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„Es giebt noch Richter in Berlin“

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Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: „Es giebt noch Richter in Berlin.“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 157–159
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Zopfschulze und das Kammergericht in Berlin
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„Es giebt noch Richter in Berlin.“


Als der bekannte Berliner Professor Eduard Gans dem berühmten englischen Rechtsphilosophen Bentham einen Besuch abstattete, brachte dieser das Gespräch auf Preußen und die daselbst früher herrschende Toleranz und Aufklärung.

„Was wollen,“ sagte der englische Gelehrte, „alle unsere Kirchenverbesserer, unsere Zehntenaufheber gegen die Energie eueres Mannes mit dem Zopfe bedeuten!“

„Unseres Mannes mit dem Zopfe?“ erwiderte Gans verwundert. „Verstehen Sie etwa Friedrich den Großen darunter?“

„Nein, ich verstehe darunter jenen hartnäckigen, beständigen und tapferen Prediger des göttlichen Wortes, der seine Tracht des gewöhnlichen Lebens auch auf der Kanzel nicht verlassen wollte und vor Gott erschien, wie er vor Menschen zu erscheinen pflegte. Mit solcher Größe können weder Brougham, ich muß sagen, wie er heute ist, noch Stanley, noch Grey, noch Althorp in die Schranken treten.“

Dieser Mann, den der berühmte Bentham bewunderte, war der einfache Prediger Schulz auf Gielsdorf in der Mark, welcher unter dem Namen „Zopfschulz“ wegen seines Processes eine historische Berühmtheit erlangt hat.

An einem Sonntag des Jahres 1782 stand der „Zopfschulz“ auf der Kanzel und lehrte seiner Gemeinde das Wort Gottes, wie er es auffaßte, rein, lauter im Geiste des wahren Christenthums, frei von allen dogmatischen Spitzfindigkeiten und von allen Entstellungen, die im Laufe der Jahrhunderte die erhabene Lehre verunstaltet haben. Andächtig lauschten seine Zuhörer, meist schlichte Landleute, seiner Rede, mit der sie vollkommen einverstanden waren. Als er geendet und die Kanzel verließ, drängten sie sich um den geliebten Seelsorger, der ihr volles Vertrauen besaß. Er war zugleich ihr bester Freund und Berather in allen geistlichen und auch weltlichen Angelegenheiten, vor dem sie das bekümmerte Herz ausschütteten. Heute klagten sie ihm ihre Noth und wie sie von dem Pächter des Gutsherrn die gewaltsamsten Mißhandlungen leiden müßten; deshalb baten sie ihn um Gotteswillen, sich ihrer anzunehmen. Der Zopfschulz suchte sie zu beruhigen und versprach ihnen, mit dem Dorftyrannen Rücksprache zu nehmen.

Noch an demselben Sonntag begab er sich zu diesem Zwecke in die Wohnung des Pächters, um ihn zur Rede zu stellen. Als dieser aber seinen gütlichen Ermahnungen kein Gehör schenkte, setzte der Prediger für die bedrückte Gemeinde eine Klageschrift auf und bewirkte auch damit die Verurtheilung des tyrannischen Pächters.

Dieser beschwerte sich jedoch bei seinem Gutsherrn, der merkwürdiger Weise Herr von Bismarck hieß und ebenfalls damals preußischer Staatsminister war.

Herr von Bismarck denuncirte bei dem Consistorium wörtlich: „daß der Prediger Schulz seine Lehren auf den ‚Fatalismum‘ gründe und selbige im Zopfe und nicht in einer Perüque oder gekräuselten Haaren der Gemeinde vortrüge“.

Der Zopfschulze verantwortete sich folgendermaßen: „Ich halte mich als Lehrer verpflichtet, nicht umsonst mein Brod zu essen, sondern mit allem Ernste und Fleiße dafür zu sorgen, daß meine Gemeinde wirklich unterrichtet, zu immer besseren Menschen und für den Staat zu so guten und nützlichen Bürgern gebildet werde, als durch mich nur geschehen kann. Und dazu treibt mich auch selbst mein deterministisches System an, nach welchem ich behaupte, daß alle sogenannten freien Handlungen der Menschen nothwendige Folgen ihrer deutlichen Vorstellungen und Erkenntnisse sind. (Luc. 23, 34. Joh. 16, 2. 3.)“

Den Haarzopf suchte er aus Gesundheitsrücksichten zu rechtfertigen, indem er sich zugleich auf das Zeugniß seiner Gemeinde und des andern Kirchenpatrons berief, der, ebenfalls merkwürdiger Weise, ein freisinniger Ritterschafts-Director von Pfuel war. Da derselbe erklärte, daß er an dieser Tracht keinen Anstoß nehme, beschloß das Consistorium, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Indeß hatte diese Anklage auf den Zopfschulz aufmerksam gemacht. Schon im nächsten Jahre wurde er von Neuem und zwar diesmal von einem Mitgliede des Consistoriums wegen einer von ihm veröffentlichten „Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen“ angezeigt, weil er in der Vorrede des dritten Theiles die Behauptung aufgestellt, daß die Vernunft von Gott nichts wissen könne.

Diesmal war die Sache ernsthaft und Schulz wurde zur Verantwortung gezogen. Er suchte sich damit zu rechtfertigen, „daß er seine Lehren mit mehreren Schriftstellern gemein habe, von denen auch einige sich schon besonders dahin geäußert hätten: wenn die Theologen vorgeben, Gott verlange von den Menschen, daß sie ihn erkennen sollten, so ist dies Vorgeben noch nicht einmal so vernünftig, als wenn ein Eigenthümer von der Ameise seines Gartens [158] verlangen wollte, daß sie ihn kennen und in Ansehung seiner richtige Begriffe von ihm haben sollte.“

Das geistliche Gericht, erklärte trotz dieser Vertheidigung in seinem Berichte an das Ministerium: „daß der Angeklagte Lehrer der Religion nicht heißen, sein und bleiben könne.“

Damals regierte noch Friedrich der Große, und unter ihm der freisinnige Minister von Zedlitz, ein Mann von hellem Verstande und vorurtheilsfreiem Blick. Derselbe beschied das Consistorium: „Es hat der Prediger Schulz sein Buch ohne alle Rücksicht auf irgend eine Religion, wie dessen Inhalt und schon der Titel besagt, geschrieben und als Schriftsteller die wider ihn deshalb angestellte Rüge nicht verdient, welche Wir auch daher gänzlich niederzuschlagen befehlen. Gegen das Publicum, für welches das Buch sein soll, mag der Verfasser die darin enthaltenen philosophisch-speculativen Sätze vertheidigen, zu deren Prüfung und Beurtheilung aber Leute, die seine Gemeinde ausmachen, nicht aufgelegt sind und keinen Beruf haben. Diese aber im Guten fest zu erhalten und nicht wankend zu machen, auch ob des Endes ihr Seelsorger, als Lehrer der Religion, seine Gemeinde zu guten Menschen zu bilden, ihren Willen auf’s Gute zu lenken, ihre Neigungen und Empfindungen zu veredeln sich angelegen sein lasse und ob sein Wandel diesem Zwecke entspreche, sind die eigentlichen Dinge, worauf Ihr, als ein den Predigern und Gemeinden vorgesetztes geistliches Collegium, zu achten habt.

Dieser Ausgang mußte natürlich die Feinde und Gegner des ehrlichen Schulz nur noch mehr erbittern. Einstweilen entsagten sie jedoch, so lange Friedrich der Große noch lebte, jeder weiteren Verfolgung, von deren Nutzlosigkeit sie sich überzeugt hatten.

Als jedoch Friedrich Wilhelm der Zweite zur Regierung gelangte und durch den pietistischen Minister von Wöllner das berüchtigte Religionsedict erlassen wurde, häuften sich die Denunciationen und Angriffe gegen den freisinnigen Prediger. Zwei Lehrer, Michaelis jun. und Ahrend, übernahmen die gehässige Rolle der Ankläger in einem Briefe, welchen der Minister Wöllner dem betreffenden Inquirenten selbst übergab.

Zu dem Vorwurf des religiösen Unglaubens gesellte sich noch die politische Beschuldigung, daß der Zopfschulz in einer Predigt sich dahin geäußert: „Da sieht man, wie die Wahrheit Beifall findet; das Volk sieht’s gleich ein, und ist dies nur erst erleuchtet, so wird Alles nach dem Volke gehen, denn die Macht ist ja in den Händen des Volkes.“

Auf den Vortrag des Cultusministers von Wöllner befahl der König die Einleitung der Untersuchung in einer besonderen Cabinetsordre. „Ich höre,“ lautet dieselbe, „von dem längst berüchtigten Prediger Schulz zu Gielsdorf, desgleichen von dem Prediger Stark zu Berlin so viele böse Dinge, daß ich unmöglich dazu stille schweigen kann, sondern Euch hierdurch ernstlich anbefehlen muß, die Sache gründlich und nach aller Strenge untersuchen zu lassen.“

Zunächst wurde der Angeklagte wegen seiner Lehren und Ansichten vernommen. Offen und freimüthig bekannte er sich zu dem reinen Glauben, wie ihn Christus selbst gelehrt, indem er den Grundsatz festhielt: „Nicht die Andachtsübungen und Gottesdienste, sondern die rechtschaffene, moralische Denkungs- und Handlungsart, die sich der Mensch hier zu eigen macht, und insonderheit die treue und geflissentliche Ausübung der Menschenliebe in allen ihren Pflichten, die sie in sich faßt, machen den Menschen für diese und die künftige Welt glücklich und selig.“

Zugleich berief er sich wie Luther auf die Bibel, auf die Freiheit des Gewissens und vor Allem auf die Unsträflichkeit seines Lebenswandels und die Zustimmung seiner Gemeinde, welche ihm das beste Zeugniß und wiederholte Zeichen der treuesten Anhänglichkeit gab.

Da sich im Publicum das Gerücht verbreitet hatte, der König würde die Acten an die Oberlandesregierung zu Breslau zur Aburtelung senden, oder gar eine Immediat-Commission ernennen, so protestirte der Vertheidiger des Angeklagten gegen eine derartige Maßregel, worauf die Sache dem Kammergericht in Berlin überwiesen wurde.

Damals gab es noch Richter in Berlin. Noch war das Kammergericht das heilige Palladium der Gesetze, ein Bollwerk gegen die Gewalt und die Willkür der Cabinetsjustiz. Mit Stolz und Ehrfurcht blickte das preußische Volk, mit Neid das übrige Deutschland auf dies herrliche Institut. Das Kammergericht leitete die Untersuchung ein und hörte den Beklagten, der wiederholt versicherte, von den Grundwahrheiten der Lehre Jesu in seinen Predigten nie abgewichen zu sein. In Folge dieser Behauptung forderte das Gericht das Ober-Consistorium auf, die folgenden fünf Fragen zu beantworten: 1) Ob die Lehre Jesu sämmtliche Grundwahrheiten der christlichen Religion enthalte und worin diese bestehen? 2) Ob außer der Lehre Jesu noch andere Grundwahrheiten der christlichen Religion vorhanden und worin diese bestehen? 3) Ob die Grundwahrheiten der lutherischen Confession mit den Grundwahrheiten der christlichen Religion übereinstimmen und worauf ihre Nichtübereinstimmung sich gründe? 4) Was es mit den sogenannten Glaubenslehren für ein Bewandniß habe und ob dieselben die Grundwahrheiten der Religion und der lutherischen Confession insbesondere ausmachen? 5) Ob der Prediger Schulz bei seinen Lehren von der christlichen Religion überhaupt oder von der lutherischen Confession abgewichen sei?

Der König, der an den Verhandlungen den lebhaftesten Antheil nahm, fand die Fragen des Kammergerichts „sehr wunderlich“ und bedeutete den Präsidenten des Consistoriums nur darüber eine Meinung abgeben zu lassen: „ob der Prediger Schulz dem Religions-Edict conform gelehrt habe und also ein lutherischer Prediger sei oder nicht?“ Dagegen remonstirte das Kammergericht, daß ein solches Verfahren die Sicherheit eines Angeschuldigten und die Festigkeit der richterlichen Entscheidung in Gefahr setzte. „Ein solches Verfahren,“ hieß es in der Beschwerde desselben, „ist ein offenbarer Eingriff und eine Verhinderung der reinen und lauteren Rechtspflege.“ Hierauf erfolgte das Gutachten der Ober-Consistorialräthe, unter denen sich der berühmte Propst Teller am entschiedensten zu Gunsten des Angeklagten aussprach. Nach seinem besten Wissen und Gewissen erklärte dieser: „Nach der Theorie des Protestantismus und des Lutherthums giebt es nur zwei Grundwahrheiten: Die erste: Ein Jeder ist in Glaubenssachen sein eigener Richter. Die zweite: Die heilige Schrift ist die alleinige Quelle der daraus herzuleitenden Lehren, wobei aber unbestimmt gelassen, wie viel Bücher dazu gerechnet werden müssen, und dies nach dem ersten Grundsatze nicht für jede und auf alle Zeiten bestimmt werden könnte. Hiernach kann der Schulz überhaupt ein lutherischer Prediger sein.“ Auch die meisten der übrigen Consistorialräthe wagten nicht, dem Angeklagten unbedingt das Prädicat eines christlichen Lehrers abzusprechen.

Nach Anhörung der Sachkundigen fällte das Kammergericht sein Urtheil: daß der Prediger Schulz zwar für keinen lutherischen Prediger zu achten, dennoch aber als ein christlicher Prediger mit seiner christlichen Gemeinde zu dulden und bei seiner Lehre zu schützen sei.“

Als das Urtheil dem Könige zur Bestätigung vorgelegt wurde, änderte er dasselbe willkürlich dahin ab, daß der Angeklagte für einen protestantisch-lutherischen Prediger nicht zu achten, solchem nach derselbe dieses Amtes bei den lutherischen Kirchen zu Gielsdorf, Wilkendorf und Hirsche zu entsetzen, auch in die Kosten der Untersuchung zu verurtheilen.

Zugleich entlud sich der Zorn des Monarchen über die kühnen Räthe des Kammergerichts und über das Haupt des freisinnigen Propstes Teller. „Da das Kammergericht,“ lautet die Cabinetsordre an den Minister von Wöllner, „sich unterstanden hat, den Schulz, ohngeachtet seiner abscheulichen Behauptungen gegen die Grundlehren der christlichen Religion, dennoch als Volkslehrer beizubehalten, so habe ich dem Großkanzler meine Meinung gesagt und die pflichtvergessenen Räthe in Strafe genommen. Es erhellet aber aus den in der Sentenz enthaltenen Gründen, wodurch dies Verfahren gerechtfertigt werden will, daß der Propst Teller durch sein Votum dazu Gelegenheit gegeben und das Kammergericht verführt hat. Dafür muß er bestraft werden, und Ihr sollt ihn daher drei Monate von seinem Amt suspendiren, das Gehalt auf diese Zeit einziehen und an das Armendirectorium auszahlen lassen, welches angewiesen ist, dies Geld zum Besten des Irrenhauses zu verwenden.“

Den Räthen des Kammergerichts wurde ebenfalls der dreimonatliche Betrag ihrer Besoldung als Strafe entzogen und ihnen außerdem in einem besondern Handschreiben der Vorwurf der Unfähigkeit und Unredlichkeit gemacht, wogegen sie jedoch in einer [159] Eingabe an den König feierlich Protest erhoben. „Ob uns,“ sagten sie, „jener Vorwurf der Unfähigkeit mit Recht treffen könne?“ „Darüber etwas anzuführen, geziemet sich nicht für uns. Daß wir aber den Vorwurf geflissentlicher Unredlichkeit nie auf uns laden und verdienen werden, dafür sichert uns das innere Gefühl dessen, was wir Gott, unserem Landesherrn, der Welt und uns selbst schuldig sind.“

Zu gleicher Zeit gab das Kammergericht noch in einem andern Falle einen Beweis seiner Unabhängigkeit und Furchtlosigkeit. Auf Veranlassung des pietistischen Ministers von Wöllner wurde eine besondere „Glaubenslehre“ im orthodoxen Sinne ausgearbeitet und in die Landesschulen eingeführt. Das elende Machwerk wurde von verschiedenen Seiten und auch von dem reformirten Prediger Gebhard in Berlin nach Gebühr in einer besonderen Schrift gewürdigt. Der Verleger derselben, Buchdrucker Unger, hatte das Manuscript nach Vorschrift bei dem Ober-Consistorium eingereicht und der Ober-Consistorialrath Zöllner ohne Anstand die Erlaubniß zum Druck ertheilt. Nichtsdestoweniger wurde das Buch nachträglich auf Befehl des Ministers confiscirt. Der Buchdrucker verklagte hierauf den Ober-Consistorialrath Zöllner auf Schadenersatz, in keiner andern Absicht, als die Maßregeln des Ministeriums der verdienten Lächerlichkeit preiszugeben. Das Kammergericht entschied jedoch zu Gunsten des beklagten Censors, welcher mit Fug und Recht der von dem Minister hinterher verbotenen Schrift die Druckerlaubniß ertheilt hatte, und verurtheilte somit indirect die Regierung, indem das Urtheil wörtlich ausführte: „Beklagter Censor würde sogar die der Regierung schuldige Ehrfurcht verletzt haben, wenn er angenommen hätte, sie wolle lieber den einmal angenommenen Vorsatz blindlings verfolgen, als besseren Gründen Gehör geben.“

Ein Jahr darauf wohnte der damalige Kronprinz, der spätere König Friedrich Wilhelm der Dritte, einer Sitzung des Kammergerichts in Berlin bei. An den künftigen Herrscher richtete bei dieser Gelegenheit der damalige Kammergerichts-Director Kircheisen die denkwürdigen Worte: „Mein gnädigster Herr! auch Sie dürfen in Zukunft Gehorsam und Liebe von Millionen erwarten. Auch in Ihnen wird der Unterthan seinen Gesetzgeber verehren und sich in eben dem Grade unter die Gesetze willig beugen, in welchem er die Güte derselben erkennt. Auch Sie werden den zu ihrer Ausübung berufenen Richter wählen, durch Ihren Befehl seinen Ausspruch vollziehen lassen, aber auch Verurtheilte begnadigen und damit ein Recht ausüben, welches – mag es auch mit Mißbilligung der Unvollständigkeit des Gesetzes, worauf der Urtheilsspruch beruhet, verknüpft sein! – zu den köstlichsten Vorzügen des Thrones gehört und nur, wie ein Schatz, eine sparsame Verwaltung erfordert.

Aber unmittelbare Schärfung einer durch das Gesetz gelinder bestimmten Strafe oder unmittelbare Entscheidung des kleinsten Rechtsstreites würde Ihnen mit Recht das Vertrauen des Volkes auf Ihre Gerechtigkeit entziehen, aus welchem Vertrauen doch ein so großer Theil der Glückseligkeit eines Königs beruht. Die gesittete Welt, dies mächtige Tribunal, ist dahin übereingekommen, sich mit dem Worte Machtspruch Ungerechtigkeit als verschwisterte Idee zu denken.

Gesetzt die unmittelbare Entscheidung wäre zufällig recht, würde sie nun deshalb regelmäßig, gesetzmäßig sein? und wäre sie ungerecht, was kann ein König von einem durch Gesetze im Zaum gehaltenen Volke erwarten, wenn er selbst das Beispiel ihrer willkürlichen Verletzung giebt? Der scharfsinnige Montesquieu sagt in seinem Buche über den Geist der Gesetze:

‚in den despotischen Staaten darf der Fürst richten, nicht so in den monarchischen; sonst würde die Verfassung zerstört, die Form der gerichtlichen Entscheidung aufgehoben, die Gemüther aber mit bleichender Furcht erfüllt werden. Vertrauen, Ehre, Liebe und Sicherheit würden zugleich mit der Monarchie selbst fallen und verschwinden.‘“
So urtheilte, sprach und handelte das Kammergericht zu Berlin vor mehr als fünfzig Jahren unter dem Absolutismus, ohne Menschenscheu und Furcht vor der Ungnade der Könige und der Willkür der Minister. Damals galt noch in Preußen der alte, schöne, ehrenvolle Spruch: „Es giebt noch Richter in Berlin.“
Max Ring.