Die Gartenlaube (1865)/Heft 23
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No. 23. | 1865. |
Der deutsche Geist ein heil’ger Geist,
Er läßt sein reines Feuer lohen,
Und mit des Blitzes Kraft zerreißt
Die Wolken er, die rings im drohen;
Du nährst und schürst sie immerdar,
Er hält und führt Dich jetzt zusammen
Du treue, deutsche Lehrerschaar!
Schlicht und voll Demuth ist Dein Sinn,
Dein Werk bringt Andern nur Gewinn,
Dein Loos heißt Darben und Entbehren;
Und doch zog inniger empfangen,
Verklärt von höher’m Freudenschein,
Ein Gast in diese Mauern ein.
Der deutsche Geist, vor Dir einher
Zieht er, der wahre Weltbesieger,
In seinem Strahl erglänzt die Wehr’
Dein Schlachtfeld des Gedankens Weite,
Des Kindes Herz ist Dein Altar;
Halt’ aus beim Opfer und im Streite,
Du treue, deutsche Lehrerschaar!
Was wir auch noch zu fürchten haben,
Wahr’ uns den festen, klaren Blick
Im blauen Auge unsrer Knaben!
Noch tönt wie Klang von Kirchenglocken
In unsrer Mädchen gold’nen Locken
Wahr’ uns den grünen Ehrenkranz!
Wahr’ alles uns, was unser Trost,
Was unser Glauben ist und Hoffen,
Halt’ einen Platz dem Frühling offen;
Die Boten hat er schon entsendet,
Schon wird sein Sprossen offenbar,
O, sorge Du, daß sich’s vollendet,
Wohl waren uns’re Wege rauh,
Die müde Kraft wird bald versagen,
Wir konnten nur zum Tempelbau
Die ersten schweren Steine tragen,
Nicht sollen sie mit uns vergeh’n,
Vererbt dem kommenden Geschlechte,
Das wird die Kuppel ragen seh’n.
Der deutsche Geist ein heil’ger Geist,
Vertrau’ auf Gott, der sich erweist
Im Mächtigsten und im Geringsten;
Du trägst, ein Pfeiler ohne Gleichen,
Die ganze Zukunft wunderbar,
Du treue, deutsche Lehrerschaar!
Albert Traeger.
In den Jahren 1841 und 1842 war es, daß sich die westlichen Ansiedler der Vereinigten Staaten von Nordamerika genöthigt sahen, gegen das überhand nehmende Gesindel der Pferdediebe und Buschklepper selber energisch aufzutreten, denn die Gesetze konnten oder wollten sie nicht mehr schützen. Ein Verbrechen nach dem anderen wurde verübt, ohne daß man der Verbrecher habhaft werden konnte, und geschah das wirklich einmal, so erhielten diese fast stets durch bestechliche Advocaten und falsche Zeugen ihre Freiheit wieder und trieben ihr Unwesen dann ärger als je.
Damals bildeten sich, endlich zum Aeußersten getrieben, besonders in Missouri und Arkansas, Vereine von Männern, die sich Regulatoren nannten und ihre furchtbaren Gerichte im freien Walde hielten. Jetzt half dem Gesindel kein erkaufter Advocat, kein heimlicher Genosse mehr; man dachte gar nicht daran, sie den machtlosen Gerichten des Staates zu überliefern. War einer der Burschen ertappt, so fand er sich plötzlich den furchtbaren Rächern gegenüber und er wurde, wenn überführt, je nach Frevel, den er verübt – entweder ausgepeitscht und aus dem Staat gewiesen, oder auch noch viel häufiger am nächsten Baume aufgehangen.
Das half. Das Gesindel fand bald, daß gerade der Staat, in dem es ich sonst am Freisten und Ungestörtesten bewegt, Arkansas zu heiß für sie wurde. Schon der Name Regulator schreckte sie aus der sicheren Ruhe auf, und was sich irgend retten konnte, floh nach dem benachbarten Texas hinüber, das, noch wilder als Arkansas, ihnen vorläufige Sicherheit und ein offenes Feld für ihr rechtloses Leben bot.
[354] Schon in damaliger Zeit betrachteten aber die Amerikaner Texas als ihr Eigenthum, wenn es auch erst dem späteren Kriege mit Mexiko, im Jahr 1846, vorbehalten blieb, das weite reiche Land für immer der spanischen Race zu entreißen und der Union als Staat einzuverleiben. Viele Amerikaner hatten sich deshalb schon dort angesiedelt, und im Inneren entstanden Farmen und Colonien und wurden Plantagen und Städte angelegt. Trotzdem war das eigentliche Texas noch ein entsetzlich wildes Land. Zahlreiche Indianerhorden lebten im Innern von Jagd und Fischfang, und es gehörte wirklich der zähe, ausdauernde Charakter amerikanischer Backwoodsmen oder Hinterwäldler dazu, um mit Frau und Kind in eine solche Wildniß zu ziehen und sich dort häuslich niederzulassen.
Wilde Nachbarschaft fanden sie da jedenfalls genug, und zu den Indianern und Squattern gesellten sich dann noch, besonders in jenen Jahren, die aus den Staaten ausgestoßenen Individuen: flüchtige Pferdediebe und Straßenräuber, bankerotte Kaufleute, entflohene Sclaven, Deserteure und Cassendiebe, kurz Alle, die im Osten ein Verbrechen verübt und Entdeckung fürchteten, oder sich sonst lästigen Verbindlichkeiten entziehen wollten. Brauchten sie ja doch auch nur den Red River zu kreuzen und in diese weiten Wälder einzutauchen, um vor einer Verfolgung, die aber auch nur in den seltensten Fällen versucht wurde, vollständig sicher zu sein.
„Er ist nach Texas gegangen,“ lautete denn auch in damaliger Zeit die allgemeine Redensart für solche, die plötzlich von dem Schauplatz eben nicht ruhmvoller Thaten verschwanden, und „go Texas!“ war gleichbedeutend mit „geh zum Teufel!“
Und trotzdem bildete sich schon damals in dem weiten herrlichen Land der Kern einer tüchtigen Bevölkerung, der anwuchs und sich mehrte, bis er im Stande war seine Unabhängigkeit zu erklären und offen die Waffen gegen das faule mexicanische Regiment zu ergreifen. Freilich mußte es erst einen Gährungsproceß durchmachen, welcher es von vielen Schlacken läuterte, und der verlangte Blut – viel Blut. Aber die Backwoodsmen waren auch die Leute dazu, ihn rasch und kräftig durchzuführen.
Es ist das in der That eine ganz eigene Menschenrace, und wenn sie sich schon, ebenso wie ihre östlichen Brüder, Amerikaner nennen, so sind wahrlich Engländer und Franzosen nicht aus verschiedenartigeren Stoffen zusammengesetzt, als die eigentlichen Yankees und ihre Pioniere, die Backwoodsmen des Westens. Solche Männer, wie diese, gehörten aber auch dazu, um in den wilden Urwald vorzudringen und von feindlichen Indianerhorden umgeben, von den Thieren des Waldes lebend, mitten in die trostlose Wildniß hinein ihre Hütte zu bauen und eine Heimath zu gründen. Da war Daniel Boone, der zuerst nach Kentucky vordrang, wo er die Bären hetzte und zugleich selber von den Rothhäuten gehetzt wurde, aber dennoch nicht nachließ, bis er festen Fuß gefaßt, so daß man recht gut sagen kann, er allein, als einzelner Mann, eroberte ein weites herrliches Land. Da war Davy Crockett, das Urbild aller Jäger und Squatter, mit ihren guten und bösen Eigenschaften, den zuletzt in demselben Texas sein Geschick ereilte – da waren tausend Andere, die vereinzelt in die Wildniß zogen und Stand hielten, bis ihnen Freunde folgten und eine Colonie bildeten, dann aber nicht etwa der sicheren Nachbarschaft froh wurden, sondern sie weit eher lästig und unbequem fanden und die Axt wieder in den Gürtel schoben, die wollene Decke auf den Rücken warfen, die Büchse schulterten, und auf’s Neue in den wilden Wald hinein zogen.
An Gefahren dachten diese Leute nicht. Der Backwoodsman war darin aufgewachsen. Wilde Thiere fürchtete er nicht, die hatten ihn zu fürchten, und die Indianer? – er war mehr Indianer als sie selber, denn mit dem nämlichen Scharfsinn begabt, einer Spur zu folgen oder einem Hinterhalt zu entgehen, besaß er eine weit größere Kraft und Ausdauer und bessere Waffen.
Ein solches Volk, abgehärtet bis zum Aeußersten, kein Bedürfniß kennend, das sich der Mann nicht mit Büchse oder Axt verschaffen konnte, war es, welches zuerst Texas besiedelte, oder seine einzelnen Pioniere zwischen die indianischen Horden oder zerstreuten mexicanischen Ranchos vorschob. Daß es seine eigenen Gesetze mitbrachte, versteht sich von selbst, und weiteren Schutz beanspruchte es nicht als den, welchen ihm die eigenen Waffen gewährten.
Die Einwanderung nach Texas fand aber damals von zwei verschiedenen Seiten statt, und zwar einmal zur See von New-Orleans aus nach Houston, der Hauptstadt des Landes, wohin sich meist Kaufleute und Pflanzer zogen und dort auch schon einen Grad von Civilisation einführten, und dann direct aus Arkansas hinüber in die Wildniß des nordöstlichen Theils, der durch das sogenannte „rothe Land“ oder die Red-River-Sümpfe von den Vereinigten Staaten selber geschieden wurde.
Diesen Weg nahmen besonders die Jäger und Squatter, die zu einem Umzug mit ihren Familien selbst nichts weiter brauchten als ein paar Pferde oder einen kleinen einspännigen Planwagen. Sie kreuzten den Red River entweder schwimmend oder in Canoes und ließen sich dann hauptsächlich an dem kleinen Sabine-Fluß oder am Trinidad nieder, oder zogen auch wohl noch weiter in das Innere hinein, um sich ihre Blockhütte am Rand einer kleinen Prairie oder in eine fruchtbare Niederung hinein zu bauen. Aber niemals siedelten sich zwei oder gar mehrere dicht neben einander an, um ein Dorf oder eine Colonie zu gründen, das verträgt der amerikanische Squatter nicht; er muß Raum haben, nicht etwa um sich auszubreiten, denn das kleine Feld, das er bestellt, verlangt nicht viel, nein, um, wenn er aus dem Haus tritt, nicht gleich die Umzäunung oder Fenz eines Nachbars zu sehen, und mit der Büchse auf der Schulter meilenweit den Wald durchjagen zu können, ehe er wieder in die Nähe menschlicher Wohnungen kommt.
Zwischen den Quellen des Sabine und Trinidad, am Abfall des dem Red River zuneigenden Hügellandes, also ganz an der Nordgrenze von Texas, hatte sich damals ein Amerikaner Namens Jenkins niedergelassen, seit Jahr und Tag, die er hier wohnte, ein bequemes Blockhaus gebaut und etwa vier Acker Land urbar gemacht, das ihm hinreichend Mais und Bohnen für seine Bedürfnisse lieferte. Mitten im Wald wohnte er mit seiner Frau und zwei Negern, die er aus den Staaten herüber gebracht, einem Burschen von etwa fünfzehn und einem jungen Mulattenmädchen von achtzehn Jahren, und so wenig Verkehr er auch mit den theils drei und vier, theils mehr englische Meilen entfernten Nachbarn hielt, galt er doch bei Allen, mit denen er je in Berührung gekommen, als ein braver und rechtlicher Mann, und sie freuten sich, wenn er sich einmal – was aber nur äußerst selten geschah – bei ihnen blicken ließ.
Jenkins, ein Mann schon in den Sechzigen, aber noch immer rüstig und nie sich wohler fühlend, als wenn er den ganzen Tag draußen im Wald mit seinen Hunden herumgehetzt war, wo ihn die Jagd gar häufig soweit abführte, daß er auslagern mußte und erst am nächsten Morgen zurück kam, war auch wieder auf einer solchen Tour gewesen und kehrte jetzt gerade nach Haus zurück. Die Sonne stand schon hoch im Mittag, und die Frau rückte, als sie das fröhliche Geheul der Rüden hörte, rasch den Kaffeetopf und Speck zum Feuer, um eine Mahlzeit herzurichten, denn ihr „Alter“ zeigte bei solchen Gelegenheiten immer einen tüchtigen Appetit.
So lustig er aber sonst gewöhnlich gegen das Haus angaloppirt kam und seinen Jagdruf von Weitem ausstieß, daß sie ihn daheim schon hören konnten, wenn sein alter brauner Pony noch lange nicht in Sicht war, so langsam und verdrießlich ritt er heute seine Fenz an, warf ein paar Hirschkeulen, die er in die eigene Decke gerollt auf dem Sattelknopf hängen hatte, ab und dem gegen ihn anspringenden Negerknaben Sip zu, legte selber Sattel und Zügel über die Fenz, daß sein Thier frei weiden konnte, und schritt dann finster und mürrisch dem Hause zu, wo seine Frau schon kopfschüttelnd seiner harrte.
„Na, Alter!“ sagte sie herzlich, als er die Schwelle endlich betrat, ihr nur zunickte und dann seine Büchse auf die Pflöcke über der Thür legte, „ist das der ganze Gruß, den Du mir heute mitbringst? Die Nacht über ausgeblieben und dann nicht einmal soviel wie ein God bless you, wenn er in’s Haus kommt?“
„Sei mir nicht bös, Mutter,“ sagte der alte Mann und reichte ihr die Hand, „Du hast Recht, Du solltest es eigentlich nicht entgelten, aber eine verfluchte Geschichte bleibt’s doch.“
„Hast du einen Bären gefehlt?“ lächelte die Frau. „Du siehst mir genau so aus.“
„Bin gar nicht jagen gewesen,“ brummte der Alte, „und habe den Hirsch nur auf dem Heimritt geschossen, weil er mir gar so bequem im Weg stand und die Hunde hungrig waren. Nein, nach dem Rappen hab’ ich gesucht, und hol mich der Teufel, er ist aus der ganzen ‚Range‘ wie rein verschwunden.“
„Der Rappe?“
[355] „Fort, als ob er durch die Luft geflogen wäre.“
„Du wirst ihn irgendwo verfehlt haben,“ beruhigte ihn die Frau.
„Verfehlt? Die Glocke hör’ ich eine halbe Meile weit.“
„Aber wenn die Thiere satt sind, stehen sie und rühren sich nicht; Du bist vielleicht dicht an ihm vorbeigeritten.“
„Aber die Spuren müßt’ ich denn doch gefunden haben,“ rief der Mann, „und hab’ sie auch anfangs getroffen,“ setzte er störrisch hinzu, „und bis zum Bearcreek hinüber bin ich nachgeritten. Dort ist er zum Wasser hinuntergegangen, wahrscheinlich um zu saufen, und hinein, aber an der anderen Seite nicht wieder hinaus, und auf und ab hab’ ich an dem verwünschten Bach gesucht, bis es stockfinster wurde und ich die Nacht dort lagern mußte.“
„Vielleicht kommt er selber wieder zum Haus,“ meinte die Frau.
„Ich will Dir Etwas sagen, Alte,“ knurrte Jenkins, „Du weißt wie lange unsere Nachbarn schon geklagt haben, daß ihnen Pferde und Vieh gestohlen würden, und wie sie auf Den und Jenen in der Ansiedlung Verdacht geworfen. Ich lachte sie immer aus, denn meinen Thieren geschah Nichts, und wo und wenn ich sie suchte, sie waren immer da.“
„Also wird jetzt auch Nichts gestohlen sein.“
„Jetzt ist’s anders!“ rief der Mann heftig, „und bei mir fangen sie nun auch an. Ich wollte Dir Nichts sagen, denn ich glaubte immer noch, sie fänden sich wieder, allein seit drei Tagen fehlt der junge rothe Stier, und heute hab’ ich auch das Jungvieh mit den beiden Sternen nicht mehr bei der Kuh gesehen.“
„Was? Die Jinny?“ rief die Frau erschreckt und der Alte nickte.
„Außerdem,“ fuhr er fort, „find’ ich eine Menge fremder Pferdespuren hier im Wald herum, die ich alle nicht kenne, und kann nie die Thiere entdecken, die sie eingedrückt. Möglich, daß sie von Nachbarn herrühren, oder daß gar ein paar indianische Schufte in der Nachbarschaft herumstöbern, ist das aber der Fall, oder haben wir es gar mit blutigen weißen Pferdedieben zu thun, dann straf mich Gott, wenn es ihnen nicht besser wäre, sie hätten die Gegend hier nie gesehen; denn komme ich ihnen auf die Fährten, lass’ ich auch Gottes Sonne durch ihre Hirnschalen scheinen – oder ich will nicht Jenkins heißen!“
Die Frau hatte das Essen auf den Tisch gesetzt, aber sie war recht still und nachdenkend geworden, denn wenn sich wirklich solch Gesindel hier in der Gegend zeigte, so lebten sie da auf einem Platz, auf dem sie nicht die geringste Hülfe von einem Nachbar erwarten durften; und daß ihr Alter sich daran nicht kehrte, und keine leeren Drohungen ausstieß, wenn er wirklich einmal einem von ihnen begegnet wäre, wußte sie gut genug.
Noch war sie mit der Zurichtung des Tisches beschäftigt, während Jenkins am Kamin saß und sich aus roher Haut eine Schnur für sein Pulverhorn schnitt, da seine alte defect geworden, als die Hunde draußen anschlugen, und zu gleicher Zeit ein lautes „Holla!“ anrufender Fremder hereinschallte.
„Na!“ sagte Jenkins erstaunt aufsehend, denn das Erscheinen eines Menschen in dieser öden Gegend war stets etwas Seltenes. „Besuch? wo kommt der her?“ Er war zur Thür getreten und sah hinaus. Zwei Reiter hielten draußen an der Fenz und der eine rief: „Mr. Jenkins zu Hause?“
„Denke so,“ sagte der Alte, „steigen Sie ab, Fremde, kommen Sie herein; ruhig, Ihr Hunde, könnt Ihr nicht die Mäuler halten, verdammte Bestien?“
Die beiden Wanderer folgten der Einladung und Jenkins’ Blick haftete indessen ziemlich erstaunt auf dem einen derselben, der in der That auch gar nicht so aussah, als ob er in diesen Theil der Welt gehöre. Sein Begleiter dagegen trug ein altes ledernes Jagdhemd, Leggins und Moccasins, seine Büchse und Decke, und damit hätte er recht gut eine Reise von den canadischen Seen herunter bis an die Wasser des Golfs machen können, aber einen Mann im schwarzen Frack und mit einem Seidenhut auf dem Kopfe, ohne Büchse und ohne Decke hier anzutreffen, war allerdings etwas Außergewöhnliches. Der Mensch sah aus wie ein Advocat, und was wollte der hier mitten im wilden Wald, in Texas? Dahin hatte sich bis jetzt doch wohl noch keiner dieser Landhaifische verloren, ihm wenigstens war noch keiner zu Gesicht gekommen. Die Gastlichkeit seines Volkes gestattete ihm indeß nicht, eine Frage an die beiden Fremden zu richten, bis sie nicht wenigstens ausgeruht und sich mit Speise und Trank erquickt hatten. Ohne sich deshalb weiter um sie zu kümmern, schritt er zur Fenz, auf der noch immer die mitgebrachten Hirschkeulen hingen, wickelte sie auf, schnitt ein tüchtiges Stück Wildpret herunter und trug es in’s Haus, wo Nelly, das Negermädchen, rasch daranging, es in Scheiben zu theilen und in der Pfanne zu braten. Die Frau ordnete indessen den Tisch, das heißt sie setzte noch zwei Teller mehr auf, denn Gabeln brauchte man nicht und sein Messer führte ein Jeder bei sich, und kaum zehn Minuten später war die Mahlzeit schon so weit fertig, daß man Platz nehmen konnte.
„Nun Fremde,“ sagte der Alte endlich, als sie eine Weile tüchtig zugelangt, denn Beide schienen vom Ritt hungrig, „von wo kommt Ihr denn eigentlich in diese Range und wo wollt Ihr hin?“
„Aus den Staaten, Sir,“ sagte der Mann im Frack, und sein Blick haftete dabei auf Nelly, dem Negermädchen, das jetzt wieder hereingekommen war, um das gebrauchte Geschirr abzunehmen und gleich aufzuwaschen: „und möglich,“ fuhr er fort, „daß wir von hier aus gleich wieder zurückreiten.“
„Gleich zurück? so gefällt Euch das Land nicht? wild genug ist’s freilich,“ lachte der Alte, „und wie Ihr mit dem Hut durch all die Büsche gekommen seid, weiß ich nicht einmal recht. Bequem sind die Dinger nicht.“
„Hallo, Betsy,“ sagte aber der Fremde, der keinen Blick von dem Negermädchen verwandt hatte, ohne die letzte Bemerkung zu beantworten, „wie geht’s, Schatz?“
Nelly sah ihn erstaunt an, erwiderte aber nur kopfschüttelnd: „Dank Euch, gut – heiße aber nicht Betsy – Nelly heiß ich,“ und damit griff sie ihre Teller auf und ging damit hinaus.
„Ist sie das?“ frug jetzt der Begleiter des Mannes im Frack, ein Hinterwäldler seiner Kleidung nach, aber mit einem Gesicht, das dem alten Jenkins fast bekannt vorkam, das ihm jedoch trotzdem nicht besonders gefiel, denn das graue, rastlose Auge des Fremden hielt seinen eigenen Blick nicht einen Moment aus und schweifte bald da bald dort unruhig hinüber.
Der im Frack nickte leise vor sich hin und sagte dann: „Allerdings, und unser langer und mühsamer Ritt ist doch nicht umsonst gewesen.“
Jenkins, der aufmerksam die Beiden gemustert hatte, begriff nicht recht, was sie mit den Worten meinten, und frug: „Kennen Sie das Mädchen?“
„Ich sollte denken, Sir,“ erwiderte der im Frack, „sie gehört meinem Bruder in Little-Rock, dem sie vor zwei Jahren gestohlen wurde. Erst vor einigen Wochen bekamen wir aber die richtige Spur, und es thut mir leid mit einer so unangenehmen Sache betraut zu sein; läßt sich jedoch nicht ändern, Sir, das Mädchen ist gestohlnes Eigenthum, und ich werde Sie ersuchen müssen, sie an mich als den Bevollmächtigten meines Bruders auszuliefern.“
„Na, das nehme mir aber kein Mensch übel,“ wollte Mrs. Jenkins hier dazwischen fahren, Jenkins aber hob abwehrend die Hand und sagte ruhig lächelnd: „Es stimmt also Alles, nur schade, daß das Mädchen nicht Betsy, sondern Nelly heißt, auch nicht aus Little-Rock, sondern aus Memphis ist und von daher nicht erst seit zwei Jahren kommt, sondern schon vor vier Jahren von einem meiner Nachbarn am Arkansas in Memphis selber gekauft und mit hier herübergebracht wurde. Sie sehen also, Gentlemen, daß Sie sich irren und Ihren Ritt wohl dennoch umsonst gemacht haben, wenn Sie wirklich nur einer weggelaufenen Negerdirne wegen zu mir nach Texas gekommen sind.“
„Mein lieber Herr,“ sagte der Mann im Frack mit der vollkommensten Ruhe, „es thut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen. Ihr Nachbar vom Arkansas aber hat Ihnen etwas weis gemacht, wenn er behauptete, dies Mädchen von Tennessee herübergebracht zu haben.“
„So?“ sagte Jenkins trocken.
„Um Ihnen aber zu beweisen,“ fuhr der im Frack fort, „daß ich nicht ohne die nöthige Autorität komme, so seien Sie so gut diese Papiere durchzusehen,“ er nahm dabei ein kleines, zusammengefaltetes Packet aus der Rocktasche, die er vor Jenkins ausbreitete, „dies hier, mein werther Herr, ist der Kaufcontract des Mädchens, von einem Yankee-Händler ausgestellt, der sie als Kind im Jahr 1836 mit von New-Orleans brachte. Damals kaufte sie der Friedensrichter in Randolph, Mr. Riley, der sie dann wieder vor vier Jahren an meinen Bruder, Mr. Saunders in [356] Little-Rock, abließ. Vor etwa zwei Jahren, wo er genöthigt wurde sie eines Vergehens wegen zu züchtigen, lief sie ihm davon, und vergebens setzte er damals hundert Dollars Belohnung für ihre Wiedereinlieferung aus; sie war und blieb verschwunden, bis vor etwa sechs Wochen ein Freund von uns, der Texas besucht hatte, um sich hier einen Platz zur Ansiedlung auszusuchen, auch zufälliger Weise, und zwar gerade in Ihrer Abwesenheit, Mr. Jenkins, hier bei Ihnen einkehrte, die Dirne sah und augenblicklich wieder erkannte.“
„In der That?“ sagte Jenkins, „bitte Alte, gieb dem Herrn einmal einen Schluck Kaffee. Er muß vom vielen Reden ordentlich trocken werden.“
„Wollen Sie nicht die Papiere ansehen?“
„Was helfen mir die Wische?“ sagte Jenkins verächtlich, indem er die Schriftstücke in der Hand, wie einen Haufen trockener Blätter, aufgriff, flüchtig ringsum betrachtete und dann wieder zurück auf den Tisch warf. „Meine Alte da – denn ich selber kann nicht schreiben, und hab’s nie gekonnt – fabricirt Ihnen in einem halben Tag ein Dutzend solcher Dinger, und wer soll denn hier in Texas untersuchen können, ob die Namen richtig sind?“
„Dann müssen Sie uns schon auf unsere ehrlichen Gesichter glauben,“ sagte der Begleiter des „Stadtmenschen“, wie eigentlich Jeder genannt wurde, der einen Tuchrock trug.
„Ehrlichen Gesichter, Mann?“ rief Jenkins halb lachend, indem er von einem der beiden Fremden zum andern übersah. „Gott segne Ihre Seele, Squire, da Sie’s doch einmal gerade erwähnen, so dürfen Sie mir glauben, daß Sie auf die beiden Gesichter in ganz Texas keine fünf Dollars geborgt bekämen. Aber lassen wir den Unsinn,“ brach er kurz ab, „Ihr Bruder, Mr. – wie war doch gleich Ihr Name?“
„Saunders.“
„Ah ja, Mr. Saunders, mag also wohl eine Negerin verloren haben, das will ich Ihnen gern glauben, und sie kann auch vielleicht in Texas stecken – sollte mich wundern, wenn sie’s nicht thäte – aber meine Nelly ist’s nicht, darüber seien Sie beruhigt, und was Ihre Papierschnitzeln betrifft, so sind die hier in Texas noch nicht einmal so viel werth, wie eben so große baumwollene Lappen, denn mit denen kann man doch wenigstens eine Büchse auswischen.“
„Mr. Jenkins,“ sagte der Mann im Frack ziemlich ernsthaft, „ich hoffe nicht, schon Ihres eigenen Selbst wegen, daß Sie sich den gerechten Anforderungen eines an seinem Vermögen geschädigten Mannes widersetzen wollen, denn die Jurisdiction der Vereinigten Staaten –“
„Reden Sie keinen Unsinn, Mann,“ sagte Jenkins, „wir sind hier in Texas, aber selbst in den Staaten und drüben in Arkansas, will ich verdammt sein, wenn Sie mir mein Eigenthum so unter der Nase weg, blos auf Vorzeigen von irgend einem bekritzelten Wisch, fort holen sollten.“
„Und verlangen Sie wirklich, daß wir die ganze Reise umsonst gemacht haben sollen?“ rief der im Frack.
„Gott segne meine Seele, Mann,“ lachte Jenkins, „hab’ ich Euch denn eingeladen zu kommen? Aber für verdammt grün müßt Ihr mich halten, oder irgend Einen von uns hier, wenn Ihr glauben konntet, Jemand würde sein wohlerworbenes Eigenthum so mir Nichts Dir Nichts an ein paar Fremde ausliefern, die ihm da irgend eine Geschichte vorerzählen.“
„Sie zwingen uns dann unser Recht auf andere Art zu suchen.“
„Ganz wie’s Ihnen beliebt, Sir,“ lachte der Squatter, „versuchen Sie’s, ob Ihre Advocaten hier bei uns Etwas ausrichten werden. Ich gebe Ihnen aber mein Wort, es wäre für die Herren ein sehr undankbares Geschäft.“
„Und welches Gesetz erkennen sie hier an?“
„Das Recht der Selbsthülfe – kein anderes,“ sagte Jenkins ruhig, „aber da ist das Mädel selber – He, Nelly, komm einmal her. Wie hieß der Herr, von dem ich Dich kaufte?“
„Mr. Houston, Sir,“ sagte das junge Negermädchen, dessen große glänzende Augen indessen bei der Frage unruhig von einem zum anderen der beiden Fremden flogen. Waren diese vielleicht hierher gekommen, ihrem Herrn einen Preis für sie zu bieten? Ihr Herz schauderte, wenn sie an die Möglichkeit dachte.
„Und wo warst Du früher?“ fuhr Jenkins fort.
„Ich bin in Kentucky geboren, Sir, und als mein Herr starb, nach Memphis in Tennessee verkauft worden.“
„So? Und warst Du je in Little-Rock?“
„Nein, Sir – kenne den Platz nicht.“
„Ahem – na, Du kannst gehen, Nelly.“
„Aber Sie wissen doch, Mr. Jenkins,“ sagte der Fremde, ohne von dem Negermädchen selber die geringste Notiz zu nehmen, „daß Neger und Alles, was von Negern abstammt, vor Gericht nicht die geringste Stimme in einer Zeugenaussage haben.“
„Bitte, Mr. Saunders,“ sagte der Alte, „wir sind hier nicht vor Gericht, und ich habe das Mädel nur gefragt, um mich selber zu beruhigen. Wünschen Sie sonst noch Etwas?“
„Sie verweigern also die gutwillige Herausgabe der entflohenen Sclavin?“ frug der in dem ledernen Jagdhemd.
„Entflohene Sclavin?“ rief Nelly, die das nicht anders als auf sich beziehen konnte, „bin ich denn entflohen?“
„Ruhig, Nelly,“ sagte der Alte, „laß mich die Sache mit den beiden Herren nur abmachen. Sie haben’s nicht mit Dir, sondern mit mir zu thun, und einen zäheren Kunden wohl noch kaum unter den Fingern gehabt. Also, Gentlemen, wenn Sie mich denn so direct fragen, ich verweigere allerdings die Herausgabe meines Eigenthums an ein paar – Buschläufer, die mir da irgend eine alberne Geschichte erzählen, und noch eins, Wollen Sie hier als meine Gäste über Nacht bleiben – denn das nächste Haus liegt ein bischen unbequem an der Sabine – gut, so sollen Sie mir von Herzen willkommen sein. Der alte Jenkins weist keinen Fremden von seiner Thür; fangen Sie aber noch einmal von der Geschichte mit der Negerin an, oder finde ich, daß Sie sich nach Sonnenaufgang noch hier in meiner Nachbarschaft herumdrücken, dann – aber ich brauche Ihnen Nichts weiter zu sagen,“ brach er kurz ab, „denn soviel wissen Sie, daß der Wald hierherum mit zu meinem Haus gehört, und daß ich mein Hausrecht zu gebrauchen weiß, das können Sie sich etwa denken.“
„Unter diesen Umständen,“ sagte der im Frack ausstehend zu seinem Begleiter, „glaube ich, daß es das Beste ist, wir halten uns hier nicht länger auf, Mr. Netley. Wir versäumen nur Zeit.“
„Wie Sie wollen, Gentlemen,“ nickte Jenkins, „bei dem Wetter campirt sich’s auch vortrefflich im Wald. Uebrigens hängt draußen Wildpret, und Sie können sich noch ein Stück mit auf den Weg nehmen.“
„Danke Ihnen, Sir – wir führen selber Provisionen in unseren Satteltaschen“ – und nach kurzem, kaltem Gruß von beiden Seiten stiegen die beiden Fremden wieder in den Sattel und trabten bald darauf in einer südöstlichen Richtung, in welcher allerdings das Haus am Sabinefluß lag, in den Wald.
Der Herbststurm braust einher in entfesselter Wuth. Die mächtigen Stämme hundertjähriger Eichen ächzen unter seiner Gewalt, während er ihre Zweige knickt und die welken Blätter hinauspeitscht in die Lüfte wie Schneeflocken. Er jagt dunkle Wolkenmassen vor sich her, die drohend sich thürmen und eisigen Regen herniedersenden. Die Nacht bricht herein, tiefe Finsterniß bedeckt die Erde, kein freundlicher Stern schaut vom düstern Himmel herab und das Brausen des Sturmes tönt wie grollender Donner.
[357] Was kümmert es uns? Wir nennen es schlechtes Wetter und fühlen uns um so behaglicher am heimischen Heerd und im gemüthlichen Zimmer. Selbst der einsame Wanderer findet bald ein schützendes Obdach gegen das Unwetter und erwartet in Sicherheit ruhend den folgenden Tag. Wohl uns, daß wir einen heimischen Heerd, daß wir ein schützendes Obdach besitzen; wohl uns, daß wir in Sicherheit ruhen können – aber da draußen auf dem Meere, dessen Wogen der Sturm aufwühlt und mit verderbenbringender Gewalt der Küste zuwälzt, um ihren schäumenden Gischt weit über Klippen und Dünen zu sprühen – dort giebt es keine behagliche Heimath, keinen Schutz, kein Obdach. Tausende unserer Mitbrüder kämpfen mit den Elementen und Tausende unterliegen in dem ungleichen Kampfe. Der Sturm hat ihr Schiff erfaßt, er hat die Segel zerrissen und die Masten gebrochen. Erbarmungslos treibt er das Wrack vor sich her der Küste zu und die Wellen stürzen darüber hin wie über eine Klippe. Die zum Tode ermattete
Mannschaft hat sich festgebunden. Vergebens starrt ihr suchendes Auge in die trostlose Nacht, keine schützende Bucht, kein rettender Hafen zeigt sich dem irrenden Blicke, keine helfende Hand streckt sich ihnen entgegen. Nur der unheimliche Schimmer der Brandung rückt immer näher, das Antlitz des Todes grinst sie an und Verzweiflung erfaßt ihre Seele. Da stößt das Schiff auf den Grund, und brüllend wälzen sich die empörten Fluthen heran. Sie zerschmettern das schwache widerstandslose Gebäude, und seine Besatzung versinkt in die dunklen Fluthen, um nimmer zurückzukehren, nimmer die Lieben in der Heimath wieder zu schauen, die vergebens in Thränen und Angst ihrer harren. Keine Blume schmückt die Stelle, kein Stein zeigt den Ort; nur Wind und Wellen rauschen darüber hin und die Gebeine bleichen auf dem Grunde des Meeres.
So sind viele Tausende an unsern Küsten zu Grunde gegangen, so finden jährlich noch Hunderte dort ihr frühes Grab. Wenige wissen es, noch wenigere fühlen es. Nur in stillem Kämmerlein da fließen heiße Thränen der Mutter oder Gattin, und die hülflosen Kleinen erheben betend ihre Händchen zum Himmel, den Vater zu erretten aus grauser Gefahr. Sind die Thränen und das fromme Gebet die einzige Hülfe, die den Schiffbrüchigen werden kann? Nein! es giebt noch andere wirksamere Hülfe. Sie können Alle oder wenigstens zum größten Theile gerettet, den tückischen Fluthen entrissen und ihren Lieben wiedergegeben werden.
Wache auf, deutsches Volk! Du kannst ihr Retter sein; Du kannst Tausende von braven Männern dem Vaterlande und ihren Familien erhalten. Kunst und Wissenschaft haben Mittel erdacht, um den Sturm zu besiegen und das Meer sich Unterthan zu machen. Es ist möglich den Unglücklichen einen Weg durch die tobende Brandung zu bahnen und sie vom scheiternden Schiffe sicher auf das feste Land zu führen. Wache auf, Volk; und tilge die Schuld, die drückend auf Dir lastet! Laß nicht die Seelen der Tausende beim Höchsten Dich anklagen, daß Du sie in der Stunde der schmerzlichsten Noth erbarmungslos verlassen, daß Du sie hülflos sterben sahst, während es in Deiner Macht stand, ihnen das Leben zu erhalten. Wache auf, deutsches Volk, und wahre Deine Ehre! Blicke auf die fremden Nationen, schaue auf England, auf das von Dir geringgeschätzte und besiegte Dänemark. Seine Küsten sind seit vielen Jahren an allen gefährlichen Punkten mit Mitteln ausgerüstet, um den Schiffbrüchigen Hülfe zu leisten, so weit dies in menschlicher Macht steht. Wenn Sturm und See unsere deutschen Schiffe an jenen Küsten zerschellen, strecken sich ihnen überall Hände entgegen, um zu helfen und zu retten.
Können wir das von unsern Küsten sagen? Müssen wir nicht erröthen, wenn wir sie theils gar nicht, theils ungenügend geschützt sehen; wenn an ihnen in einem Jahre hundert Schiffbrüche stattfinden und das Dreifache an werthvollen Menschenleben dabei verloren geht, während wir sie retten könnten ? Wahrlich! es ist hohe Zeit, daß wir uns endlich aus dieser Apathie aufrütteln, daß wir thun, was Humanität und Menschenpflicht gebieterisch fordern und daß wir den Vorwurf der Herzlosigkeit und Gleichgültigkeit gegen Unglückliche von uns ablehnen, den man uns bis jetzt im Auslande mit Recht machen darf.
Wir erheben berechtigte Ansprüche auf eine Geltung zur See. Ueberall im Lande ertönt der Ruf nach einer Flotte, um unsere Schiffe und deren Besatzungen gegen den Feind zu schützen. Nun, die Elemente sind auch Feinde, schrecklicher und unbarmherziger als der Mensch. Gewähre Du, deutsches Volk, unsern Seeleuten zunächst dagegen Schutz, rufe an unsern Küsten ein möglichst vollkommenes Rettungswesen in das Leben, dann hast Du eine edle That vollbracht und einen großen Schritt zu unserer Geltung zur See gethan. Schaffe zuvörderst die Mittel, um kostbare Menschenleben zu erhalten, ehe Du daran denkst, sie zu zerstören; dann wirst Du die Thränen trocknen und den Segen aller derer auf Dein Haupt herabrufen, denen Du den Sohn, den Gatten, den [358] Vater wiedergiebst. Es ist das keine schwierige Aufgabe. Fünfzig Rettungsstationen sichern unsere ganze Küste und hunderttausend Thaler decken die Kosten ihrer Errichtung. Eine solche Summe ist vielleicht groß zu nennen, wenn sie von den Küstengebieten allein aufgebracht werden soll, aber sie ist eine Bagatelle, wenn sich das gesammte Volk daran betheiligen will, was es thun wird und muß, weil seine Ehre dabei in das Spiel kommt. Deshalb öffnet Eure Hand, Ihr Deutschen, und fördert das edle Werk, durch welches die Humanität ihre schönsten Triumphe feiern wird! Schafft das Geld bald herbei, damit noch vor dem Herbste unsere Küsten geschützt werden und die kommenden Stürme nicht abermals zahlreiche Opfer fordern, die sich erretten lassen. Vernehmt, daß das englische Volk jährlich 140,000 Pfund Sterling zu Rettungszwecken aufbringt und daß damit durchschnittlich 6–700 Menschenleben dem Wellengrabe entrissen werden. Folgt dem Beispiele und zeigt, daß Ihr nicht weniger Gefühl für Euere Mitmenschen habt, als die Engländer, die Ihr so oft kaltherzige Egoisten nennt, die Euch aber hierin tief beschämen. –
In neuester Zeit treten zwar auch bei uns erfreuliche Bestrebungen zu Gunsten des Rettungswesens auf; an der Nordsee haben sich drei Vereine zu diesem Zwecke gebildet, sie haben ruhmvolle Thaten vollführt, nach einander zwölf Stationen errichtet, und mit fünf derselben innerhalb zweier Jahren siebzig Menschen gerettet – allein wenn das Rettungswesen das leisten soll, was es vermag, wenn es bei uns verhältnißmäßig eben so glänzende und bewunderungswerthe Resultate erzielen soll, wie in England, so muß ein deutscher Rettungsverein als ein gemeinsames Band unsere gesammten Küsten umschließen und das ganze Volk sich daran betheiligen.
Wenn auch der erfinderische Geist des Menschen Mittel geschaffen hat, mit deren Hülfe die Rettungen ausgeführt, Sturm und Meer siegreich bekämpft werden können, so sind solche Unternehmungen doch stets höchst gefahrvoll und es gehört nicht allein großes seemännisches Geschick, sondern auch außerordentlicher Muth dazu. Von den Rettern wird fast immer das eigene Leben dabei gewagt, und da muß es schon ein mächtiger Impuls sein, der die Leute hinaustreibt durch Nacht und Brandung, der sie sich aus den Armen der betagten Eltern, der weinenden Gattin und Kinder reißen läßt, um Mitmenschen zu erretten und vielleicht selbst dem Tode dabei zu verfallen. Diesen Impuls vermag aber nur das Volk zu geben, wenn es solche heroischen Thaten in gebührender Weise ehrt. Wohl kann der Staat Rettungsstationen errichten, wohl kann er Leute anstellen und besolden, um sie zu bedienen, aber den Bootsbesatzungen jenen Geist der Kühnheit, Nächstenliebe und Aufopferungsfähigkeit einzuhauchen, der allein im Stande ist, das Höchste zu leisten, das Leben Anderer mit Gefahr des eigenen zu retten – das vermag er nicht. Geld ist zwar eine mächtige Triebfeder, aber jene edlen Regungen kann es allein nicht erwecken oder rege halten; das kann nur die Theilnahme des Volkes. Der englische Fischer oder Bootmann hat das Bewußtsein, daß, wenn er bei solchen Gelegenheiten sein Leben wagt, seine That im Herzen des Volkes Widerhall findet, daß nicht nur Belohnung an Geld, sondern eine weit reichere an Ehre seiner harrt und daß das Volk der Seinen nicht vergißt, wenn er bei seinem noblen Handwerk das Leben einbüßt.
Dies Bewußtsein ruft die ganze Energie seiner Seele, alle besseren Gefühle seines Inneren wach; es spornt ihn zu Selbstverleugnung und Heroismus und erweckt unter den Strandbewohnern einen edlen Wetteifer, dessen Erfolge wir in den kühnen und bewunderungswerthen Rettungen aus Seegefahr sehen, welche die englischen Zeitungen im Herbst und Frühjahr fast täglich registriren.
Es ist schön und anerkennungswerth, daß sich schon an unsern Küsten Specialvereine gebildet haben, aber es betheiligt sich an ihnen immer nur ein geringer Bruchtheil der Bevölkerung. Sie sind deshalb nicht im Stande so viel Mittel aufzubringen, um alle gefährlichen Küstenpunkte zu schützen, um jede Station zu unterhalten, die Geldbelohnungen für Rettungen zu geben, die Hinterbliebenen der bei Rettungsversuchen Verunglückten ausreichend zu versorgen und ihnen den Ernährer zu ersetzen. Das kann nur das ganze Volk thun, indem es entweder die dazu nöthigen Fonds auf einmal aufbringt, oder jene nothwendigen Ausgaben durch jährliche Beiträge sichert.
Es liegt aber in der menschlichen Natur, daß derjenige, welcher zu irgend einem Zwecke beisteuert, auch Erfolge sehen will, wenn sein Interesse für die Sache, sei sie noch so groß und heilig, nicht erkalten soll. Wenn daher Menschenfreunde für einzelne bestimmte Stationen auch Spenden geben, so kann doch der Fall eintreten, daß diese Stationen vielleicht in Jahren keine Gelegenheit zu irgend welchen Leistungen haben. So erfreulich diese Thatsache in menschlichem Interesse sein muß, so hat sie andererseits die natürliche Folge, daß die Theilnahme der Geber sich abschwächt, ihre Lebendigkeit und Opferwilligkeit verliert. Besitzen wir dagegen einen deutschen Rettungsverein, der unsere gesammten Küsten begreift, so wird jeder Geber bei jeder Rettung, mag diese an diesem oder jenem Grenzpunkte unseres Vaterlandes geschehen, sich mit Genugthuung sagen können: „Auch ich habe mein Theil daran,“ und dies Bewußtsein allein vermag das Interesse für das Rettungswesen im Lande wach zu erhalten, es immer tiefer in das Volk dringen zu lassen und zu erhöhen.
Eben so sprechen gewichtige Nützlichkeitsgründe für eine Centralisation aller Specialvereine. Die Verwaltung der letzteren erfordert einen gewissen Kostenaufwand, der sich bedeutend reduciren läßt, wenn eine einheitliche Oberleitung vorhanden ist. Um der Wirksamkeit der einzelnen Stationen versichert zu sein, müssen sie öfter inspicirt und erprobt werden. Ein gemeinschaftlicher Inspector, der die nothwendigen Uebungen anstellen läßt, wird aber bedeutend weniger Kosten verursachen, als wenn zehn oder fünfzehn Vereine solche Leute halten sollen. Ferner müssen neue Erfindungen probirt und alle möglichen Versuche mit den Apparaten angestellt werden, um aus ihnen den größten Nutzen zu ziehen. Die Mittel der Specialvereine erlauben das nur in sehr beschränktem Maße, dagegen wird ein Centralverein, der das gesammte Volk hinter sich hat, stets die nothwendigen Gelder dafür disponibel haben. Weiterhin liegt es auf der Hand, daß eine einheitliche Leitung mit gleichen Reglements für die Handhabung der Apparate nur höchst nützlich wirken, daß der Austausch der Erfahrungen bei den einzelnen Stationen der Wirksamkeit des ganzen Rettungswesens nur förderlich sein kann und ihr zu Gute kommen muß.
In richtiger Erkenntniß dieser Gründe hat sich denn auch das Comité des Bremer Vereins entschlossen, einen allgemeinen deutschen Verein zur Rettung Schiffbrüchiger in das Leben zu rufen. Es hat zu diesem Zwecke Einladungen an alle Menschenfreunde und Freunde des Rettungswesens zu einer in Kiel abzuhaltenden Versammlung erlassen, die in diesem Augenblick tagt, und beabsichtigt einen solchen Verein zu gründen.
Möge das edle Werk gelingen und zur größten Vollkommenheit gedeihen, um bald die segensreichsten Früchte zu tragen! Von Herzen wünschen wir aber auch, daß die Betheiligung des Binnenlandes eine recht rege und lebendig werden möge, denn von ihr ist das Gelingen dieser echt humanen und christlichen Bestrebungen hauptsächlich abhängig.
Und so gebe Gott seinen Segen zu diesem Werke, dessen baldiger Aufbau eine der heiligsten unserer Pflichten ist. Möge sie Jeder erkennen und es recht bald durch die That beweisen. Der Leserkreis der Gartenlaube hat für so manche große und nationale Sache offenes Herz und offene Hand gezeigt; hoffen wir, daß er auch dazu sein Möglichstes beitragen werde, um die Thränen so vieler Wittwen und Waisen zu trocknen, um den fern von voller Reise rückkehrenden Bruder nicht Angesichts der heimathlichen Küste in die Fluthen versinken zu lassen und um möglichst bald eine Ehrenschuld zu tilgen, die schon zu lange auf uns lastet.
Wenn wir in dem Obigen an das Gewissen und das Gefühl des deutschen Volkes appellirten, so wissen wir wohl, daß hauptsächlich Unbekanntschaft mit dem Rettungswesen und maritimen Verhältnissen überhaupt die Schuld daran tragen, wenn ersterem bisher so wenig Aufmerksamkeit geschenkt ist. So groß der Enthusiasmus im Lande für unser Seewesen ist, so wenig ist es leider in seinen Einzelnheiten bekannt.
Bei dem gegenwärtigen Standpunkte des Rettungswesens, den wir mit Recht einen weit vorgeschrittenen nennen können, spielt, wie wir schon 1861 darthaten, das Rettungsboot eine Hauptrolle. Wer einen Sturm an einer Küste erlebt, wer gesehen hat, wie die Brandung donnernd und mit vernichtender Gewalt ihre Wasserberge an den Strand rollt, der wird es kaum für möglich halten, daß Menschen es wagen, mit einem einzigen Boote in dies Chaos empörter Elemente zu dringen und es siegreich zu bekämpfen. Und doch ist es so; es geschieht zu hundert [359] und tausend Malen mit den schönsten Erfolgen, wenngleich auch öfters die Besatzung ein Opfer ihres heroischen Muthes wird.
Es ist natürlich, daß Boote, die einen so riesigen Kampf zu bestehen haben, besonders construirt werden müssen, und dadurch unterscheiden sich auch die Rettungsboote von den gewöhnlichen Schiffsbooten.
Die an sie zu stellenden Anforderungen sind folgende: 1) Sie müssen stark und kräftig gebaut sein, um dem Anprall der Wogen widerstehen zu können. 2) Sie müssen niedrig auf dem Wasser liegen, um wenig Luftwiderstand zu haben. 3) Sie müssen schnell sein. 4) Sie dürfen nicht leicht umschlagen und müssen 5.) sich von selbst wieder auf ihren Kiel richten, wenn es dennoch geschieht. 6) Endlich müssen sie sich selbst entleeren, wenn Wellen hineinschlagen.
Es hat über ein halbes Jahrhundert bedurft, ehe es dem menschlichen Geiste gelungen ist, diese nothwendigen Eigenschaften in einem so kleinen Gebäude von 25–30 Fuß Länge und 6–8 Fuß Breite zu vereinen, aber seit zehn Jahren ist diese Aufgabe gelöst, und viele Tausende danken diesen Booten ihr Leben, das ohne ihre Hülfe unfehlbar verloren gewesen wäre. Die Peake’schen Rettungsboote sind von Holz erbaut, fünfundzwanzig bis zweiunddreißig Fuß lang, sechs bis acht Fuß breit und vorn und hinten so wie an den inneren Seitenflächen mit Luftkasten versehen, deren Tragfähigkeit sie unsinkbar macht. Ventile im Boden des Bootes, so construirt, daß sie sich durch Wasserdruck im Boote öffnen, dienen zur Selbstentleerung, wenn Wellen hineinschlagen. Eine concave Krümmung des obern Bordes, sowie eine Belastung des Kieles sichern die Eigenschaft des Selbstaufrichtens, wenn das Boot dennoch umschlagen würde. Ein sechs Fuß im Durchmesser haltender Korbcylinder, der außen um das ganze Boot läuft, vermehrt seine seitliche Stabilität um ein Bedeutendes. Kurze Leinen von Tauwerk mit Holzkugeln daran, die überall außerbords hängen, erleichtern den Schwimmenden bei Seegang das Ergreifen des Bootes. Die Besatzung ist mit Korkjacken versehen, welche die Bewegungen der Arme frei lassen, aber fünfunddreißig Pfund Tragkraft besitzen, mithin selbst einen erstarrten menschlichen Körper über Wasser halten. Diese Korkjacken sind eine Erfindung des englischen Capitain Ward und haben sich außerordentlich gut bewährt.
Das Boot wird in einem eigens construirten Transportkarren, stets vollständig gebrauchs- und seefertig, unter einem Schuppen am Strande aufbewahrt. Es steht unter der speciellen Aufsicht eines Localcomités, und der Bootssteurer, der wichtigste Mann der Besatzung, ist für die gute Instandhaltung verantwortlich. Sobald ein gestrandetes Schiff entdeckt wird – wer dem Comité oder Bootsteurer zuerst Nachricht davon bringt, erhält eine Prämie – ruft Letzterer die Besatzung durch ein Signal zusammen und das Boot wird auf Karren mit in der Nachbarschaft requirirten Pferden oder Menschen in die möglichste Nähe des gestrandeten Schiffes gebracht. Die Mannschaft setzt sich hinein, fertig zum Rudern, der Karren wird rückwärts so weit in die Brandung geschoben, bis das Boot flott ist; durch eine Hebelvorrichtung wird vom Lande aus mittels eines Taues der Hintertheil des geneigt erbauten Karrens abgelöst und das Boot gleitet in das Wasser, um sofort seinen Kampf mit den Wellen aufzunehmen.
Bisweilen ist der Sturm so wüthend, die Brandung so gefährlich, daß es unmöglich wird, mit dem Rettungsboote sie zu überwältigen und ein Versuch seiner Besatzung sichern Tod bringen würde. Unter solchen Umständen sucht man vom Lande aus mit Hülfe von Wurfapparaten eine Verbindung mit dem gestrandeten Schiffe herzustellen. Ueber die Einrichtung derselben müssen wir den Leser auf unseren sehr ausführlichen Artikel im Jahrgang 1861 der Gartenlaube verweisen.
Wir theilen hier eine der beiden Illustrationen mit, welche wir unserem ersten Aufrufe für nationale Gründung von Rettungsstationen an den deutschen Küsten beigefügt hatten. Sie zeigt, wie den Schiffbrüchigen, um ein sogenanntes laufendes Zeug zwischen Schiff und Küste herzustellen, mittels eines Raketenapparates ein Tau zugeworfen wird.
In Holland sind durch die seit 1824 gegründeten Rettungsanstalten 2572 Schiffbrüchige geborgen. Fragen wir aber nach ähnlichen Erfolgen an unsern deutschen Küsten, so bieten sie sich nur an der Nordsee, wo seit 1862 über siebenzig Menschen gerettet sind. An der ganzen Ostsee, an der gefährlichen schleswig-holsteinischen Nordseeküste suchen wir vergeblich darnach. Die Zahl der Geretteten ist dort so gering, daß man es nicht einmal der Mühe werth gehalten hat, sie zu veröffentlichen.
Wenn das Volk die Sache in die Hand nimmt und ernstlich fördert, so kann es nicht ausbleiben, daß auch die Regierungen sie thatkräftig unterstützen, wie dies in England geschieht, wo der Staat der National Life Boat Institution jährlich 5000 Pfd. Sterling (33000 Thlr.) zu Rettungszwecken überreicht. Weil aber die Wirksamkeit des Rettungswesens hauptsächlich von den innern Eigenschaften der Menschen abhängig ist, welche dabei thätig sind, so wird der Staat selbst beim besten Willen nie die schönen Erfolge erzielen können, wie ein Privatverein, der das ganze Volk repräsentirt.
Es giebt vielleicht keinen bessern Maßstab für den Fortschritt, den ein Volk gemacht, und für den Standpunkt, den es in geistiger Beziehung einnimmt, als die Maschinen. Die Construction, die Verbesserungen derselben etc. bedingen an und für sich eine Fülle technischer Kenntnisse und geistiger Fähigkeiten, wie sie nur bei einem gebildeten Volk gefunden wird, während andererseits die Anwendung der Maschinen nur bei einem geistig vorgeschrittenen oder doch einen hohen Grad von Bildungsfähigkeit besitzenden Volk möglich ist. Wir wollen aber heute keinen Panegyrikus auf die Maschinen im Allgemeinen schreiben, sondern unsere Leser mit einer speciellen Maschine bekannt machen, die an Sinnreichthum keiner andern nachsteht und dabei Alles erfüllt, was man vernünftigerweise von einer solchen verlangen kann. Wir meinen die Rechenmaschine von Thomas in Colmar. Dieselbe löst nicht etwa, wie Mancher dies glauben und in seinen Schuljahren oft sich gewünscht haben mag, ohne alle Beihülfe ein jedes ihr aufgegebene Exempel; sie thut dies ebensowenig, wie je eine Spinn- und Webmaschine ein fertiges Hemd produciren wird, wenn man auf der einen Seite den rohen Flachs hineinsteckt; sie befreit aber den Mathematiker von den Handlangerdiensten, und Alle, welche viel mit Zahlen zu thun haben, Ingenieure, Astronomen, mathematische, statistische, Finanz- etc. Beamte werden wissen, welchen Vortheil eine Maschine gewährt, welche ihnen die geisttödtende Arbeit der vier Species abnimmt. Dies aber thut die Maschine; sie rechnet mit unbedingter Sicherheit und Schnelligkeit die vier Species, und man vollführt mit ihr Multiplikationen und Divisionen mit größerer Geschwindigkeit, als mit Logarithmen, die außerdem, wie jeder weiß, nie fehlerfrei sind.
Der Wunsch nach einer solchen Maschine ist nicht neu; schon Pascal machte vergebliche Versuche, nach ihm der große Philosoph Leibnitz, und im Jahre 1820 begann der Engländer Babage die Construction einer Rechenmaschine, an welcher er zwölf Jahre arbeitete und die über 110,000 Thaler kostete, ohne sich als praktisch zu bewähren. Nach seinen Ideen arbeitete der Schwede Scheutz und es gelang ihm, eine Maschine zu construiren, die zwar allen Anforderungen entsprach, jedoch so theuer war, daß nur ein Exemplar construirt wurde, welches sich im Besitz des Smithsonian-Instituts in Amerika befindet. Fast gleichzeitig mit Scheutz begann Thomas in Colmar und nach manchen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, Anfangs der fünfziger Jahre eine Maschine zu construiren, die allen Anforderungen entspricht und dabei so billig ist, daß sie von allen Instituten, die ihrer bedürfen, leicht beschafft werden kann.
Die Maschine, Figur I, in einem hölzernen Kassen befindlich, hat eine Länge von 221/2“, 7“ Breite und 31/2“ Höhe und zerfällt in zwei Haupttheile, das Schanwerk und das Stellwerk, deren innere Theile durch zwei Messingplatten geschlossen sind; in der Deckplatte des Stellwerks A befinden sich acht parallele Einschnitte, neben welchen die Zahlen 0–9 in gleichen Entfernungen eingravirt sind: in jedem dieser Einschnitte ist ein verschiebbarer Knopf angebracht, der an der Seite einen kleinen, auf die Ziffern hinweisenden Stift trägt: durch Verschiebung dieser [360] Knöpfe C läßt sich eine jede Zahl stellen, welche nicht mehr als acht Stellen hat, und ist auf der Zeichnung die Zahl 56983 gestellt; links von diesen Einschnitten befindet sich ein kürzerer Einschnitt D, in welchem sich ein Schieber bewegen läßt, der nach oben geschoben, wie hier, die Maschine auf Addition und Multiplication, nach unten geschoben, auf Subtraction und Division stellt. Rechts von den Einschnitten ist eine kleine Kurbel E angebracht, mittelst der man durch einfache Umdrehung den innern Mechanismus in Bewegung setzt.
An die Deckplatte des Stellwerks schließt sich die nach rechts verschiebbare Platte des Schauwerkes B an, und wir sehen in derselben zwei Reihen Schaulöcher, deren obere n uns das Resultat einer vollführten Rechnung anzeigt, während wir aus den Zahlangaben der untern v entnehmen, wie oft wir die Kurbel E gedreht haben. Die beiden Knöpfe v und v1 dienen dazu, nach Beendigung einer Berechnung die Zahlen wieder zu entfernen.
Betrachten wir nun den innern Mechanismus; an jedem Knöpfchen C befindet sich unter der Deckplatte des Stellwerkes ein Rädchen a, welches auf einer viereckigen, durch das ganze Werk in der Breitenrichtung hindurchgehenden Achse b sitzt und sich verschieben läßt, indem es den Bewegungen des Knopfes folgt. Unter jedem dieser Rädchen liegt parallel mit dem Einschnitte der Deckplatte eine Walze c, und diese werden sämmtlich, durch eine Triebstange d, welche an der Längenrichtung des Stellwerkes liegt und mit der Kurbel E durch ein Rad e in Verbindung steht, um ihre Längenachse so gedreht, daß sie eine ganze Umdrehung machen, wenn man die Kurbel E einmal umdreht. An dem Mantel jeder Walze befinden sich neun Zähne von verschiedener Länge, so daß der mit 1 bezeichnete Zahn über die ganze Länge der Walze hinweggeht, während Zahn 6 nur bis zu der Höhe der Zahl +6 auf der Deckplatte A, 9 nur bis zu 9 der Deckplatte reicht; diese Zähne werden von den Zähnen des Stellrädchens a getroffen und zwar immer so viele, wie die Zahl besagt, auf die man den Knopf C, also auch das Stellrad gebracht hat. An dem andern Ende der viereckigen Achse b liegt ein zweites Rad f in gleicher Höhe mit den Schaulöchern der Deckplatte B; dieses greift in ein zweites horizontales Rad g ein, welches, unmittelbar unter der untern Fläche der Schauwerkplatte liegend, ein Zifferblatt m trägt, welches die Zahlen 0–9 zeigt. Wenn man z. B. den Knopf C des ersten Einschnittes auf 4 stellt, so folgt das Stellrädchen demselben bis zum Zahn 4 der Walze c, und wenn man die Kurbel E dreht, so wird die Walze sich demnach ebenfalls drehen, mit vier Zähnen von dieser getroffen; um eben so viele Zähne dreht sich auch dies Rädchen f und um die gleiche Zahl das unter dem Schauwerk befindliche Rad g, welches das Zifferblatt m um vier Stellen weiterrückt, so daß im Schauloche n an Stelle der 0 die Zahl 4 erscheint; rückt man den Knopf auf 5, so erfolgt eine weitere Umdrehung um fünf Zähne, das Zifferblatt, welches 4 [361] zeigte, rückt um fünf Stellen weiter und zeigt demnach 9; stellt man dann dasselbe Knöpfchen auf 3, dreht die Kurbel einmal, so dreht sich das Rädchen etc. um drei Zähne und es muß demnach das Zifferblatt auf 2 rücken, zugleich aber erscheint in dem links daneben liegenden Schauloch 1, und man erhält so die Summe von 3 und 9 = 12.
Damit aber dies Letztere geschehe, trifft in dem Augenblick, wo im Schauloch bei Addition 0 auf 9 oder bei Subtraction 9 auf 0 folgt, ein unterhalb am Zifferblatt angebrachter Zahn ein Hebelwerk, welches bei dem links daneben liegenden System einen einzelnen Zahn w (die Zehner-Zahl) so auf seiner Umdrehungsachse verschiebt, daß er in ein Rad p eingreift und eine Drehung um eine Stelle hervorbringt.
Nachdem wir versucht haben, unsern Lesern ein Bild der Rechenmaschine zu geben, wollen wir noch die einzelnen Operationen beschreiben. Sollen z. B. mehrere Zahlen 56983 + 5638 + 397854 + 62016583 etc. addirt werden, so stellt man wie hier geschehen 56983432 mittelst der Knöpfe im Stellwerk, dreht die Kurbel einmal und es erscheint diese Zahl in den Schaulöchern; alsdann stellt man die zweite Zahl, dreht einmal und sieht in den Schaulöchern die Summe von 56983 und 5638; in dieser Weise fährt man fort, bis das Exempel gelöst ist.
Will man eine Zahl mit einer bestimmten Zahl, also z. B. 476897 mit 3 multipliciren, so stellt man die erstere in den Einschnitten des Stellwerkes, dreht die Kurbel dreimal und ersieht in den Schaulöchern das Product. Zur Vereinfachung der Multiplication ist, wie bereits erwähnt, das Schauwerk verschiebbar und zwar so, daß man die Zehner oder Hunderter etc. der im Schauwerk ersichtlichen Zahlen der Einerzahl der im Stellwerk aufgestellten gegenüber bringen kann. Wenn z. B. 56983 mit 6864 multiplicirt werden soll, so stellt man 56983 im Stellwerk, dreht viermal, rückt dann das Schauwerk B um eine Stelle nach rechts, dreht sechsmal, rückt das Schauwerk abermals um eine Stelle nach rechts, dreht achtmal, dann nochmals um eine Stelle nach rechts, dreht sechsmal und es zeigen dann die Schaulöcher das Product von 56983 und 6864 = 391131312. Die untere Reihe der Schaulöcher 0 zeigt an, wie viel Drehungen man mit der Kurbel gemacht hat, so daß man diese nicht zu zählen braucht. Die Subtraction wird in ähnlicher Weise wie die Addition ausgeführt, nachdem man durch eine Verschiebung des Knopfes D auf Subtraction die Schauräder zwingt, sich in entgegengesetzter Richtung, wie bei der Addition zu bewegen.
Die Vortheile der Maschine bestehen, wie aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, besonders darin, daß sie das geisterschlaffende, maschinenmäßige Rechnen der vier Species dem Mathematiker abnimmt oder doch wesentlich erleichtert, dann aber auch da, wo es sich um größere Zahlen handelt, sehr schnell und durchaus genau rechnet, ein Vortheil, der sicher nicht zu unterschätzen ist.
Aber erfüllt, so wird mancher Leser fragen, die Maschine eine Hauptanforderung, die man an jedes derartige Instrument stellen muß: ist sie praktisch? Und auch dies können wir unbedingt bejahen. Auf dem Bureau der Lebensversicherungs-Gesellschaft Germania zu Stettin befinden sich seit zwei Jahren zwei Maschinen, und obwohl diese fast unausgesetzt im Gebrauch sind, so hat sich doch noch nicht die geringste Reparatur an denselben nöthig gemacht, gewiß ein Beweis für die Tüchtigkeit der Construction. Aber auch nach anderer Richtung haben sich die Maschinen hier als praktisch gezeigt; die Arbeiten, welche dem mathematischen Bureau dieser Gesellschaft obliegen, sind bei dem eminenten Aufschwunge, dessen sich die Germania erfreut, und bei dem Bestreben, den Anforderungen des Publicums in jeder Richtung zu entsprechen, was die Einführung einer Reihe neuer Versicherungstabellen nöthig machte, ganz enorme. Die Bewältigung dieser Arbeit würde, ohne das Personal bedeutend zu vermehren, nicht möglich sein, wenn nicht die Maschinen die Arbeitskraft mehrerer Menschen aufwögen. Also auch nach dieser Richtung hin sind sie praktisch.
Sollte aber einer unserer Leser die Maschine näher kennen lernen wollen, denen wollen wir zum Schluß noch mittheilen, daß auf der im Mai stattfindenden Industrie-Ausstellung zu Stettin eine solche Maschine ausgestellt sein wird; wer aber mehr Interesse für dieselbe gewonnen haben sollte und sie in Thätigkeit sehen will, der mag sich auf das Bureau der erwähnten Germania bemüher, wo ihm dieselbe, wie schon vielen Hunderten Wißbegieriger, mit der größten Bereitwilligkeit gezeigt und erklärt wird.
Wer an einem Frühlingsmorgen zwischen Blumen und Blüthenbäumen, im Kreise seiner Lieben und trauter Freunde, die freien Geistes und frischen Herzens der edlen Schönheit wie dem heiligen Ernst des Lebens huldigen, voll innigen Dankgefühls das Auge zum reinen blauen Himmel erhebend, selig einschlummerte – und plötzlich aufwachte im staubigen Kirchenstuhl einer düsteren Klosterkapelle, Nichts vor Augen, als Glatzen von Mönchen und gebetmurmelnde Gesichter alter Weiber – der würde die Empfindung haben, die uns überkam, als wir den „Bericht über das Jahr 1863, das neunundzwanzigste Jahr der Wirksamkeit des Vereins für die sieben Goßner’schen Klein-Kinder-Bewahranstalten etc. in Berlin“ gelesen hatten.
So viel uns auch die Kunst Bilder krankhafter Frömmelei darstellt und wie oft wir sie im Leben belauschen können, so ist unseres Wissens doch noch nie das heuchlerische Spiel mit dem jedem Herzen Heiligsten in widerlicherer Weise getrieben worden, als es in diesem „Berichte“, namentlich aber in der ihm eingewebten Erzählung von dem „seligen Franz“ uns entgegentritt. Wir müssen unser Auge dazu hergeben, zu sehen, wie ein argloses Kind von seinem dritten bis zum sechsten Jahre zur Caricatur eines Glaubensmusters verkrüppelt wird, wie das arme Kind Nichts mehr anders denkt und spricht, als in biblischer Redeweise, wie seine Phantasie ganz erfüllt ist mit allen möglichen biblischen Gestalten, und wie in den Eltern dieses Kindes sogar das jedem Wesen natürlichste Gefühl der Elternliebe zusammenschrumpft in den affectirten und kühlen Ausdruck blinder Hingebung an Glaubenssatzungen, mit denen sie noch am Sterbebett des Kindes sich wahrhaft herzlos zu trösten wissen.
Doch – wir wollen den Leser nicht länger abhalten, mit den eigenen Augen den traurigen Irrpfad solcher Frömmelei zu verfolgen, und überlassen seinem eigenen Herzen den Urtheilsspruch über das nachfolgende Resultat derselben.
„Liebe Mama!“ sagte der kleine, beinahe sechs Jahre alte Franz recht freudig, als er an einem Montag Morgen erwachte, „weißt Du, was ich gern möchte?“
Seine Mutter fragte: „Nun liebes Fränzchen, was möchtest Du denn gerne? willst Du Deinen Kaffee mit Zwieback?“ und als er es verneinte, fragte sie ihn weiter: „Willst Du ein Bild oder einen Wagen, oder etwas anderes Schönes zum Spielen?“
„Nein, liebe Mama,“ sagte er glücklich lächelnd, „das Alles nicht, ich wünsche etwas viel Schöneres,“ und dann zeigte er mit seinen kleinen Händchen nach dem Himmel und sagte: „Da, ich möchte sterben!“
„Aber liebes Fränzchen,“ sagte seine Mutter mit Wehmuth, „warum willst Du denn Deine Mama, Deinen Papa, Dein Brüderchen und Schwesterchen verlassen, warum willst Du denn sterben?“
„Ich will beim Herrn Jesu, bei den lieben Engelein, bei meiner Großmama und bei den seligen Kinderchen sein,“ (die er alle nannte) und dabei blieb er auch, trotz alles Redens.
„Das ist sehr sonderbar,“ dachte seine Mutter und auch sein Vater. Fränzchen war etwas kränklich, er hatte einen bösen Husten, aber wir meinten, es habe nichts zu bedeuten, und er war bis zu diesem Montag immer noch herausgegangen, ja auch in der Spielschule gewesen. Er war in der vorherigen Woche mit seiner Mutter zum Besuch bei seiner Tante gewesen, hatte sich unterwegs etwas erhitzt und wahrscheinlich auch erkältet; das schien die sichtbare Ursache der Krankheit zu sein; die unsichtbare Ursache aber war der Wille seines Heilandes, der sich an dem lieben Fränzchen schon früh verherrlicht hatte.
[362] Schon im Alter von drei Jahren brachte ich ihn nach einer Spielschule, und zwar nach der hiesigen Mägdeherberge. Da gefiel es Fränzchen auch sehr gut; der Umgang mit den lieben kleinen Kindern, das Spielen dort und seine liebe Lehrerin Clara machten ihm recht viele Freude; des Morgens brachte ich ihn hin und Nachmittags holte ich ihn in der Regel ab, sein Mittagbrod aß er in der Herberge. Die ersten Sprüche, die er lernte, waren: „Wer da glaubet und getauft wird etc.“ und: „Gehet hin in alle Welt etc.“ Diese beiden Sprüche wurden sein ganzes Leben, es bewegte sich dasselbe in diesen Sprüchen; ich fragte ihn öfter: „Fränzchen, hast Du den Herrn Jesum lieb?“
„Ja, lieber Papa!“ sagte er.
„Warum hast Du Ihn denn lieb?“ fragte ich weiter, dann antwortete er:
„Weil Er mein lieber Heiland ist.“
Darauf fragte ich: „Warum ist Er denn Dein lieber Heiland?“
„Weil Er mir meine Sünden vergiebt,“ war seine Antwort; und wenn ich dann noch fragte:
„Hat der liebe Heiland Dir denn schon Sünden vergeben?“ so sagte er: „O ja! in der Taufe hat Er mich zu Seinem lieben Kinde gemacht, und wenn ich unartig bin, dann bete ich, und dann vergiebt Er mir wieder.“
Später brachte ich Fränzchen in eine Spielschule, die in der Stadt ist, und da hat er sehr viel Schönes gelernt durch seinen Lehrer, vom lieben Herrn Jesus sowohl, als auch von den lieben Engelein, von Adam und Eva, von Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Joseph und seinen Brudern, von Saul und David, von Daniel und den lieben Aposteln, ja auch vom bösen Feinde, vom Teufel. Den letzteren und die Hölle fürchtete er, sonst hatte er gar keine Furcht, er ging im Finstern, wohin er geschickt wurde, und lachte sein kleines Brüderchen immer aus, das sich vor dem Schornsteinfeger und im Finstern fürchtete. Als er zusammenhängend sprechen lernte, war sein Erstes das Gebet. Als ich ihm einst sagte: „Liebes Fränzchen, Du mußt immer nur um den heiligen Geist bitten,“ da wurde der Grundzug seiner Bitte, die er knieend verrichtete: „lieber Herr Jesu, vergieb mir doch alle meine Unartigkeit, schenke mir doch ein reines Herz und Deinen heiligen Geist!“ Des Abends bat er mir dann auch alle Unarten ab und ich sagte nun zu ihm: „Ich vergebe Dir!“ damit er dem Worte glauben lernen sollte.
Nach dem Morgen- und Abendgebet der Kinder pflegte ich stets die Kinder, wie ich das von einer frommen Wittwe gelesen und gelernt, zu segnen. Dieser Segen war ihm zum Bedürfniß geworden. Selbst in dem Falle, wo ich beim Schlafengehen der Kinder nicht zugegen war, sagte er stets wiederholt zu seiner Mutter: „Liebe Mama, sage doch dem Papa, er soll nicht vergessen mich zu segnen.“ Wenn er in’s Bett gestiegen war, so hatte er noch zwei Bitten an seinen lieben Heiland: „Lieber Herr Jesu,“ betete er, „laß mich doch nicht das Bett verunreinigen;“ und dann: „lieber Herr Jesu, schick’ mir jetzt doch die Engelein und laß mich einschlafen.“ Sein kleines Brüderchen ist träger zum Beten und Fränzchen gab sich viel Mühe, ihn zu belehren: „Rudolph,“ sagte er, „erst mußt Du beten, ehe Du Deinen Kaffee trinkst oder die Schrippe issest,“ und wenn Rudolph noch nicht wollte, so sagte er ihm, wie auch bei anderer Gelegenheit, wenn er unartig war: „Jetzt ist der böse Feind in Dir, wenn Du nicht betest und unartig bist, da kommst Du in die Hölle, wenn Du aber betest, dann ist der liebe Herr Jesus in Dir und die lieben Engel freuen sich.“ Und das sagte er so ernsthaft und entschieden, daß ich oft erstaunt war. Wenn aber Rudolph dennoch nicht hören wollte, so klagte er ihn bei mir an. Sobald Jemand krank wurde, oder er hörte und sah, daß Jemand etwas that, was ihm nicht recht dünkte, da knieete er bald nieder und betete für ihn, und that das alle Tage, bis ich sagte: „Nun ist es genug.“ Bei all’ seinem Gebet war er der unbedingten Erhörung gewiß. Wenn er vom Gebet aufgestanden war, dann sagte er sehr oft: „Nun hilft der liebe Herr Jesus; wenn ich Amen sage, dann sagt er auch Amen.“ Und wenn er wegen seines Gebets verspottet wurde, was auch geschah, so war er sehr empört darüber, daß man sagte, der Herr Jesus helfe uns doch nicht.
Doch sollt ihr, lieben Leser, ja nicht denken, daß Fränzchen nicht auch seinen alten Adam an sich hatte, der trat auch manchmal hervor und hat die Ruthe bekommen müssen, und Fränzchen war lieber und eher geneigt, dem Herrn seine Unartigkeit abzubitten, als seinen Eltern, und hat dieserwegen manchmal Strafe erhalten müssen, damit er es lerne, auch Menschen um Vergebung zu bitten. Seine Strafe nahm er sehr oft geduldig an und ist dieserhalb anderen lieben Gotteskindern zum Segen geworden, welche sahen, mit welcher Willigkeit er mir seine Hand zur Bestrafung hinreichte, mit der er eine Unart begangen hatte. Im vorigen Jahre ereignete es sich einmal, daß, als Franz und sein Brüderchen Rudolph zu Bette gegangen waren, der Letztere, welcher ein sehr unruhiges Kind ist, wiederholt unartig war; ich verbot es ihm; als er aber nicht von seiner Unart ließ, ging ich nach der finstern Stube an das Bette der Kinder und züchtigte das Kind, welches an der Stelle lag, wo Rudolph zu liegen pflegte. Das gezüchtigte Kind gab aber keinen Laut von sich und das fiel mir dermaßen auf, daß ich Licht nahm, um es zu sehen. Doch wie erstaunte ich, als ich bemerkte, daß ich statt des Rudolph den Franz geschlagen hatte, der sonderbarer Weise mit Rudolph seinen Platz gewechselt hatte. Mein Erstaunen steigerte sich zu einem unbeschreiblichen Mitgefühl, als ich das unschuldig geschlagene Kind sah, welches, ohne sich zu beklagen, mit sanftmüthigen Augen mich ansah und still und ruhig sagte: „Lieber Papa, Du dachtest wohl, es ist Rudolph.“ So manch’ liebes Gotteskind hat im Stillen gleich den Eltern dem Herrn für die Gnade gedankt, die Er dem Franz gegeben, denn sein ganzes Leben war größtentheils ein gar liebliches, er bestrebte sich artig zu sein und sagte oft: „Lieber Papa, ich möchte gerne sehr artig sein.“
Aber auch der zweite Spruch, den Fränzchen zuerst gelernt hatte: „Gehet hin in alle Welt etc.“ hatte bei ihm Frucht geschafft; er hatte Missionssinn und wollte selbst Missionar werden. Wenn man ihn, von den Gefahren erzählte, denen die Missionare ausgesetzt sind, so entfiel ihm der Muth; wenn man ihm aber sagte: „Der Herr Jesus hat aber befohlen, daß den armen Heiden Sein Wort soll bekannt gemacht werden, und Er schützt auch alle Seine Kinder,“ so sagte er in seiner Einfalt: „Dann will ich doch hingehen.“
Als nun an jenem Montag Morgen mein Fränzchen die oben gesagte Rede mit uns gehabt, dachten wir bald nicht mehr daran, ließen ihn aber im Bette bleiben; aber am Abend wurde sein Husten bedenklicher und sein Athem kürzer. Da legten wir ihm dann einen Senfteig und gaben ihm Thee, den Herrn bittend, Er wolle die Arzenei segnen. Aber Dienstag früh sah es mit Fränzchen noch schlimmer aus; der Doctor wurde geholt, der verschrieb ihm viel Arzenei und sagte, er habe die Halsbräune. Nun mußte er viel aushalten. Tag und Nacht bekam er heiße Umschläge um den Hals und zwar so sehr oft, daß er gar nicht schlafen konnte und immer bat, wir sollten ihn doch nur schlafen lassen; doch da war nicht zu helfen, wir mußten den Anordnungen des Arztes um des Herrn willen Folge leisten. Fränzchens Mutter wurde am Dienstag Abend vom Herrn schon darauf vorbereitet, was Er mit demselben vorhatte; sie schlug in Bogatzky’s Schatzkästlein den Abendspruch vom 6. März auf. (Wer das Büchlein hat, lese ihn.)
Am Freitag früh hatte die Krankheit sich so sehr verschlimmert, daß in Eile ein zweiter Arzt geholt werden mußte. Fränzchen lag fast im Sterben; da sagte der Arzt, es bliebe nur noch eine Operation übrig, und willig gaben wir uns auch hierbei in des Herrn Hand. Ich packte ihn warm ein, nahm ihn auf den Arm und trug ihn in einen Wagen, der uns nach dem Klinikum fuhr, und dort wurde dem lieben Kinde ein kleines Loch in den Hals geschnitten und dann eine silberne Röhre eingesetzt, da athmete er dann wieder ruhig, nahm auch Milch zu sich und wollte sogar essen, so daß es schien, als wolle der Herr ihn wieder gesund werden lassen.
Seitdem die Röhre eingesetzt war, konnte er nicht mehr laut sprechen, sondern mußte zu erkennen geben, daß er etwas wolle: dann mußten wir errathen, was er wollte, er bejahte oder verneinte durch Zeichen. Als er noch sprechen konnte, hat er öfter wiederholt, er wolle sterben, auf daß seine Seele in den Himmel käme. Seine Leiden, die nicht gering waren, ertrug er mit einer großen Geduld, wodurch die Aerzte und die im Krankenzimmer Anwesenden in Erstaunen gesetzt wurden. Sein Papa und seine Mama waren abwechselnd Tag und Nacht bei ihm. Viele Gotteskinder haben ihre Gebete mit denen der Eltern vereinigt und dem lieben Heiland das Kind recht an’s Herz gelegt; aber es wurde nicht um unbedingte Herstellung gebetet, sondern, [363] da die Seele des Kindes gerettet war, weil er getaufet war und glaubte, die Hülfe des Herrn Barmherzigkeit und Weisheit überlassen. Am Montage zeigte ich ihm einen blanken Thaler mit dem Bildnisse des seligen Königs Friedrich Wilhelm’s des Vierten; er gab zu erkennen, daß er sich sowohl über den Thaler, als auch über das Bildnis des Königs freue, denn für den seligen König hatte er täglich gebetet; ich sagte: „Fränzchen, möchtest Du den Thaler behalten?“ da nickte er freundlich; ich fragte weiter: „Willst Du ihn verschenken?“ da machte er eine Gebehrde des Verneinens; als ich aber fragte: „Willst Du nicht den Thaler den armen Heidenkindern in China schenken?“ da machte er eine Gebehrde der freudigen Zustimmung.
Beim Einnehmen der Arzeneien durfte man ihm nicht sagen, daß er dadurch gesund werden würde; darüber wurde er widerwillig: nur aus Gehorsam gegen den Herrn Jesum, die Aerzte oder seine Eltern nahm er, was ihm verordnet wurde.
Am Dienstag Vormittag, also am neunten Tage nach seiner zuerst ausgesprochenen Sehnsucht nach den Himmel, wurde wider alles Vermuthen sein Zustand äußerst bedenklich; die Aerzte sahen sein Ende kommen, eine Lungenentzündung war noch hinzugetreten; ich aber sah im Glauben den Engelwagen kommen und sagte noch kurz vor seinem seligen Hinscheiden: „Liebes Fränzchen, sollen nun die Engelchen kommen und Dich zum Herrn Jesu bringen?“ Da nickte er getrost, und dann sagte ich noch: „Nun werden sie bald kommen, dann wirst Du mit ihnen hinaufeilen und den lieben Herrn Jesus und Abraham, Isaak, Jakob, Joseph und seine Brüder, sowie David und alle heiligen Apostel sehen, willst Du das?“ Da gab er auch seine Zustimmung. Der Herr erhörte meine Bitte und verkürzte die Zeit des Leidens; um halb zwei Uhr Nachmittags hauchte er unter meinen Gebeten seine Seele aus und der Glaube sah sie hinweggeführt von den Engeln in des Heilands Schooß.
Unser Schmerz ist groß, aber des Herrn Trost ist noch größer. Den blanken Thaler und Fränzchens Ersparnisse händigte ich als Erbschaft dem Frauen-Missions-Verein für China ein.
Das ist die Frömmler-Geschichte eines sterbenden Kindes! – Der Bericht über die sieben Klein-Kinder-Bewahranstalten stellt dieses Kind als ein solches hin, an welchem „die Wirkungen göttlicher Gnade“ sich am glänzendsten erwiesen. Und doch wollen die Vorstände eine dieser Anstalten schließen wegen der gegenwärtig sehr traurigen äußeren Lage des Vereins. Man höre! „Schon der letzte Bericht wies stillschweigend ein Deficit von über 3 Thalern nach, und dieses zu decken, hat uns trotz aller Einschränkungen nicht gelingen wollen, ja es ist jetzt bis auf 101 Thlr. 24 Sgr. 10 Pfge. herangewachsen. Dieser Umstand erfüllt uns besonders mit Kümmerniß, weil wir ohne des Herrn außerordentliche Hülfe etc... Wir bitten daher alle theuren Kinderfreunde, mit uns den Herrn anzurufen, daß Er uns aus dieser Noth und Bedrängniß in Gnaden retten wolle.“ Und wer sind die armen Hülflosen – denn solche können es doch nur sein – die so jämmerlich wegen eines solchen Deficits zum Himmel schreien? Neben sechs Predigern und Pastoren, vier Baroninnen, einer Gräfin auch der Oberst v. Ollech, der Commandeur des Berliner Cadettencorps, und Staatsminister a. D. v. Uhden, einst die höchste Gerichtsperson Preußens.
Fragt ein Fremder bei dieser oder jener Einrichtung, der einen oder der andern Anstalt, dem oder jenem großartigen Unternehmen, die seit einer Reihe von Jahren in Köln zum öffentlichen Wohl in’s Leben gerufen worden sind, nach Urheber oder Theilhaber solcher verdienstlicher Werke, immer wird ihm ein Name vor Allen mit Stolz genannt werden, als der eines Mannes, welchem das moderne Köln vor vielen Andern zu Dank verpflichtet ist, der Name Classen-Kappelmann. Unsere Leser am Rhein wissen Alle, was ihnen dieser Name bedeutet, ihnen brauchen wir nicht erst zu sagen, daß Herr Classen-Kappelmann, den das Vertrauen seiner jetzigen Mitbürger zum Stadtverordneten erwählte, wie so viele ausgezeichnete Männer, seine Erfolge sich selbst verdankt, ein „selbstgemachter Mann“, wie dies erst in letzter Nummer der Gartenlaube von Abraham Lincoln gerühmt wurde.
Als Sohn eines Kleinbürgers in dem rheinischen Städtchen Sinzig kam er mit sechszehn Jahren nach Köln, wurde Ladengehülfe in einem Manufactur-Geschäfte und schwang sich von diesem bescheidenen Posten auf zu einem namhaften Industriellen der Hauptstadt des Rheinlandes – lediglich durch eigene Kraft. Und mit seiner Privatthätigkeit ging die öffentliche stets Hand in Hand. Er wollte ein guter Bürger werden, nicht mehr, nicht weniger. Welch bescheidener Wunsch – und doch, welches hohe ehrenvolle Ziel – um so höher, um so ehrenvoller, als es so selten angestrebt wird in unserer selbstsüchtigen Zeit!
Um zu erfahren, wie sehr die Bedeutung des Mannes anerkannt wird, auch weit über die Grenzen seiner Heimath, um einen Ueberblick über seine universelle Thätigkeit zu gewinnen, brauchen wir nur einen Tag bei ihm zu verleben.
Auf dem Schilde an seinem einfachen Hause lesen wir die Inschrift „Wollspinnerei und Tricotfabrik“; im Uebrigen kennzeichnet sich die Fronte durch Schaufenster als den Eingang zu einem Manufacturwaarenladen. Wir treten ein, müssen aber eine unendliche Reihe von Waaren-Repositorien passiren – das Haus ist die Verbindung zweier Straßen und das längste der ganzen Stadt. Endlich gelangen wir an die Pulte, das letzte in der Reihe dient dem Chef des Hauses. Der verwunderte Blick unsers Begleiters verräth eine Enttäuschung; einen so schlichten kleinen Mann, im grauen Rock, mit dessen melirter Farbe das graue krause Haar an Unscheinbarkeit wetteifert, hatte er zu finden nicht erwartet. Erst als wir eine Zeitlang im Cabinet neben ihm gesessen haben und des Mannes klare und bestimmte, wenngleich ungemein milde Redeweise dem Gaste imponirt hat, erst da verzeiht er ihm seine gänzliche Schmucklosigkeit. Nun läßt der Fremde den Wunsch durchblicken, die eigenthümliche Industrie des Hauses kennen zu lernen, und der Hausherr erbietet sich sofort uns zu den Tricot-Stühlen zu führen. Im Moment aber meldet sich eine Deputation aus Brüssel, die Abgesandten einer großen belgischen Handels-Compagnie treten ein und besprechen den Plan eines Ankaufes der Kölner Gaswerke um den Preis etlicher Millionen mit dem Hausherrn. „Hat er darüber zu verfügen?“ fragt erstaunt unser Fremder. „Keineswegs,“ antworten wir, „er hat im Stadtrath Sitz und Stimme, gleich seinen dreißig Collegen. Aber Herr Classen ist der alleinige Reformator des großen Gas-Instituts, er hat seit fünfzehn Jahren das Monopol der englischen Compagnie bekämpft, seiner Thätigkeit in Schrift und Rede verdanken es die Bürger, wenn sie das Licht für den halben Preis gegen früher geliefert erhalten.“ „Was veranlaßte ihn zu dieser Agitation?“ „Das Interesse Aller; er selbst ist nur kleiner Gas-Consument, denn sein großes Etablissement, die Wollspinnerei, liegt entfernt von Köln und hat seine besondere Gasanstalt.“ – Die Belgier entfernen sich, wir stehen an der Treppe zu den Fabrik-Räumen. Da erscheinen in der Thür vier Männergestalten, sehr improvisirt angethan mit ihren Sonntagsröcken; es sind Karrenfuhrleute, sie klagen über den Neubau eines Festungsthores und bitten den Herrn Stadtrath um eine Beschwerdeschrift an die Commandantur. Mit freundlichen Worten seine Verwendung versprechend, verabschiedet er die Leute, nun sind wir glücklich oben, nun beginnt die hier dutzendweise aufgestellte, höchst complicirte Tricot-Maschine unsern Gast zu interessiren – da gesellt sich wieder ein Besucher zu uns und redet unsern Führer französisch an. Alsbald hören wir, daß er ein Ingenieur ist, welcher den neuesten Plan zur Anlage einer künstlichen Wasserleitung entworfen. „Sieben Jahre lang kämpft und streitet Herr Classen für ein eben so gemeinnütziges wie besonders in dem engen Köln nothwendiges Institut, bisher noch ohne praktischen Erfolg; sieben Jahre lang vergebens, und bemerken Sie, spricht er nicht mit einer Wärme, als sei er frisch in den Kampf eingetreten?“
Noch auf der Treppe hören wir eine neue Anmeldung, die Namen klingen jüdisch und der Hausherr erzählt, daß der Vorstand der israelitischen Gemeinde sich an ihn gewendet, um eine
[364] schnöde Benachtheiligung im Budget der Stadt bei der Dotirung ihrer israelitischen Schule abzuwehren. Es hilft nichts, auch diese Audienz wird abgehalten, bevor es dem Herrn des Hauses gestattet ist, sich zur Erholung mit uns in’s Wohnzimmer zurückzuziehen.
Unsere Unterhaltung ist eben von Sinzig auf die Ahr, die dort mündet, gekommen und auf den rothen Ahrwein, den wir zum Frühstück von der hübschen und liebenswürdigen Hausfrau credenzt erhalten. Aber noch keine Ruhe, wiederum Gäste und diesmal sind sie der Situation besonders angepaßt – junge Bursche, vier Mann hoch, erscheinen in der Thür, der Bestand des allgemeinen Turnvereins; sie sind willkommen zum Frühstück, oder besser das Frühstück ist ihnen willkommen! Daß sie Etwas wollen, ahnt unser Fremdling schon mit Bestimmtbeit; freilich, eine neue Turnhalle auf städtische Kosten wollen sie, und Herr Classen, der von jeher ihre Sache so eifrig betrieben, als sei er sechszehn und nicht sechsundvierzig Jahre alt, verspricht ihnen eine Interpellation in der nächsten Stadtverordnetensitzung.
Nicht weniger als drei schriftliche Einladungen laufen ein, während wir mit den Turnern uns unterhalten: zur regelmäßigen [365] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
Sitzung der Handelskammer, zur ordentlichen Generalversammlung der Actionäre der Industrie-Ausstellung und zur außerordentlichen Versammlung des Handelsvereins.
„Wer sich nur verdreifachen könnte, um an einem und demselben Abend überall dabei zu sein!“ bemerkt ein Hausgenosse und flüstert uns zu: „zwei der Versammlungen besucht er sicher, er weiß es so einzutheilen.“
Gegen Mittag besteigen wir den Wagen, der uns hinaus auf’s Dorf führt, wo das Landgut und die Wollspinnerei sich befinden. Trotz der heute gewiß besonders knapp bemessenen Zeit findet der Fabrikant neben der Erledigung seiner kaufmännischen Arbeiten doch noch Muße, ein Stündchen in seinem Garten zuzubringen; denn er ist mit Begeisterung Landwirth, cultivirt persönlich alle möglichen neuen Erscheinungen auf dem Gebiete des Garten- und Ackerbaues und liefert den meistens schwerfälligen Bauern in seinem Versuchsgarten Beweise von der Nützlichkeit des Fortschritts.
Daß ihn seine Kinder, deren reiche Schaar in seinen jüngsten hier vertreten ist, mit allerlei Anliegen im Garten behelligen, stört den zärtlichen Papa nicht; er ist auch hier an Unterbrechungen längst gewöhnt. Seit die Bauern wissen, daß er zweimal wöchentlich
[366] regelmäßig auf’s Land kommt, mißbrauchen sie nicht selten seine unverwüstliche Geduld und holen von ihm gratis den Rath, den sie einem Advocaten würden bezahlen müssen.
Wir haben die Fabrik gesehen, passiren die Nebengebäude und finden die eigens angelegte Gasanstalt. Unser Begleiter ergeht sich bei dieser Gelegenheit in Lobsprüchen über Herrn Classen’s neueste Schrift, welche die Gasanstalten in ganz Deutschland vergleichend behandelt. Ein Commis seines Comptoirs erzählt dabei, daß die Kosten und Auslagen für diese mühsame Arbeit den Ertrag des Absatzes bei Weitem übersteigen. „Verleiden ihm dergleichen Opfer nicht seine Thätigkeit?“ fragt der Fremde. „Keineswegs, und zwar deshalb nicht, weil er bei seinen Arbeiten niemals an sich selbst gedacht hat. Treten Sie einmal hier in’s Privatcomptoir; auf dem Schreibtische liegt ein voluminöses Manuskript gegen die Rheinische Eisenbahn, welche trotz ihres Vertrages sich weigert, den Güterbahnhof am Freihafen anzulegen. Die Geldmänner von Köln, diese kleine aber mächtige Partei, werden in ihren Privatinteressen energisch bekämpft. Würde diese vielvermögende Sippe von einem einzelnen Manne, noch dazu von einem solchen, der sich selbst nur zu den Kaufleuten aus dem Mittelstand rechnet, angegriffen werden, wenn der einzelne Mann seinen Vortheil im Auge hätte?“
Dies Privatissimum, diese bescheidene Clause ist die Werkstatt für größere literarische Arbeiten. Wie wir selbst gesehen haben, bleibt auf dem Hauptcomptoir in der Stadt keine Muße; hier auf dem Lande wird sie den andern Beschäftigungen abgekargt. Das Pult hier zeigt außer einer Menge von Arbeiten politischen Inhalts, Correspondenzen mit den auswärtigen Freunden der Fortschrittspartei, Concepten zu Reden für Volksversammlungen etc. eine Denkschrift für den deutschen Handelstag, Correspondenzen für die „Rheinische Zeitung“, deren eifriger Mitarbeiter Herr Classen ist; ferner eine Abhandlung über die Bankfrage und alle möglichen Materialien für die Handelskammer und den Handelsverein. Mögen auch mancherlei tüchtige Männer an der Spitze aller dieser Corporationen stehen, dem Collegen Classen überlassen sie großmüthig die Arbeit und er schafft und wirkt statt Aller für Alle.
An der Gartenpforte harrt indeß der Wagen, der uns heimführen soll; warum zögert der Fabrikherr, nachdem wir ihn längst Abschied von der Familie nehmen sahen? Er empfängt nachträglich noch die Gratulationen zu seinem Namensfeste, das kürzlich stattgefunden hat. Die Arbeiter hängen sehr an ihm – er ist der Begründer des Wohlstandes aller, insbesondere aber sind mehrere Posten in seiner Fabrik mit Leuten besetzt, die ihm ihre Erhebung aus schwerem Unglück verdanken. Wie das geschehen, erfahren wir freilich nimmer, weiß es doch der Eine vor dem Andern nicht.
Die Rückkehr zur Stadt ist erfolgt. Es bleiben noch zwei Stunden vor dem Beginn der oben erwähnten Sitzungen, und in dieser kurzen Zeit geschieht die vollständige Buchung der heutigen Geschäftsresultate, die Revision der Correspondenz, die Instruction an die Commis für die Abendpost, die Bestellungen an den Werkmeister für den folgenden Tag, und meistens bleibt noch Zeit zum Lesen der neuesten Blätter und Tagesberichte übrig.
Welches Geheimniß setzt den Mann in den Stand, das Alles in einer Zeit zu leisten, die bei Andern kaum zur Conception eines Briefes ausreicht? Wir glauben, sein Geheimniß heißt Talent zur Organisation und Seelenruhe. Aufregung, Ueberstürzung, nervöse Hast u. dergl. kennt seine gesunde, durch außerordentlich rationelle Pflege befestigte Natur nicht. Ein Gleichmuth von seltener Festigkeit hält auch dann noch vor, wenn der beste Philosoph die Geduld verlieren würde; die stets harmonische Stimmung seines Innern hält jene Dissonanzen fern, die nur zu oft die geistige Thätigkeit lähmen und bei sehr vielen Menschen das Haupthinderniß rascher Arbeit sind.
Wenn nun endlich der späte Abend ihm Ruhe gönnt; wenn er im großen Kreise seiner Familie, so groß, weil das Geschäftspersonal meist aus Verwandten besteht, weilt, mittheilend, hörend oder lesend: so braucht nur irgend eine Nachricht von Bedeutung aufzutauchen, um ihn zu veranlassen, daß er sogleich wieder seine Wirksamkeit aufnimmt. Denn er hat seit lange die Initiative im politischen Leben der Stadt und der Provinz, mit allen Bestrebungen der Fortschrittspartei ist sein Name verknüpft. Das Mandat für das Haus der Abgeordneten wurde ihm mehrmal von seinen Mitbürgern entgegen gebracht; er mußte ablehnen, weil er zu Hause nicht zu entbehren war. Und in der That, wer sollte ihn ersetzen?
Weil er für Alle lebt, traten alle gern ein, als es galt, ihm eine Freude zu machen. Eine große Anzahl Kölnischer Bürger vereinigte sich zu einem Geschenk an den Unersetzlichen, das nicht zarter gewählt, nicht sinniger gedacht und trefflicher hätte ausgeführt werden können. Es war ein ländliches Gemälde, welches man für die Wohnstube des Gefeierten bestimmte, dasselbe Bild, das der umstehende Holzschnitt in kräftigen Zügen wiedergiebt, eine Ernte am Rhein, in der Heimath des Verehrten. Im Hintergrunde der heiteren, sonnenerleuchteten Scene sehen wir die schöne romanische Kirche zu Sinzig; die hübsche Tracht der Landleute vom Mittelrhein, das Paar Lastthiere vor dem Heuwagen etc. kennzeichnen Land und Sitte.
Gemälde als Ehrengeschenke zu geben, zumal wenn es nicht Portraits der zu Beschenkenden sind, ist wenig hergebracht; Pocale mit Inschriften, Service, Leuchter, Tafelaufsätze etc. sind an der Tagesordnung – haben aber auch eben deswegen keine besondere Bedeutung. Köln wollte seinen verdienten Bürger nicht in gleicher Weise beschenken, wie man jedem Schützenkönig, jedem abgedankten Landrath oder Polizeicommissar zu huldigen pflegt.
Der Schöpfer des Bildes ist Ihren Lesern längst näher bekannt; im Jahrgang 1861 Nummer 41 der Gartenlaube steht ein Lebensabriß des Malers Christian Böttcher von Düsseldorf. Er wurde auserkoren, weil ein schönes Gemälde von ihm, „rheinische Sommernacht“, im Museum zu Köln den allgemeinsten Beifall fand. Als das Bild bei feierlicher Gelegenheit enthüllt und überreicht wurde, erkannte man allgemein der Ausführung den ersten Preis zu, selbst vor dem „Abend am Rhein“, dem berühmtesten Werke desselben Meisters. Das kam daher, weil der Künstler beim Schaffen des Bildes die Liebe und Verehrung der Geber theilte. Er hatte die Liste der Contribuenten gesehen – viele Hundert Handwerker und Arbeiter standen darauf, der geringste Mann neben dem Vermögenden – und bei der Uebergabe des Bildes konnte der Maler sagen, es sei der schönste Auftrag, der ihm je zu Theil geworden.
Heulend rannte die Bäuerin, die Hiesel so hart von dannen geschickt hatte, das Dorf entlang davon.
Der Bauer war eine nicht eben kräftige Gestalt, aber wenn auch tödtlich erschrocken, war er doch nicht muthlos und unmännlich. „Was wollt Ihr mit mir?“ fragte er. „Was soll’s sein?“
„Das fragst noch?“ schrie Hiesel. „Hast Du Dich nit geweigert, das Geld, das ich verlangt hab’, zusammenzubringen? Hast vielleicht die Andern noch abgered’t? Hast mir mit dem Amtmann gedroht? Nun schau, weil Du so gut für die Andern sorgst, nehm’ ich Dich für Alle beim Schopf! Du mußt jetzt das Geld schaffen, jetzt verlang’ ich’s von Dir! Nicht als wenn ich den Bettel durchaus haben müßt’ … aber ich laß mir keine abschlägige Antwort geben, wenn ich mich einmal auf’s Bitten verlegt hab’! Ich will’s nit behalten – ich sag’ Dir nochmals, ich will’s nur geliehen haben … aber her muß das Geld und Du mußt es schaffen, oder Du bist hin!“
„In Gottes Namen,“ sagte der Bauer, „das kann ich nit und das will ich nit!“
„Nit?“ rief Hiesel, wie wüthend sprang er gegen den Mann vor und hob den Stutzen zum zerschmetternden Kolbenschlage; da
[367] erscholl vom Kirchthurm lautes, helles Geläute. Wohl war es um die Zeit, zu welcher gewöhnlich das Zeichen zum Abendgebet mit der Glocke gegeben ward, aber das Läuten tönte nicht wie sonst in langsam friedlichen, zur Ruhe einladenden Schwingungen, sondern in kurzen, rauhen und abgestoßenen Schlägen, eine tiefere Glocke dröhnte unheimlich, eine hellere wimmerte wie Klageruf darein.
„Was ist das?“ rief Hiesel, während die Schützen nach der Thür eilten, „das ist nicht Gebetläuten! Ist Feuer im Dorf?“
Im Augenblick klirrte eine eingeschlagene Fensterscheibe in die Stube und der Bube, der draußen herumgeschlichen war, rief herein: „Heraus, Cameraden, sie läuten Sturm! Heraus, Hiesel! Sie kommen, es geht gegen uns!“
Diese Botschaft hatte in einem Augenblicke das ganze beginnende fröhliche Gelage umgestaltet. Mahl und Trank, Scherz und Erholung waren vergessen, der Gefangene entsprang und schon im nächsten Augenblick stand die ganze Schaar der Wildschützen kampfgerüstet vor dem Wirthshaus, im Rücken durch die Wand eines hohen Scheunengiebels gedeckt; denn das Wirthshaus selbst mit seinen vielen Thüren und Fenstern taugte nicht zum Bollwerk des beginnenden Kampfes.
„Was giebt’s denn?“ rief Hiesel wieder; „wer kommt? Das kann doch unmöglich die Streifmannschaft sein, die hinterm Walde gelegen war?“
„Nein,“ antwortete der Bube, indem er seine Büchse schußfertig machte, „die Bauern sind’s, die Bauern kommen gegen uns!“
„Die Bauern? Gegen uns? Gegen den bairischen Hiesel?“ rief dieser ungläubig. „Hast Du zu tief in den Krug geschaut? Das ist ja nit möglich!“
„So schau dorthin,“ erwiderte Anderl, nach der Dorfgasse deutend. Eine ungeordnete Schaar von ein paar hundert Männern und Burschen, mit Sensen, Drischeln, Gabeln und alten Gewehren bewaffnet, rannte und drängte schreiend und lärmend gegen das Wirthshaus heran. Hiesel stand wie versteint, mit weit offenen, starren Augen, mit vorgebeugtem Leibe, als könne er nicht glauben, was er erblicke, und müsse sich überzeugen, daß es kein Blendwerk sei; er war blaß wie ein Sterbender, und zum ersten Male bebte in seiner sichern Hand die nie fehlende treue Büchse.
„Was wollt Ihr?“ schrie er der andrängenden Menge mit mächtiger Stimme entgegen und trat furchtlos hart vor sie hin.
„Warum drängt Ihr auf diese Weis’ auf uns ein?“
Die Bauern waren in ungewöhnlich erregter und wilder Stimmung; drohend und mit wildem Zuruf erhoben sie die Waffen; hinter ihnen wurden die Frau des Kirchenpflegers und der alte Mauthner sichtbar und machten klar, was das sonst ruhige Volk bis zu diesem Grade empört und zum offenen Widerstand gereizt.
„Hinaus!“ schrie der vorderste der Schaar, ein riesiger, mit einer Hacke bewaffneter Knecht. „Hinaus aus unserm Dorf, wir wollen nichts zu thun haben mit der Bande!“ Der ganze Haufen brüllte es nach.
„Besinnt Euch doch, Leute,“ erwiederte Hiesel etwas ruhiger. „Ihr müßt Euch irren! Denkt doch daran, daß es Euer bester Freund, der bairische Hiesel ist, der vor Euch steht! Denkt daran, wie ich das letzte Mal hier war! Hab’ ich Euch da nicht redlich geholfen? Habt Ihr mich nicht fortbegleitet wie den besten Freund und mir Euern Dank noch nachgerufen, und mich eingeladen zum Wiederkommen?“
„Ja,“ rief der Knecht, „aber jetzt wollt Ihr uns wieder abnehmen, was Ihr uns zurückgegeben habt! Und das leiden wir nicht! wir wollen nichts zu schaffen haben mit Euch, wir zahlen nichts!“
„Nein, nichts zahlen!“ tobte die Menge nach, und die Stimme des Anführers schrie über den Tumult hinaus: „Fort! Hinaus mit dem Räuberhauptmann!“
Mit diesem Worte hatte Hiesel seine ganze Fassung, all’ sein kaltes Blut wieder gewonnen. „Räuberhauptmann!“ rief er, „so nennt Ihr mich? Mich, der sich nur für Euch aufgeopfert hat? Ihr nennt mich so, Ihr, um derentwillen ich mein Leben, meine ganze Zukunft hingegeben habe? zu deren Schutz und Befreiung ich ein Ausgestoßener geworden bin, den man, obwohl er kein Unrecht thut, hetzt und verfolgt wie einen Verbrecher? Bin ich ein Räuber? Wer ist, der sagen kann, daß ich ihm etwas gewaltsam genommen, daß ihm etwas geraubt oder entwendet wurde? Wer kann sagen, daß ich etwas gethan hab’, was den Namen einen Räubers verdient? Sagt’s, damit ich den Lügner kennen lern’ und ihn würg’, bis er an seiner eigenen Lüg’ erstickt! Ich hab’s nur mit Euern Feinden, den Jägern, zu thun!“
„Richt wahr ist’s,“ rief eine Stimme aus dem Haufen. „Habt Ihr nicht den Meßner von Steinkirchen bis auf’s Blut geschlagen, und ihm mit dem Hausanzünden gedroht? Ist das auch ein Jäger gewesen?“
„Nein, aber ein Schuft wie Du,“ schrie Hiesel dem Sprechenden entgegen, „der es mit den Jägern gehalten hat und uns an sie hat verrathen wollen!“
Der Bauernanführer war nicht so leicht zu entmuthigen. „Und der arme Teufel, der Wegmacher von Agawang,“ rief er wieder, „den Ihr neulich gezwungen habt, Euch den Weg zu weisen, hat Euch der auch verrathen wollen? Und doch habt Ihr ihn mißhandelt, daß er noch zwischen Leben und Sterben liegt! Und der Kirchenpfleger, dem Ihr mit dem Todtschießen gedroht habt, ist der auch ein Jäger?“
„Das ist gegen meinen Willen geschehen, Leute!“ rief Hiesel. „In der Uebereilung und im Zorn. Ich kann meine Leute nicht immer halten, wie ich will, und wenn man Jahr aus Jahr ein im Forst lebt bei den wilden Thieren, ist’s ein Wunder, wenn man auch wird wie ein wildes Thier? Oder glaubt Ihr etwa, es ist ein angenehmes Leben, das wir führen, und daß wir es nur zu unserm Vergnügen thun? Ich bin nicht ein Wildschütz ’worden, weil mich die Arbeit nicht gefreut hat, oder weil mich der Gewinn verlockt hätte! Niemand hat ein Ohr gehabt und ein Herz für die Klagen der Bauern! Ich allein hab’ es nicht sehen können, daß Ihr Euch das ganze Jahr für die Ernte plagt und darauf hofft und wartet, und daß Ihr am Ende, wenn Ihr die Sense in die Hand nehmt, nichts findet, als einen verwüsteten und zerstampften Acker; drum bin ich ein Wildschütz worden, aber kein Räuber! Für Euch bin ich eingestanden und Ihr zieht gegen mich heran, wie gegen den ärgsten Feind? Weil ich in der Klemm’ bin und einmal Eure Hülfe brauche, wollt Ihr mir’s verweigern und mich aus Eurer Gemarkung jagen wie einen tollen Hund?“
„Nein, nein, das wollen wir nit, Herr Hiesel!“ sagte vortretend Einer von den Bauern, ein älterer Mann. „Wir haben es halt nicht so überlegt. Wir haben’s nit vergessen, was Er für uns gethan hat, aber es ist ein Zettel in alle Dörfer gekommen, daß man Euch nirgends aufnehmen sollt’ bei schwerer Straf’; da haben wir halt Furcht gekriegt und haben uns aufreden lassen.“
„Aber Ihr solltet Euch nicht so aufreden lassen gegen mich!“ entgegnete Hiesel. „Wenn Ihr so muthig seid, zu den Waffen zu greifen, warum seid Ihr es denn nicht gegen Eure gewohnten Dränger, gegen den Förster und Amtmann, vor denen Ihr kriecht? Warum habt Ihr nur gegen mich Courage und wollt mich nicht einmal über Nacht in Eurem Dorfe lassen?“
„So haben wir’s nicht gemeint“, sagte der zweite Bauer wieder. „Wir wollen nur nichts zahlen, und weil Er gedroht und den Kirchenpfleger so kujonirt hat, sind wir halt zornig ’worden – aber über Nacht soll Er schon bleiben dürfen, Herr Hiesel! Und der Wirth soll ihm auch das Beste auftragen auf unsere Rechnung! Nicht wahr, Nachbarn?“
„Ja wohl, ja wohl,“ riefen die Meisten, „über Nacht kann er schon bleiben, dafür wird uns kein Mensch was anhaben können!“
„Werdet schon sehen! Ich rath’ nit dazu!“ schrie der Knecht mit der Hacke, der den Anführer gemacht hatte. „Werdet schon sehen, wie der Amtmann mit Euch umspringt! Aber meinetwegen laßt ihn über Nacht bleiben, aber wie es Tag wird, müssen sie wieder aus dem Dorfe sein!“
Zustimmend schrieen die Bauern durcheinander, Hiesel überwarf das Gewehr über die Achsel und rief: „Ich dank Euch nicht dafür –, behaltet Euer Mahl und Eure Gastfreundschaft! Der Bissen soll zu Gift werden, den ich oder Einer von den Meinigen aus Euren Händen nimmt! Ich will nichts mehr wissen von Euch! Ihr habt mir mehr genommen, als Ihr mir geben könnt, und wenn Ihr mir all Eure Höfe und Gründe und Aecker schenken wolltet! Ihr habt mir den Glauben genommen, daß, weil ich der Helfer des Volks bin, das Volk auch zu mir steht und mich gerne hat. Brecht auf, Cameraden, wir gehen dahin, wohin wir gehören – in den Wald!“
[368] „Der Weg ist verstellt!“ rief der Bube, welcher sich zur Vorsicht etwas seitwärts auf eine Anhöhe postirt hatte, herüber. „Wir müssen uns nach rechts halten, von dort drüben kommen Soldaten aus dem Walde hervor … Es ist klar, die Bauern haben sie geholt!“
„Die kommen gerade recht!“ rief Hiesel. „Ich bin just aufgelegt, mich mit ihnen herumzuschlagen! B’hüt Euch Gott, Ihr Bauern, macht Eure Schand’ nur voll, schlagt Euch ganz zu meinen Feinden, und wenn ich mit ihnen im Gefechte bin, dann packt mich zum Dank auch im Rücken an! Wenn der Hiesel einmal nimmer ist, wird eine Zeit kommen, wo Ihr ihn gern wieder aus dem Grabe herauskratzen möchtet – aber er wird nicht zum zweiten Male kommen!“
Die Bauern steckten die Köpfe zusammen und zogen sich zurück. Die Wildschützen bildeten eine lange Kette, welche für den anrückenden Feind möglichst wenige Zielpunkte darbot, und gewannen rasch eine Anhöhe hinter dem Dorfe. Mit dem gewandten Auge eines Feldherrn hatte Hiesel den Platz überblickt und schnell seine Aufstellung so genommen, daß er unangreifbar, oder doch ein erfolgreicher Angriff mit den größten Schwierigkeiten verbunden war. Den Mittelpunkt von Hiesel’s Aufstellung bildete eine Kapelle auf einer kleinen Anhöhe, welche die ganze Gegend beherrschte. Am Hügelabhang wand sich ein kleines Bächlein hin, das trotz seiner Unscheinbarkeit doch hingereicht hatte, den ganzen Boden umher zu versumpfen, so daß er unwegsam war und nur ein einziger schmaler Pfad über ein Brückchen an den Fuß des Hügels führte. Die Schützen feuerten den vorrückenden Soldaten über die Köpfe, um sie zu erschrecken und von weiterem Vordringen abzuhalten; diese aber, von einem jungen muthigen Officier geführt, drangen demungeachtet unaufhaltsam vorwärts; schon hatten zwei Musketiere in raschem Laufe fast gleichzeitig den Bach erreicht.
„Nun denn,“ rief Hiesel, „wenn sie nicht daran glauben wollen, so schießt scharf und faßt Euern Mann!“
Zwei Schüsse knallten; der eine Musketier taumelte leicht verwundet vor der Brücke in den Sumpf, der andere, welcher den Steg schon hinter sich hatte, stürzte, offenbar tödtlich getroffen, in schwerem Fall am Fuße des Hügels nieder. Die Soldaten wichen zurück, der Officier überschaute das Terrain und mochte wohl erkennen, daß er bei weiterm Vordringen seine Leute nur unnützer Weise dem nicht fehlenden Feuer der Wildschützen bloßstellen würde; er eröffnete ein wirkungsloses Plänkeln gegen die durch ihre Lage wohl Geschützten und zog sich während desselben langsam nach dem Dorfe zurück.
Es war inzwischen völlig dunkel geworden. „Seht, wie Ihr Euch die Nacht über einrichtet,“ sagte Hiesel zu seinen Leuten; „macht Feuer an, daß sie sehen, wie wir uns vor ihnen nicht fürchten! Stellt Posten aus nach allen Seiten; ich selber will da bei der Kapelle bleiben, und beobachten, was vom Dorfe herkommt.“
Der Bube hatte sich zu ihm gesellt. „Mir ist’s vorgekommen,“ sagte er, „als wenn der Musketier, der da drunten liegt, der nämliche wär’, den ich mit dem Studele hab’ reden sehen. Ich muß doch nachschauen, ob ich recht gesehen hab’.“ Sich niederduckend und mit unhörbaren Tritten schlich er den Abhang zu dem Todten hinab. Von drüben aber hatte eine Abtheilung Soldaten das vollständige Dunkel ebenfalls zu benützen gedacht und war herangekommen, um den Gefallenen mit sich zu nehmen. Schon waren sie nahe bei demselben, als sie den Buben gewahr wurden und unbemerkt sich hinter die Büsche der Umgebung verbargen.
Der Bube kam vorsichtig herangeschlichen und beugte sich über den Liegenden, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab; eben wollte er demselben den Kopf umwenden, um das Gesicht zu sehen, als die Musketiere hervorsprangen. Im Augenblick war der arglose und schwächere Knabe von der Mehrzahl überwältigt, gebunden und geknebelt – nur einen einzigen kurzen Schrei der Wuth und Ueberraschung war er noch auszustoßen vermögend.
Hiesel vernahm den Ruf; er erkannte die Stimme. Wie ein angeschossener Eber stürzte er den Hügel hinab, Tiras mit ihm, und folgte, von dem Hunde geführt, der Spur der Soldaten, um wo möglich den Liebling ihren Händen wieder zu entreißen und aus der Gefangenschaft zu befreien. Lange durchstrich er Felder und Aecker und wagte sich im Dunkel sogar bis an die äußersten Häuser des Dorfes; es war vergeblich, die Räuber mußten sich mit ihrer Beute unmittelbar in’s Dorf zurückgezogen und den Gefangenen getragen haben, denn Tiras sogar verlor die Spur und schnoberte unsicher in den Stoppeln umher. Hiesel blieb nichts andres übrig, als schmerzliche Wuth im Herzen unverrichteter Dinge umzukehren – noch war es nicht der letzte Verlust, den diese Nacht ihm bringen sollte!
Als er wieder bei der Kapelle eingetroffen, fiel ihm erst auf, daß sich Tiras nicht, wie sonst immer, zu seinen Füßen lagerte. Er pfiff und rief nach allen Winden; er bot die Genossen auf und wagte sich noch einmal, nach allen Seiten spähend und rufend, in das Dunkel: es war umsonst, der bis dahin so unzertrennliche Gefährte hatte seinen Herrn verlassen und war und blieb verschwunden.
Erschüttert sank Hiesel, als er endlich von dem fruchtlosen Suchen wiederkehrte, auf der Schwelle der Kapelle nieder und die Ahnung, daß es mit ihm zu Ende gehe, stieg wieder, dunkler und drohender als je, in seinem Gemüthe auf. „Es muß doch so sein!“ murmelte er vor sich hin, „wenn ich’s auch nicht glauben will, ich muß doch sein, was sie mich nennen … ein Räuber und Räuberhauptmann! Würde sonst Alles so von mir lassen und mich fliehen? … die Kundel kommt wohl absichtlich nicht mehr zurück, sie wird sich und mir den Abschied haben ersparen wollen … der ehrliche Studele hat mich verlassen … meinen treuen Buben haben sie gefangen und fortgeschleppt … der Tiras ist erschossen oder versprengt oder untreu … die Bauern, die mich einmal auf den Händen getragen haben, wollen nichts mehr wissen von dem Räuberhauptmann … es ist hohe Zeit, daß ein Ende hergeht …“
Aus diesen Gedanken weckte ihn ein leiser wimmernder Ton, der durch die Nacht über den Hügel und von der Brücke her emporstieg; der verwundete Soldat schien zum Leben zurückgekehrt zu sein.
Vorsichtig schlich Hiesel zu ihm hinunter; der Mann hatte die Augen aufgeschlagen, blickte wirr um sich, und ein schwerer Seufzer stieg aus der Brust, in welche die Kugel gedrungen war.
„Wie geht’s, Freund?“ sagte Hiesel, „kann ich Dir was helfen?“
„Nein!“ antwortete der Soldat in schmerzlichen Absätzen, „aber ich habe so heiß … es brennt mich so arg in der Brust … und die Zunge ist wie vertrocknet … Wenn ich nur einen frischen Trunk haben könnte …“
Hiesel bückte sich zu dem Bache nieder, schöpfte mit dem Hut und brachte ihn dem Sterbenden, der mit Behagen die letzte Labung schlürfte.
„Hast sonst keinen Wunsch mehr?“ fragte Hiesel wieder.
„Nein!“ war die Antwort. „Ich bin ein einzelner Mensch, der Niemand und Nichts hat auf der Welt und leicht weggeht in den Himmel … Ich möchte nur, daß Jemand da wär’, der mir vorbeten thät … in meiner Sterbestunde …“
„Das will ich wohl thun, so gut ich es noch kann …“ sagte Hiesel ergriffen.
„Wer bist Du denn? Ich kann Dich nimmer sehen, aber der Stimme nach bist Du nicht von der Compagnie?“
„Frag’ nicht, wer ich bin! Ich weiß es selber nicht und will’s nicht wissen … ein elender Mensch bin ich, der sich lieber neben Dich hinlegen und einen ehrlichen Tod sterben möcht’ wie Du … mir wird’s wohl nit so gut werden … aber ich will Dir vorbeten.“
Er begann das Vaterunser zu sprechen.
Der Soldat lag schon im Todeskampf; bei der fünften Bitte verstummte sein Röcheln.
Hiesel aber sprach mit gefalteten Händen für sich: „Und vergieb uns unsere Schulden!“
Der Morgennebel umhüllte schon die grau verdämmernde Gegend, als er sich erhob und dem Walde zuschritt. Verspätete Schwalben kamen vom Dorfe her und schwirrten über ihm hin … er öffnete den herb geschlossenen Mund nicht mehr zum Gesange, aber inwendig klang ihm die Weise und der Schluß des Liedes an, das er noch vor wenig Stunden gehört …
Wenn die Schwalben wieder kemma
Auf ein ander’s Jahr,
Ist’s wohl aus mit allem Gräma,
… Jetzund geht’s an’s Abschied-Nehma,
Die schö’ Zeit ist gar!“
- ↑ Obwohl die Gartenlaube diese hochwichtige Sache bereits im Jahre 1861 (Nr. 51) in einem durch mehrere Abbildungen erläuerten ausführlichen Aufsatze zur Sprache gebracht hat, so bestimmt uns doch die im Augenblicke, wo wir dies schreiben, in Kiel tagende Versammlung behufs Gründung eines allgemeinen deutschen Vereins zur Rettung Schiffbrüchiger noch einmal auf diese Angelegenheit zurückzukommen, um sie allen unsern Lesern von Neuem auf das Dringendste an’s Herz zu legen. D. Redaction.