mancher Prophezeiungen gleichzuachten. Als eine der merkwürdigsten und bestbeglaubigten[1] erscheint mir die des Jacques Cazotte, und ich erzähle sie, nicht nur, weil sie weniger bekannt ist, sondern auch, [201] weil die Persönlichkeit, von der sie ausging, eine interessante und sympathische ist.

Im Spätherbst 1788, kurz vor dem Zusammentritt der französischen Reichsstände, war zu Paris, in der Rue du Bac, im Hause eines Akademikers, eine glänzende Gesellschaft, aus schönen Frauen, Hofleuten, Philosophen und Schöngeistern bestehend, bei einem großen Diner versammelt. Da war der ehemalige Minister Malherbes, da Condorcet, der Freund d’Alembert’s, der berühmte Mathematiker und Verfasser des Lebens Voltaire’s, da Chamfort, Mirabeau’s Freund, anwesend, der herbe, kalte, schneidende und doch so unterhaltende Misanthrop, dessen jegliches Wort ein Epigramm war, der Mann der wie Scheidewasser brennenden Aphorismen. Neben der schönen Herzogin von Gramont saß Cazotte, der wunderliche Greis, von reckenhafter Statur, der mit seiner ehrwürdigen Miene und seinem schneeweißen Haare mehr einem Patriarchen als dem Verfasser des Diable amoureux ähnlich sah.

Es ging lebhaft zu. Man sprach von den Fortschritten der Vernunft, von der herannahenden großartigen Epoche, welche die Rechte des Menschen und Bürgers zur Geltung bringen und die Könige ihrer Pflichten eingedenk machen werde, von den Ereignissen, welche sich bereits ankündigten. Alle begrüßten das herannahende Reich des von den Fesseln der Vorurtheile befreiten Menschengeistes.

Bei diesem Einklang der Meinungen blieb Cazotte allein still. Als man sich deshalb an ihn wandte, behauptete er: daß er in der Zukunft nur schreckliche Dinge, Blut und wüsten Kampf sehe. Die Epigramme Beaumarchais’ und Voltaire’s würden sich in Beile verwandeln. Und als Condorcet über diese pessimistische Anschauung der Dinge spottete, erwiderte er:

„Lachen Sie nicht, Herr Condorcet, Sie greifen noch einmal zum Gift, um dem Scharfrichter zu entgehen!“

Mehrere lachten, darunter Chamfort, Bailly, Malherbes und Roucher. Cazotte sah sie der Reihe nach eine Weile an, dann sagte er: „Meine Herren, ich sehe Sie Alle auf dem Schaffot. Nur Sie, Chamfort, fallen, dem Beil zu entgehen, durch eigene Hand!“

„Zum Mindesten bleibt doch unser Geschlecht verschont?“ fragte die Herzogin von Gramont.

„Ihr Geschlecht?“ antwortete Cazotte. „Sie selbst werden, die Hände auf den Rücken gebunden, im Karren zur Richtstätte fahren –“

Während Cazotte so sprach, hatte sich sein Gesicht, wie Laharpe, der dabei gewesen sein will, erzählt, ganz geändert. Sein hohes Alter, sein weißes Haar, der hingerissene Ausdruck seiner Züge wirkten mit, den finsteren Worten doppelte Macht zu geben. Die vorhin noch so heiteren Gäste überlief ein Schauer.

„Cazotte hat kein Erbarmen!“ rief, sich gewaltsam zum Scherze stachelnd, die Herzogin. „Er wird mir doch meinen Beichtvater lassen?“

„Nein! Sie werden keinen haben,“ sagte Cazotte, „der Letzte, der mit einem Beichtvater zur Richtstätte gehen wird, ist –“

Er verstummte.

„Wer? Wer?“ fragten Alle im Kreise.

„Der König von Frankreich!“

Von einer unwiderstehlichen Bewegung gepackt, erhoben sich alle Gäste mit einem Schlag. Cazotte wollte sich zurückziehen, die Herzogin aber wandte sich an ihn und fragte: „Und Sie, Herr Prophet, was wird Ihr Loos sein?“

Cazotte blieb eine Weile gesenkten Kopfes stehen; endlich sagte er: „Während Jerusalem belagert ward, umkreiste durch sieben Tage ein Mann die Stadt und rief klagend: Weh über Dich, Jerusalem! In diesem Augenblick fiel ein römisches Geschoß und zerschmetterte den Mann.“

Nachdem Cazotte so gesprochen, verbeugte er sich und verließ das Haus.

Kurz darauf ging die Gesellschaft auseinander. Man hatte die Absicht gehabt Faro zu spielen, aber die gute Laune war wie weggeblasen.

Wenn Cazotte, wie er gewohnt war, um Mitternacht aus den Salons, die er besuchte, nach Hause kam und in seine stille traute Wohnung trat, da saß Dom Chavis, ihn erwartend, schon im Lehnstuhl vor dem Kamin. Dom Chavis war ein alter maronitischer Mönch aus dem Kloster Mar-Hanna’s, d. h. Johannes des Täufers, auf dem Gebirge Kesruan am Libanon, welcher nichts besaß als eine Handschrift des Elf-Karafa, das ist „Tausend und eine Nacht“. Was er Cazotte davon mitgetheilt, hatte diesen so entzückt, daß er eine Uebersetzung davon zu liefern unternahm. Dom Chavis, seine Blätter in der Hand, gab in seinem halb italienischen, halb französischen Kauderwelsch die Umrisse dieser lieblichen Erzählung, die „mit einer Fußspitze die Erde, mit der anderen eine goldschimmernde Wolke berühren“; Cazotte, mit rascher Feder sich seiner Phantasie überlassend, füllte die Umrisse aus. Fast ebenso viele Nächte schon, wie Sultan Schachriar und Sheherezade, hatten die Beiden mit einander zugebracht. Umsonst bat die schöne Elisabeth den Vater, sich doch endlich Ruhe zu gönnen. Cazotte ging meist erst, wenn der Morgen dämmerte, zu Bette. Dafür sollten aber auch „Tausend und eine Nacht“ demnächst schon complet erscheinen.

Schon seit langer Zeit war Cazotte’s Name in Paris ein vielgenannter, wenn auch nicht eben als Dichter. Er hatte durch seinen Proceß gegen die Gesellschaft Jesu viel von sich sprechen gemacht. Ursprünglich Beamter im Marine-Departement, hatte Cazotte als Controleur in Martinique große Plantagen erworben und sich dabei um Frankreich sehr verdient gemacht. Seinem Muthe war es besonders zu danken, daß der Angriff der Engländer auf St. Pierre zurückgeschlagen worden war. Als ihn später eine Erbschaft in den Stand setzte, seiner Stelle zu entsagen und nach Frankreich zurückzukehren, hatte er seine Ländereien dem Superior Lavalette, der an der Spitze der großen jesuitischen Handelsgesellschaft stand, überlassen und wurde in Wechseln ausgezahlt, die nach langem Processiren, welches endlich die Aufhebung der Jesuiten zur Folge hatte, das Ordenshaus in Paris nur zum Theil einlöste.

Cazotte, welcher bei der Sache 50,000 Thaler eingebüßt, seinen Proceß aber mit großer Mäßigung geführt hatte, lebte seitdem mit dem Reste seines Vermögens bald in Paris, bald auf seinem Gute bei Epernay. Mit zunehmendem Alter hatte sich die Liebe zum Wunderbaren seines ganzen Gemüthes bemächtigt. Er hatte den portugiesischen Juden Martinez de Pasquallis kennen gelernt, der einer Illuminaten-Loge vorstand und war bald ganz in den Anschauungen dieses Mystikers aufgegangen.

Die Secte, welche Martinez de Pasquallis gestiftet, hatte von der Freimaurerei ihre Sprache, Zeichen, Chiffern geborgt. Sie erwartete die Ankunft eines neuen Heilands, welcher der heilige Geist in Menschengestalt sein werde. Es war die Zeit, in welcher Schröpfer, Saint Germain, Cagliostro eine große Rolle spielten und Mall vom Schlüssel Salomonis, von der Kabbala sprach. Swedenborg, Lavater und St. Martin, ein Schüler Martinez de Pasquallis’, bildeten eine andere Trias. Waren jene freche Betrüger, welche sich mit Geisterbeschwörungen, der Universalmedicin, der Goldmacherei und der Kabbala beschäftigten, so suchten diese eine mystische verständliche Philosophie zu gestalten, von der uns in den Büchern Saint-Martin’s die Umrisse entgegenleuchten.

Allmählich erst, als das Illuminatenthum durch die unlauteren Elemente, die sich hier einmischten, immer bedenklicher wurde, fingen Cazotte die Augen aufzugehen an. Er vermied die Logen und warf sich dafür mit ganzer Neigung auf den Orient und seine Sagenschätze. Er mußte nun einmal schon im Element des Wunderbaren leben, um sich befriedigt zu fühlen. Aber trotz des tiefen Ernstes, der sein Wesen beherrschte, blieb er ein Weltmann, nicht selten schalkhaft, ironisch, der über seinen eigenen Wunderglauben wie über eine angeborene Schwäche spöttelte.

Als einige Tage nach dem Diner in der Rue du Bac Condorcet unserm Cazotte begegnete und darauf zu reden kam, wie dessen Prophezeiung die Gesellschaft alarmirt habe, sagte der Alte: „Opium, Opium! Ihr werdet Euch doch nicht durch Cazotte’s Tollheit in Schrecken setzen lassen? Cazotte, ich sage es Ihnen, ist toll, Cazotte weiß nicht, was er sagt. Wenn Licht, Wein, Parfüms, der Glanz von Edelsteinen, der Anblick schöngeputzter Frauen zusammenwirken, um seine Phantasie zu erhitzen und ihm die alten Sinne zu entzünden, da redet er in geistiger Trunkenheit das Wirrste durcheinander.“

„Nein, nein,“ sagte Condorcet, „das erklären Sie damit nicht! Es war, als spräche aus Ihnen ein fremdes Wesen heraus, ein Wesen, das wir bisher Alle nicht gekannt. Es war uns nicht geheuer, Cazotte! Wenn Sie an der Wand Zeichen hingemalt hätten, die plötzlich zu brennen anfangen, es wäre nicht unheimlicher gewesen.“

[202] „Bah! bah!“ sagte Cazotte. „Ich bin kein Prophet! Ueber dem Haupte der Propheten schweben Kronen, Strahlen, Sterne, vor den Propheten bücken sich die Thiere, es sind fleckenlose Menschen, die im Traum auf Leitern emporsteigen und die tiefsten Geheimnisse des Schöpfers sehen und hören. Ich bin nur der alte Cazotte, den die Menschen bestehlen, prellen und verlachen. Ich kann wohl, wenn ich schwarze Wolken am Himmel sehe, sagen: das giebt ein tüchtiges Wetter, das manchen Baum entwurzeln und manche Schindel vom Dache tragen wird, doch wenn ich die einzelnen Bäume, die fallen sollen, und die einzelnen Schindeln mit Kreide bezeichne, da mögt Ihr mich wohl für unzurechnungsfähig halten. Uebrigens, fürchtet Ihr den Sturm, erschrecken Euch meine Worte, warum macht Ihr Euch nicht auf und davon? Wozu sonst hättet Ihr Beine?“

„Sie erinnern sich doch,“ meinte Condorcet, „daß Sie sich selbst in der nahenden Katastrophe ein gewaltsames Ende ankündigten. Folgerichtig sollten auch Sie dem Verhängnisse auszuweichen suchen.“

„Das thue ich auch!“ erwiderte der Alte. „Ich sehe Paris sobald nicht wieder. Der Sturm, der Euch Andere erquickt, nimmt mir den Odem, daher verstecke sich mich. Adieu, Freund, adieu auf lange!“

Er eilte so rasch, wie die alten Glieder es zuließen, davon.

Das Jahr verging in wilder Aufregung. Aber nach der Erstürmung der Bastille und der Uebersiedelung des Hofes von Versailles nach Paris kehrte eine verhältnißmäßige Ruhe ein und Paris blieb fast zwei Jahre von blutigen Auftritten frei.

Die Nationalversammlung regierte. Sie hatte den Erbadel abgeschafft, Wappen und Livreen proscribirt, die Güter der Kirche als Nationaleigenthum eingezogen. Da starb Mirabeau, die geheime Stütze der Monarchie. Der König, der sich durch seinen Fluchtversuch aus der Gewalt der Assemblée zu befreien versucht, hatte seine Lage damit nur verschlimmert. Er war thatsächlich, wenn auch nicht eingestanden, ein Gefangener.

Der constituirenden Versammlung war die gesetzgebende gefolgt. Die Girondisten, Anhänger des Königthums, und die Jacobiner standen sich gegenüber; der Hof erwartete, um die Revolution niederzuschlagen, das Einschreiten der fremden Mächte. In dieser Zeit hatte Cazotte, der ganz zurückgezogen auf seinem Landgute unfern Epernay lebte, den unglückseligen Einfall, seine Gedanken, wie der Fortgang der Bewegung wohl zu hindern sein dürfte, seinem Freunde Pontrau, dem Secretair der Civilliste, mitzutheilen.

Es war acht Tage nach dem Sturme auf die Tuilerien, am 10. August, als bewaffnete Männer an Cazotte’s Thür klopften und ihm hießen, ihnen zu folgen. Sein Brief an Pontrau, das unselige Blatt, war im Bureau des Königs aufgefunden worden. Man brachte den Greis zuerst in das Gefängniß von Epernay, dann nach Paris. Seine Tochter folgte ihm.

Wie fand Cazotte Paris wieder, als er es passirend durch die vergitterten Fenster des Gefangenwagens blickte! Auf dem Stadthause und von den Thürmen der Notre Dame wehte die schwarze Fahne, als Banner des Bürgerkrieges. So hell die Sonne auch flammte, die Straßen öde, wie ausgestorben, kein Wagen zu sehen, Fenster und Thüren verschlossen, die Menschen in Kellern versteckt! Von Zeit zu Zeit Züge bewaffneter Horden, Marseiller und Brester mit Piken und Trommeln, das „Ça ira“ oder die Marseillaise spielend. Der Schrecken!

Die Nachricht von der Einnahme von Longwy und Verdün, die Nähe des Feindes, der Verrath in der eigenen Armee, der Aufstand in der Vendée, die Agitation der Emigranten, die Auflösung der Assemblée – das Alles zusammen hatte die Sachen so weit gebracht. Frankreich schien der Auflösung nahe. In diesem Chaos stand nur noch die „Commune“ von Paris aufrecht, Danton regierte. Seine Losung war: man müsse die Gefängnisse säubern, den Verräthern ein Ende machen und freien Rücken haben, wenn man an die Grenze marschire.

Die Gefangenen erfuhren erst nach und nach, was ihrer wartete. Zwölf Blutmenschen saßen in der Abbaye St. Germain um einen Tisch, wo Acten und Waffen durcheinander lagen. Maillard, die Feder in der Hand, den Säbel zur Seite, präsidirte. Die Gefangenen wurden einzeln vorgeführt, jedem waren nur wenige Minuten zur Vertheidigung gestattet. Wurde Einer schuldlos erkannt hieß es: „Wird freigelassen“ (qui’ on élargisse Monsieur). Wurde er verurtheilt, so hieß es: „à la Force!“ Man stieß den Unglücklichen einfach in den Hof, wo beim Schein der Fackeln die Henkerschaaren standen, die das Opfer niederstießen oder niederschossen.

Cazotte’s Name war doppelt markirt. Er verschmähte es auch, sich zu vertheidigen. „A la Force!“ hieß es und er wurde hinausgestoßen.

In diesem furchtbaren Augenblicke warf sich die Tochter über den Verurtheilten her, schlang ihre Arme um ihn und rief den Henkern zu: „Ihr werdet das Herz meines Vaters nicht durchbohren, ohne vorher das meinige zu treffen!“

Beim Anblick der holden, jugendlichen Erscheinung senkten sich die erhobenen Waffen, das Volk rief: „Gnade! schont sie!“ und die Henker ließen ihr Schlachtopfer los.

Außer sich vor Freude, führt die Tochter den geretteten Greis davon und hinaus ging es aus dem entsetzlichen Hof über Leichen und durch breite Lachen Blutes. Es war ein Bild, wie wenn Ophelia ihren Vater davonführt. War das ein Jubel! Das Kind hatte den Vater, der Vater sein Kind wieder!

„Wer sind Deine Feinde?“ fragte ein Marseiller den Alten. „Nenne sie uns, sie sollen es büßen!“

„Ach,“ erwiderte Cazotte, „wie sollte ich Feinde haben? Habe ich doch Niemandem etwas zu Leide gethan!“

Es schien, als habe seine Prophezeiung Unrecht gehabt: er war frei. Aber die Richter der damaligen Zeit waren noch entsetzlicher, als die Septembristenhorden. Auf Befehl Pethion’s wurde Cazotte neun Tage später abermals verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Seiner Tochter wurde der Eintritt dort nicht gestattet.

Im Verhör antwortete Cazotte diesmal mit der größten Gelassenheit und einer überlegenen Ironie. Er erklärte, daß ihn das Volk schon einmal freigesprochen habe und daß man der Volkssouveränetät Hohn spräche, wenn man ihn derselben Sache wegen zum zweiten Male zur Verantwortung ziehe.

Auf diese Einwendung wurde kein Gewicht gelegt. Als das Todesurtheil ausgesprochen war, sagte der öffentliche Ankläger: „Warum muß ich Euch nach einem zweiundsiebenzigjährigen Leben strafbar finden? Aber es genügt nicht, ein guter Sohn, Gatte und Vater, man muß auch ein guter Bürger sein.“

Indeß war die Tochter – es steckte etwas von einer Charlotte Corday in ihr – unermüdlich in ihren Versuchen, den Vater zum zweiten Mal zu retten. Sie hatte eine Schaar von Weibern zusammengebracht, die ihre Bitten bei den Richtern unterstützen sollten, doch ehe sie noch ihren Zweck erreichen konnte, wurde sie von den Schergen Pethion’s ergriffen und in’s Gefängniß geführt.

Der Alte, im Begriff, auf’s Schaffot zu steigen, verlangte Feder und Papier und schrieb: „Mein Weib, meine Kinder, beweint mich nicht, aber vergeßt mich auch nicht.“ Auf dem Blutgerüst, das er festen Fußes betrat, ließ er sich sein weißes Haar abschneiden, legte es zusammen und bat, es seiner Elisabeth einzuhändigen; dann, sich zu dem versammelten Volke wendend, sagte er: „Ich sterbe, wie ich gelebt, Gott und dem Könige treu!“ Einen Augenblick später war sein Haupt gefallen.

So starb Cazotte, der Dichter der Feenmärchen, der Dichter des diable amoureux. Bei ihm war die Prophezeiung zuerst eingetroffen. Bald darauf ging sie auch am König von Frankreich in Erfüllung, der in der That das letzte Opfer war, dem man einen Beichtvater mitgab; an der Herzogin von Gramont, welche wirklich, die Hände auf den Rücken gebunden, zum Schaffot fuhr; endlich kamen Roucher, Bailly und Malherbes an die Reihe. Wie aber erging es Condorcet und Chamfort, denen er in einem Augenblicke seltsamer Ekstase geweissagt, daß sie, um dem Henker zu entgehen, selbst an sich Hand anlegen würden?

Condorcet war der Sache der Revolution treu geblieben. Er hatte nach dem 10. August die Adresse an die Mächte Europas abgefaßt, worin die Gründe für die ausgesprochene Suspendirung des Königthums dargelegt wurden. Als Mitglied der Nationalversammlung hatte er mit den Girondisten gestimmt, und im Convent, als dieser über Ludwig den Sechzehnten zu Gericht saß, die härteste Strafe, welche nicht die Todesstrafe wäre, beantragt.

Als Mitglied des ersten Wohlfahrtsausschusses hatte er einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, den man anzunehmen im Begriff stand, als der Aufstand vom 31. Mai ausbrach und den Sieg [203] der Bergpartei entschied. Der Convent, vom zerlumpten Volke umlagert, saß jetzt in den Tuilerien. Condorcet gehörte Anfangs nicht zu den proscribirten Abgeordneten, da er sich aber ohne Schonung gegen die Constitution von 1793 aussprach, wurde er denuncirt, vorgefordert und am 3. October als Mitschuldiger in Anklagestand versetzt.

Genöthigt sich zu verbergen und bald für „außer dem Gesetze“ erklärt, fand er acht Monate lang bei einer großmüthigen Freundin ein Asyl, in welchem er sich wieder mit schriftlichen Arbeiten beschäftigte. Da bewog ihn ein neues Decret, das Allen, welche außer dem Gesetze befindliche Personen aufnähmen, mit dem Tode drohte, seinen Zufluchtsort zu verlassen, um seine Wohlthäterin nicht noch größerer Gefahr auszusetzen. Vergebens suchte diese ihn zurückzuhalten. Er verließ Paris um die Mitte März 1794 ohne Paß, mit der Absicht auf dem Landhause eines Freundes sein Unterkommen zu finden. Er traf diesen nicht an und war genöthigt sich mehrere Nächte in verlassenen Steinbrüchen zu verbergen. Vom Hunger getrieben, trat er endlich in ein Wirthshaus, wo er sich für einen Bedienten ausgab, dessen Herr vor Kurzem gestorben sei. Sein langer Bart, seine Unruhe, sein schlechter Anzug veranlaßte die Wirthin zu fragen: „ob er auch bezahlen könne?“ und er zog eine Brieftasche hervor, deren Eleganz gar sehr mit seinem Aeußeren contrastirte. Ein zufällig anwesendes Mitglied des revolutionären Comités des Ortes ließ ihn sogleich arretiren und nach Bourg-la-Reine transportiren. Dort warf man ihn in’s Gefängniß. Am anderen Tage sollte er zum Verhör geführt werden, aber man fand ihn todt; er hatte von dem Gifte Gebrauch gemacht, das er schon lange, um sich der Hinrichtung zu entziehen, bei sich trug.

Kurz vorher war Chamfort, dem Minister Roland eine Scriptorstelle an der Nationalbibliothek verschafft hatte, wegen einiger erbitterter Aeußerungen über die Revolutionsgräuel verhaftet worden. Wiewohl er bald wieder in Freiheit gesetzt wurde, hatte ihn doch die kurze Haft mit solchem Abscheu erfüllt, daß er, als er einen Monat später wieder festgenommen werden sollte, sich zu tödten versuchte. Er hatte sich die Adern geöffnet; neben ihm lag ein Blatt mit folgenden Worten: „Ich, Sebastian Nicolaus Chamfort, habe als freier Mann sterben wollen, statt mich als Sclaven in’s Gefängniß geführt zu sehen.“

Die Hülfe der Kunst und die Sorgfalt der Freunde hielten ihn am Leben zurück, doch er starb bald darauf, im April 1794. „Ach, Freund,“ sagte er im Sterben zu Sieyès, der an seinem Bette saß, „so verlasse ich endlich diese Welt, in welcher das Menschenherz brechen oder versteinern muß!“

So waren Alle, denen Cazotte’s Prophezeiung gegolten, hinübergegangen, und wenn Todte im Jenseits zusammenkommen, konnten sie den Jahrestag der zufällig eingetroffenen Weissagung feiern. „Sie sind,“ sagte ein Zeitgenosse, „hinübergegangen in ihren Thränen, mit ihren Wunden, Typen der Menschheit, die, wie sie es auch anfange, sich ihrem Verhängniß nicht entziehen kann.“

„Es mußte so kommen, es war vorherbestimmt!“ erwiderte Dom Chavis.




Ein Virtuos der Bühnenwelt.
Von Robert Heller.


Erinnert Ihr Euch noch der geheimnißvollleuchtenden Augen Ludwig Tieck’s und der bezaubernden Persönlichkeit eines Dichters, welcher die wunderbare Anziehungskraft, die er auf die vornehmsten Geister seiner zeitgenössischen Umgebung ausübte, wahrhaftig ebenso stark aus der romantischen Anmuth seiner geselligen Erscheinung, wie aus der Märchenpoesie und dem polemischen Reiz seiner Schriften schöpfte? Auf Veranlassung König Friedrich Wilhelm’s des Vierten, in dessen Hausdienst der Vater Friedrich Haase’s stand, ist Ludwig Tieck um die Mitte der Vierziger Jahre des gegenwärtigen Jahrhunderts der erste Kunstbildner des Schauspielers gewesen, den wir den Lesern der Gartenlaube hiermit vorstellen.

Fritz Haase, der in neuester Zeit durch sein Gastspiel in Süddeutschland und der Schweiz die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, hat aber mit Tieck nicht blos den Berliner Geburtsort gemein, sondern er hat auch etwas in seinen Augen und einen ästhetisch feinen, schalkhaft ironischen Zug in seinem menschlichen und theatralischen Wesen, wodurch er persönlich an den großen Romantiker erinnert. Der Vergleich mit dem poetischen Meister, wie verherrlichend er für den Jünger einer unselbstständigen, weil nur nach gegebenen Mustern schaffenden Kunst erscheint, hat jedoch nicht blos seine schmeichelhaften Seiten. Wie sich Tieck zu Goethe, Schiller und Lessing, wie sich die zersetzende Romantik überhaupt zur classischen Schöpfung verhält, so verhalten sich auch die Schauspieler modernen Stils zu den Vertretern der naiv gläubigen Schule von ehedem, und Haase ist der Modernste unter den ersteren. Das scharfsinnig Combinirte muß häufig in ihren Leistungen das einfach Plastische ersetzen, was seinen hohen Geist im Gegenstande selbst ausdrückt. Ihre Bildung vermittelt nicht blos den Genuß am Werke, sie gestaltet ihn auch nach individueller Willkür um. Die Darsteller alter Schule spielten vor Allem den Reiz des Stückes aus, die Modernen geben in ihrer Charakteristik die bestechenden Eigenthümlichkeiten ihres Naturells zum Besten. Tadeln wir sie um dieses subjectiven Behagens willen, so ist die Rechtfertigung leicht bei der Hand, denn dann verlangen sie nach neuen dramatischen Werken von der Größe der classischen Epoche. Da wäre es den Schauspielern leicht geworden, aus dem frischen Holze in kindlicher Einfalt die für die Dauer gültigen Muster zu schneiden, ganz aufzugehen in der Sache, die dem Volke völlig neue Offenbarung war. Aber jetzt? Das Interesse an den Werken sei längst ein unveränderlich feststehendes geworden und so müsse denn das Interesse am Schauspieler aushelfen. In der That fragt heute das Publicum nicht sowohl: was wird von Shakespeare oder Goethe gegeben? sondern: wer giebt den Mephistopheles? wer tritt als Othello auf?

Aus Weimar, wohin Haase 1846 zunächst von Berlin aus zum Theater gegangen war, hörten wir von ihm noch nicht, eben so wenig von seiner Wirksamkeit in Prag, wo er 1850 ein wachsendes Interesse an seine Bühnengestalt zu fesseln wußte, sondern erst einige Jahre später wurde uns sein Name hier und da von Bühnenfreunden zugetragen, die ihn in München hatten spielen sehen, wo jener Zeit Dingelstedt’s Hand das Steuer der Intendanz führte und Haase Dingelstedt’s verzogener Liebling war. So fragte zuvörderst eine Dame, ob uns der Münchener Hofschauspieler bekannt sei, der sich so elegant zu kleiden und seine zierlich gebaute Gestalt so aristokratisch nachlässig auf der Bühne zu bewegen wisse. – „In München?“ rief ich. „Nein! das ist die Stadt der derben Nahrungsmittel und eckigen Lebensformen. Wie sollte ein dortiger Schauspieler dermaßen aus der Art geschlagen sein!“ – Aber es hatte seine Richtigkeit mit der einnehmenden Erscheinung Haase’s; der Ruf feierte ihn alsbald um größerer Eigenschaften willen, als jener Dame zu seiner Empfehlung bemerklich geworden waren. In Hamburg hatten wir gerade eine der hier regelmäßig wiederkehrenden Krisen des Stadttheaters zu bestehen. „Wenn wir ein Mitglied wie Friedrich Haase hier an die Spitze zu bringen suchten,“ meinte ein Matador unserer Hamburger Kaufmanns- und Umgangswelt, „der hätte nicht nur das Theaterpublicum für sich, mit seinen liebenswürdigen Manieren gewänne er auch die Gesellschaft.“ – „Ist er denn aus seinen contractlichen Händeln mit Dingelstedt und der baierischen Hoftheater-Intendanz heraus?“ So lautete meine dadurch gegen Haase verstimmte Entgegnung. „Muß doch sein. Ich sah ihn als Grafen Thorane in Gutzkow’s „Königslieutenant“, fuhr jener fort. „Das Stück hat für mich etwas seltsam Verkünsteltes und in der französirenden Titelrolle stieß es mich bisher geradezu ab. Aber so wie Haase diesen Grafen Thorane giebt, wirkt er mit einem eigenthümlichen Schmelz des Wesens, mit einer ungezierten Vornehmheit und einer chevaleresken Herzensgüte, die mit der Hofmeistermiene versöhnt, womit der Graf auf unsere Nation und Politik herabblickt. Die Frauen sind allein schon von den Spitzen entzückt, die Haase bei dieser Gelegenheit als Busenstreifen und Manschetten trägt.“

Der gefeierte Elegant der Münchener Bühne befand sich also jetzt in Frankfurt a. M. Die Damen schwärmten für seine weiße Hand und Wäsche, und, was mehr war, auf bedeutende Männer

[204]

Friedrich Haase’s Charakterköpfe.
Originalzeichnung von Herbert König.

1. Friedrich Haase. 2. als Richard III. 3. Jeremias Knabe (Im Vorzimmer Sr. Excellenz). 4. Siegel (Vetter). 5. Edward Gibbon (Englisch). 6. Graf Thorane (Der Königslieutenant). 7. Rath Fein (Ein höflicher Mann). 8. Ludwig XI. 9. Timotheus Bloom (Rosenmüller und Finke). 10. Shylock (Kaufmann von Venedig). 11. Chevalier Rocheferrière (Partie Piquet). 12. Cromwell (Cromwell’s Ende). 13. Graf Klingsberg (Die beiden Klingsberg). 14. Bonjour (Wiener in Paris).

[205] brachte er einen bedeutenden Eindruck hervor. Von München hatte sich Haase nämlich unter Umständen getrennt, die von Weitem unleidlich erscheinen, weil sie wie ein von ihm verschuldeter Vertrauensbruch aussahen. Die heilige Hermandad des Cartellvereins processirte hinter ihm drein und in den Zeitungen wechselten Erklärungen und Gegenerklärungen mit einander ab, in denen immer diejenige Partei Recht behielt, die gerade am Worte war. Dies Zerwürfniß war eben nur zum Schweigen, aber noch nicht zur Ausgleichung gebracht, als eines schönen Mittags Fritz Haase in eigener Person bei mir in Hamburg erschien. Er wollte dem Stadttheater ein paar Frankfurter Urlaubswochen zu Gastspielen zuwenden. Der Empfang des schlanken, braunäugigen Herrn war von meiner Seite ein gezwungen freundlicher. Das ihm gespendete Lob hatte doch ein starkes Gegengewicht in meinem Gemüth an dem Aerger gefunden, den Haase den Münchnern, oder vielmehr, den er Dingelstedt bereitet hatte. Das ist also wieder Einer von den hochfliegenden und unruhigen Schauspielern. Der geordnete Dienst der Kunst und eine der Kunstanstalt untergeordnete Wirksamkeit genügt ihnen nicht. Sie wollen die alleinherrschenden Virtuosen sein. Dabei musterte ich die Formen seiner Tracht und seines Benehmens mit dem Mißtrauen, daß ich einen dandyhaften Günstling der Frauen in Haase erblickte. Mein Besuch war allerdings sehr sorgfältig nach der letzten Mode gekleidet, allein der elegante Rahmen war der Portraitgestalt so geschmackvoll angepaßt, daß die Ausstattung des Bildes dem Charakter desselben entsprach. So wählt kein Geck seinen Schnitt und seine Farben, und ein harmonischer Sinn für Aeußerlichkeit hat für die Bühne ihren großen Werth.

Die üblichen Höflichkeiten einer ersten Begegnung waren ausgetauscht, das Gespräch pausirte nach den Worten, womit ich dem Gaste gutes Glück zu seinem Auftreten gewünscht, als Friedrich Haase, anstatt mit einer pflichtschuldigen Verbeugung abzugehen, sich zu einem festen Sitze niederließ. „Es wird mir also schwer werden, Ihre Voreingenommenheit gegen mich zu überwinden,“ sagte er und trocknete sich die Stirn mit dem Tuche ab, als ob ein großer Angstschweiß darauf säße. Der Schelm! So gut wußte er das Verschwiegene zu errathen und so gewiß war er seiner Mittel, nicht anders denn als Sieger über meine Zurückhaltung vom Platze zu weichen!

Sein Vorhaben gelang ihm eben so rasch wie vollständig. Er lieferte in Kurzem eine so unumwundene Darlegung seiner künstlerischen Absichten und persönlichen Verhältnisse, als ob wir seit jeher die innigst Vertrauten gewesen und ihm diese Generalbeichte daher ein dringendes Herzensbedürfniß sei! Beileibe, daß er die Irrthümer seiner Handlungsweise beschönigt oder die Fehler derselben verborgen hätte! Gerade das gefährlich Mißzudeutende gab er mit einer Offenheit preis, welche wir eine rührend kindliche nennen würden, wäre sie nicht eine so überlegen kluge gewesen. Denn seine Aufrichtigkeit sprach sich mit einem Humor aus, der den Zuhörer unwiderstehlich zu der Partei des Humoristen hinüberzog. Haase ist nicht nur der vorgeschriebenen Rede, des Vortrags auf der Bühne Meister; sein freies Wort ist eben so sauber und den Gegenstand mit Anmuth „deckend“ wie sein Kleid. Dazu die pfiffige Frömmigkeit in seinem Blick, mag er das Auge niederschlagen oder erheben. Freilich blieb, er mochte sich erklären, wie er wollte, an seiner Künstlerschaft ein brennender Zug zum Virtuosenthum haften – wo sind wir denn noch so naiv in unserer ganzen Bildungswelt, daß es anders sein könnte an einem Kinde dieser Zeit? schien eine demüthige Senkung der Wimpern dabei zu fragen – und freilich behielt die Münchner Fahnenflucht ihre bürgerlich anstößige Seite. Aber ist das Virtuosenthum, das zu erweiterter künstlerischer Wirkung führt, am Schauspieler stärker als am Musiker oder am Maler zu tadeln? Der Münchner Contractzwiespalt endlich ist später und er ist mittels einer männlichen Buße gesühnt worden, zu der wir rathend und vermittelnd selber beigetragen haben.

Haase trat damals in Hamburg auf den Bretern des Stadttheaters und ein paar Jahre später in der Thalia auf, in welcher letztern wir eine Bühne von seltener Tüchtigkeit für das Conversationsstück besitzen. Einen Schauspieler in der Mannigfaltigkeit seiner Gebilde zu beschreiben, das ist eine schwere Aufgabe.

Sein Talent beherrscht vom verschlagenen Bolingbroke in „Ein Glas Wasser“ an die mit einer farbensatten Charakteristik zu Werke gehenden Liebhaberpartien bis auf den alten Klingsberg, in welcher Kotzebue’schen Figur Haase unter Anderem durch den souverän-herablassenden Ton für den Standpunkt Propaganda macht, von welchem aus der Graf der gemeinen Moralpredigt die Abgestandenheit ihres Wesens entgegenseufzt. Sein Marinelli ist ein höfischer Schmarotzer vom feinsten Schliff und sein Carlos in „Clavigo“ vollends hat den Stempel einer Geselligkeit, daß wir den einen oder den anderen unserer wohlwollendsten Hausfreunde in ihm zu erkennen glauben. Aber selbst mit seinem Franz Moor ließe es sich noch leben. Er ist kein zähnefletschender Popanz. Haase’s Bösewichte sind nur Bösewichte aus äußerster Nothwendigkeit ihrer Einsicht und ihrer verzweifeltsten Lagen. Stürbe Carl Moor an einem Duell in Leipzig, so würden wir in Franz einen ganz erträglichen Majoratsherrn der Familie Moor besitzen. Ist das nicht ein Humanitätsfortschritt der Kunst in Parallele mit dem Leben? In den kranken Erscheinungen, die Haase in den verknöcherten Edelmannsvorurtheilen eines Rocheferrière oder in dem von seinem Gewissen gequälten Lord Harleigh zur Anschauung bringt, wird dem Wunsche des Zuschauers von vornherein sympathisch durch einen Wegweiser zur Genesung genug gethan. Einen Tartüffe von Molière dagegen oder dessen Geizhals spielt Haase auch in der Methode des Verfassers, die in dieser einen Persönlichkeit einmal alles Unkraut desselben Charakters zum vollen Schusse aufsprießen lassen will. Haase’s Richard der Dritte ist ein so bestechender Unhold, daß er sich nicht allein durch irgend welche Hinterthür in’s Herz der unglücklichen Anna stiehlt. Mit seiner dämonischen Laune schmeichelt er sich so zuversichtlich auch beim Zuschauer ein, daß dieser der Ueberlegenheit des abgebrühten Schurken einen Beifall staunenden Ergötzens schenkt, so lange Richard seine Blutwirthschaft im Großen wider die Widerstände seiner Usurpation treibt. Mit Entsetzen erkennen sie das Gebiß des Wolfs erst wieder, wenn es aus der heuchlerischen Schafsmaske hervor auch gegen den Freund Buckingham und mit einem „Kopf ab!“ wider den Helfer Hastings schnappt. So sucht seine Kunst auch im Historischen das Individuelle darzustellen. Im Leben der Gegenwart ist es das markirt Gesellschaftliche, welches er mit ausdauerndem Nachdruck zu wechselnder Gestaltung bringt.

Eine Bemerkung zum Schluß an die Anatomen. Wenn Haase den Elias Krumm giebt, so hat er einen räthselhaft perspectivischen Hals. So lange es gut geht mit den Aussichten des Candidaten, schiebt sich ein Scharnier nach dem andern empor, so daß der Kopf des Krumm auf dem Gipfelpunkte seiner Pfarramts-Seligkeit wie auf einem Schwanenhalse hin und her schwankt. Aber dann tritt die Wendung ein und der heuchlerische Kerl geht mit einem Nacken ab, unter welchem nur der Höcker fehlt. Alles was Hals heißt ist ihm dermaßen in die Halsbinde gefallen, als ob der Kopf in den Schultern eingemauert wäre.

Für Auszeichnungen ist Haase nicht unempfänglich. Literarische Verherrlichungen verstimmen ihn keineswegs, und die Ordensfarben von Oldenburg und Coburg trägt er gewissenhaft im Knopfloche.




Die socialen Folgen der Arbeitstheilung.
Vortrag gehalten im Saale des großen Handwerkervereins zu Berlin von Schulze-Delitzsch.
(Schluß.)
III. Geschichtliche Entwickelung.

Haben wir sonach die tröstliche Ueberzeugung gewonnen, daß das Krankhafte unserer socialen Zustände nicht dauernd und principiell der Arbeitstheilung selbst, und in ihr dem Lebensnerv der Civilisation anhafte, daß es vielmehr in Einflüssen seinen Grund habe, welche ihrem Wesen fremd sind, so fragen wir weiter: wo denn diese Einflüsse zu suchen sind, aus welchen sich die fraglichen Mißstände erklären lassen, die sich seit Jahrtausenden bis in unsere Tage hinein schleppen? Schon die stetige Abnahme derselben im Laufe der Zeit, sowohl dem Grade als der Ausdehnung nach, [206] welche mit Fug nicht bestritten werden kann, sobald man die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht, giebt uns den nöthigen Fingerzeig hierüber, und wir brauchen denselben nur weiter zu verfolgen, um die Antwort zu finden, indem wir uns ein für allemal klar machen:

daß die Arbeitstheilung zu den Momenten unseres Culturlebens gehört und daher demselben Gesetz unterliegt, wie jeder geschichtliche Proceß, dem Gesetz der allmählichen Entwickelung, des Durchringens vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.

Die heutigen Zustände können daher so wenig wie die früheren als etwas Abgeschlossenes, sondern nur als eine Entwickelungsstufe aufgefaßt werden, welcher andere und höhere folgen, weshalb aus ihnen noch kein Schluß auf das Princip selbst und seine endgültige Gestaltung gezogen werden kann.

Wie die Arbeit in ihren technischen Methoden erst mit steigender Civilisation zu besserer Bewältigung ihrer Aufgaben vorgeschritten ist, so streift auch die durch diese Arbeitsmethoden wesentlich bedingte Arbeitstheilung nur allmählich ihre ersten, rohesten Formen, ihre größten, barbarischen Härten ab. Die Geschichte der Arbeit ist daher die Geschichte der Arbeitstheilung und begreift zugleich die der Arbeiter und ihrer Lage in sich. Und weil Arbeit und Cultur in ihren Wechselbeziehungen niemals getrennt werden können, so fallen die ganzen berührten Verhältnisse wiederum mit dem jedesmaligen Stande der Civilisation bei den einzelnen Völkern und in den verschiedenen Zeiten zusammen. Daher können wir uns nicht entbrechen, das Mangelhafte und Verwerfliche der erwähnten Erscheinungen dem mangelhaften Stande der Civilisation zuzuschreiben, welcher die Arbeitstheilung in jene falsche Richtung drängt, nicht dieser selbst und ihrem wohlthätigen Princip. Es ist eben ein unvermeidlicher Durchgangspunkt in der Gesammtentwickelung, den wir hinzunehmen haben, mit der Aufforderung, die Hände anzulegen zum Besseren.

Diese Auffassung findet die vollste Bestätigung durch einen Rückblick auf den Verlauf der Sache seit den frühesten Geschichtsepochen. Je finsterer und roher Völker und Zeiten, desto mehr herrscht das trennende Element der Arbeitstheilung vor, desto schroffer und starrer sind die Classenunterschiede, welche die Verschiedenheit der Beschäftigungen mit sich bringt, desto mehr sehen wir die Vortheile davon einer begünstigten Minderheit auf Kosten der unterdrückten Mehrheit zugewendet. Einen Hauptgrund dieser Erscheinung haben wir bereits angedeutet, es sind die unvollkommenen Arbeitsmethoden. Bei schlechten, höchst ungenügenden Werkzeugen, in Unkenntniß der beihelfenden Naturkräfte, mußten die Arbeiter in den frühesten Zeiten fast allein durch äußerste Anspannung der Muskelkräfte ihre Aufgaben lösen, was eine Erschöpfung und Abstumpfung des Geistes und Körpers, eine Dumpfheit des Gemüthes bei ihnen mit sich führte, die ihrer Bildsamkeit, ihrem Emporkommen nicht günstig waren. Dadurch wird es erklärlich, wie in den ältesten Zeiten die verwerflichsten und entwürdigendsten Formen der Arbeitstheilung zuerst Platz griffen: die Geburtskaste und die Sclaverei. Nach der Auffassung der Zeit ließen sich die niedere Erwerbsarbeit und die höhere Geistesthätigkeit in einem und demselben Menschen nicht vereinigen. Wer das Eine trieb, wurde eben dadurch unfähig zu dem Anderen. Damit die eine Halbschied der Menschen den höchsten Zielen unseres Geschlechts zustreben und alle Zeit und Kraft darauf wenden könne, mußte die andere davon ausgeschlossen und ihr die Beschaffung der äußeren Daseinsmittel aufgebürdet werden.

So entmuthigend, ja so ungeheuerlich uns diese Anschauung im Lichte unserer Zeit erscheint, müssen wir doch Eins zugestehen. Auch in dieser verkümmerten Form, in dieser offenbaren Abirrung hat die Arbeitstheilung noch unendlich für die Entwickelung unseres Geschlechtes gewirkt und muß als Quell alles Fortschritts betrachtet werden. Schlagend ist hierbei der Vergleich der Völker der alten Welt, bei denen wir jene Einrichtungen vorfinden, mit den wilden Horden und Stämmen, bei welchen keine Spur davon zu bemerken ist, denen aber auch alle Culturfähigkeit abgeht. Man blicke nur nach Amerika und den Südseeinseln, wo solche Stämme noch jetzt hausen. Da ist von eigentlicher Gewerbsthätigkeit und Arbeitstheilung keine Rede. Jeder ist Krieger und Jäger oder Fischer, jede Familie schafft sich ihren Bedarf selbst und der gefangene Feind wird getödtet, nicht geknechtet. Von Classenunterschieden ist dabei nichts zu spüren, vielmehr herrscht sociale und politische Gleichheit im vollen Maße. Aber dafür ist auch von aufsteigender Civilisation nichts bei ihnen wahrzunehmen. In denselben ursprünglichen Zuständen, wie sie nach den ältesten Nachrichten bei ihnen bestanden haben, finden wir sie noch jetzt, und die Berührung mit den Europäern vermag ihnen höchstens die Laster der Civilisation mitzutheilen, aber keinen lebenskräftigen Anstoß, sich ihrer Segnungen zu bemächtigen. Die meisten von ihnen haben es weder zu einer Schriftsprache, noch zu festen Sitzen und eigentlichem Ackerbau gebracht. Es scheint, daß die ganze Race von der Bühne der Welt verschwinden wird, ungefähr in denselben Zuständen, wie sie dieselbe betraten.

Wie anders die Völker des Orients, in West- und Südasien und an der Ostküste des nördlichen Afrika! Freilich ist hier der Ursprung der Sclaverei und des Kastenwesens zugleich mit dem der Arbeitstheilung zu suchen, aber welche reichen Culturschätze sind zugleich mit diesen Institutionen von ihnen an die abendländische Welt gebracht und die Grundlage der Civilisation für alle Zeiten geworden! Ackerbau und Gewerbe, Handel und Schifffahrt, Entdeckungen und Erfindungen aller Art, die Gewinnung und der Gebrauch der Metalle, die Buchstabenschrift mit den Anfängen der Wissenschaften und Künste, die ältesten Urkunden und Denkmäler der Religion und Geschichte: das Alles ist von ihnen zu uns gekommen und hat sich in der Blüthezeit des classischen Alterthums bei den Griechen und Römern zu einer Höhe gesteigert, daß es bis auf die Gegenwart herab für alle Völker eine ewige Schule bleibt, an der sie mit ihren eigenen Bildungsstrebungen anknüpfen.

So gewiß es aber hiernach ist, daß diese reichen Culturschätze mit tausendfältigem Elend und Verkümmerung eines großen Theils der Menschen in den antiken Gemeinwesen erkauft sind, eben so sicher steht es fest:

daß die dadurch gewonnenen Keime weiterer Entwickelung die Beseitigung jener entwürdigenden Zustände in ihrem Schooße trugen.

Kam die damalige Arbeitstheilung auch nur einer geringen Zahl zu statten, so war es doch eben diese, welche der Cultur überhaupt die Bahnen brach, die, einmal eröffnet, sich von Geschlecht zu Geschlecht erweiterten. Das ist einmal der natürliche Zug aller Bildungserrungenschaften im Ganzen, wie aller Entdeckungen und Erfindungen im Einzelnen, daß sie aus den engen Kreisen der Eingeweihten heraus sich zu verallgemeinern, immer größere Kreise zu gewinnen streben. Ganz besonders wurde die allmähliche Emancipation der arbeitenden Classen durch den Einfluß begünstigt, welchen die steigende Blüthe der Künste und Wissenschaften auf den Gang der Industrie und die Vervollkommnung der gewerblichen Arbeitsmethoden mehr und mehr ausübte. Unser Jahrhundert vor Allem mag als Wendepunkt erscheinen, von wo aus man in spätern Zeiten eine neue Epoche in dieser Beziehung datiren wird. Namentlich sind es die großen Forschungen und Entdeckungen in den Naturwissenschaften, welche hier ganz neue Bahnen brechen. Indem sie die Naturkräfte immer mehr zu menschlichen Arbeitszwecken zur Verfügung stellen, entheben sie mehr und mehr die Arbeiter der rohesten, aufreibendsten Verrichtungen, welche ihre Bildungsfähigkeit in der Vorzeit so sehr beeinträchtigten. Im Gegentheil drängen die neuen Arbeitsmethoden selbst zu geistiger Entwickelung hin. Handwerk wird mehr und mehr Kopfwerk, ein gewisser Grad von Kenntnissen, zum Theil sogar von wissenschaftlicher Bildung, wird unentbehrliches Arbeitsmittel. Zugleich ist durch die ungeheure Steigerung der Leichtigkeit, wie der Ergiebigkeit der Arbeit, vermöge deren immer größere Gütermassen in immer kürzeren Zeiträumen und mit immer geringerer Mühe hergestellt werden, eine Verkürzung der Arbeitszeit zum Theil bereits angebahnt, zum Theil überall vorbereitet, welche dem Arbeiter auch die nöthige Muße besser als bisher gewähren wird, sich mit seiner Ausbildung zu befassen. Und auf diese Weise tritt die bedrohliche Wirkung der Arbeitstheilung, von der wir sprachen, die Gefahr der Verkümmerung mehr und mehr zurück. Was dem Arbeiter noch versagt bleibt, unmittelbar durch seine Fachthätigkeit zu erreichen, die Uebung seiner höheren Anlagen, dem mag er jetzt in seiner freien Zeit selbstthätig nachstreben. Und der gegebene Anstoß bleibt hierbei nicht stehen, vielmehr greifen die einmal begonnenen Bildungsbestrebungen, bei denen sich die deutschen gewerblichen Arbeiter vor allen auf das Ehrenvollste auszeichnen, unmittelbar in das Gewerbsleben zurück. Der Hebung des Bildungsstandes folgt die Hebung der wirthschaftlichen Lage auf dem Fuße, für welche die gewonnene Einsicht, die gesammelten Kenntnisse vom größten praktischen [207] Werth sind. Hier sind es besonders die genossenschaftlichen Verbindungen der Arbeiter, wodurch sie sich, außer den Bildungsmitteln, Capital, Credit und alle äußeren Bedingungen zum wirthschaftlichen Gedeihen wie zur gewerblichen Selbstständigkeit verschaffen.

Und wird erst dies in größerem Maßstabe durchgesetzt, wozu die hoffnungsvollsten Anfänge vorliegen, sehen die Einzelnen die Möglichkeit vor sich, als Mitunternehmer bei den Geschäften betheiligt zu werden, welchen sie als Arbeiter beigesellt sind: so tritt ihr Interesse an dem Geschäftsganzen, ihr Antheil an dessen Leitung, das Gefühl der Verantwortlichkeit für die geschäftlichen Operationen, als geistiges Complement des blos mechanischen Theils ihrer Beschäftigung hinzu. Die intellectuelle und sittliche Erstarkung findet dann auch in ihrer Gewerbsthätigkeit selbst eine wichtige Stütze und zwar zum größten Vortheil des gesammten Güterlebens der Nation. So rückt endlich das wahre Ziel der Arbeitstheilung uns näher und näher, welches wir dahin normiren:

daß der durch sie allein mögliche Ueberschuß der Gesammtproduction über das materielle Gesammtbedürfniß, welcher einen Theil der menschlichen Kräfte für höhere Strebungen frei macht, nicht blos einem bevorzugten Theile der Gesellschaft, sondern allen, insbesondere den arbeitenden Classen selbst mit zu gute kommt.

Das erst ist die wahre Emancipation der Arbeiter, daß ihnen Raum zur vollen Entwickelung und somit die Möglichkeit gegeben wird, sich bei den wichtigsten Zeitinteressen lebendig mit zu betheiligen. Erst auf diese Weise tritt der Arbeiter aus der Beschränkung und Absonderung seiner bloßen Fachthätigkeit in die höchste Gemeinschaft ein, die es unter Menschen giebt, in die gemeinsame Culturarbeit. Und nur so vollzieht sich die Synthese der getheilten Arbeit, das Wiederzusammenfassen der tausendfältig zerlegten Menschenthätigkeiten zur höchsten menschlichen Gesammtleistung, ohne welches die menschliche Bestimmung bei zahlreichen Bevölkerungsclassen dauernd gefährdet erscheint und die immer weiter vorschreitende Zerklüftung am Ende in den Auflösungsproceß der ganzen Gesellschaft ausgehen müßte.

IV. Praktische Folgerungen.

Es erübrigt nun noch schließlich, an die von uns aufgestellten Sätze einige praktische Folgerungen auch nach anderer Seite hin zu ziehen, welche den wahren Zusammenhang des von uns vorzugsweise in seinen socialen Beziehungen behandelten Themas mit den wichtigsten politischen und humanen Tagesfragen darthun und Ihnen zeigen, wie es nicht blos die Arbeiterinteressen berührt, wie sehr vielmehr alle Schichten unseres Volkes Ursache haben, sich der Grenzen der Arbeitstheilung im öffentlichen und Privatleben stets wohl bewußt zu bleiben.

Bei allen Thätigkeiten – fanden wir – welche den Erwerb betreffen, die äußerlichen Vorbedingungen zur Erreichung unseres Lebenszweckes, greift die Arbeitstheilung Platz, ja wir wären ohne sie gar nicht im Stande, unsere menschliche Bestimmung zu erreichen. Aber sobald es sich um Eingriffe in diese unsere Bestimmung selbst handelt, auf Gebieten, wo die Vollausprägung des Menschen in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht in Frage steht, wo die höheren Kräfte und Anlagen unserer Natur ohne eigene Bethätigung verkümmern, da darf von einer vollständigen Sonderung, von einer ausschließlichen Uebertragung an gewisse Berufs- und Geburtsstände niemals die Rede sein, da müssen Alle, alle Classen der Gesellschaft wie alle Einzelne, eintreten, so schwer es ihnen auch werden mag; das dürfen sie nicht zur Domaine werden lassen für auserwählte Minoritäten, soll nicht das Beste von dem, was ihnen die rechte Arbeitstheilung kaum erst gewann, durch diese falsche Arbeitstheilung wieder verloren gehen. Dies gilt für das individuelle Leben, die rein humanen Beziehungen des Einzelnen so gut, wie für das öffentliche, das politische Leben der Gesammtheit. Ein Volk, welches irgendwie eine hohe Stufe der Civilisation behaupten will, bei welchem Freiheit und Recht, Wohlstand und Bildung Gemeingut sein sollen, hat daher diese höheren menschlichen und bürgerlichen Attribute für alle seine Glieder wohl in Acht zu nehmen. Soll es wahrhaft wohl um dasselbe stehen, so darf es keiner Beamtenkaste, keiner Bureaukratie oder Aristokratie die ausschließliche Leitung der öffentlichen Angelegenheiten überlassen, vielmehr muß es sich sein wohlbemessenes Theil daran, die Selbstregierung und Verwaltung in Staat und Gemeinde mit möglichster Betheiligung Aller, sichern. Ebenso darf es keinem besonderen Kriegerstande ausschließlich seine Vertheidigung übertragen, sondern muß der eigenen Wehrkraft den Hauptantheil davon vertrauen. Endlich darf es keiner Priesterkaste die Regulirung seiner humanen Bildung, keiner Kirche seine Schule übergeben, sondern muß sich seine Selbstbestimmung und Selbstbethätigung auch nach dieser Seite hin um jeden Preis vorbehalten. Thut es das nicht, übernimmt es die Arbeit und Mühe nicht, welche die Betheiligung in den genannten Stücken erfordert, überläßt es mehr davon, als was zur geschäftlichen und technischen Vorbereitung und Leitung durchaus erforderlich ist, an gewisse Berufsclassen, so ist es verloren. Denn die sittlichen und intellectuellen Kräfte in den Einzelnen, denen die Bethätigung gerade bei den höchsten Aufgaben, den wichtigsten Interessen entzogen wird, müssen nothwendig verkümmern. Wie soll Bürgersinn, Opferfreudigkeit und Sorge für das Gemeinwohl, Selbstständigkeit des Urtheils und höheres menschliches Bewußtsein bei einem so gegängelten, zu humaner und politischer Unmündigkeit herabgedrückten Volke sich entwickeln, dem man jede selbstständige Regung von Haus aus als strafbar vorstellt, dem man die Früchte vom Baum der Erkenntniß als verboten, den Trieb nach Wahrheit und Freiheit als Erbsünde bezeichnet? Nein, wie sehr uns auch die Sorge für das äußere Dasein in Anspruch nimmt, so viel Zeit und Kraft muß erübrigt und daran gesetzt werden, uns von der großen Culturgemeinschaft des Menschengeschlechts, in der wir uns nur durch Ausbildung und Gebrauch jener höhern uns Allen angeborenen Kräfte einzubürgern und zu erhalten vermögen, nicht ausschließen zu lassen. Die Arbeitstheilung, welche als ureigene Mitgift unsrer Natur uns die äußere Möglichkeit dazu zu gewähren bestimmt ist, sie soll man uns am wenigsten als Lockvogel dabei aushängen, da wir wissen, daß durch Ausdehnung derselben über ihre natürlichen Grenzen hinaus sich ihre Segnungen für uns in das Gegentheil verkehren.




Blätter und Blüthen.


Der Sieg des Rechtes. Die Gartenlaube hat unlängst unter dem Titel „Es giebt noch Richter in Berlin“ eine interessante Anekdote aus der letzten Zeit des vorigen Jahrhunderts erzählt; erlauben Sie, daß ich von einem ähnlichen Beispiele richterlicher Unbeugsamkeit aus den Tagen Friedrich Wilhelm’s des Dritten berichte.

Das Pflaster der Haupt- und Residenzstadt Berlin befand sich in einem Zustande, der dringend um Abhülfe anging. Mit einzelnen kleinen Reparaturen war da nicht zu helfen, es mußte durchweg neu und mit größeren Steinen gepflastert werden, was enorme Kosten verursachte, da „des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse“, die Mark Brandenburg, ohnehin nicht „steinreich“, in Bezug auf Pflastern aber geradezu „steinarm“ zu tituliren ist. Der König, welchem die Minister die Nothwendigkeit der Maßregel vorgelegt hatten, stimmte derselben um so schneller bei, als er bei seinen zahlreichen Promenaden zu Fuß durch die Stadt selbst die Unannehmlichkeit der abwechselnden Hügel und Löcher empfunden. Er erließ eine Cabinetsordre an den Magistrat wegen schleuniger Inangriffnahme einer vollständig neuen Pflasterung Berlins. Der Magistrat war nicht wenig überrascht über diese königliche Zumuthung, welche dem städtischen Fonds unerschwingbare Lasten aufbürdete. Er entgegnete mit aller Ehrerbietung, daß die brandenburgischen Regenten (damals noch keine constitutionellen), zurück bis zum großen Kurfürsten, ihre Residenz stets aus ihrer Schatulle hätten pflastern lassen. Se. Majestät würde wohl hierin keine Ausnahme machen wollen.

Ueber diese Aeußerung zeigte sich der König sehr ungehalten; er gab dem Magistrate zu wissen, daß er keinen Widerspruch liebe – der Magistrat müsse pflastern, dabei bliebe es. Dieser ließ sich aber nicht einschüchtern, und setzte in einem „unterthänigsten Pro memoria“ auseinander, daß Se. königliche Majestät kein Recht für sich habe, und wenn „Allerhöchstdieselbe“ sich weigere, die Pflasterung Berlins zu bezahlen, so werde der Magistrat den Rechtsweg einschlagen und bei dem Kammergerichte Klage führen. Als der König diese Drohung vernahm, gerieth er in wirklichen Zorn; er trat an das Fenster und sprach in hoher Aufregung zu dem Cabinetsrath, welcher Vortrag gehalten hatte: „Verklagen! Leute verrückt sein; ihnen sagen – sollen gehorchen – sonst schlimm ergehen! Verklagen, Tollheit!“

Der Magistrat empfing die neueste dictatorische Cabinetsordre ungebeugt; er vertraute der aus der preußischen Geschichte hervorleuchtenden Wahrheit, daß in diesem Lande Recht Recht bleiben muß, daß Niemand sich über das Gesetz erheben darf, selbst der Landesherr nicht. Die Klage gegen den König wurde in aller Form bei dem Kammergericht eingereicht. Dieser hohe, im In- und Auslande seiner Unparteilichkeit halber noch nie angezweifelte Gerichtshof nahm die Beschwerde über den Monarchen in derselben Ruhe entgegen, wie die Klage gegen irgend einen Privatmann. Es wurden, nach der bei ihm stattfindenden Praxis, ein Referent und ein Correferent, zwei tüchtige Juristen, ernannt und diesen vier Wochen Frist gegeben, um ihr Gutachten gründlich zu motiviren und mit Documenten zu [208] belegen. Beide dürfen nach ihrem Amtseide miteinander nicht über die Sache reden oder correspondiren. Es war ein Rath und ein Assessor.

Nach abgelaufener Frist versammelte sich das Kammergericht zu einer außerordentlichen Session, ausschließlich für die Proceßsache „contra regem“ bestimmt. Es war eine feierliche Sitzung. Der älteste Präsident des Gerichts hieß Woltermann und wurde von Allen, die ihn kannten, mit tiefster Achtung betrachtet. Als er Präsident werden sollte, bot ihm der König den Adel an. Der wackere Mann lehnte auf bescheidene Weise eine solche Auszeichnung von sich ab. „Mein Vater hieß nicht von Woltermann, sondern Woltermann schlechtweg. Ich bin zu stolz auf diesen Namen, als daß ich ihn verändert wünschen könnte.“ Man hinterbrachte dem Könige diese Weigerung mit einigen tadelnden Zusätzen.

Der König nahm sie jedoch ganz anders auf, als die Nachricht von der Renitenz des Magistrats, er lächelte und sprach: „Braver Mann sein! Woltermann bleiben und doch die Excellenz haben.“ Diese bürgerliche Excellenz hatte bei der erwähnten wichtigen Session den Vorsitz. Der Referent hielt seinen Vortrag und gelangte, gestützt auf unwiderlegliche Beweise, zu dem Resultate, daß, da die Kurfürsten von Brandenburg sowohl wie die nachmaligen Könige von Preußen sich verpflichtet hatten, ihre Residenzen auf eigene Kosten im Stande zu halten, der jetzige König ebenfalls verpflichtet sei, dies zu thun. Der Correferent stellte dieselbe Ansicht auf und legte zu ihrer Begründung noch verschiedene Urkunden und andere alte Schriftstücke vor. Man schritt zur Abstimmung, und unter den Mitgliedern des Gerichtes erklärte sich nicht eine einzige Stimme für den König, sondern der einstimmige Beschluß richtete sich gegen ihn und verurtheilte ihn, „die Pflasterung der Haupt- und Residenzstadt Berlin aus königlichen Mitteln bestreiten zu lassen und die Kosten des processualischen Verfahrens zu bezahlen“.

Man kann sich denken, wie der Monarch, von Jugend auf gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen, ein solches gerichtliches Urtheil, welches sich gewissermaßen ebenso über den Gesalbten des Herrn stellte, wie über einen verklagten Ackerbauer, die Kunde von dem Erkenntniß empfing. Er war eine Weile förmlich sprachlos und schien nahe daran, diesen Richterspruch als ein Majestätsverbrechen anzusehen. Dennoch überwand er sich, er wagte nicht, durch einen Machtspruch den Knoten gewaltsam wie mit einem Schwerte zu durchhauen; aber fügen wollte er sich auf keinen Fall. Nach einer Weile des unverständlichen Murmelns vor sich hin, das gewiß einige unsanfte Apostrophen gegen die Herren vom Kammergericht verbarg, brach er endlich in die befehlenden Worte aus: „Haben gesprochen! Andere auch sprechen! Appelliren an das Oberlandesgericht in Frankfurt! Dort auch ordentliche Richter sein. Werds den Berlinern zeigen!“ Er wollte auf seine Weise einen Instanzenzug verfolgen, also huldigte er, auch mitten in der heftigsten Aufregung, dem Rechte, er dachte nicht an Gewalt. Aber das Oberlandesgericht in Frankfurt stand unter dem Berliner Kammergericht; man konnte wohl von jenem an letzteres appelliren, aber nicht umgekehrt. Die Kammergerichtspräsidenten wurden sogleich von dem Entschlusse des Königs, ein weiteres Rechtsmittel einzulegen, in Kenntniß gesetzt. Als oberster Gerichtshof des Landes konnte das Kammergericht sich einer Reformirung seines Urtheils durch ein Forum zweiten Ranges unmöglich aussetzen. Es wurde eine consultative Sitzung anberaumt und in dieser der Schritt beschlossen, welcher auch alsbald, zwei Tage später, zur Ausführung kam.

Es war Sonntag. Die Straßen Berlins, damals wegen ihrer Ausdehnung selten belebt erscheinend, waren an diesem Vormittage, wo jedes Geschäft schwieg und ein großer Theil der Bevölkerung sich in den Kirchen befand, völlig einsam. Da sah man vom Kammergerichtsgebäude aus einen Zug schwarzgekleideter Männer ernst, aber ohne Prätension, sich nach dem königlichen Palais hinbewegen. An der Spitze schritten zwei alte Herren mit dem Stern des schwarzen Adlerordens auf der Brust. Die Decorirten waren der erste Präsident Woltermann und der zweite Präsident v. Trütschler. Paarweise folgten ihren Chefs, nach der Anciennetät geordnet, die Räthe, Assessoren und Referendarien. Im Palais angelangt, meldeten sie sich bei dem dienstthuenden Kammerherrn und ließen Se. Majestät um eine Audienz ersuchen.

„Sollen in den Salon treten!“ hatte der König gesagt und der Kammerherr geleitete sie zur bezeichneten Stelle hin. Hier formirten sie, der Thür gegenüber, durch welche der König eintreten mußte, einen Halbkreis, die beiden Präsidenten in der Mitte. Es währte wohl eine Viertelstunde, ehe Friedrich Wilhelm sichtbar ward; ob er sich wirklich aufgehalten befand oder ob er die Herren des Gerichtes, welche ihn zu verurtheilen gewagt hatten, sein Uebergewicht fühlen lassen wollte, steht dahin. Endlich trat er raschen, militärischen Schrittes herein; sein Gesicht war keineswegs freundlich, er erwiderte die tiefe Verbeugung der Anwesenden nur mit einem Kopfnicken. Der Präsident Woltermann trat einen Schritt vor und nahm das Wort. Nach einer nochmaligen Verbeugung, die unerwidert blieb, sprach er: „Ew. Majestät wollen vergeben, wenn wir nothgedrungen Ihnen eine allerunterthänigste Bitte persönlich vortragen. Mein königlicher Herr! Wie Sie uns hier sehen, sind wir die sämmtlichen Mitglieder des ersten Gerichtshofes der Monarchie. Wir sprechen ab nach Gesetz und Gewissen ohne Ansehen der Person. Wir sprechen ab, Ew. Majestät, über Leben und Tod und haben über uns nur die Begnadigung des redlichsten und menschenfreundlichsten Herrschers von Allen, die jemals ein deutsches Scepter geführt haben. Wenn wir die peinlichsten Urtheile fällen, so muß die Bevölkerung des Landes uns ein unerschüttertes Vertrauen darbringen, wir müssen umringt sein von einem uneinnehmbaren Wall, von der Volksüberzeugung, daß kein Rang und Stand bei uns Berücksichtigung findet, sondern daß wir unser Auge fest haften lassen auf Gesetz und Recht. Weil wir auch gegen Sie, mein königlicher Herr, unsern inniggeliebten Landesvater, unserer Pflicht nachgekommen sind, deshalb haben Sie uns Ihr Vertrauen entzogen und das Beispiel des Königs muß das Vertrauen im Volke erschüttern. Durch einen Machtspruch wollen Ew. Majestät ein unter dem Kammergericht stehendes Forum unsere reiflich erwogenen Beschlüsse prüfen und beziehentlich reformiren lassen. Durch diese Maßregel sind wir degradirt und fortan unfähig, den obersten Gerichtshof Preußens zu bilden. Im Namen meines Collegen im praesidio, der Räthe, Assessoren und Referendarien, von jedem Einzelnen dazu befugt und beauftragt, bitte ich Ew. königliche Majestät um unser Aller Entlassung.“

Dem alten Mann standen bei den letzten Worten die Thränen im Auge, was der König bemerkte, da er bei dem aufmerksamen Zuhören den Blick unverwandt auf das würdige Antlitz des Sprechenden gerichtet hielt. Eine feierliche Pause trat ein; es war deutlich zu bemerken, daß der König sich in Verlegenheit befand in Betreff der Antwort, die er zu geben habe. Er steckte beide Hände in die Beinkleidertaschen und wiegte den Körper seitwärts von Fuß auf Fuß. Dann überblickte er die zahlreiche, in ihrem schwarzen Costüme einen hochernsten Charakter zur Schau tragende Versammlung und sprach: „Alle gegen mich gewesen?“

„Alle, mein königlicher Herr,“ entgegnete Woltermann, „sonst würden nicht Alle in tiefer Unterthänigkeit um den Abschied anhalten.“

„So Viele besser beurtheilen können, als Einer,“ nahm der König das Wort, und seine Züge wurden milder, „ich Mensch sein – irren können – keinen Abschied haben – im Amte bleiben – wenn’s einmal Recht ist, so – – will ich pflastern.“

Ein stürmisches Lebehoch entzündete dies Wort bei allen Aufhorchenden; der König lächelte, dann reichte er den beiden Präsidenten die Hand, verbeugte sich höflich vor den Gerichtspersonen und verließ den Saal.

Berlin ward neu gepflastert auf Kosten der königlichen Schatulle.




Zur Nachricht!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Leipzig, im März 1866.
Die Verlagshandlung.




Die Herren R. Benedix, Beta, Bock, Brehm, Brunold, Fr. Gerstäcker, G. Hammer, G. Hiltl, M. von Humbracht, A. Meißner, E. Polko, Prof. Richter, Carl Ruß, Joh. Scherr, Schmidt-Weißenfels, A. Schloenbach, Levin Schücking, Herman Schmid, Schulze-Delitzsch, Albert Traeger, Temme, Carl Vogt, L. Walesrode, Fr. Wallner u. v. a. bleiben unsere regelmäßigen Mitarbeiter. Von den im nächsten Quartal zum Abdrucke kommenden Artikeln wollen wir blos die nachstehenden interessanten Erzählungen, Aufsätze und Skizzen erwähnen:

Goldelse. Von E. Marlitt. Fortsetzung und Schluß. – Der Frankfurter Advent. Von Bernd vorn Guseck.

Bismarck an Uhden. Von E. Dohm (Redacteur des Kladderadatsch). – Aerztliche Strafpredigten für Mütter. Von Bock. Die weibliche Schönheit. – Eine Stunde an meinem Bienenstande. Von Hake. – Elisabeth Christine von Preußen. Ein Lebensbild von Julius Bacher. – Faust, Gretchen und Mephisto. Erinnerung eines deutschen Seemanns. – Die todte Hand. Von Alfred Meißner. – Ein Besuch im Mozarteum zu Salzburg. – Der Stock. Culturhistorische Skizze. – Die junge Amerikanerin. Charakterbild von Wickte. – Wie man deutsche Erfindungen in England lohnt. Von Fr. Hofmann. – Die Pariser Salons. – Erinnerungen an meinen Bruder Heinr. Heine. Von Maximilian Heine. – Der Garten auf dem Hause. – Der einstige Parademarsch. Eine militärische Erinnerung von Annecke. – Vornehmes Proletariat in Berlin.– Eine Besteigung der Zugspitz. – Rom am Rhein. Von einem preußischen Richter. – Aus der Sphäre des Hofes bis zum Steckbrief – Ein Fürstenbild der Neuzeit. – Der erste Kampf. Erinnerung aus dem amerikanischen Kriege. – Das Herz der Thiere. Von F. Siegmund. – Ein Tag in The Dalles in Oregon. Von Th. Kirchhoff. – Unser Affe Molli, ein Bild aus dem zoologischen Garten. Von Brehm. Mit Abbildung. – Die Bank von England. Von Fr. Althaus. Mit Abbildung. – Durch und über den Mont-Cenis. Mit Abbildung. – Der Materialismus und L. Feuerbach. Mit Abbildung. – Ein Pferdejagen in Scharnhausen. Mit Abbildung. – Ein Streifzug nach Lauenburg. Von O. Glagau. Mit Abbildung. – Die Wildheuerin in Tirol. Mit Abbildung. – Nachtherberge in London. Mit Abbildung. – Die letzten Tage des Alten von Neuseß. Von Fr. Hofmann. Mit Abbildung. – Der Tattersall in London. Von Fr. Althaus. – Pianistin und Componist. Mit den Portraits von Clara und Robert Schumann. – Der Napoleon der Kunstreiter. Von Franz Wallner. Mit Abbildung. – Der letzte Ritter Frankens und seine Tafelrunde. Mit Abbildung.

Außerdem werden von den bereits am Schlusse des vorigen Jahres angekündigten Beiträgen im nächsten Quartal Abdruck finden:

Der Schrecken der weißen Reaction. Episode aus der neueren französischen Geschichte, erzählt von Johannes Scherr. – Die Corallenfischerei. Von Carl Vogt. Mit Abbildungen. (Fortsetzung.) – Im Crocodil. Skizze aus der Münchener Künstlerwelt. Mit Illustration von Theodor Pixis. – Enthüllungen aus den Werkstätten der Tagespresse. Von H. Wuttke.

Leipzig, im März 1866.
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. V. Laharpe (des Augenzeugen) Olmo d. Jacq. Cazotte p. XXI.