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Die Gartenlaube (1864)/Heft 9

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 9.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Unsichere Fundamente.
Erzählung von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

„Sie sprachen von unserem Gaste,“ empfing Eugenie den Herantretenden halblaut; „wissen Sie wohl, daß ich mich für diesen Unbekannten schon lebendig interessire?“

„Ich habe schon durch Ihr Aeußeres, Fräulein, eine Ahnung davon erhalten!“ erwiderte Gruber, während ein dunkler Schatten über sein Gesicht ging; „ich kann mir auch denken, daß für Manche das Fremde einen Reiz hat, der das Alltägliche, so treu es auch gewesen sein mag, ganz vergessen läßt.“

„Nun warum nicht?“ lachte sie gedämpft, „die Menschen haben voriges Jahr alle nur nach den Kometen gesehen und die guten alten Sterne darüber vergessen –“

„Und wenn nun so etwas Vergessenes nicht einmal ein Stern ist!“ unterbrach er sie.

Einen kurzen Moment färbten sich ihre Wangen höher. „Ach, werden Sie nicht langweilig, Herr Gruber,“ sagte sie rasch, „Sie waren eben noch so interessant, als Sie mit Papa sprachen!“

Er blickte zwei Secunden lang in ihr ausweichendes Auge. „Es ist nun eben langweilig, das Alltägliche, Fräulein,“ entgegnete er, sich aus seiner geneigten Stellung aufrichtend, „ich werde Sie also von dem Kometen unterhalten. Wünschen Sie eine genaue Beschreibung seines Fracks und der Weise, wie er seine Cravatte knüpft?“

„Nun werden Sie unausstehlich!“ versetzte sie, sich hastig erhebend und nach dem zweiten Fenster tretend. Grubers sichtliche Zweifel über sein nächstes Verhalten aber wurden durch das rasche Oeffnen der Thür unterbrochen. „Herr Maçon!“ meldete Willmann’s Stimme. Hellmuth hielt seinen Schritt an und hob rasch den Kopf, während Eugenie, als wolle sie jetzt ihr vorher angedeutetes Interesse deutlich bethätigen, ihr Gesicht hastig der Thür zudrehte, in welcher in diesem Augenblicke die nur mittelgroße, feingegliederte Gestalt des Erwarteten erschien.

Rasch eintretend, schritt er auf den dastehenden Hausherrn zu, sich mit einem halb fragenden: „Herr Hellmuth?“ leicht verbeugend. Der Genannte hatte beim ersten Erscheinen des Gastes einen großen, forschenden Blick in dessen Züge geworfen und war einen Schein bleicher geworden, streckte ihm dann aber plötzlich, mit einer fast herzlichen Bewegung, die Hand entgegen. „Herr Maçon, seien Sie willkommen,“ sagte er; „ich hätte nur gewünscht, daß Sie sofort bei Ihrer Ankunft mein Haus aufgesucht hätten!“

„Herr Hellmuth, ich weiß kaum, wie ich zu so viel Freundlichkeit komme.“

„Lassen wir die höflichen Phrasen, Herr Maçon, und versuchen Sie, es sich in unserm kleinen Familienkreise behaglich zu machen! Hier ist vorläufig meine Tochter Eugenie, und hier Herr Gruber, mein geschäftlicher Vertrauensmann, aber fast auch ein Stück der Familie.“

Der Gast war auf das sich erhebende Mädchen zugeschritten, heftete aber, wie überrascht von ihrer Schönheit, erst einen langen Blick in ihre Züge, ehe er sich verbeugte. „Fräulein Hellmuth, ich würde sehr glücklich sein, wenn ich bei Ihnen auf einen eben so freundlichen Empfang als bei Ihrem Herrn Vater rechnen dürfte!“ sagte er, und vor seinem glänzenden Auge, wie vor seinem eigenthümlich freien Herantreten schien sie fast ihre gewöhnliche Sicherheit zu verlieren. „Papa weiß,“ erwiderte sie nur halblaut, während ein tieferes Roth in ihre Wangen trat, „daß, wer ihm willkommen, es auch uns ist!“

Gruber hatte mit einem peinlichen Gefühle den Eindruck wahrgenommen, welchen schon bei diesem ersten Blicke Beide auf einander zu machen schienen, und vermochte nur mit aller Selbstüberwindung den Gast, der ihm mit den herzlichen Worten: „Wir sind ja bereits Bekannte und bedürfen also keiner weiteren Redensarten!“ die Hand reichte, freundlich zu begrüßen. Ein Blick nach dem Mädchen, welches ihren Platz wieder eingenommen, aber wie absichtlich das Gesicht von ihm abgewandt hielt, erhöhte seinen innern Druck noch, und erst als der Principal den Fremden nach einem Fauteuil geführt hatte und ein Gespräch einleitete, wurde seine ganze Aufmerksamkeit nach dieser Richtung hingelenkt.

„Mir ist es, Herr Maçon, als sollten auch wir bereits Bekannte sein,“ hatte Hellmuth, sich auf dem eingenommenen Sitze zurücklehnend und die Augen auf den Angeredeten richtend, begonnen; „der erste Blick in Ihr Gesicht, welches fast Zug für Zug das Ihres Vaters in seinen jüngeren Jahren ist, hatte mich sofort darüber belehrt, wenn auch mein bisheriger Buchhalter Meier meinem Gedächtnisse nicht mit andern Notizen zu Hülfe gekommen wäre. – Meinen Sie nicht auch?“ fuhr er mit einem seltsamen Lächeln fort. „Ich hätte es für ein wirkliches Zeichen freundlicher Gesinnung genommen, wenn Sie den einzigen Bekannten, den Sie ja wohl noch in der Stadt besaßen, nicht drei Tage auf Ihren Besuch hätten warten lassen!“

Der junge Mann hatte diese Anrede nicht erwartet, dies spiegelte sich in seinen Zügen. „Verlassen Sie sich darauf, Herr Hellmuth,“ erwiderte er mit eigenthümlichem Ernste, „daß ich unter so freundlichen Gesinnungen für Ihr Haus hierher gekommen bin, wie sie nur bestehen konnten!“

[130] „O bitte, Herr Maçon, ich sprach nicht von meinem Hause, sondern von mir als Menschen und Freund Ihres Vaters,“ gab der Geschäftsherr mit einem so ruhigen Lächeln zurück, daß wohl nur Gruber’s aufmerksamer Blick die leichte zuckende Bewegung zwischen den Augen des Sprechenden wahrnahm; „ich hatte Sie in meiner Familie bereits als einen Gast angekündigt, an welchen mich ältere Beziehungen knüpfen, und so wollte ich mich auch jetzt nur über einen mir noch unklaren Umstand unterrichten, damit sodann nichts Fremdes mehr zwischen uns liegt. War nicht der eigentliche Name Ihrer Familie ein deutscher, Herr Maçon?“

„Ich bitte um Entschuldigung,“ war die rasche Erwiderung, „unsere gesammte Familie ist französischen Blutes, und nur mein Vater hatte sich aus bestimmten Gründen, die Ihnen kaum unbekannt sein werden, einen Paß auf den deutschen Namen „Maurer“ zu verschaffen gewußt, als er hier seinen Wohnsitz nahm und Ihre Bekanntschaft machte!“

Hellmuth nickte, als seien erst jetzt wieder bestimmte Erinnerungen in seinem Gedächtnisse geweckt worden. „Und wo lebt jetzt Ihr Vater? wie geht es ihm?“ fragte er, mit dem Ausdrucke reger Theilnahme. „Es ist seltsam, daß man von einem so nahe Verbundenen in länger als zwanzig Jahren nicht eine einzige Nachricht hat erhalten können!“

Das Auge des Gastes sah einen Moment forschend in die Züge des Hausherrn, als vermöge er diese unwandelbare Ruhe derselben nicht zu verstehen. „Es ist ziemlich einfach, weshalb mein Vater nichts wieder von sich hören lassen konnte,“ entgegnete er nach einer kurzen Pause, „indessen –“ setzte er mit einem raschen Blicke nach dem Mädchen, welches in sichtlichem Interesse dem Gespräche folgte, hinzu, „finden wir wohl eine gelegenere Zeit für Mittheilungen dieser Art. Jetzt ist mein Vater todt. Ich bin jedoch von allen seinen Beziehungen zu Ihrem Hause vollständig unterrichtet!“

„Todt also! darauf mußte ich nach dieser langen Zeit allerdings vorbereitet sein,“ nickte Hellmuth, „von dem Letzteren aber war ich überzeugt, schon als ich Ihre Ankunft erfuhr, und wie gesagt – doch wir werden uns ja öfter sehen,“ unterbrach er sich, als sich in diesem Augenblicke die Flügelthüren zu dem anstoßenden Zimmer öffneten, und streckte dem Gaste lebhaft die Hand entgegen, „vorläufig bitte ich Sie nur, meine Familie und mein Haus völlig als die Ihren zu betrachten – und so wollen Sie jetzt mit unserem Mahle vorlieb nehmen!“

Der junge Mann hatte, dem Hausherrn nach, mit einem sich rasch aufklärenden Gesichte seinen Sitz verlassen, als sei die Last eines unzeitigen Gespräches von ihm genommen worden; kaum aber deutete Jener nach dem offenen Speisezimmer, als er mit den Worten „Sie erlauben mir doch, Herr Hellmuth?“ der sich erhebenden Eugenie zuschritt und dieser fast mit der Sicherheit eines längst Bekannten den Arm bot. „Ihr Herr Vater befiehlt, daß ich mich zur Familie rechnen soll, und Sie haben ja seinen Wünschen schon im Voraus zugestimmt!“ sagte er, seine zwanglose Weise entschuldigend und das Mädchen davonführend, und Gruber hätte ihn um der Sicherheit und Leichtigkeit seines Auftretens willen hassen können. Er fühlte, daß Jener spielend zu erobern vermöge, was seinem eigenen Wesen trotz der günstigsten Verhältnisse noch unerreichbar geblieben.

Am obern Ende des ovalen reich besetzten Tisches im Speisezimmer stand Anna, die aufwartende Dienerin hinter sich, in Erwartung der Eintretenden, und ihre feinen Züge voll durchsichtiger Blässe schienen beim Erblicken des Gastes noch bleicher zu werden.

„Erlauben Sie mir, Sie auch meiner zweiten Tochter Anna zuzuführen!“ sagte Hellmuth, Maçon’s Arm leicht berührend, und über das Gesicht des Aufsehenden flammte es beim Erblicken der Dastehenden wie ein Heller Blitz. Mit einer raschen höflichen Verbeugung löste er sich von seiner Begleiterin und folgte dem Hausherrn.

„Herr Maçon, Anna, dessen Anwesenheit wir erwarteten!“ sagte der Vater leicht, sich nach dem zögernd eintretenden Gruber wendend; der Gast aber sah flüchtig lächelnd, wie in einer Regung von Humor, in die großen, dunkelblauen Augen vor sich und fragte dann mit einer unwillkürlich gedämpften Stimme: „Muß ich mich erst noch specieller vorstellen, Fräulein Hellmuth?“

„Ich wüßte nicht, Herr Maçon, daß der Vater etwas darin übersehen hätte!“ erwiderte sie im Tone der Zurückweisung. Einen Augenblick schwieg er halb betroffen, dann verbeugte er sich respectvoll und sagte: „Sie haben ganz über mich zu befehlen, Fräulein!“

„Nehmen Sie nur gleich hier Ihren Platz!“ rief Hellmuth, als der junge Mann zurücktreten wollte, und wies diesem den Stuhl zwischen Eugenie’s Sitze und dem, welchen Anna einzunehmen im Begriff stand, an. Am untern Ende des Tisches ließ sich Gruber soeben nieder, während Hellmuth seinen Platz dem Gaste gegenüber wählte und damit die Runde schloß.

„Ich gestehe, daß ein deutscher Familienkreis etwas wunderbar Ansprechendes hat für einen unstäten Menschen, wie ich es in der letzten Zeit gewesen bin,“ begann Maçon, sich niederlassend, „wie ein Hafen zum Ausruhen, dessen Bedürfniß man erst beim Erblicken recht lebhaft fühlt.“

„Gut, so laufen Sie irgendwo ein, oder schaffen Sie sich selbst Ihren ruhigen Platz,“ versetzte Hellmuth mit einem eigenthümlichen Lächeln, „wer wehrt’s Ihnen denn?“

„Sie reden wohl so,“ lachte der Gast, „zum Einlaufen aber fragt sich’s, ob nicht jede leere Stelle schon versagt ist – meinen Sie nicht auch so, Fräulein?“ wandte er sich in einem Tone, in dem es fast wie eine bestimmte Beziehung klang, an Eugenie, „und bedarf es zum Selbstschaffen nicht auch noch anderer williger Elemente?“

Gruber hatte bei dem ersten Worte des Sprechenden den Kopf beobachtend nach Eugenie’s Gesichte gehoben, hatte ihren Augen begegnet, die auf ihm geruht zu haben schienen, sich aber jetzt rasch nach dem Gaste richteten, als solle damit jeder Deutung ihres Blicks vorgebeugt werden; der junge Kaufmann sah, wie das Mädchen unter der plötzlichen Frage Maçon’s erröthete und sichtlich einer leichten Verwirrung sich erwehren mußte, und mit einem herben Zuge um seinen Mund, der von einem gewonnenen Entschlusse zu reden schien, blickte er auf seinen Teller nieder.

„Ich denke, Sie stellen sich die Schwierigkeiten größer vor, als sie existiren,“ sagte Hellmuth, seine Serviette ausbreitend, „Sie kommen freilich von Ihrer Insel, wo schwarzes Volk und Gewürze die einzigen Hauptsachen sind, und deutsches Leben ist Ihnen fremd geworden!“

„Es mag so sein, aber lassen Sie nur meiner Insel, trotz des schwarzen Volkes, ihre Ehre,“ war die Erwiderung, „wir liefern zu den nüchternen Erzeugnissen kälterer Länder die pikante Würze, und das Pikante ist doch die eigentliche Seele im Leben. Geben Sie mir nicht Recht, Fräulein?“ wandte er sich plötzlich an Anna, welche soeben die Vertheilung der Suppe beendet hatte.

„Ich liebe diese fremden Gewürze, die sich schon in der kleinsten Quantität so zudringlich machen und oft den reinen Geschmack ganz verdrängen, nicht sonderlich,“ antwortete die Angeredete trocken, „mein Geschmack ist ein ehrliches Salz, in den Speisen, wie im Leben!“

„Haben Sie aber in diesem Augenblicke nicht gesalzen und gewürzt, Fräulein?“ fragte Maçon mit durchklingendem Humor.

„Ich denke, der Geschmack unseres deutschen Salzes ist Ihnen nur fremd!“ versetzte sie ruhig.

„Das wird es sein!“ neigte der Fremde lächelnd den Kopf, sich seinem Teller zuwendend.

Zwischen Hellmuth’s Augen stand sichtlich eine Frage in Bezug auf diesen kurzen eigenthümlichen Wortaustausch, der kaum einer ersten Begegnung entsprach, ohne daß er ihr doch eine Fassung geben zu können schien. Er griff endlich nach einer der Weinflaschen und begann die Gläser zu füllen. „Ueber Geschmackssachen läßt sich nicht streiten, Herr Maçon,“ sagte er, „und unsere Anna hat darin immer ihre besondere Richtung verfolgt; lassen Sie uns darauf anstoßen, daß Sie sich trotz alles verschiedenen Geschmacks bald wieder völlig bei uns acclimatisiren!“

Der Gast hatte sein Glas bereitwillig mit dem des Hausherrn zusammenklingen lassen und sich dann nach seiner Nachbarin Eugenie gebogen. „Und Sie stimmen ebenfalls dem Toaste zu, Fräulein?“ fragte er.

In diesem Momente erhob sich Gruber rasch. „Ich glaube, Willmann verlangt nach mir, ich werde schnell sehen, was etwa nöthig ist!“ sagte er und verließ mit einer kurzen Verbeugung das Zimmer.

Hellmuth horchte auf, warf dann aber ein „Keinesfalls etwas von Bedeutung!“ hin. Indessen schien mit dem letzten Trinkspruche fast Alles gesagt worden zu sein, was einen gemeinsamen Gesprächsgegenstand hätte abgeben können; Hellmuth war zwar augenscheinlich bemüht, durch einzelne Bemerkungen und Fragen eine eingehende Aeußerung des Gastes herauszufordern, und dieser ließ auch nicht auf sich warten, in lebendiger Weise seine neuen Eindrücke in Deutschland [131] oder Schilderungen aus seiner Insel-Heimath zu geben; es war aber Alles fühlbar eine nur durch gegenseitige Höflichkeit gemachte Unterhaltung, zwischen welcher ein Etwas stand, das keine offene Annäherung dulden wollte. Die Mädchen schwiegen, wenn nicht Eugenie, welcher sich der Gast mit Vorliebe zuzuwenden schien, von diesem zu einer kurzen Antwort in’s Gespräch gezogen ward, und oft traten Pausen ein, in welchen nur das Klappern der Teller in den Händen der Dienerin und das Walten Anna’s, welche die Stelle der Hausfrau versah, hörbar wurde. Dazu schien Hellmuth, je länger Gruber’s Abwesenheit dauerte, jemehr einer stillen Unruhe zu verfallen, und als endlich das Dessert, kaum von einem der Anwesenden berührt, herumgereicht war, sagte der Hausherr sich erhebend: „Ich denke, wir trinken den Kaffee im Vorderzimmer, und Du, Eugenie, giebst unserm Gaste ein Stückchen deutscher Musik, während ich einen Blick in’s Geschäft hinunter thue! Werden Sie mich einen Augenblick entschuldigen, Herr Maçon?“

„Fräulein Eugenie wird mich ganz glücklich machen, ich bin ein leidenschaftlicher Musikfreund!“ erwiderte Maçon sich den Damen nach erhebend, und Hellmuth faßte mit einem Nicken der Befriedigung die Hand seiner Tochter. „So komm, Kind, ich werde Dir den Flügel öffnen, und nun zeige was Du kannst!“

Maçon war den beiden Vorangehenden einen Schritt nachgetreten, wandte sich aber, als die Dienerin in diesem Augenblicke das Zimmer verließ, plötzlich nach der zurückgebliebenen Anna.

„Fräulein,“ sagte er halblaut, und sein Auge ruhte groß und fest in dem ihren, „Sie frugen mich einmal, ob Sie mich beleidigt hätten; ich mißverstand Ihr damaliges Wesen, da ich keinen Begriff von Ihrer Stellung in der Welt hatte – jetzt möchte ich Sie fragen: habe ich Sie mit etwas beleidigt, oder haben Sie wirklich nur den einen deutsch-bürgerlichen Maßstab zur Beurtheilung aller Menschen?“

Sie wechselte flüchtig die Farbe, ohne das Auge zu senken.

„Meine Schwester erwartet Sie, Herr Maçon!“ sprach sie dann in dem ihr eigenen tiefen Klange der Stimme.

„Sie haben Recht – aber ich werde mir zu gelegener Zeit Ihre Antwort erbitten, Fräulein, sollte ich auch noch einmal als zudringliches Gewürz gekennzeichnet werden!“ Ein leichter Humor zuckte wieder um seinen Mund, darauf wandte er sich mit der lauten Frage: „Gehen Sie mir voran, Fräulein?“ nach der Thür. –

Hellmuth hatte, kaum daß er Eugenie nach dem Besuchszimmer geleitet, von hier aus seinen Weg nach dem Comptoir genommen, wo Gruber, scharf vor sich niederblickend, an seinem Pulte lehnte und einzelnen leisen Aeußerungen des neben ihm stehenden Comptoirdieners zu horchen schien. Beide waren von dem Gegenstande ihres Gesprächs sichtlich so eingenommen, daß sie Hellmuth’s Eintritt nicht wahrnahmen, und der Letztere warf erst einen raschen Blick über die ruhig und ganz in gewohnter Weise arbeitenden Commis, ehe er an das Paar herantrat.

„Etwas Besonderes, Herr Gruber?“ fragte er, „ich sähe es gern, wenn Sie bei uns blieben, da Sie unsern Gast bereits kennen!“

„Es ist allerdings etwas Besonderes, das mich hier gehalten, Herr Hellmuth,“ erwiderte der Procurist zögernd und leise, „und wenn ich nicht gefürchtet hätte, noch mehr zu stören, hätte ich Sie selbst rufen lassen. Es wäre aber wohl gut, die Angelegenheit nicht hier zu verhandeln.“

„Kommen Sie in mein Zimmer,“ sagte der Kaufherr und schritt langsam dem jungen Manne voran. „Was ist es?“ fragte er, als die Thür sich hinter Beiden geschlossen; aber nur die sich schärfer markirende Furche zwischen seinen Augen ließ eine Spannung in seinem Innern errathen.

„Es sind hier in der letzten halben Stunde die Abschlüsse von drei unserer befreundeten Bankgeschäfte eingelaufen, obgleich der gegenseitige Abschluß sonst immer monatlich erfolgte, und zugleich das Ersuchen um umgehende Saldirung,“ begann Gruber, einige Papiere auf das Pult des Principals legend. „Wäre dies in einem einzigen Falle geschehen, so hätte es sich vielleicht erklären lassen; so aber ist das Ereigniß so auffällig, daß ich kaum gewußt hätte, was daraus zu machen, wenn nicht Willmann bestimmt gemeint hätte, daß –“ er stockte, als finde er nicht die rechte Ausdrucksweise für den Nachsatz.

„Nun was? sprechen Sie gerade heraus!“ rief Hellmuth, welcher mit einem Blicke die Papiere überflogen, während sein Gesicht eine Art von Unbeweglichkeit annahm.

„Daß Meier die Ursache dieses auffälligen Verfahrens sei und irgend eine Macht in der Hand haben müsse, um ein solches Zeichen des Mißtrauens hervorzurufen. Willmann behauptet, Meier heute Morgen auffällig geschäftig in sämmtlichen drei Banklocalen gesehen zu haben.“

„Meier!“ neigte Hellmuth langsam den Kopf, und eine augenblickliche Pause entstand. „Haben Sie saldirt?“ fragte er dann, noch immer in Gedanken versunken.

„Die Beträge sind zu bedeutend, Herr Hellmuth, als daß es sich bei der späten Stunde so ohne Weiteres hätte thun lassen!“

„Gut, so ordnen Sie die Angelegenheit im Laufe des morgenden Vormittags. Im Uebrigen aber,“ fuhr Hellmuth fort, „können sich möglicherweise ähnliche Ereignisse wiederholen, für welche Sie, der Sie ein Stück unserer Familie sind, ein Verständniß haben müssen, und so will ich Ihnen jetzt nur zwei Worte zur Aufklärung sagen, bis sich eine gelegenere Zeit zu Weiterem findet – wir dürfen den Mann, der heute unser Gast ist, nicht zu lange allein lassen. – Dieser junge, so liebenswürdige Mensch,“ fuhr er mit einem Zucken seiner Augenbrauen fort, „ist nur in unserer Stadt, um meinem Geschäfte das Fundament, auf welchem es seit zwanzig Jahren ruht, zu nehmen. Hierbei werde ich allerdings auch noch ein Wort mit reden müssen, und er soll das Werk schwerer finden, als er vermuthet; indessen hätte sich ein beiderseitig befriedigendes Arrangement wohl leicht gestalten lassen, wenn nicht diesem Meier, welcher die Verhältnisse in ihren Details kennt und im Augenblicke nur seinen selbstsüchtigen Plänen nachgeht, jedes Mittel recht wäre, mir entgegenzuarbeiten und meine Stellung so unsicher als möglich zu machen!“

„Aber, Herr Hellmuth,“ versetzte Gruber ängstlich, „ich verstehe nicht ein Wort von den Verhältnissen, die Sie mir andeuten!“

„Sie sollen mit kurzen Worten klar sehen,“ antwortete der Kaufherr finster, „ich bedarf eines Freundes mir zur Seite. Als solchen betrachte ich Sie, und als solcher werden Sie meine Mittheilung würdigen. Es sind länger als zwanzig Jahre her, als ich mich etablirte, ich fing klein und mit geringen Mitteln an, aber hatte durch eine lange Zeit, in welcher ich hier als Gehülfe gearbeitet, mir das Vertrauen der ersten Geschäfte erworben, und ich dachte auch nur an langsames, durch Pflichttreue unterstütztes Emporkommen. Da kommt eines Tages ein Mann zu mir – durch einen meiner frühern Principale an mich gewiesen – und bietet mir ein bedeutendes Capital zur Verwerthung im Geschäfte an, wenn ich ihn an dem Gewinne Theil nehmen lassen wolle; ich entschließe mich, da ich meine Selbstständigkeit gern bewahren mochte, aber erst dazu, als der Mann beim abendlichen Zusammensein mir seine Verhältnisse völlig eröffnet: daß er in Frankreich bedeutend politisch gravirt sei – die nähern Umstände thun hier nichts zur Sache – nur noch zu rechter Zeit sein Vermögen gerettet, allein dabei nur mit Noth sich der Verhaftung und einem sichern Tode entzogen habe; daß er unter allen Umständen, was auch über ihn selbst noch kommen möge, sein Vermögen zu Gunsten seines mitgebrachten kleinen Sohnes in treuen Händen wissen möchte, und daß er unsere stille Residenz als den geeignetsten Ort für seinen Aufenthalt, sein Eintreten in ein Geschäft aber der Behörde gegenüber als den besten Grund für sein andauerndes Verweilen betrachte. Damals stand noch ganz Deutschland wider den neuen französischen Kriegsgott, und ich hatte in dieser Beziehung keinen Grund, gegen das gemachte Anerbieten ein Bedenken zu hegen – die eingeschossenen Mittel mußten überdies das Geschäft auf eine Stufe heben, die es nach langen Jahren vielleicht erst erreicht haben würde – die vertrauende Weise des Mannes, der sich keinem der großen Geschäftsmänner hatte offen geben mögen und mir durch das, was er über mich gehört, Vertrauen zu mir gewonnen hatte, kam dazu, und ich ging auf seinen Vorschlag ein. Sein Geld ward vorläufig unter meinem Namen in einzelnen hiesigen Bankhäusern untergebracht, und er erhielt nur eine einfache Quittung von mir darüber; ehe wir aber dazu gelangten, unsern eigentlichen Geschäfts-Contract abzuschließen, trat auch eine wohl schon längst vorbereitete politische Wandlung unserer Regierung zu Tage, die sich später in einem offenen Bündniß mit Frankreich zeigte, und Maurer, wie sich der Mann damals nannte, kam eines Abends in einer Hast und Bestürzung nach Hause, wie ich sie seinem ruhigen, bestimmten Charakter kaum zugetraut. Er behauptete, einem französischen Polizeiagenten begegnet und von diesem erkannt worden zu sein, er wollte nicht eine Nacht mehr in [132] der Stadt bleiben; ich mußte ihn mit allem Gelde, das ich im Hause hatte, versehen, und dann nahm er, seinen kleinen Sohn mit sich führend, von mir mit dem Versprechen Abschied, Nachricht von sich zu geben, sobald er die Grenzen unseres Staates hinter sich habe. Heute aber, nach länger als zwanzig Jahren, habe ich durch seinen inzwischen zum Manne erblühten Sohn die erste Nachricht von ihm erhalten.

Anfänglich arbeitete ich in möglichster Vorsicht und Verschwiegenheit mit dem mir anvertrauten Gelde,“ fuhr der Sprecher nach einem tiefern Athemzuge fort, „als sich mir aber einzelne glückliche Chancen eröffneten, änderte ich die Firma „Hellmuth“ in „Hellmuth und Co.“ um, was zugleich die vergrößerte Geldmacht, mit welcher ich auftrat, rechtfertigte. Ich hatte in meinen Spekulationen Glück, und eiserner, unverdrossener Fleiß, immer wacher Blick und richtige Combination machten mein Geschäft zu dem, was es jetzt ist. – Nun aber steht die Sache einfach so: erkenne ich den Vater dieses jungen Herrn Maçon als den wirklichen Compagnon des Geschäfts an, so handelt es sich nicht um Herauszahlung des von diesem eingeschossenen Capitals mit Zinsen, sondern er hat ein Eigenthumsrecht am Geschäfte in demselben Verhältnisse, wie sein Capital zu dem meinen stand – und dann würde mein Antheil kaum ein Zehntel betragen.

Abgesehen nun davon, daß ein bestimmter Vertrag niemals zwischen uns abgeschlossen wurde, so bin ich auch mit meinem Gewissen völlig darüber fertig, daß mein Kopf und meine Arbeit es gewesen sind, welche unser Geschäft in die Höhe gebracht, daß ich nicht alle meine Geisteskräfte angespannt und meine Nachtruhe geopfert habe, um einen Fremden reich zu machen, und ich würde wohl auch mit dem jungen Menschen mich schnell genug über seine Ansprüche einigen, wenn nicht dieser Meier wäre, der an seiner Seite steht und aus meinem möglichen Ruin für sich selbst ein Glück zusammenlesen möchte. Welchen Gebrauch er noch von der Kenntniß der Verhältnisse zur Untergrabung meines Credits machen wird, weiß ich nicht – ich habe Ihnen jetzt die Lage der Dinge mitgetheilt, damit Sie Allem, was auch von irgend einer Seite kommen möge, mit voller Ruhe und Sicherheit entgegentreten. Im Uebrigen bestimmt mich der eben erlebte Vorfall, noch heute ein entscheidendes Wort mit dem jungen Manne zu sprechen, das uns wenigstens Sicherheit über das zu Erwartende geben soll. Und nun wird es hohe Zeit, mich wieder oben zu zeigen!“

„Noch ein einziges Wort,“ unterbrach Gruber, welcher mit großen, aufmerksamen Augen der Erzählung gefolgt war, Hellmuth’s Bewegung nach der Thür, „wollen Sie mir nicht erlauben, Willmann von dem Hauptsächlichen zu unterrichten? Er hängt mit seltener Treue an Ihrer Familie und besitzt daneben einen Instinct, welcher ihn Vieles, was mir erst durch Ihre Mittheilung klar geworden, bereits hat errathen lassen – außerdem aber könnten immer Fälle eintreten, in welchen ein vertrauter Diener, der klar durch die Sachlage sieht, viel werth ist!“

Hellmuth nickte gedankenvoll. „Sie mögen Recht haben,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „und bei Willmann ist keine Gefahr, handeln Sie danach – oben aber werde ich Sie entschuldigen!“ schloß er, mit einem kurzen Striche über seine Stirn das Gemach verlassend.

Als er den obern Corridor betrat, tönten ihm die vollen Klänge des Flügels entgegen, und beim Oeffnen des Besuchszimmers sah er, daß er hier noch kaum vermißt worden sein konnte. Anna mit leise gerötheten Wangen hatte das Instrument eingenommen, die ausgiebige Kraft desselben zu voller Geltung bringend, während Maçon, völlig in die Töne verloren, den Kopf in die Hand gestützt dasaß und jeder Wendung des Spiels zu folgen schien – Eugenie aber, wie ihren eigenen Gedanken nachhängend, in einem Fauteuil lehnte. Bei dem Geräusche, welches das Schließen der Thür verursachte, brach indessen die Spielende mit einem raschen Blicke auf den Eintretenden ab und erhob sich. „Ich wollte Ihnen nur das zeigen, was sich ohne viele Worte kaum ausdrücken läßt,“ sagte sie, sich leicht gegen den Gast verneigend, „das, was ich deutsche Musik nenne, so sehr auch ein Meister dazu gehört, um ihr zu ihrem vollen Rechte zu verhelfen!“

„Du hast mich auf das Glatteis geführt, Papa!“ rief Eugenie mit einem Anfluge von übler Laune, „Herr Maçon ist ein Musikverständiger und selbst ein halber Künstler, gegen den allenfalls nur Anna durch ihre gründlichen Studien bei der Großmutter unsere Ehre retten konnte!“

„Verzeihung, Fräulein!“ erwiderte Maçon sich rasch aufrichtend, „Sie haben meine harmlose Aeußerung, die nur meine Auffassung des Musikstückes Ihnen bezeichnen und durch ein paar gespielte Takte andeuten sollte, zu scharf genommen – Sie sehen, wie ich selbst jetzt dafür bestraft worden bin – und doch,“ wandte er sich nach Anna um, welche still bei Seite getreten war, „kann ich Ihnen nur von ganzem Herzen für diese Strafe danken!“

„Bitte, Herr Maçon,“ erwiderte die Letztere, noch sichtlich vom Spiel angeregt, „es war nur ein Recht, das unsere heimathliche Musik verlangte!“ Damit schritt sie, wie von einer plötzlichen Scheu überkommen, dem Fenster zu.

„Ich muß um Entschuldigung wegen meines längern Ausbleibens bitten,“ begann jetzt Hellmuth, „und ich möchte fast Ihre Freundlichkeit, Herr Maçon, noch in weiterem Grade beanspruchen. Es sind soeben einige geschäftliche Anfragen an mich ergangen, die jedenfalls in Bezug auf Sie stehen, und wenn Ihnen eine kurze Vorlage des Betreffenden im Augenblick nicht unangenehm wäre –“

„In Bezug auf mich?“ fragte der Angeredete, einigermaßen befremdet, „ich stehe jedoch ganz zu Befehl, wenn die Damen mich für die Zeit unseres Gespräches entschuldigen wollen –!“

„Hoffentlich wird uns die Angelegenheit nicht gar zu lange aufhalten!“ versetzte Hellmuth, indem er dem Gaste voran schritt. Mit den entschuldigenden Worten: „Bis auf Weiteres denn, meine Damen!“ folgte Maçon der gewordenen Aufforderung.

(Fortsetzung folgt.)




Berliner Skizzen.
1. Auf dem Neuen Canale.
Von Rudolph Löwenstein.[1]

Wären die Gebrüder Grimm mit ihrem Wörterbuche bis zum Buchstaben U gediehen, so hätten sie sicherlich bei dem Worte „Unverfroren“ bemerkt: „mit diesem beiworte bezeichnet der berliner einen menschen, der auch in dunkler zeit heitren herzens und hellen geistes bleibt.“ – In den politischen Stürmen unverschnupft, unter dem Trucke staatsbürgerlicher Lasten nicht verknubbert, bei zwanzig Grad Pannaché nicht verkältet und bei dreißig Grad Hitze unverfroren – so muß ein richtiges Berliner Kind nicht blos sein, sondern auch sind.

Der unverfrorene Berliner harrt sehnsüchtig des Tages, da sich die erste feste Kruste auf die trägen, durch und um die Residenz schleichenden Gewässer legt. Die Spree trotzt innerhalb der Stadt mit fast impertinenter Ruhe der Gewalt des Winters und läßt sich nur in besonders tyrannischen Jahren in eisige Fesseln schlagen; die Panke, ein kleines Bächlein, dessen Dasein sich weniger durch Wasser als durch böse Dünste verräth und das sich aus Melancholie – in die Spree stürzt, ist ein zu schmales Podium für den Eiskothurn; der Grüne, der Zwirn- und der Kupfergraben – und wie die Verzweigungen der Cloaca maxima von Berlin heißen – sind gar zu trübe Rinnsale und dem Berliner verhaßt wegen der himmelschreienden Sünden, durch die sie ihn während des Sommers corrumpiren und in schlechten Geruch bringen. – Draußen aber vor den Thoren bereitet der Winter die krystallenen Tanzplätze. Die kleinen Seen und Tümpel des Thiergartens laden zuerst mit schimmerndem Parquetboden die Tanzlustigen ein, während die Spree noch mit „offenen Armen“ Berlin umfängt. Die Rousseauinsel, im Sommer das heimlichste, lauschigste Plätzchen des Parks, wo der Mond sich spiegelt in wellenlosem Weiher und neugierig guckt in die dichten Ufergebüsche, wo der Philosoph einsam wandelt und sentimentale Liebespärchen durch die Laubgänge huschen – wie

[133]

Auf dem Neuen Canale bei Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von Th. Hosemann.

ist sie jetzt umschwirrt von muntrem Leben, fröhlichem Geschrei und Gelächter!

Die eigentliche Saison des unverfrorenen Berliners beginnt aber erst, wenn der Neue Canal, auch Landwehrgraben und von unsren Altvordern Schafgraben genannt, der in weitem Bogen Berlin von Ost nach West umzieht, sich geschlossen und seinen Tanzboden geöffnet hat.

Sobald die ersten dünnen Eisladungen vor den Thüren der vorsorglichen Conditoren halten, eilt die liebe schulschwänzende Jugend hinaus, um die Tragkraft des Canaleises zu proben. Welche Freude, wenn es den scharfgeschleuderten Handgranaten widersteht, wenn die Krähe sicher auf der Eisdecke schreitet und ein kühner Pudel die Mütze eines Knaben ungefährdet apportirt! Noch eine Nacht „juten jediegenen Frost“, und die rothen Zettel mit der Inschrift „Größte Eisbahn“ prangen an allen Anschlagesäulen der Stadt.

Glückliche Eispächter, glückliche Schneeschipper, die ihr lange Wochen hindurch trübselig zum trüben Himmel geblickt und den hundertjährigen Kalender verwünscht habt, der schon für den November scharfe Kälte geweissagt! – „Was nutzt mich das Eis, wenn es nicht gefroren ist?“ – Wie oft habt ihr Armen mit diesem Wehruf über die Regenwolken droben geseufzt, die schon seit Jahren euer Geschäft zu Wasser gemacht haben! Wie bebte eure Seele vor dem Gedanken, daß der große Gelehrte Recht habe, der da gesagt, die Erde bewege sich in einer Spirallinie zur Sonne, und in kurzer Zeit werde es daher weder Winter, noch Eisbahn, weder Gletscher, noch Schlittschuhe, weder Pickschlitten, noch – Gefrorenes geben! – die Angst ist von euch genommen: das Eis hält!

[134] Jetzt ist es Zeit, das Breterhaus zu zimmern und die Vorratskammer zu füllen mit den Delicatessen des Berliners, der kühlen Blonden, der Flasche Gilka’s und der Wurst des Knoblauch. Schon harrt Schneewittchen, das holde Kind, das sich während des Sommers als aufbrausende Jungfrau und Odaliske des Dönhofsplatzes ernährt, um ihr Mundschenk-Amt am Büffet anzutreten.

In wenigen Stunden ist das Werk vollbracht, die Restauration aufgeschlagen, der Vorrath an Schlittschuhen und Pickschlitten ausgekramt und die Fahne aufgehißt zum Zeichen, daß der Tanz beginnen kann. Und noch einige Stunden – und das Parquet füllt sich mit lustigen Tänzern. Bruder Studio und Mosjö Pennal sind die Ersten, ihnen folgen die Fräuleins Backfisch und Tantchen Unverzagt. Die ganze Schaar der Junggesellen, welche in der Residenz nisten, der schmeidige Commis, der sanfte Registrator, der civilisirte Fähndrich, der unentgeltliche Referendarius, sie Alle finden sich ein, um ihre Künste vor dem schönen Geschlecht zu entfalten und ihre Dienste als Schlittenschieber anzubieten. Auch der ehrsame Bürger und Ehekrüppel schnallt sich die Flügel Mercur’s an die Füße, um „Muttern“ einen galanten Liebesdienst zu erweisen. – Welch buntes Bild, welch übermüthige Scherze! – „Sehen Sie nur, Piefke, dort den Baron und dicht hinter ihm die beiden Halsabschneider! Bardauz – da liegen sie Beide!“ – „Der Baron hat sich mit seinen Gläubigern gesetzt!“ – „So ist es!“ – „Was sagen Sie zu den kleinen Rangen, die sich um die Ehre streiten, das Balg von Geheimeraths zu stoßen?“ – „Zukünftige Assessoren – angeborener Respect!“ – „Brennecke auch hier? Ich denke, der reitet blos Wechsel?“ – „Er übt sich bei Zeiten im Laufen.“ – „Aha!“ – „Potztausend, welch schmucke Polka-Prinzessin!“ – „Still, still! der Lieutenant hinter ihr könnte uns hören! ’s ist ja eine Banquierstochter aus dem orientalischen Viertel!“ – „Schwemmler, sehen Sie mal, wie propper der Rath aus dem Cultusmysterium rückwärts läuft!“ – „Janz jenau nach die Rejulative!“ – „Famöses Schneewittchen da in Bude, lieber Strudelwitz!“ – „Auf Jletscher, Kamrad, wollen Budenparade machen!“ – „Aber mein Herr!“ – ruft eine über die Schlittschuhe des Paradirenden stürzende Schöne. – „Pardon, meine Jnädige, weiß jetzt, wie jefallener Engel aussieht, auf Jletscher!“

Vor etwa fünfzehn Jahren noch wagte kein Jungfräulein Berlins den schlüpfrigen Boden zu betreten; heut gehört die holländische Sitte zum guten Ton, und selbst manch stolze Frau der Wilhelmsstraße läßt ihre Töchterchen zum Eisballe ziehn, nachdem sie ihren Jean instruirt hat, den Gnädigen nicht von den Fersen zu weichen.

Wie manche heiße Liebe ist schon auf der eisigen Bahn entflammt worden! Wie mancher Jüngling hat mit kühnen Bogen Augen und Herz einer Schönen erschwungen! – Kein Jahr, in dem nicht der Stadtklatsch neue Beiträge zur Literatur der Eisnovellen liefert, deren Inhalt stets der nämliche ist: „Arthur hatte sie noch nie gesehen. Louise ihn auch nicht. Louise war auf eine warme Stelle gekommen. Arthur zitterte, Louise brach ein. Er rettete sie – sie sahen sich in die Augen – sie liebten sich, und schon nach drei Tagen hielten sie sich fest umfaßt, liefen selbander anmuthig dahin, und Arthur recitirtc seiner Louise die Verse Herder’s:

„Wir tanzen, wir schweben auf tönendem Meer,
Auf Silberkrystallen dahin und daher;
Der Stahl ist uns Fittig, der Himmel das Dach,
Die Lüfte sind eilig und schweben uns nach.
So gleiten wir Beide mit fröhlichem Sinn
Auf eherner Tiefe des Lebens dahin.“




Nicht Waterloo, sondern Belle Alliance.
(Schluß.)

Am Morgen um acht Uhr nach der Schlacht bei Ligny traf ein Bericht Blücher’s bei Wellington ein. Der Officier mußte zugleich fragen, ob das britische Heer bereit sei, Napoleon anzugreifen, wenn das preußische zu ihm stoße. Wellington antwortete, er werde sich jetzt in die feste Stellung bei Mont-St.-Jean, mit dem Hauptquartier Waterloo, zurückziehen und hier, falls ihm Blücher auch nur mit zwei Heerestheilen, 25,000 Mann, zu Hülfe kommen wolle, am folgenden Tage die Schlacht annehmen. Um zehn Uhr begann der Abmarsch des britischen Heeres. Gegen Abend war die ausersehene Stellung bei Waterloo besetzt. Ney, dem sich Napoleon mit seiner mächtigen Reserve anschloß, folgte ebendahin. Um sieben Uhr Abends beobachtete Napoleon schon von dem Pachthof La Belle Alliance aus durch den dicht fallenden Regen die auf den flachen Anhöhen von Waterloo gegenüberstehenden Schaaren Wellington’s. Dieser sandte Nachts an Blücher die Nachricht von seiner glücklichen Ankunft in der vorbezeichneten Stellung, „wo er den Angriff des Feindes erwarte und dazu um preußische Mitwirkung ersuche.“ Blücher sagte sein Kommen zu und ertheilte noch in der Nacht die erforrerlichen Befehle. Am 18. Juni Morgens neun Uhr, kaum sechsunddreißig Stunden nach seiner Niederlage, ließ dann der heldenmüthige Greis in das englische Hauptquartier schreiben: „Sagen Sie dem Herzog von Wellington, daß, so krank ich auch bin, ich mich dennoch an die Spitze meiner Truppen stellen werde, um den rechten Flügel des Feindes sogleich anzugreifen, wenn Napoleon etwas gegen den Herzog unternimmt; sollte der heutige Tag aber ohne einen feindlichen Angriff hingehen, so ist es meine Meinung, daß wir morgen vereint die französische Armee angreifen.“

Gneisenau traf frühzeitig die Anordnungen, um die Truppen auf dem kürzesten Wege in den Rücken des Feindes zu führen. Erst später wurde, auf ausdrücklichen Wunsch von Wellington, bestimmt, daß ein Corps gesondert von den übrigen sich direct mit der englischen Armee vereinigen sollte.

Bei Tagesanbruch setzte sich am 18. Juni zunächst Bülow mit seinem Armeecorps in Bewegung. Bald folgte ihm, über St. Lambert, Pirch, während Zieten gleichzeitig den Weg über Fromont und Ohain einschlug, um sich links an Wellington anzuschließen. Gegen Mittag traf Bülow in der Nähe des Schlachtfeldes ein, wo der Kampf bereits heiß entbrannt war.

Wellington hatte für erforderlich gehalten, zur Deckung seiner rechten Flanke 19,000 Mann zu detaschiren. Er konnte daher nur über 24,000 Briten, 30,000 Deutsche und 13,000 Niederländer, zusammen etwa 67,000 Mann, und 150 Geschütze verfügen, die er auf den sanft ansteigenden Höhen vor Waterloo aufstellte. Vor der Fronte wurden das Schloß Houyomont, und die Pachthöfe La-Haye-Sainte, Smouhen, La-Haye und Papelotte besetzt. Des Herzogs Plan war, sich bis zur Ankunft Blücher’s nur gegen Napoleon zu vertheidigen.

Napoleon’s Heer war dem gegnerischen an Zahl etwa gleich; an Artillerie und Reiterei überlegen. Er formirte daraus eine einfache Schlachtordnung, die der englischen fast parallel lief. Des Kaisers Plan war, die Mitte der feindlichen Armee zu durchbrechen und sich so schnell als möglich des Dorfes Mont-St.-Jean im Rücken derselben zu bemächtigen. Gegen einen Anmarsch der Preußen in die rechte Flanke wurden dabei gar keine Vorbereitungen getroffen, weil eben Napoleon sich nicht dachte, daß Blücher ihm kampfbereit so nahe sei.

Fünfundzwanzig Minuten vor Mittag begann der Kampf durch einen Angriff des linken Flügels der Franzosen unter Jerôme Bonaparte auf das Schloß Houyomont, vor dem rechten Flügel der Engländer. Es wurde von beiden Seiten hartnäckig und mit wechselndem Erfolge gestritten. Bald mußten hier wie dort neue Truppen in’s Feuer gezogen werden, und so schwankte denn an diesem Punkte der Kampf fast den ganzen Tag hindurch hinüber und herüber.

Fast gleichzeitig begann das Geschützfeuer auf der ganzen Front der Franzosen. Um ein Uhr sollte ein allgemeiner Angriff auf die Gegner gemacht werden. Napoleon hatte sich auf eine Anhöhe bei Rosomme begeben, von wo er, etwas links von der Mitte seiner Schlachtlinie, dicht bei seinen Garden, den ganzen Kampfplatz überschauen konnte. Er stieg vom Pferde und setzte sich auf einen hölzernen Schemel, der ihm aus dem nahen Meierhofe gebracht war. Da gewahrte er am rechten Horizont durch sein Fernrohr nicht unbeträchtliche Streitkräfte. Ein aufgefangener Brief erwies [135] bald, daß Bülow von dort heranrücke. Napoleon sandte den so unerwartet erscheinenden Preußen anfangs nur leichte Reiterei entgegen, die doch blos beobachten konnte, und ließ daneben nur durch den Major-General Soult den Marschall Grouchy auffordern, sich so rasch als möglich seinem rechten Flügel zu nähern, um „Bülow, den er auf der That ertappen werde, zu vernichten.“ Die Voraussetzungen dieses Befehles sind fast unbegreiflich, denn Napoleon mußte wissen, daß sein Marschall zu fern war, um denselben ausführen zu können. Uebrigens verkündete der Kaiser ganz ruhig, er wisse, daß es Grouchy sei, der sich dort zur Rechten so unerwartet nahe.

Der Angriff auf Wellington erlitt hierdurch etwas Verzug. Er begann erst gegen zwei Uhr unter der Führung des unerschrockenen Ney.

Drei Divisionen wurden gegen den Pachthof La-Haye-Sainte und gegen die Mitte der feindlichen Schlachtlinie gesandt, vor der derselbe lag. Es gab hier einen der ruhmwürdigsten Kämpfe, in dem britische Kaltblütigkeit und französische Tapferkeit sich die Wage hielten. Der Ausgang war lange zweifelhaft. Den Franzosen rückten die Engländer mit Festigkeit entgegen. Es wurde heiß und heftig zwischen beiden Heeren gekämpft. Hier wie dort wurden Erfolge errungen, und die Opfer waren beiderseits groß. Nach einer Stunde trennten sich dann die feindlichen Colonnen, jede zog in die früheren Stellungen zurück. Eine vierte Division suchte sich gleichzeitig der drei Pachthöfe La-Haye, Papelotte und Smouhen zu bemächtigen, die vor dem linken Flügel der Engländer lagen. Auch hier wurde, jetzt wie später, hart und mit Ausdauer gestritten, doch ohne wesentlichen Erfolg.

Nun wäre es für Napoleon an der Zeit gewesen, den geschwächten Engländern neue Massen entgegen zu senden. Der Heerestheil des löwenmuthigen Grafen Lobau, etwa 9000 Mann, war früher dazu bestimmt gewesen, allein durch den drohenden Anmarsch von Bülow sah sich Napoleon doch genöthigt, ihn gegen diesen aufzustellen. Seine Garden wollte der Kaiser noch nicht in’s Gefecht führen, und so blieb einstweilen nichts anderes übrig, als Wellington hauptsächlich mit den schon geschwächten Divisionen von neuem angreifen zu lassen. Den Engländern aber wurde auf diese Weise schon durch den Anmarsch der Preußen ihre Haltung wesentlich erleichtert.

Gleichzeitig ließ jetzt aber Napoleon durch Ney zwischen Houyomont und La-Haye-Sainte hindurch große Reitermassen gegen die Reihen Wellington’s anstürmen. Starker Kugelregen erschütterte den Muth der Männer nicht. Sie erstiegen, wenn auch sehr gelichtet, die von den Gegnern besetzten Anhöhen und stürzten sich hier jubelnd auf die feindlichen Kanonen, deren Bedienung, einem früheren Befehle gemäß, in benachbarten Quarrés Schutz gesucht hatte. Diesen galt der nächste Anprall der mächtigen Reiterschaar.

Wohlgezieltes Feuer empfing sie. Gegen den verwirrten Haufen ging sodann die freilich schwache Reiterei der Verbündeten in schönster Ordnung vor. Sie warf den Feind und schlug damit dessen herzhaften Angriff zurück. Bald sandten auch die wiederbesetzten Kanonen den fliehenden Franzosen ihr mörderisches Geschoß nach.

Der Reitersturm war vergeblich gewesen. Er hätte durch Infanterie unterstützt werden müssen. Ney stellte dies Verlangen. Napoleon aber, der weder Lobau, noch jene Divisionen vor der Mitte der Feinde zurückziehen konnte, erwiderte cynisch: „Infanterie? Woher soll ich sie nehmen? Wollen Sie, daß ich welche schaffe?“

So blieb ihm, außer dem beständigen Feuer seiner zahlreichen Artillerie, nichts übrig, als die Reiterstürme, wenn auch durch neue, herrliche Schaaren vermehrt, zu erneuern. Sie wirkten verderblich für beide Theile, aber eine Entscheidung konnten sie nicht herbeiführen. Wie der erste verliefen auch die übrigen.

Indessen kämpften die schon früher im Feuer gewesenen Infanteriekolonnen wieder auf das Heftigste um Houyomont und La-Haye-Sainte. Beide Plätze wurden mit unerschütterlicher Tapferkeit vertheidigt. Aber der Besatzung von La-Haye-Sainte ging schließlich die Munition aus, während die steten, ungestümen Reiterangriffe nicht gestatteten den Mangel zu ersetzen. Die Franzosen bemächtigten sich nach fünf Uhr des Platzes.

Die Stellung Wellington’s war dadurch stark erschüttert. Der Sieg wäre für ihn jetzt verloren gewesen, wenn Napoleon ihm die Truppen, welche bereits mit Erbitterung gegen die Preußen kämpften, hätte entgegenführen können. War doch ohnedies des Herzogs Heer mit Vernichtung bedroht.

Bald nachdem La-Haye-Sainte verloren gegangen, brannte Schloß Houyomont nieder. Später büßte Wellington auch Papelotte und La-Haye ein. Und gleichzeitig wurden seine Reihen immer mehr erschüttert. Starke, zahlreiche Divisionen waren zu kleinen Haufen zusammengeschmolzen; die stolze, kriegerische Pracht vom Morgen war längst gebrochen. Die wiederholten, ungestümen Reiterstürme vernichteten in offen bemerkbarer Weise immer mehr und mehr die Schaaren der Verbündeten. Flüchtig verließen einzelne, sogar das ganze hannoversche Regiment Cumberland-Husaren, den furchtbaren Kampfplatz. „Um sieben Uhr Abends,“ berichtet ein Augenzeuge, „existirte die Armee Wellington’s nicht mehr; es war keine Armee mehr.“ In des Herzogs Umgebung tauchten selbst jetzt noch, wo die Preußen schon erschienen waren, Stimmen auf, die da meinten, der Rückzug müsse angetreten werden. Aber wie schon vorher in viel kritischeren Momenten, so blieb auch jetzt Wellington kalt und unerschütterlich. „Unser Plan,“ sagte er, „ist ganz einfach: Blücher oder die Nacht.“

Schon hatten die Preußen thätig in den Kampf eingegriffen und jetzt bewirkten sie, daß den Franzosen ihre Erfolge über Wellington nicht zu statten kamen, daß diese vielmehr selbst völlig geschlagen wurden.

Der Marsch der preußischen Corps Bülow und Pirch, bei denen sich Blücher und Gneisenau befanden, wurde durch die grundlos schlechten Wege mehr gehindert, als vorauszusehen war. Oft hieß es: „Wir können nicht weiter.“ Dann rief jedoch der unverzagte Blücher: „Wir müssen, Kinder! Ich habe Wellington mein Wort gegeben, und Ihr werdet doch nicht wollen, daß ich wortbrüchig werde?“ Die Artillerie blieb weit zurück. Es wurde erforderlich, auf sie im Angesicht der Schlacht zu warten. Als aber Blücher sah, wie Ney den zweiten großen Reiterangriff auf das verbündete Heer vorbereitete, befahl er, ungesäumt vorzugehen.

Um halb fünf Uhr sandten die Preußen ihre ersten Schüsse in die Schlacht, weniger um dem Feinde direct dadurch zu schaden, als vielmehr seinen Muth zu mindern, den des befreundeten Gegners zu erhöhen. In diesem Augenblicke ertönte aber auch Kanonendonner im Rücken von Blücher. Bald traf von Thielmann die Nachricht ein, daß er bei Wawre von überlegenen Kräften angegriffen sei. Es war Grouchy, von dessen Irrfahrten die Verbündeten ebenso wenig erfahren, wie Napoleon von dem Ziele des Nachtmarsches der geschlagenen preußischen Armee. Ein etwaiger Rückzug konnte den Preußen abgeschnitten sein, während noch nicht entschieden war, wie der Kampf in der Front ausfallen würde. Es war ein Moment, der mehr als irgend einer zu halben Maßregeln verleiten konnte. Blücher und Gneisenau aber, großartig und kühn wie je, schwankten keinen Augenblick. Sie sendeten keine Verstärkungen rückwärts. „Er müsse sich,“ ließen sie Thielmann sagen, „vertheidigen, so gut er könne.“ Sie selbst aber sammelten eifrig die Streitkräfte, um bald mit Macht in den Kampf einzugreifen.

Das Gefecht mit Lobau’s Truppen, die Napoleon, wie bemerkt, den Preußen entgegen geworfen, hatte indessen begonnen. Bald konnte Bülow Uebermacht entwickeln und damit gegen sechs Uhr Lobau zurückdrängen. Die Preußen standen bereits im Rücken der Franzosen.

Aber Napoleon ließ nicht ab von der Bedrängung der Engländer, denen er gerade jetzt nicht unwesentliche Erfolge abrang. Gegen die Preußen sandte er frische Truppen, ein Dritttheil seiner letzten Reserve. Blücher mußte sich, für die geringen Kräfte, die noch zur Verfügung standen, anfangs ziemlich weitläufig entwickeln. Er hatte Lobau zu bekämpfen und mußte gleichzeitig suchen, mit seinem rechten Flügel Halt zu bekommen, um die Verbindung mit Wellington herzustellen. Dadurch wird es gekommen sein, daß er zuerst zurückgedrängt wurde. Es entspann sich ein lebhaftes und blutiges Gefecht um das Dorf Planchenois, das von Lobau, durch Garden ansehnlich verstärkt, heldenmüthig vertheidigt wurde. Die Preußen verloren dabei halb so viel Mannschaft, als Wellington am ganzen Tage. Hier lag von sechs bis acht Uhr das Schicksal der Schlacht. Napoleon ließ gleichzeitig von Neuem gegen die Briten anstürmen. Sechs Bataillone der alten Garde wurden jetzt unter Ney gegen die Feinde geführt. Sie erstiegen die Anhöhen, brachten Tod und Verderben und wurden dann wieder geworfen, wie die frühern Colonnen. Während diese Tapfern im vergeblichen Kampfe auf dem rechten Flügel der Verbündeten rangen, wurde endlich auf dem linken [136] die lange erwartete Entscheidung durch die Preußen herbeigeführt.

Dem Wunsche Wellington’s gemäß traf hier jetzt eine starke preußische Colonne, der Heerestheil Zieten’s, der über Ohain marschirt war, zu seiner Unterstützung ein. Es war die Brigade Steinmetz mit ihren Bataillonen, Batterien und den kühnen Reiterschwadronen unsers Bildes in voriger Nummer. Allen voraus eilte der Oberstlieutenant von Reiche, Chef des Generalstabes bei Zieten. Ihm schien die Schlacht keinesweges ungünstig für Napoleon zu stehen. Bald hörte er auch, daß es der letzte Moment sei, thatkräftig mit einzugreifen, indem sich Wellington im andern Fall zum Rückzug genöthigt sehen würde. Reiche suchte den Anmarsch möglichst zu beschleunigen. Gerade eben waren Papelotte und La-Haye vor diesem linken Flügel Wellington’s genommen; es handelte sich zunächst darum, die Franzosen wieder aus der wichtigen Position zu vertreiben. Da räumten, durch den Anmarsch der Preußen erschüttert, die Franzosen gegen sieben Uhr, ohne angegriffen zu sein, die erst vor kurzem besetzten beiden Pachthöfe, und nun konnten bald zwei preußische Batterien zur Unterstützung der Engländer auf eine Anhöhe bei Smouhen aufgefahren werden. Aber bei dem entsetzlichen Pulverdampf, bei dem Hin- und Herwogen der Massen, mußte es zweifelhaft sein, ob die Geschütze Freund oder Feind treffen würden. Alle schwankten, was zu thun sei. Da sagte Reiche: „Ich übernehme alle Verantwortung,“ und richtete dann selbst die sechszehn Geschütze mitten auf den dicksten Haufen. Die Kugeln schlugen rechts ein in die von Ney geführten Angriffscolonnen, links in Lobau’s Heertheil, der um Planchenois kämpfte. Gleichzeitig ließ Zieten eine Angriffscolonne unter dem Obersten von Hofmann gegen französische Schaaren, die soeben Nassauer geworfen hatten, stürmend vorrücken. Es entstand bei Smouhen ein kurzes, aber lebhaftes Treffen, in dem die Preußen Sieger blieben.

Das Gefecht kam jetzt auf der ganzen Linie der Franzosen eine kurze Weile zum Stehen. Aber der Eindruck, den Zieten’s Erscheinen, besonders sein kräftiges Eingreifen durch die beiden Batterien bei Smouhen machte, muß ein ungeheurer gewesen sein. Bald begannen die feindlichen Angriffscolonnen zu wanken. Nur die Garden suchten ihre Haltung noch zu bewahren. Frohlockend sahen die Verbündeten, wie sich die Reihen der Feinde auflösten, wie dann, es mochte acht Uhr Abends sein, eine allgemeine wilde Flucht ihren Anfang nahm. Napoleon selbst sagte: „C’est fini.

Um diese Zeit kam zu den beiden von Reiche dirigirten Batterien ein Adjutant Wellington’s und forderte ihn auf, mit Schießen einzuhalten, weil der Herzog mit der ganzen Linie vorrücken wolle. Sofort schwiegen die Kanonen.

Wellington stieg dann mit seinen stark gelichteten Reihen die Anhöhen hinab und fand dabei, nach eigenem Geständniß, keinen erheblichen Widerstand mehr. Als er aber am Fuße der Stellungen der Franzosen angekommen, formirte der Herzog schnell seine Truppen, denn oben hielten noch einige feindliche Bataillone. Zum Angriff kam es auch hier nicht. Als die Engländer vorgingen, wichen die Feinde. Das war – nur englischer Uebermuth kann es verhehlen – Zieten’s Werk. Oberst Hofmann hatte jetzt die Franzosen geworfen. Er drängte unaufhaltsam hinter ihnen her. Und gleichzeitig brach Zieten mit Reitern vor. Die Wellington entgegenstehenden Bataillone wurden dadurch vollends erschüttert; sie wichen, ehe der Herzog sie erreichte. Jetzt hatte sich auch der blutige Kampf um Planchenois entschieden. Vergeblich war Lobau’s Heldenmuth, vergeblich der tapfere Widerstand der Garden; sie wurden geworfen, wie auch alle Uebrigen, und wurden mit fortgerissen in den wilden Haufen, den jetzt die beiden verbündeten Heere als den bejammernswerthen Rest der Armee, die noch bis zur Ankunft der Preußen den Sieg zu erlangen schien, vor sich hertrieben. Die Schlacht war entschieden, einzig und allein entschieden durch die Preußen. Niemand wußte dies besser, als Wellington; es galt daher seine ganze Schlauheit, um sich allein den Ruhm des Tages zu vindiciren. Und dies ist seiner feinen Berechnung meisterhaft gelungen. Er befahl nämlich, daß die ganze Heereslinie unter seinem Commando die steilen Abhänge hinab vorgehen und den allgemeinen Angriff eröffnen solle. „Mit seinem Kennerblicke übersah er,“ schreibt Müffling, der bekanntlich als preußischer Bevollmächtigter in Wellington’s Hauptquartier dem Feldzuge von 1815 beiwohnte, „daß die französische Armec nicht mehr gefährlich war; zwar wußte er ebensogut, daß er mit seiner zusammengeschmolzenen Infanterie nichts Bedeutendes mehr ausrichten konnte, aber wenn er stehen blieb und der preußischen Arrnee allein die Verfolgung überließ, ohne die Aufstellung zu verlassen, in der er die Angriffe der Gegner abgeschlagen hatte, so hätte die Schlacht vor ganz Europa das Ansehen gehabt, als ob die englische Armee sich zwar tapfer vertheidigt, aber die preußische Armee die Schlacht allein entschieden und gewonnen hätte.“

Von allen Seiten drängten denn die Feldherren der Verbündeten an der Spitze ihrer siegreichen Schaaren auf die frühere Mitte des feindlichen Heeres ein, wo jetzt ein wüster Knäuel sich zusammengeballt. Dort, bei dem Wirthshause La Belle Alliance, begegneten sich durch Zufall Blücher und Wellington. Blücher schlug vor, die Schlacht nach dem beziehungsvollen Namen dieses ergreifenden Wiedersehens zu nennen. Er that das ohne sorgsame Ueberlegung, doch in dem guten Bewußtsein, daß das Ausharren der Engländer den Sieg ermöglicht und das rechtzeitige Erscheinen der Preußen ihn herbeigeführt. Aber er wußte noch nicht, daß Wellington die ganze Ehre des Sieges für sich allein in Anspruch nehmen und ihn deshalb nach seinem Hauptquartier Waterloo nennen wollte. Doch wurde jetzt die wundervolle Eintracht nicht gestört, und willig übernahmen die Preußen den zweiten Theil des blutigen Werkes, die energische Verfolgung des Feindes.

„Wie man siegt, haben wir jetzt gezeigt; nun wollen wir auch zeigen, wie man verfolgen kann!“ rief Gneisenau noch auf dem Schlachtfelde aus. Wellington aber erklärte bei jener Zusammenkunft mit Blücher, seine Truppen seien zu erschöpft, um dem Feinde folgen zu können. Da versammelte der alte Feldmarschall schnell die anwesenden preußischen Officiere und erklärte, daß sie den letzten Hauch an die Verfolgung der Feinde setzen müßten. Sofort brachen die Preußen auf. Unter lautem Hurrah führte Gneisenau persönlich ein noch geordnetes Füsilierbataillon vom fünfzehnten Regiment dem Feinde auf den Fersen nach und drängte unaufhaltsam immer weiter und weiter. Bis Genappe zog auch der alte Blücher, trotz der Ueberanstrengung und der Schmerzen seines Körpers, mit. Von da an leitete Gneisenau allein die wilde Jagd.

Die Franzosen aber hatten sich vollständig aufgelöst. Ihre wirren Haufen rissen Alles mit sich fort: den durch das Uebermaß der Niederlage stumpfen Napoleon, die stolzen Generale und Marschälle, die kriegerischen Garden, den flüchtigen Train. Wo ein Versuch des Sammelns gemacht wurde, scheuchten preußische Trommeln und Hörner von Neuem auf. Napoleon’s Wagen, mit wichtigen Papieren und Kostbarkeiten aller Art, wurde erbeutet; er selbst mußte in größter Eile ohne Hut flüchten. Gegen Morgen erreichte Gneisenau mit dem kleinen Häufchen, das ihm noch hatte folgen können, fünfzig Uhlanen, das Städtchen Frasnes. Hier, etwa dritthalb Meilen vom Schlachtfelde, hielt er an, um die ersten Strahlen der Sonne zu erwarten.

Der alte Blücher, auf das Schlachtfeld zurückgekehrt, schrieb aber um diese Zeit an Knesebeck: „Mein Freund. Die Schönste Schlagt ist geschlagen. Der herligste Sieg ist erfochten. Das Detallie wird er folgen; ich denke, die Bonaparte’sche Geschichte ist nun wohl für lang zu ende. La Bellaliance den 19. früh. Ich kann nicht mehr schreiben, den ich zittere an alle glieder. Die Anstrengung wahr zu groß.“

Und wahrlich, die herrlichste Schlacht war geschlagen! Hätte Grouchy nicht gleichzeitig den General Thielmann durch doppelte Ueberzahl bei Wawre zurückgedrängt und dann verdeckt die Grenzen seines Vaterlandes zu erreichen vermocht, so würde keine französische Armee den heimischen Boden wieder betreten haben. Fast ein Dritttheil der Mannschaft Napoleon’s war getödtet oder verwundet; 7600 wurden gefangen genommen. Der Rest war völlig entmuthigt. Die Armee Wellington’s erbeutete 122, die Preußen in Planchenois 60, später in Genappe noch 80 Kanonen; die reichen Vorräthe ungerechnet. Aber der Sieg wurde auch theuer bezahlt. Wellington verlor an 13,000 Mann, worunter gegen 3000 Deutsche. Der harte Entscheidungskampf der Preußen um Planchenois kostete über 6000 Mann, während Zieten auch noch gegen 700 verlor.

Es waren aber die Opfer des Preises werth. In unaufhaltsamem Marsch ging es jetzt nach Paris, das nach elf Tagen capitulirte. Unser Vaterland war damit von der neuen Gefahr befreit, die sich so drohend erhob. Freilich sind dann auch bei dem zweiten Pariser Frieden die deutschen Angelegenheiten nicht im nationalen Sinne vertreten worden, und demnach ist auch der Erfolg [137] des ruhmreichen Feldzuges für uns Deutsche nicht so groß gewesen, wie wir hätten erwarten können. Aber diese Ungunst der politischen Verhältnisse darf uns nicht hindern, stets und immerdar den Tag bei Belle Alliance, wie wir Deutschen nach dem Vorschlage unseres Marschall Vorwärts die Schlacht vom 18. Juni 1815 fortan nennen wollen, als einen der glänzendsten in der Reihe der deutschen Siegestage zu betrachten.

Durch deutsche Kraft und Unerschrockenheit wurde die Schlacht entschieden. Ohne sie wäre Wellington mit seinem tapfern Heere, das auch noch zum größten Theile aus Deutschen bestand, unrettbar vernichtet worden. Wenn sich trotzdem die Engländer in bekannter Selbstüberhebung die ganze Ehre des Tages oft und wiederholt angemaßt haben, so konnte das nur geschehen, weil sie wohl wußten, daß unsere Federn leider oft genug mehr der philosophischen Speculation als der Vertheidigung der wohlerworbenen Ehren unserer Nation gewidmet sind.

Unserem Volke aber, dem dadurch eins seiner größten Güter geschmälert ist, gereicht das zur Schande. Denn die Ehren der Nation sind ihr Ruhm, und fest bewußt müssen wir für beide einstehen. – Die wahrscheinlichen Fanfaren der Engländer bei der demnächstigen Jubelfeier der Schlacht auf ihr richtiges Niveau herabzustimmen, – das war der Hauptzweck unsers Artikels.




Garnison- und Paradebilder.
Nr. 5. Die Besichtigung auf der Landstraße.
(Schluß.)

Der Oberst fuhr bei dem heitern Gesang herum, als sei unerwartet hinter seinem Rücken eine Bombe geplatzt, und stand dem Fähnrich der Batterie gegenüber, der mit leuchtenden Augen furchtlos in das finstere Antlitz seines gewaltthätigen Chefs blickte, während ein Zug von schalkhafter Keckheit um seinen Mund spielte.

Der Fähnrich war noch sehr jung. Sein Gesicht strahlte von Gesundheit und Frische, und mit den blauen vertrauungsvollen Kinderaugen schaute er so unbekümmert in das Leben hinein, als sei er gegen jedes Unglück gefeit. Er war in einer ewigen Mazurek-Laune und hatte im gutmüthigsten Uebermuth einen wahren Heißhunger nach lustigen Schwänken und allerhand Unfug, womit er fast täglich gegen die Disciplin und die eisernen Gesetze der Subordination verstieß. Die kecksten Ungehörigkeiten, die jedem Andern die bitterste Verantwortung eingetragen hätten, durfte er ungestraft ausüben, sie wurden seiner Jugend, seinem übersprudelnden Lebensmuthe, seinem hellen Kopfe und den vielen hervortretenden soldatischen Eigenschaften zu gut gehalten, die sich schon in seiner gewinnenden Aeußerlichkeit aussprachen.

Der Oberst war ihm fast mit väterlicher Zärtlichkeit zugethan, und aus diesem Gefühl entsprang auch das sichtbare Bestreben, sein Aeußeres zur Ruhe zu zwingen, als er bemerkte, daß es der Fähnrich war, der die Verse recitirt hatte, durch die sein Straf-Sermon auf eine so ungewöhnliche Art unterbrochen wurde.

In tiefem Schweigen stand er einige Augenblicke dem jungen Mann gegenüber, der lächelnd in das zornfunkelnde Auge des beleidigten Officiers schaute, auf dessen Stirn eine schwarze Wetterwolke lagerte, die ihre Blitze in jedem Moment auf sein Haupt entladen konnte.

„Dem verzogenen Kinde gebührt die Ruthe,“ ließ der Oberst sich endlich mit mehr Zurückhaltung vernehmen, als nach dem Geschehenen zu erwarten war, und als er bemerkte, daß bei dieser Aeußerung ein Blitz der Entrüstung aus dem Auge des Fähnrichs schoß, setzte er mit gesteigertem Affect hinzu: „ja, die Ruthe, so habe ich gesagt, Herr Naseweis. Wenn ich Sie nicht für ein halbes Kind hielte, so müßte ich ein Kriegsgericht über Ihr Benehmen aburtheilen lassen, dessen Spruch Ihnen die Carriere zum General-Feldmarschall denn doch leicht verschließen könnte.“

In dem Gesichte des Obersten leuchtete bei dieser Auslassung die Gutmüthigkeit seiner innersten Natur wieder auf, und ein Zug von Laune legte sich um seinen Mund, als er fragte: „Was veranlaßte Sie denn eigentlich zu der Tollhäuslerei, mich auf eine so unverschämte Weise zu unterbrechen?“

„Ich wollte Ihren Zorn, Herr Oberst, von dem armen Unterofficiere ableiten,“ erwiderte der Fähnrich mit einem Freimuthe, wie ihn eben nur ein verzogenes Kind äußern darf. „Und fürchteten Sie denn nicht, diesen meinen Zorn auf Ihren eigenen kleinen Tollkopf hinabzuziehen?“ fragte der Oberst sehr ruhig.

„Ich fürchte und erwäge nicht erst lange, wenn es sich darum handelt, einem alten Soldaten aus der Patsche zu helfen,“ entgegnete der Fähnrich mit aufblitzenden Augen.

„Wahrhaftig, man kann dem Blitzjungen nicht böse sein,“ sagte der Alte fast freundlich. „Es steckt eine ehrliche Soldatennatur in dem knirpsigen Millionenhund, die sich giebt, wie sie gerade ist, und solchen Charakteren kann man schon einige Excentricität nachsehen.“

Sich nach dem Capitain zurückwendend fragte er: „Wie sind Sie denn mit der dienstlichen Führung des Windbeutels zufrieden?“

„Der Fähnrich ist ein tüchtiger Soldat und führt seinen Zug zu meiner vollen Zufriedenheit,“ entgegnete der Capitain mit absichtlicher Kürze.

„Na, das höre ich gern,“ sagte der Oberst, „es soll mich freuen, wenn ich bei Besichtigung des zweiten Zuges keinen Tadel aussprechen darf.“

Er wandte sich nach der Haubitze zurück und gab den Befehl, die Contrebande, wie er die in dem Geschütz aufgefundenen Gegenstände nannte, vor die Batterie zu bringen, und dort in die beiden Geleise des Weges zu legen, so daß die Räder der Fahrzeuge, wenn die Batterie ihren Marsch fortsetzte, nothwendigerweise darüber hinweggehen mußten. Gegen den Geschützführer verfügte er eine dreitägige Arreststrafe.

Hierauf ging er zur Besichtigung des zweiten Zuges über, den der Fähnrich führte. Der alte Herr revidirte mit einer peinlichen Genauigkeit, konnte aber nichts finden, was zu einem erheblichen Tadel Veranlassung gegeben hätte. Sogar die Kanonenrohre, die auf den Märschen das Magazin für die langen Pfeifen, Reitpeitschen, Spazierstöcke etc. abgaben, waren leer, was sich erklärte, wenn man beobachtet hatte, daß der Fähnrich diese Gegenstände während der Inspektion des ersten Zuges hinter dem Rücken des Obersten aus den beiden Röhren fortzuschaffen und in das hohe Gras des Chausseegrabens zu verbergen wußte.

„Eine solche Promptitude hätte ich dem leichtfüßigen Windbeutel kaum zugetraut,“ sagte der Oberst, und aus seinem Antlitz wichen die Wolken, die es bisher umzogen, während es dem Fähnrich kaum gelang, den lauten Ausbruch des Humors zu unterdrücken, der aus seinen Augen zuckte.

Der Oberst öffnete zuletzt einen Laffettenkasten, der eine Anzahl kleiner Gegenstände enthielt, die zur Ausrüstung des Geschützes gehörten. Auch hier herrschte musterhafte Ordnung, und jedes Ding lag an seiner Stelle.

Aber was war denn das? In dem Cartouchetornister, der reglementsmäßig seinen Platz im Laffettenkasten hatte, lag ein sorgfältig in Stroh gewickelter Gegenstand. Der Oberst bemächtigte sich desselben, beseitigte die Umhüllung, und aus einer wohl versiegelten Flasche blinkte ihm verlockend eine hellbraune Flüssigkeit entgegen.

„Himmel-Donnerwetter, das ist ja ein achtbares Getränk! eine wahre Gottesgabe!“ rief er mit komischer Emphase.

„Mein Frühstückswein, Herr Oberst,“ unterbrach ihn der Fähnrich mit großer Ruhe.

„Ei, ei! Ihr Frühstückswein! Es ist doch spaßhaft: während sein Brigadier sich mit einem Cognac begnügt, trinkt solch’ knirpsiger Millionenhund von Fähnrich Wein wie Wasser. Ich sollte meinen, Herr Leichtfuß, auf dem Marsche thut es wohl auch ein Schnaps.“

„Zu befehlen, Herr Oberst; aber um sich einen Schnaps kaufen zu können, muß man Geld haben.“

„Geld! nun ja, einige Groschen. Kostet denn aber der Wein kein Geld? Macht man sich vielleicht ein Vergnügen daraus, denselben den preußischen Fähnrichen als Tribut hochachtungsvoller Ergebenheit unentgeltlich darzureichen?“

„Das gerade nicht,“ antwortete der Fähnrich, „aber man darf sich nicht geniren, seinen Bedarf an Wein auf Credit zu entnehmen, während es den Stand doch tief heruntersetzen würde, wenn man einen Schnaps pumpen wollte. Nein, Herr Oberst, das geht wahrhaftig nicht.

[138]

„„Der Soldat muß sich können fühlen.
Wer’s nicht edel und nobel treibt,
lieber weit von dem Handwerk bleibt.““

Meinem Grade bin ich Rücksichten schuldig, die ich niemals aus dem Auge verlieren darf.“

„Seinem Grade! Ha, ha, ha!“ lachte der Oberst aus voller Brust, und sich dem Capitain zukehrend, setzte er hinzu: „Was der wohl für eine Vorstellung von seiner hohen Würde haben mag! Na, ich will es gerade nicht tadeln. Ein gewisses Selbstbewußtsein ziert und hebt den Mann, nur muß es nicht in Hochmuth und persönliche Aufgeblasenheit ausarten.“

Sich nach diesen Worten dem Fähnrich zuwendend, fragte er mit komischem Augenzwinkern: „Aber giebt es denn wohl in der ganzen Welt irgend einen Weinwirth, der leichtsinnig genug wäre, einem Fähnrich auch nur einen Schoppen auf Borg zu geben?“

„Der Herr Oberst dürfen überzeugt sein,“ entgegnete der junge Mann mit komischer Gravität, „daß es in einer anständigen Garnison keine noble Weinkneipe giebt, die einem Fähnrich nicht gern unbeschränkten Credit gewährt.“

„So, so!“ meinte der Oberst, während ein leichter Anflug von Humor um seinen Mund spielte, „nun kann ich es mir auch erklären, warum das Schuldenmachen im Officiercorps epidemisch ist und den alten General als letzte Leidenschaft noch in den Ruhestand begleitet. Ja, ja! jung gewohnt ist alt gethan. Überbezahlt ihr leichtsinnigen Millionenhunde solche Schulden auch rechtzeitig?“

„Gewiß, Herr Oberst,“ erwiderte der Fähnrich sehr ernsthaft, während ein leichter Farbenwechsel sich in seinem Gesichte zeigte. „Das sind ja Ehrenschulden, zu deren Tilgung man gern den letzten Heller aufbietet.“

„Na, das möchte ich den jungen Herren meiner Brigade auch anrathen!“ sagte der Oberst mit fast drohender Stimme. „Ich habe nichts dagegen, wenn der Soldat zur Zeit einen tüchtigen Hieb nimmt; das hält Leib und Seele zusammen und gehört zum Stande, wie das Pulver zur Kanone, aber was man genießt, muß auch bezahlt werden. Wer Schuldverbindlichkeiten eingeht, die er nicht lösen kann, ist ein ganz gemeiner Betrüger. Ein solches Subject müßte mit dem Staupbesen aus der Armee fortgewiesen werden. Merken Sie sich das, junger Mann, für das ganze künftige Leben. Uebrigens ist es unverzeihlich, daß Sie sich schon so früh an ein so starkes Getränk gewöhnen, wie der Madeira ist.“

„Madeira?“ fragte der Fähnrich mit einer Stimme, die Erstaunen und Verwunderung ausdrückte.

„Nun ja! Was giebt es denn dabei zu verwundern?“ entgegnen der Oberst, und indem er ihm die Etiquette der Flasche vor die Augen hielt, fragte er: „Ist dies denn etwa nicht Madeira?“

„Alter Dry-Madeira“ buchstabirte der Fähnrich mit langsamer Betonung. „Ja wahrhaftig, es ist Madeira. Da hat mein Bursche wieder einmal einen dummen Streich gemacht.“

„Ihr Bursche?“

„Zu befehlen, Herr Oberst, mein Bursche hat das versehen.

Ich schickte den einfältigen Menschen kurz vor dem Abmarsch der Batterie nach der Weinhandlüng, aus der ich meinen kleinen Bedarf zu beziehen pflege, mit dem Auftrage, eine Flasche Rheinwein zu holen, er scheint aber Madeira gefordert zu haben, einen Wein, von dem ich leider keinen Tropfen trinken darf, weil mir der Stabsarzt alle schweren, leicht ins Blut gehenden Spirituosen untersagt hat.“

„Was sind das wieder für Flausen? Was soll diese Flunkerei bedeuten?“ fragte der Oberst und musterte das Gesicht des Fähnrichs, in dem sich aber nichts entdecken ließ, als der Groll, den er über die Verwechselung der Weinsorten zu empfinden schien.

Das Gesicht in die traurigsten Falten legend, sagte er: „Da habe ich nun das abscheuliche Getränk, von dem ich keinen Tropfen genießen darf, auf dem Halse und weiß wahrlich nicht, was ich damit beginnen soll.“

„Nun, nun,“ beschwichtigte ihn der Alte, „abscheulich dürfen Sie diesen Wein nicht nennen; für den, der ihn vertragen kann, ist es eine wahre Gabe Gottes.“

„Dürfte ich es denn vielleicht wagen,“ fragte der Fähnrich mit halblauter und auffallend unsicherer Stimme, „dem Herrn Oberst die Flasche …“

Er stockte und wagte es nicht, den Satz zu vollenden.

„Also darauf läuft die Flunkerei hinaus?“ rief der Oberst lachend und blickte fast mit Zärtlichkeit auf den jungen Mann hinab. „Sie wollen, daß ich den Madeira annehmen soll, um mir Ersatz zu schaffen für den Cognac, den ich meinem alten Kriegscameraden, dem Feuerwerker, gegeben habe? Na, es ist gut gemeint, wenn es auch etwas dreist und ungewöhnlich, und darum will ich die Flasche nicht zurückweisen, um nach beendigter Inspection mit den Herren Officieren zum Abschiede wenigstens ein Glas auf das Wohl des Königs trinken zu können. Vielleicht erlaubt es Ihnen der Arzt bei dieser außerordentlichen Gelegenheit einen Tropfen mitzutrinken,“ schloß er seine Rede und wandte sich mit der Flasche unter dem Arm nach der Batterie zurück, um die Besichtigung fortzusetzen.

Die Inspection des dritten und vierten Zuges fand ganz in der bereits geschilderten Art statt. Der Oberst beschränkte sich darauf, die Geschützrohre zu untersuchen, und entdeckte auch hier verbotene Gegenstände in Hülle und Fülle, die er ohne Ausnahme in das Geleise des Weges legen hieß, um später die Räder der Batterie darüber hinweggehen zu lassen.

Am letzten Geschütz fand die Revision in der würdigsten Weise ihren Abschluß. Dem Rohre entwand sich nämlich unter vielen andern Gegenständen eine schmale, lange Pappenschachtel, die sorgfältig mit Bindfaden umschnürt war. Der Oberst zerriß ohne weiteres Bedenken den Bindfaden, öffnete den Deckel, und ein künstliches Machwerk von Tüll, Garn, Blumen und Bändern blickte ihm entgegen. Fast zaghaft, wie nach einem ekelhaften Gegenstände, faßte er mit zwei Fingern nach dem Ende eines Bandes und hob daran ein monströses Gebäude von Haube hervor, die sich an dem Bande kokett im Winde schaukelte.

„Millionen-Donnerwetter, eine Dormeuse!“ rief der Alte und streckte den Arm weit von sich, als fürchtete er, daß die Berührung der Haube ihn verunreinigen könnte.

„Unterofficier, wie kommt das abscheuliche Ding in das Rohr?“ fragte er den betreffenden Geschützführer.

„Ich weiß es nicht,“ stotterte der lange, dürre Mensch, dessen bleiches Gesicht von Dummheit und Beschränktheit strahlte.

„Sie wissen es nicht, Herr Schafskopf? Ja, das konnte ich mir schon denken,“ schrie der Alte, und indem er mit der linken Hand dem Unterofficier den Tschako vom Kopfe schlug, setzte er ihm schnell die Haube auf, die sich wie ein elastisches Spinngewebe fest um das bebartete Antlitz des Soldaten schloß.

„Die Dormeuse kleidet den dummen Millionenhund, als wär’ sie eigens für seinen Kürbiskopf gemacht,“ sagte der Oberst und stimmte in das Gelächter ein, welches dieser Auftritt in der Batterie veranlaßte.

„Was, meine Paradehaube uf sonnen dämlichen Kappralskopp!“ ließ sich plötzlich eine krähende Stimme vernehmen, und gleichzeitig langte eine magere braune Hand nach dem Haupte des Unterofficiers hinauf und zog ihm mit einem raschen Griff das leichte Gewebe von der in Angstschweiß gebadeten Stirn.

„Sich da, Mamsell Pretiosa!“ rief der Alte überrascht aus und trat unwillkürlich vor einer kleinen vertrockneten Frauengestalt einen Schritt zurück.

„Jawohl, Mamsell Pretiosa, Ihnen zu dienen, Herr Oberst,“ sprudelte dieselbe hastig heraus und starrte den Alten aus großen schwarzen Augen so giftig an, wie eine Natter, die man getreten hat.

Die Dame, welche so unerwartet handelnd in die Scene eingriff, war die Marketenderin der Batterie, ein altes Inventarienstück, das unter dem Namen Mamsell Pretiosa in der ganzen Brigade bekannt war. Sie war eigentlich eine preußische Eroberung. Nach der Schlacht bei Dennewitz war sie nämlich mit einem Trupp gefangener Franzosen in die Hände der Preußen gefallen und hatte sich ihnen freiwillig angeschlossen, obgleich sie damals kaum zwanzig Jahre zählte. Sie wollte eine Waise sein und von ihrer Geburt und Abstammung keine Kenntniß haben. Sie sprach aber schon damals geläufig deutsch, was zu der Vermuthung führte, daß sie von deutschen Eltern abstammte. Die Freiheitskriege hatte sie als Marketenderin bei einer Jäger-Abtheilung mitgemacht, nach dem zweiten Pariser Frieden sich aber der siebenten Artillerie-Brigade attachirt, der sie seit jener Zeit fast ausschließlich angehörte. Von dem Oberst wurde sie ganz besonders protegirt, weil sie einen höchst vorzüglichen Cognac führte und mit seltener Treue an der ihm untergebenen Brigade hing. Sie erwiderte die Neigung des Alten und war eine enthusiastische Verehrerin desselben, wenn auch in diesem Augenblick aus ihren Augen tausend Blitze wie eben so viele vergiftete Pfeile auf ihn niederschossen.

[139] „So, also dies leichte Häubchen,“ prustete sie heraus, „das ich mir für mein sauer erworbenes Geld angeschafft habe, um bei dem Einzuge in Paris anständig erscheinen zu können, dürfen die sechs Pferde, die an das leichte Kanon gespannt sind, nicht einmal mitziehen? Ne jo nich! Dat wird den lieben Thierchens zu schwer, danach könnten sie dämpfig werden, das muß sie herunterbringen, wenn auch für die gefräßigen Beester von den armen Jungens gestohlen wird, daß kein Halm im Felde und kein Korn in der Scheune vor ihren Griffen mehr sicher ist.“

„Halt sie den Rand, alte Meerkatze,“ unterbrach sie der Oberst mit donnernder Stimme, „oder ich lasse ihr das Schandmaul mit einem Borstwische zustopfen. Geb’ sie die Dormeuse heraus, die muß in das Geleise zu den andern Sachen der Contrebande. Ich gestatte keine Ausnahme.“

„Was, — wie nennen Sie meine ehrsame Haube?“ krähte die erboste Marketenderin dem Alten entgegen. „Ne, hören Sie mal, wenn ich sone dicken Epuleppen auf den Schultern und sonen gewaltigen Federhut auf dem Kopp drüge, so würde ich mich schämen, sonen dummen Ausdruck zu brauchen. Ne, das paßt sich ganz und gar nicht für einen Brigadier von die schwere Artollerie.“ Und während sie die linke Hand auf die Hüfte stemmte und mit der rechten die Haube triumphirend um ihr Haupt schwang, setzte sie hinzu: „Also eine alte Meerkatze bin ich, na nu? Aber wenn ich bei Wind und Wetter, im Sturm und Regen der Batterie nachkeuche und der Herr Oberst endlich selbst bei meiner Cognacflasche Erquickung sucht, ja dann bin ich die scharmante, liebe Mamsell Pretiosa, die den Hosenknopporden haben soll und die in solchem Augenblicke die liebenswürdigste Person in der ganzen Welt ist. O, wenn ich man reden wollte, ich könnte von einer Zeit erzählen, wo manches stolze Auge gar wunderlich unter dem Federhute auf die Meerkatze herabblickte und …“

„Um Gotteswillen, keine Enthüllungen aus Ihrer Rosenzeit, Mamsell Pretiosa,“ unterbrach sie der Alte, „dabei könnte uns unwohl werden und ein moralischer Katzenjammer überkommen. Geben Sie die Haube heraus, und wir bleiben gute Freunde.“

„Nun und nimmermehr, Herr Oberst!“ entgegnete die Marketenderin mit großer Entschiedenheit. „Meine Vierthalerhaube unter die Räder! Das wäre noch besser! Ich trage glücklicherweise nicht die Zwangsjacke Ihrer Brigade, Sie haben mir eigentlich gar nichts zu befehlen, und lieber gehe ich mang die Husaren, so lieb mir auch meine schwarzen Jungens sind; ich darf da doch wenigstens auf eine anständige Behandlung rechnen.“

„Was läßt sich mit der alten Hexe anfangen?“ fragte der Oberst den Capitain, der mit einem schadenfrohen Lächeln dem Auftritte beigewohnt hatte. „Die alte Meerkatze ist toll genug, ihre Drohung wahr zu machen, und verlieren möchte ich sie nicht gern; in Zeiten der Noth ist es ein wahrer Edelstein für die Batterie.“

Nach einem kurzen Nachsinnen wandte er sich an die Marketenderin, und seinem Gesichte den freundlichsten Ausdruck gebend, sagte er: „Wir wollen Frieden schließen, Mamsell Pretiosa. Behalten Sie Ihre Haube und holen Sie Ihren Korb heran, ich habe verteufelten Durst.“

Während die Marketenderin mit strahlendem Gesicht wie eine Schlange davonglitt, um den Befehl des Alten möglichst schnell in Ausführung zu bringen, kehrte sich dieser dem Capitain zu und ein wunderlicher Ausdruck, aus Befriedigung und Humor gemischt, ging durch seine Züge, als er sagte: „Ich darf nicht ungerecht sein, Hauptmann v. R., wenn die Paradehaube der Mamsell Pretiosa verschont bleibt, kann ich die übrigen Gegenstände der Contrebande unmöglich der Zerstörung preisgeben. Lassen Sie dieselben durch den Quartiermeister aufnehmen und in dem nächsten Quartier an die Eigenthümer zurückgeben. Ich bitte Sie aber, dafür Sorge zu tragen, daß die Leute dergleichen nicht weiter mitschleppen, denn in einem Feldzuge, wie er uns doch hoffentlich bevorsteht, werden solche Dinge äußerst lästig und behindern und geniren den Mann bei jeder Gelegenheit. Es wird sich schon ein Trödeljude finden, der den windbeutligen Millionenhunden die Sachen abkauft; den Groschen, den sie daraus lösen, mögen sie vertrinken oder auf eine andere Weise verjubeln. Ein kleines Vergnügen ist den Leuten zu gönnen, die Zeit der Noth wird früh genug eintreten. Uebrigens versteht es sich von selbst, daß ich mit Freigebung der Sachen auch die Strafen, welche ich heute dictirte, erlassen habe. Und damit mag diese Angelegenheit vergessen sein.“

Dem Hauptmann die Hand reichend, fügte er hinzu: „Es gereicht mir zur Freude, Ihnen sagen zu können, daß mich die Haltung und Ausrüstung der Batterie in hohem Grade befriedigt hat. Die kleinen Ungehörigkeiten, die ich zu rügen hatte, kommen überall vor und können der guten Meinung, die ich von Ihrer Batterie habe, keinen Abbruch thun. Und nun lassen Sie uns zum Abschiede noch zusammen ein Glas trinken.“

Er reichte die Madeiraflasche, die er bisher beständig unter dem linken Arme getragen hatte, der Marketenderin hin, welche sie schnell entkorkte. Den feurigen Inhalt derselben vertheilte er in fünf große Gläser und bat die Officiere, sich eines solchen zu bemächtigen. Sein Glas hoch emporhebend rief er: „Ich trinke auf das Wohl unseres Kriegsherrn. Seine Majestät der König lebe hoch!“ Während dieser Toast in einem dreimaligen Hurrah der Artilleristen seinen Wiederhall fand, leerte der Oberst sein Glas bis auf den letzten Tropfen. Hierauf griff er salutirend an den Hut und der Batterie gute Quartiere wünschend, bestieg er sein Pferd, sprengte im Galopp davon und war in wenigen Augenblicken den Augen der Artilleristen entschwunden.

Auf den Vorschlag des Fähnrichs wurde die Paradehaube der Marketenderin, weil sie den Erlaß der von dem Brigadier verfügten Strafen veranlaßt hatte, von jetzt ab die „Amnestiemütze“ genannt, und so oft Mamsell Pretiosa ihr würdiges Haupt damit schmückte, wurden der Dame von den Artilleristen diejenigen Ehrenbezeigungen erwiesen, womit die Officiere begrüßt wurden. Sie nahm diese Auszeichnung als ein ihr zustehendes Recht auf, und blieb der Batterie bis an das Ende ihres ereignißreichen Lebens mit unwandelbarer Treue ergeben.




Das Grab eines Verbannten.

Wer jemals aus dem Norden über Bern und Freiburg dem reizenden Vevey, der Perle des Genfer Sees, zutrachtete, bevor sich noch die prachtvolle, Oronbahn mit ihren kühnen Viaducten dem schweizerischen Schienennetze einfügte, der wird sich des alterthümlichen Bergstädtchens noch wohl erinnern, wo der mächtige Koloß des eidgenössischen Postwagens zum letzten Male Rast machte, ehe er in Zickzackwindungen zum Becken des Leman hinabrollte.

Das Oertchen heißt Châtel-St.-Denis. An sich unbedeutend, düster und im Allgemeinen nicht übersauber, hätte es nichts, was den Reisenden fesseln könnte, gäbe es nicht mit seinem alten Schlosse im Westen und den Bergen gen Osten, die sich hinüberziehen in das Saanenthal, das alptriftenreiche, grüne Greyerzer Ländchen, ein gar pittoreskes Landschaftsbild ab. Mehr als durch all dies aber prägt es sich dem Wanderer durch die unbeschreiblich herrliche Rundschau in’s Gedächtniß, die hier dem sich dem Süden entgegensehnenden Auge zum ersten Male aufging und in einen Rausch des Entzückens versetzte. Wenige Minuten nur jenseit des Ortes bot sich der erste Blick auf den lange erwarteten See, welcher, der größte im gesammten Alpengebiete, in seiner östlichen, obern Ausbucht unleugbar zugleich der schönste ist; in der Vereinigung von imposantester Erhabenheit und anmuthvollster Milde von keinem andern übertroffen, weder vom romantischen Vierwaldstätter, noch von dem viel bewunderten Comer See.

Tiefblau liegt er uns dort zu Füßen ausgegossen, links die Alpengipfel von Freiburg und der Waadt, aus welchen die seltsame, drohend überhangende Zinke der Dent de Jaman das weithin sichtbare Wahrzeichen der Gegend, zunächst das Auge fesselt, bis zu den beiden schneebedeckten Hörnern der Dent de Morcle und rhoneaufwärts zum Zuckerhute des Mont Catogne, an dessen Fuße sich im engen Entremontsthale der Pfad zum Hospize der menschenfreundlichen Augustiner des großen St. Bernhard aufschlängelt. Der Catogne schließt gen Morgen das Bild, neben ihm aber lugen die Giganten des untern Wallis hervor; links schimmert der ewig weiße Mont Vélan, rechts, uns fast gegenüber, reckt sich die breit [140] hingelagerte, siebenfach gethürmte Dent du Midi in den klaren Himmel, und an sie reihen sich in hundertfacher Kalkzerklüftung die kecken Contouren der savoyischen Berge, bis gen Westen endlich der einförmigere Halbbogen der niedrigern Jurakette den Horizont begrenzt.

„Schön wie ein Traum!“ so hat Byron ausgerufen, als er, allerdings von anderem Höhenpunkte, drüben vom Jamanpasse, der aus dem Saanenthale in’s Waadtland führt, zuerst den Leman erschaute; aber schön wie ein Traum ist auch, was hier, bei Châtel-St.-Denis, unserm trunkenen Auge erschlossen ist. In mehr als einem Sommer sind wir kreuz und quer in den Alpen umhergestreift, von der Berninagruppe oben im wilden Bündnergebirge bis dahin, wo der Riesendom des Montblanc über dem Hochthale von Prieuré thront; von manchem Kalkgipfel, von mancher Granitkuppe haben wir hinabgeblickt auf die reiche, schöne Schweizer Landschaft und denken mit Wonne und Wehmuth zurück an die Morgen und Abende, die wir in nervenstärkender, herzerquickender Alpenfrische genossen, — allein vorzugsweise bleibt unsere Erinnerung doch immer auf der Hochfläche des kleinen Freiburger Ortes haften, von wo aus sich uns zuerst das Paradies der Lemanufer entrollte und zu dem wir nachmals noch gar oft hinaufgestiegen sind, um uns an der Alpenmajestät und südlichen Farbengluth des Zauberpanoramas neu zu weiden.

Nach diesem Städtlein Châtel-St.-Denis, das der sich weiter westlich zum See hinabwindende Oroneisenweg noch um ein gut Theil stiller gemacht hat, als es schon immer war, wanderten Sonntags am 27. September des vorigen Jahres einige fünfzig deutsche Männer aus dem anderthalb Stunden entfernten Vevey hinauf. Drei Fahnen flatterten dem Zuge voran: die schwarz-roth-goldene, die eidgenössische mit dem weißen Kreuze im Scharlachfelde und die rothe der deutschen Arbeiter mit ihren Inschriften: „Durch Bildung zur Freiheit“ und „Freiheit, Gleichheit und Bruderliebe“. An allen dreien aber hingen Trauerflöre. Denn es galt dem Andenken eines vor wenigen Jahren im fernen Exile aus dem Leben geschiedenen deutschen Patrioten, dem 1859 in unserm obscuren Châtel-St.-Denis verstorbenen Arzte Karl d'Ester. Ihm, dessen Grab bis jetzt nur ein namenloses Holzkreuz bezeichnete, einen Denkstein zu errichten, hatte der deutsche Nationalverein in Vevey vor einigen Monaten einstimmig beschlossen. Dies anspruchslose Mal stand nun fertig, und die Mitglieder jenes und die des deutschen Arbeiterbundes zogen jetzt hinauf zu einem schlichten Weihefeste.

Der Tag war kühl und regnerisch, die Berge und Schneehäupter ringsum bargen streichende Nebelschleier, aus denen nur ab und zu einmal drüben auf den mattenreichen Höhen des linken Veveyseufers eine und die andere braune Sennhütte auf Momente zum Vorschein kam. Dennoch strebte die kleine deutsche Schaar rüstig weiter und sang ihre lieben vaterländischen Lieder tapfer und feierlich in die regengraue Welt hinaus.

Nachdem sich in einem vor dem Städtchen gelegenen Gasthofe neue Festgenossen dem Häuflein angeschlossen hatten, ging es in wohlgeordneten Reihen in den winkeligen Ort hinein, wo auf dem kleinen freien Platze, zu dem sich die Hauptgasse vor der Kirche ausweitet, Halt gemacht wurde.

Trotz des jetzt strömenden Regens hatte sich hier bereits eine große Volksmenge versammelt, welche in ehrfurchtsvoller Stille dem Chore der fremden Männer lauschte, die dann paarweise die Stufen zum engen Friedhofe hinanstiegen, — mit entblößten Häuptern, doch ohne Fahnen und ohne Gesang, denn Beidem hatte die Geistlichkeit den Todtenacker verschlossen. Lautlos und andächtig folgte die Menge. Die Hülle des Monuments fiel, und den Blicken Aller zeigte sich der einfache Steinblock, der, einige Fuß hinter dem blumengeschmückten Grabhügel d'Ester’s, auf der Mauer des Kirchhofs aufgerichtet worden war. Da die Oertlichkeit diesem letztern nur einen sehr beschränkten Raum gestattet, so müssen nämlich die Gräber alle fünfzehn Jahre umgeworfen werden, um den neuen Schläfern Platz zu geben. Und so hatte man vorgezogen, den Denkstein auf die Umfassungsmauer selbst zu setzen, von der aus es hoffentlich noch den späteren Geschlechtern die Stätte künden wird, wo ein edles deutsches Herz — wärmer hat keines je für des Vaterland geschlagen! — nach den bitteren Täuschungen eines schmerzenvollen Lebens in fremder Erde zur Ruhe gebettet worden ist. Der Stein ist schwarzer Marmor aus den Brüchen des zwischen Aigle und Bex mitten in’s Rhonethal und hart an die sogenannte italienische Eisenbahn vorgeschobenen Bergkegels von St. Triphon; rauh, unregelmäßig, nach oben zugespitzt. Ein ausgehauenes, sauber polirtes Oval trägt in goldenen Buchstaben die folgende Inschrift:

Karl d’Ester
Arzt und Parlamentsmitglied
geb. 1811 zu Vallendar, gest. hier im Exil
den 18. Juni 1859.
Dem braven Patrioten
die deutschen Nationalvereinsmitglieder in Vevey
am 21. Sept. 1863.

Nachdem eine deutsche Rede in kurzem Lebensbilde die Verdienste des Verstorbenen zusammengefaßt und eine französische dem anwesenden schweizer Publicum d’Ester’s politische und menschliche Bedeutung klar gemacht hatte, wurde das Denkmal den Bewohnern von Châtel-St.-Denis, in deren Mitte d’Ester während seiner letzten Lebensjahre seine geistige Begabung, seine ärztlichen Kenntnisse und seine Herzensgüte so reichlich bethätigt hatte, als ein heiliges Vermächtniß übergeben. Einer der deutschen Arbeiter hing noch einen frischen Lorbeerkranz auf den Denkstein, und in schweigender Andacht, wie sie eingetreten, verließ die kleine Festschaar den Friedhof, während sich jetzt Gruppen von Einheimischen neugierig an das Monument herandrängten, aus dessen goldenen Lettern sie nur das einzige Wort „d’Ester“ zu enträthseln vermochten. Zwar fehlte das Kreuz auf dem Grabsteine, wie der Curé vorwurfsvoll bemerkt hatte, auch hatte der Heimgegangene ohne Beichte geendet, so daß es erst die nachdrücklichste Verwendung seines Freundes, des wackern Ortspräfecten Perrier, durchsetzte, daß er überhaupt bestattet werden durfte, — allein das Volk erinnerte sich, was es dem menschenfreundlichen, bei Tag und bei Nacht gleich willig zu Rath und Hülfe bereiten, im höchsten Grade uneigennützigen Arzte verdankte.

Inzwischen hatten sich die Feiernden in das Hôtel de Ville begeben. Dort im festlich ausgezierten Saale umrahmte üppiges Epheugeblätter d’Ester’s Bildniß, jenes Portrait mit dem Facsimile der bekannten Worte, welche der Verstorbene einst dem Ministerium Manteuffel in’s Gesicht geschleudert hatte: „Sie lachen, meine Herren; es wird aber die Zeit kommen, wo Sie wahrlich nicht lachen werden.“

Hier im nämlichen Gasthause hatte d’Ester gewohnt, unmittelbar neben dem Gemache, in welchem man heute sein Andenken beging; hier haben wir selbst noch wenige Wochen vor seinem Tode mit ihm zusammengesessen, mit ihm und einem andern deutschen Flüchtlinge, bei der guten alten Wirthin und ihren freundlichen Töchtern. Die wackern Leute haben dem theuern Verbannten viele Freundlichkeit erwiesen und bewahren ihm ein treues Gedächtniß, und wenn Ihr in schönen Herbstmonaten einmal zum Rebeneden des Leman pilgert und d’Ester’s Grab aufsucht auf seiner aussichtreichen Höhe, dann drückt der biedern Familie die Hand und dankt ihr für die Liebe, mit welcher sie dem Verbannten die „finstere Fremde“ zu erheitern bemüht gewesen ist!

Unter Reden und Gesang verstrich der Nachmittag, und manches kernhafte deutsche Wort gedachte des Vaterlandes, gedachte der Männer, die als Märtyrer ihres Patriotismus und ihrer Ueberzeugung im Exile enden mußten. Um fünf Uhr sammelte man sich zum Rückmarsche. Ehe man aber am schwarzweißen Freiburger Grenzpfahl vorüber in die von Grün und Weiß behütete Waadt heimschritt, faßte man noch einmal Posto vor dem Hause des schon erwähnten Präfecten Perrier, um ihm aus voller Brust in Lied und Rede für den kräftigen Schutz zu danken, welchen der Ehrenmann, unbeirrt von allen pfäffischen und aristokratischen Insinuationen, dem vielgehetzten Flüchtlinge hatte angedeihen lassen. Mittlerweile hatte sich der Himmel geklärt. Hell und dunstfrei zog der Mond am Himmel hinauf, und magisch schimmerten in seinem Silberlichte die Bergkuppen und Schneehörner und der glatte Seespiegel unten, als man in ernster Stimmung dem Felsenbette der Veveyse entlang heimwanderte in’s schöne Lemanthal.

So war die einfache Feier gewesen, mit welcher eine kleine Anzahl von Deutschen fern vom Vaterlande den Manen eines der edelsten Freunde ihres Volkes ihre Ehrfurcht an den Tag legen und zeigen wollte, daß ihr auch im wälschen Lande das „treue deutsche Herz“ nicht abhanden gekommen ist. –

[141] D’Ester’s Wirksamkeit in der preußischen Nationalversammlung und seine weitern Schicksale in Deutschland sind bekannt. Es bleibt uns daher nur noch übrig, ein paar Worte über sein Leben in der Schweiz anzufügen. — Waffengewalt hatte im Herbste 1848 die preußische Nationalversammlung gesprengt. D’Ester, der geniale Schöpfer der freisinnigsten preußischen Gemeindeordnung, war einer der Führer ihrer demokratischen Opposition gewesen und schloß sich nun der Bewegung in der Pfalz an, deren provisorische Regierung ihn zum Bureauchef in der Abtheilung des Innern ernannte. Der traurige Ausgang der Pfälzer Erhebung zwang ihn, dem deutschen Vaterlande den Rücken zu kehren.

Wie viele seiner Gesinnungsgenossen, flüchtete er nach der Schweiz und wandte sich mit einigen Freunden über Bern und Thun in den weltentlegenen Winkel des obern Simmenthals hinauf. Dort, wo in erhabenster Alpenscenerie, überragt von den Eismassen des Räzligletschers und den breiten Schneefeldern des kühn ausgezahnten Wildstrubels, das Dorf An der Lenk seine behäbigen Holzhäuser über den wunderlieblichen Wiesgrund streut, dort nahm d’Ester seinen nächsten Aufenthalt. Dazumal waren Ort und Landschaft noch nicht entdeckt von den Touristen, gab es noch keine Fremdenpension, noch kein elegantes Badeetablissement, die heut’ auch dieser Bergabgeschiedenheit eine bunte polyglotte Sommerbevölkerung zuführen; damals, wo noch keine Poststraße den Verkehr des hintern Thales mit den großen Heerwegen der Menschen vermittelte, wo nur der Fußwandrer und der Säumer einsprachen, die auf dem berüchtigten Rawylpasse nach Sitten im Wallis hinabstiegen, damals athmete die Gegend rundum nur ländliche Stille und Alpeneinsamkeit. Sollte hier also nicht auch unser Flüchtling die Ruhe finden können, deren er nach dem fruchtlosen Kämpfen und Ringen für das Vaterland so sehr bedurfte? Nein, sie war ihm nicht beschieden. Neue Seelenerschütterungen warteten seiner. Die Liebe zu einem schönen, gebildeten und wohlhabenden Landmädchen im Nachbardorfe St. Stephan, gegen die sich der gereifte Mann vergeblich wehrte, fand wohl die innigste Erwiderung, bei den Eltern der Geliebten aber den ganzen entschiedenen Widerstand, mit welchem der exclusive Stolz des Schweizer Grundbesitzers dem aus gefesteten Verhältnissen gerissenen Flüchtlinge, dem „unpraktischen Dütschländer“ zumal, seine Abneigung zu bezeigen pflegt. Den Bemühungen des Vaters muß es vornehmlich zugeschrieben werden, daß der Bundesrath, auf Veranlassung Druey’s, der damals dem eidgenössischen Polizeidepartement vorstand, d’Ester aus der Schweiz verwies. Dieser leistete dem Befehle indessen keine Folge.

Karl d’Ester’s Ruhestätte in Châtel-St.-Denis.

„Ich gehe nicht,“ sagte er fest, „man wird mich nicht zwingen!“ Und rasch entschlossen erwarb er sich das Bürgerrecht der Gemeinde Murten, machte das erforderliche medicinische Staatsexamen in Freiburg und ließ sich zu Anfang d. J. 1850 in unserm Grenzörtchen Châtel-St.-Denis nieder. Naturfreund, wie er war, mochte er sich bei der Wahl dieses sonst wenig Hülfsquellen darbietenden Domicils, dem nur der Käsehandel und die rings verstreuten Sägemühlen einige Bedeutung verleihen, zumeist durch die Mannigfaltigkeit der Umgebung haben bestimmen lassen, die zu den interessantesten Alpenstreifereien Anlaß giebt, wohl auch durch die Nachbarschaft des geistig sehr regsamen Waadtlands.

Mit dem vollen Feuer seines thatkräftigen Charakters widmete er sich von Neuem den Pflichten des lange nicht geübten Berufes. Unverdrossen und unermüdlich wanderte er, von seinem treuen Spitz begleitet, der ihn überlebt und uns noch gar manches Mal grüßend angebellt hat, wenn wir im Hôtel de Ville zu Châtel einsprachen, zu Fuße Stunden weit nach [142] den rings verstreuten Alpendörfern, nach den einzelnen dürftigen Holzhütten, die oft nur dem schwindelfreien Bergsteiger zugänglich sind, und überall war er bald der willkommene Hausfreund, der Hülfe bringende Arzt nicht blos, sondern der selbstlos spendende Wohlthäter der Armen. Wir selbst könnten Manchen nennen, dem er das Leben gerettet hat, wollen aber hier nur ausdrücklich erwähnen, daß der in Vevey lebende Künstler, der talentvolle Landschafter Prévost, dessen Freundlichkeit uns das Bild von d’Ester’s Grabsteine zeichnete, allein der Geschicklichkeit des deutschen Flüchtlings die Erhaltung des Augenlichtes verdankt. Die seltenen Stunden der Erholung, die er sich gönnte, pflegte er in der Regel in einem kleinen Freundeskreise unten in Vevey zuzubringen. Dort, im Hauptquartiere der Deutschen, im traulichen Wirthshause zur Post, bei dem braven Willy’schen Ehepaare, war’s uns immer ein Fest, wenn d’Ester erschien. Auch seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse suchte er zum Nutzen seiner Mitmenschen zu verwerthen. So entdeckte er in Wallis ausgiebige Marmor- und Kalksteinbrüche, deren Abbau ihn hätte bereichern können. Uneigennützig überließ er Andern die Ausbeutung der Werke.

Unterdessen war der bundesräthliche Erlaß, der d’Ester aus der Schweiz auswies, auch nach Freiburg gelangt. Der Präfect von Châtel-St.-Denis war jedoch d’Ester’s warmer Freund geworden. Nachdrücklich trat derselbe für ihn bei der Freiburger Regierung in die Schranken und erwirkte die Rücknahme des Beschlusses.

Die endlosen Aufregungen, die großen Strapazen, denen er sich, nicht Wind noch Wetter scheuend, Tag für Tag aussetzte, die wenige Pflege, die er seinem schon seit längerer Zeit siechenden Körper gönnte, warfen ihn endlich auf das Krankenbett, von welchem er nicht wieder erstand. Nach wenigen Wochen schon entschlief er, am 18. Juni 1859, umgeben von Fremden, deren Freundschaft ihm sein liebenswürdiger Charakter gewonnen hatte.

Vermögen hat er nicht hinterlassen; das Buch, in welches er seine ärztlichen Forderungen einzutragen pflegte, verbrannte er, als er sich über das Herannahen des Todes nicht mehr täuschen konnte. Menschenliebe, Uneigennützigkeit und Opferfreudigkeit waren die Hauptcharakterzüge des verfehmten „Demagogen“, den, mit vielen der besten Söhne des Vaterlandes, eine freiheitmordende Reaction hinausgestoßen hatte in’s „Elend“.




Aus den Landen des verlassenen Bruderstammes.

2. Von Rendsburg nach Schleswig.

Der Bahnzug flog an den Werken der deutschen Bundesfestung Rendsburg vorüber und stand an der in der Stadt befindlichen Haltestelle still. Wir stiegen aus, um uns zu erkundigen, ob es möglich sei, auf der Eisenbahn nach Schleswig zu gelangen. Es war unmöglich. Die dänischen Truppen hatten auf ihrem eiligen Rückzüge nach Schleswig die Eisenbahn an mehreren Stellen zerstört, die Schienen aufgerissen und eine Brücke gesprengt. Alle Straßen waren mit deutschen und schleswig-holsteinischen Fahnen geschmückt. „Was meinen Sie,“ sagte einer meiner Begleiter, Hauptmann von Zeschka, „wenn wir erst nach dem Kronwerk gingen, um den Hardesvogt Blaunfeldt zu sehen?“

„Blaunfeldt; ich meinte, er wäre standrechtlich von den preußischen Truppen erschossen?“

„Noch nicht, aber es wird wohl sein Ende sein. Zwischen zwei Uhlanen an die Steigbügel gebunden, wurde er aus Fleckebye eingebracht. Seinen Sohn brachten die Preußen gefesselt auf einem Wagen nach Kiel. Er soll den Dänen als Spion gedient haben.“

Wir gingen nach dem Kronwerk. Erst vor vierzehn Tagen war ich hier. Das Kronwerk war nun endlich geräumt. An der Schleußenbrücke standen noch die beiden sächsischen Posten, welche ich vor vierzehn Tagen an derselben Stelle gesehen hatte. An der andern Seite hielten nun zwei preußische Füsiliere der Garde Wacht. Wir gingen über die Brücke. „Nicht wahr,“ rief Hauptmann von Zeschka lachend, „Ihr seid die Execution, und Ihr da die Occupation?“

„Ja,“ riefen die Soldaten ebenfalls lachend, „wir sind die Execution und wir die Occupation.“

Die dänische Wache im Zollhaus auf der andern Seite war jetzt von Füsilieren der preußischen Garde besetzt. In der Wache saß Blaunfeldt, der verhaßte Hardesvogt aus Fleckebye, ein schleswigscher Renegat. Wir riefen den Unterofficier heraus und verlangten Blaunfeldt zu sehen. „Gehen Sie nur um die Wache herum an das Fenster, meine Herren,“ sagte der Unterofficier, „da werden Sie ihn sehen.“

Wir begaben uns an die andere Seite der Wache. Ein großes Fenster ging nach der Eider hinaus. Wir blickten durch dasselbe. Wirklich, da saß der Hardesvogt, noch in seiner Uniform, blauem Frack mit goldgesticktem Kragen und goldgestickten Patten auf den Taschen, auf einer kleinen Bank, den halbkahlen Kopf uns zugewandt. Neben ihm war ein Strohlager befindlich. Um ihn standen vier preußische Gardefüsiliere, die geladenen Gewehre mit dem aufgesteckten Bajonett in der Hand. Der Unterofficier stand in der nach dem Flur gehenden offenen Thüre. Ich klopfte an das Fenster. Ein heimtückisches Gesicht mit gläsernen, wasserblauen Augen und mit einem wie irrsinnigen Lächeln blickte mich an. Schon drei Tage saß er auf dieser Bank, den standrechtlichen Spruch und seinen Tod erwartend. Es war ein schreckliches Ende, welches der durch die Brüche, die er den armen Bauern nun während elf Jahren abgepreßt, reichgewordene Mann wohl nicht erwartet hatte.

Meine Begleiter eilten weg, um einen Wagen zu bekommen, der uns nach Schleswig führen sollte; ich blieb noch vor der Thür der Wache stehen. „Jetzt will ich Euch erzählen, Landsleute, wer Euer Gefangener ist,“ sagte ich als mich die Soldaten fragend ansahen. „Der Hardesvogt Blaunfeldt war ein verdorbener Advocat in Schleswig. Er wurde wegen Meineides zur Untersuchung gezogen und entging der Strafe nur durch einen Zufall. Jetzt ging er zu den Dänen über und wurde Redacteur der Flensburger Zeitung, eines dänischen Schmutzblattes, mit 1000 Thalern Gehalt. Die Einnahme war ihm nicht groß genug; er wußte sich in Kopenhagen ein Rescript zu erschleichen, welches ihm die erste gute Hardesvogteistelle im Lande zusicherte. In Folge dieses Rescripts erhielt er dann zwei Hardesvogteistellen auf einmal. Blaunfeldt wirthschaftete aber in seinen beiden Aemtern in einer Weise, daß selbst Graf Karl Moltke, obschon er sonst den Grundsatz aussprach, es käme ihm bei den dänischen Beamten gar nicht auf die Moral an, sondern nur auf die dänische Gesinnung, auf den Gedanken fiel, ihn abzusetzen. Da producirte derselbe das erwähnte Rescript. Er blieb jedoch nur Hardesvogt in Fleckebye; wegen der zweiten Hardesvogtstelle wurde mit ihm ein Abkommen getroffen. Er trat sie freiwillig ab, aber nur erst dann, als er eine bedeutende Summe als Entschädigung erhalten hatte.“

„Ja,“ sprach der Unterofficier, „er ist ein sehr schlechter Kerl. Das sagt uns Jedermann in Rendsburg.“

„Nun,“ fuhr ich fort, „wirthschaftete Blaunfeldt in Fleckebye weiter. Im ganzen Lande wurde er durch seine Sportelsucht berüchtigt. Er ist ein reicher Mann geworden. Mancher Bauer hat seinen in Blaunfeldt’s Harde (Bezirk) belegenen Grundbesitz zu einem Spottpreise verkauft, um nur von den unerträglichen und gar nicht mehr zu bezahlenden Geldstrafen loszukommen. Wenn ohne seine Erlaubniß in seiner Harde getanzt wurde, so nahm er häufig nicht den Wirth, sondern die Tänzer in Strafe, weil er auf diese Weise größere Summen herausschlug. Hatte er die Strafen publicirt, so fragte er die davon Betroffenen, ob sie nicht appelliren wollten. Bejahten sie die Frage, so sagte er: „Ihr könnt das sehr bequem haben, da nebenan sitzt Jemand, der die Appellation zu Protokoll nimmt,“ Der „da nebenan in der Stube“ war sein eigener Sohn, welcher bei ihm als Schreiber fungirte. Derselbe nahm die Appellation dann zu Protokoll und überreichte sie seinem Vater zur Abweisung. Durch die auf diese Weise verursachten neuen Kosten stiegen die Strafgelder gewöhnlich auf die doppelte Höhe.“

„Da ist wohl der Spion, den wir nach Kiel eingebracht haben, sein Sohn?“ rief einer von den Füsilieren.

„Derselbe. — Vor einigen Jahren fand in der Harde des Blaunfeldt eine große Hochzeit statt: Es waren über hundert Personen geladen. Blaunfeldt citirte zuerst die jungen Eheleute. Er verurtheilte Jedes von ihnen in eine Strafe von zwanzig Thalern auf Grund einer uralten, Niemandem bekannten Verordnung, weil die Hochzeit zu lange gewährt habe. Dann verurtheilte er sämmtliche Hochzeitsgäste, Jeden in eine Strafe von zwanzig bis vierzig Thalern, je nach ihrem Stande und Vermögen. So ist Blaunfeldt ein reicher Mann geworden. – Nun wißt Ihr,“ rief ich, „wer Blaunfeldt ist. Also laßt ihn nicht laufen.“

„Nun, wenn wir ihn laufen ließen,“ riefen die Soldaten, „die Rendsburger würden es gewiß nicht thun, die sind wüthend auf ihn.“

Ich ging meinen Freunden nach, welche schon weit voraus waren. Ein Wagen mit verwundeten Oesterreichern kam mir entgegen. Die Armen lagen in Decken eingewickelt auf dem Wagen. Eine Plane war darüber gespannt, um sie vor dem Winde zu schützen. Sie waren nur leicht verwundet, wie mir der Kutscher sagte. Bei dem ersten Hofe erreichte ich die Freunde wieder. Einer meiner Reisegefährten unterhandelte mit dem Besitzer, den er persönlich kannte, um einen Wagen. Nicht möglich. Alle Wagen aus dem Dorfe waren auf Kriegsfuhren unterwegs. Wir marschirten also zu Fuß auf der nach Schleswig führenden Straße weiter. Wagen auf Wagen kamen uns entgegen. Das ganze Land schien hier unterwegs zu sein, da die Eisenbahn nicht fahrbar war. Schon machten wir uns darauf gefaßt, die drei Meilen nach Schleswig zu Fuße zu gehen. Da hielt vor uns ein Wagen, auf dem nur zwei Personen saßen, der Eigenthümer desselben und sein Kutscher. Es war einer von jenen nichts weniger als bequemen holsteinischen Wagen, auf denen ich vor drittehalb Jahren, als ich die politischen Zustände in Schleswig untersuchte, so vielfach das Land durchstreift hatte. Offen, hochrädrig, sind auf dem Korbe, in Lederriemen hängend, zwei, zuweilen drei Bänke befestigt. „Guten Tag,“ rief der Besitzer des Wagens mir entgegen, „wollen Sie nach Schleswig?“

Es war der mir bekannte Eigenthümer einer kleinen Landstelle in der Nähe von Itzehoe, der mit seinem Wagen nach Hause zurückkehrte, mit dem er ebenfalls auf Kriegsfuhre gewesen. Bereitwillig stellte er uns sein Gefährt zur Verfügung.

Wir kletterten sämmtlich auf den hohen Wagen. Der brave Andersen, [143] – so hieß der Besitzer desselben, – stieg ab, und gab uns seinen Knecht mit, um den Wagen zurückzufahren. Auf der Straße nach Schleswig fuhren wir weiter. Es war dieselbe Straße, welche die österreichischen Truppen vor einigen Tagen marschirt waren, um die Schanzen am Danewerk zu nehmen, augenblicklich die interessanteste Straße in ganz Europa. Im Trabe ging es nun vorwärts durch die holsteinischen Dörfer, welche die Dänen noch vor Kurzem besetzt hatten und, unter dem Titel von Requisitionen, in maßloser Weise ausplünderten. Soldaten aller Waffengattungen kamen uns entgegen, Oesterreicher und Preußen, ungarische Husaren, österreichische Infanteristen, preußische Kürassiere und Uhlanen, dann Wagen mit Heu und Stroh und mit Fleischvorräthen und Brod beladen. Dazwischen sahen wir Wagen mit Bürgern aus Rendsburg, die, um die Brüder in Schleswig zu besuchen, über die Sorge fuhren. Alles war auf den Beinen; dies war um so natürlicher, da während der letzten acht Tage der Uebergang über die schleswigsche Grenze mit einer Menge von Schwierigkeiten verbunden und zuweilen ganz unmöglich gewesen war. Der Bruderstamm zwischen Elbe und Königsau schien heute auch ganz aus seiner gewöhnlichen Natur herauszutreten. Mit Hurrah’s ging es an einander vorüber. Zuweilen erkannten sich die Freunde aus Schleswig und Holstein, wenn sie sich hier kreuzten. Dann wurden die Pferde auf einen Moment angehalten, die Wagen fuhren nebeneinander, und frohe Nachrichten flogen aus einem in den andern hinüber. Wie lange hatte man keine fröhliche Kunde auszutauschen gehabt! Jetzt hatte der Sturm, der mit einem Male hereingebrochen war, die ganze dänische Herrlichkeit über den Haufen gestürzt; mit dem eisernen Besen war sie hinweggefegt worden.

So gelangten wir bis zur Sorge, dem Grenzflüßchen zwischen Holstein und Schleswig. Die Dänen hatten auf ihrem Rückzuge vor den österreichischen Truppen die steinerne Brücke gesprengt, welche hier die beiden Bruderstämme mit einander verband. Links neben der Brücke ist eine große Ausspannung mit einem weiten Stallgebäude. Dort kehrten wir ein, um die Pferde ausruhen und füttern zu lassen.

Der große Stall war voll von österreichischen Fouragewagen. Kaum fand unser Gespann noch Platz. Im Hause lag österreichische Infanterie im Quartier, deutsche Truppen. Sie hatten die Dänen hinausgetrieben, welche hier während der letzten vier Wochen gehaust hatten und nun plötzlich vor den anrückenden Oesterreichern in alle Winde zerstoben waren, die Brücke hinter sich abbrechend und das Gespann des Wirths mit sich führend. Auf ihrer ganzen Rückzugslinie haben die Dänen derartige Gewaltthaten in Masse verübt. Manche von diesen Gewaltthaten waren so nutzlos, daß sie nur aus reiner Lust am Frevel verübt worden sein konnten. Wer den dänischen Charakter kennt, kann sich darüber nicht wundern. Auch das Niederreißen der prächtigen Ulmen auf dem Jungfernstiege in Rendsburg war eine ganz zwecklose Maßregel, welche selbst aus militärischen Gründen nicht gerechtfertigt werden kann. – In der großen Wirthsstube saßen einige von den hier einquartierten Soldaten am Tische, ihr Frühstück verzehrend. Es war Naturalverpflegunq, sehr gut ausgebackenes Brod mit vorzüglichem durchwachsenem Speck. Wir setzten uns an denselben Tisch und bestellten unsern Morgenimbiß. Dann frühstückten wir alle zusammen, und sie erzählten nun von dem Gefecht bei Wedelspang, an dem sie Theil genommen – dem letzten Gefecht, bevor die Dänen das Danewerk geräumt hatten. Es war heiß dabei hergegangen. „Noch auf zwanzig Schritt,“ erzählte ein steirischer Jäger mit wallendem grünem Federbusch, der an den Tisch herantrat, „haben die Kerls auf uns gefeuert, so erbittert waren sie; aber so wir sie gefangen hatten, waren sie wie umgewandelt, kriechend und freundlich.“

Der Oberstlieutenant und der Hauptmann lachten. „Ja, ja,“ riefen sie, „wir kennen sie ja aus den drei Feldzügen, auch damals waren sie so. Es liegt das einmal im dänischen Charakter.“

„Sehen Sie,“ rief ein Infanterist, „da diese dänische Kugel, wie groß sie ist, und was für eine niederträchtige Form sie hat. Sie schlug neben mir in die Mauer. Ich habe sie mir zum Andenken aufgehoben.

Wir betrachteten die Kugel. Es war eine Spitzkugel, an ihrem untern Ende von konischer Form. Die Kugel war von enormer Größe.

„Aber, sagt mir mal,“ fragte ich, „weshalb haben die Dänen das Danewerk denn gar nicht vertheidigt? Es ist auf der ganzen Linie ja gar kein Kampf gewesen. Das Danewerk ist ja fast gar nicht zu nehmen.“

„Ja,“ erwiderte der Jäger, „wir begreifen es nicht; sie haben geglaubt, die Preußen wären bei Arnis über die Schley gezogen und kämen ihnen in den Rücken.“

„Es ist aber gar nicht möglich,“ sagte der Hauptmann, „daß sie das geglaubt haben. An der ganzen Schanzenreihe von Friedrichsstadt bis nach Arnis läuft ja eine Telegraphenlinie entlang. Sie mußten ja unterrichtet sein, daß die preußischen Truppen den Uebergang noch nicht bewerkstelligt hatten.“

Wir sahen uns alle schweigend und verwundert an, und der Gedanke, der schon hier und da im Lande laut wurde, tauchte in uns auf, daß das ganze Gefecht an der Danewerkstellung ein Scheingefecht gewesen sei, um abermals den diplomatischen Machinationen als Folie zu dienen. Nun, die nächsten vier Wochen werden Vieles enthüllen. Da trat ein preußischer Officier mit einer Ordonnanz in’s Zimmer. Vor dem Helme trug er das weiße Landwehrkreuz. Der Officier kam von Schleswig. „Wie steht es in Schleswig?“ fragten wir einstimmig.

„Nun, das können die Herren sich denken,“ entgegnete er, „ungeheurer Jubel. Aber wie lange wird’s dauern, dann geht die alte Geschichte los, wie vor vierzehn Jahren.“

Jetzt sprach der Mann da in der preußischen Officiersuniform denselben Gedanken aus, den wir soeben alle vier gedacht hatten. Er ging wieder hinaus, um seinen Weg nach Rendsburg fortzusetzen. Wir schwiegen einen Augenblick, verstummend über den Gedanken, der soeben hier ausgesprochen war. „Hat nichts zu sagen,“ rief endlich der Hauptmann, „Blut ist geflossen; auch wir haben mitzusprechen. Zuerst wollen wir mal das Land aufräumen.“

Wir stießen alle miteinander an auf Schleswig-Holstein, die österreichischen Soldaten und wir. Der Portwein war ausgetrunken. Der Kutscher zeigte uns an, daß der Wagen angespannt sei. In einigen Minuten trabten wir aus dem Stalle hinaus. Auf einer hölzernen Nothbrücke ging’s über die Sorge. Jetzt waren wir in dem eigentlichen Lande des „verlassenen Bruderstammes“, in dem seit dreizehn Jahren gemißhandelten und in der kleinlichsten und erbärmlichsten Weise gequälten Schleswig angekommen. Weit dehnten sich die jetzt schneebedeckten Fluren und Aecker vor uns aus, überall von den hohen „Knicks“ durchzogen. Das Wetter wurde immer schlechter, Der am Morgen abwechselnd fallende Schnee hatte sich in ein dauerndes Schneegestöber verwandelt. Der Schnee kam von vorn, ein eisiger Wind wehte uns entgegen. Wir konnten uns kaum in unsern Pelzen erwärmen. Wir Alle sehnten das Ende unserer heutigen Reise herbei. Aber die Entfernung zwischen Rendsburg und Schleswig ist drei starke Meilen. Auch fing der Abend an heranzudunkeln. Mit dem Schneegestöber vermischte sich ein aufsteigender Nebel. Die Straße wurde, je näher wir an Schleswig herankamen, immer einsamer. So kamen wir von Sorgebrück nach Kropperbusch, von Kropperbusch nach dem Dorfe Jagel. Jedes Dorf führte uns dem Ende unserer heutigen Reise näher. Alle Häuser waren tief eingeschneit. Da sahen wir ja schon die halb in Schnee vergrabenen Häusergruppen des Klosterkrugs. In den letzten Tagen hatte hier ein kleines, unbedeutendes Gefecht stattgefunden. Klosterkrug ist noch eine halbe Stunde von Schleswig entfernt. Gleich hinter dem Klosterkrug gelangten wir nach dem Kohgraben, der äußersten Schanzenlinie. Zwei Eisenbahnlinien und die Chaussee durchschneiden an dieser Stelle den Kohgraben. Der Graben hat eine nicht unbedeutende Tiefe, die Brustwehr ist hoch. Der Kohgraben ist bereits in uralter Zeit angelegt und erstreckt sich in nordwestlicher Richtung in einer Länge von 7843 Schritt, also etwas mehr als drei Viertelmeilen vom südlichen Ende des Selker Moor bis nach Churburg. Die österreichischen Truppen hatten ohne Widerstand diese äußerste Schanzenlinie passirt.

Nach einer Viertelstunde langten wir vor Bustorf an, einem gerade vor Friedrichsberge liegenden Dorfe. Die Pferde gingen langsamer. Sie waren ganz abgemattet. Das Schneegestöber hielt noch immer an. Jetzt passirten wir den eigentlichen Danewerkwall. Das Danewerk macht, um die natürliche Beschaffenheit des Landes zu nutzen, mehrere Bogen und Winkel. Der erste Haupttheil den Walles läuft vom Haddebyer-Noor gerade gegen Nordwest nach dem jetzt ausgetrockneten Danewerksee, zwischen den Dörfern Husbye und Groß-Danewerk; der zweite Haupttheil geht von da gegen Südwest hin nach Churburg, dem westlichen Ende des Kohgrabens; der dritte erstreckt sich in einer nordwärts gebogenen Linie von da gerade gegen den Westen nach Hollingstedt, in seiner ganzen Länge zwei und eine Viertelmeile. Der Theil des eigentlichen Danewerkwalles, den wir nun durchschritten und welcher sich vom Halbkreiswall bis an den jetzt ausgetrockneten Bustorfer See und noch 1200 Ellen darüber hinaus erstreckt, heißt der Riesendamm[WS 1]. Seine Höhe ist 27–30 Fuß. Hohe, heute auch ganz in Schnee eingehüllte Schanzen lagen am Wege. Als nach dem Gefecht bei Wedelspang die österreichischen Truppen diese Schanzen beunruhigten, ohne einen eigentlichen Angriff zu machen, und die dänischen Truppen wieder die Aussicht hatten, bei der schrecklichen Kälte und unter großen Entbehrungen die Nacht hinzubringen, kam plötzlich zum allgemeinen Erstaunen selbst der Soldaten der Befehl, die Schanzen zu verlassen und sich theils auf dem Colonnenwege, theils auf der nach Flensburg führenden Chaussee zurückzuziehen. Sie vernagelten nur einige Kanonen, die meisten Geschütze blieben stehen. Um eilf Uhr Abends war kein dänischer Soldat mehr in Schleswig.

Hinter dem Danewerkwall fahren wir in Bustorf ein. Links lag ein ganz zerstörtes Haus am Wege. Die Dänen hatten das Haus zerstört und im Garten alle Obstbäume und Planken niedergehauen, um den Colonnenweg über das Grundstück zu führen. Schnee bedeckte jetzt die Trümmer. Dann kam ein Gebäude, welches niedergebrannt war. Die Dänen hatten es angezündet, weil es ihnen in der Schußlinie lag. Hier sah man alle Schrecken des Krieges. Da links stand das Bustorfer Spritzenhaus. Es war voll von todten österreichischen Soldaten. Sie waren fast alle in der Vorpostenkette gefallen. Die meisten waren durch den Kopf geschossen. Ich ließ den Wagen halten und trat einen Augenblick hinein. Es war ein schrecklicher Anblick. Endlich hatten wir Friedrichsberge, die Vorstadt Schleswigs, erreicht. Alle Häuser waren mit deutschen und schleswig-holsteinischen Fahnen geschmückt. Die Straße war durch lange Wagenzüge gesperrt, welche Pontons auf die Straße nach Flensburg führten. Die ganze Stadt bot einen kriegerischen Anblick. Geschütze, Wagen mit Pontons, mit Munition und Kriegsmaterial dicht hintereinander. Da am Schloß Gottorf, bei dem Thore standen eine Menge im Danewerk erbeutete Kanonen. Sonderbares Schicksal! Es waren dieselben Kanonen, welche man im Jahre 1851 so verrätherisch an Dänemark ausgeliefert hatte. Alle Räume im Schlosse Gottorf waren heute mit Verwundeten und dänischen Gefangenen gefüllt. Jetzt betraten wir die eigentliche Stadt Schleswig. Alle Häuser hatten auch hier schleswig-holsteinische und deutsche Fahnen ausgesteckt. Schleswig war ja eine befreite Stadt. Sämmtliche dänische Beamte waren in den ersten vierundzwanzig Stunden, wo die Dänen die Stadt verlassen hatten, fortgejagt worden. Auch nicht ein einziger war übrig geblieben. Die ganze Stadt war mit dem eisernen Besen ausgefegt. Es fehlt mir alle und jede Bequemlichkeit zum Schreiben; ich werfe diese Zeilen in einem halb eingeschossenen Schuppen auf’s Papier und gebe sie, ohne sie wieder durchlesen zu können, auf die Post, um Ihnen wenigstens meinen guten Willen zu zeigen. Nehmen Sie daraus, was Sie für die Gartenlaube etwa brauchen können. Mein nächster Brief soll Ihnen Besseres und Geordneteres bringen.
G. R. 

[144]
Blätter und Blüthen.

Ein Hundeasyl in London. London ist die Stadt der Contraste – das ist ein so unzählige Male wiederholter Ausspruch, daß er nachgerade mehr als abgedroschen genannt werden muß, und dennoch tritt uns seine Wahrheit tagtäglich immer von Neuem entgegen. Dasselbe London, in welchem viele Tausende von Menschen Zeit ihres Lebens kein Obdach kennen, wo, wie die Gartenlaube erst neulich (in Nr. 2 dieses Jahrg.) erzählt hat, jeden Tag Schaaren unglücklicher Kinder von Polizeistation zu Polizeistation getrieben werden, weil sie keine Heimath haben, – dasselbe London darf sich eines reichfundirten und wohlausgestatteten Asyls für verlaufene und hungerleidende Hunde rühmen! Man lache nicht, die Sache ist voller Ernst und in ihrer Art wohlthätig und segenspendend genug. Wenn man weiß, daß nach der 1861 veranstalteten letzten Volkszählung London mehr als 2,800,000, im gegenwärtigen Augenblicke vielleicht schon drei Millionen Einwohner zählt, und die leidenschaftliche Hundeliebhaberei und systematische Hundecultur der Engländer im Allgemeinen kennt, so kann man sich vorstellen, welches Riesenheer von kläffenden und bellenden Vierfüßlern die britische Hauptstadt beherbergt und wie viel von diesem Contingente Tag für Tag ihren Herren und Herrinnen, freiwillig oder unfreiwillig, abhanden kommen mögen. Im wirren Chaos des Londoner Häuser-Oceans läßt auch die feine Hundenase hier und da im Stich, und mancher arme Köter muß elendiglich verkommen, weil er das schützende Dach des nährenden Herrn nicht wieder aufzufinden vermag, – wenn ihn nicht vorher eine mitleidige Seele zu Wurstfleisch zerhackt oder zu Lendenstücken schmort.

Das war das bejammernswerthe Loos so manchen treuen Pinschers und Spitzes, Pudels und Wachtelhundes in London bis vor drei Jahren. Seitdem sucht eine Anstalt, das erwähnte Asyl, diesem Schicksale mindestens theilweise vorzubeugen, – ein Institut, von dessen vorsorglicher Organisation ich mich jüngst mit eigenen Augen überzeugte. Schon eine geraume Zeit war einer etwas excentrischen, aber durch ihre Gutherzigkeit weit und breit bekannten vornehmen Dame Londons der geschilderte traurige Ausgang von zahlreichen schön begonnenen Hundelaufbahnen tief zu Herzen gedrungen. Sie hatte es sich daher zum Berufe gemacht, ihre Mildthätigkeit ganz besonders auf die verhungernden Hunde zu erstrecken, welche sie ab und zu in der Nachbarschaft ihrer Wohnung antraf, und die Thiere einer zuverlässigen Person gegen reichliche Vergütung in Hut und Pflege gegeben. Von Woche zu Woche wuchs indeß die Zahl ihrer Schützlinge, so daß sie sich nicht länger im Stande fühlte, das angefangene Werk lediglich als ein Unternehmen ihrer eigenen Privatwohlthätigkeit fortzuführen. Sie nahm denn durch die Presse die Mithülfe des Publicums in Anspruch und hatte die Genugthuung, ihre Aufforderungen vom reichsten Erfolge gekrönt zu sehen. Es gehört ja in England zum guten Tone, „gründendes Mitglied“ von allen möglichen milden Anstalten und Vereinen zu sein – ganz gleichgültig, wem diese ihre Vorsorge zuwenden – und so flossen unserer Hundeerlöserin von allen Seiten ansehnliche Spenden zu. Schließlich nahm der Londoner Thierschutzverein die Sache in die Hand und schuf sie zu einer förmlichen Stiftung um, die sich durch regelmäßige Jahresbeiträge erhält und die Dame, von welcher die erste Anregung zu dem Rettungswerke ausging, zur lebenslänglichen Vorsteherin ernannt hat. Ein passendes Local ward erworben, in Hollingworth-Street, wo in einem geräumigen Hofe eine Reihe wahrhaft komfortabler und luxuriöser Ställe hergerichtet worden sind, welche sämmtlichen Londoner haus- und heimathlosen Menschen als wahre Wohnungsparadiese erscheinen dürften, zu denen sie selbst in ihren Träumen nicht die Augen zu erheben wagen.

Anfangs mußte das neue Institut vielerlei Spott über sich ergehen lassen; Punch und andere Witzblätter gossen ihre Sarkasmen in ungezügelter Fülle und Schärfe darüber aus und frugen, ob man nicht etwa auch für verlorene Nashörner und Walfische ein Rettungshaus in’s Leben rufen wolle; namentlich aber legten die Umwohner der Anstalt heftigen Protest ein gegen die Nachbarschaft der lärmenden und heulenden Meute. Und wahrhaftig nicht mit Unrecht: denn als mich neulich mein Weg zufällig nach Hollingworth-Street führte, zählte ich in dem, gleich den Affenhäusern der zoologischen Gärten, mit Drahtgeflecht umsponnenen Hundehofe mehr als achtzig Köter von jedweder erdenklichen Species zusammen, vom riesigen Neufundländer bis zum zierlichen „King Charles“, und das Winseln und Knurren, das Gekläff und Gebell, das losbrach, als ich mit dem Castellan des Asyls, einem frischen jungen Burschen von fünfzehn Jahren, den Zwinger betrat, war ohrenzerreißend.

Jetzt ist das Unternehmen ein fait accompli, und weder Punch noch Nachbarschaft tasten es mehr an, um so weniger, als man sich inzwischen von seinem Nutzen überzeugt hat. Den Zweck und die jetzige Wirksamkeit des Instituts wird man am besten aus den Statuten desselben ersehen, die ich, behufs Nachahmung in den deutschen Großstädten und zur tröstlichen Aussicht für jedweden Hundefreund, mittheilen will.

1. Jeder in die Anstalt gebrachte Hund wird dem sich legitimirenden Eigenthümer, gegen Erstattung der Kosten für Fütterung und Pflege, zurückgegeben; – 2. Von Mitgliedern der Stiftung verlorene und in das Asyl gebrachte Hunde werden den Besitzern ohne Berechnung irgendwelcher Verpflegungskosten ausgeliefert; – 3. Jeder Hund, den sein Herr nicht innerhalb vierzehn Tagen reclamirt, wird, zur Deckung des erwachsenen Aufwands, verkauft oder – sonst verwerthet; – 4. Um das Stehlen der Hunde zu verhüten, wird den Personen, welche herrenlos gefundene Hunde in die Anstalt bringen, keine Belohnung gegeben; – 5. Man hat zugleich Vorkehrungen getroffen, daß Damen und Herren, während etwaiger Abwesenheit vom Hause, ihre Hunde in dem Asyle unterbringen können. –

So ist unser Institut nicht blos ein Rettungshaus, sondern gewissermaßen auch eine Kleinkinderbewahranstalt für Hunde. Recht schön und thierfreundlich, – aber die Tausende von Menschenkindern, die alle Tage ohne Obdach, ohne Schutz, ohne Pflege und ohne Nahrung in den Straßen Londons umherirren, wollen Einem doch immer wie ein schmerzliches Fragezeichen zu diesem Hundeasyle erscheinen!




Der würdige Sohn eines unvergeßlichen Vaters. In dem blutigen Gefechte bei Oeversee unweit Schleswig traf eine dänische Kugel, unter den vielen beklagenswerthen Opfern des Tages, auch den tapfern Obersten eines der tapfersten österreichischen Infanterieregimenter, desselben, welches schon in der Schlacht von Magenta mit bewundernswerther Unerschrockenheit gekämpft hatte. Der Name dieses Führers ist den Lesern der Gartenlaube kein fremder. Der schwer verwundete Officier ist ja der heldenmüthige Sohn eines heldenmüthigen Vaters, jenes Herzogs Eugen von Würtemberg, welcher „als der Erste dem Kaiser Alexander den Plan des nachmals so hochgepriesenen Feldzuges von 1812 vorlegte“, als russischer Befehlshaber die Franzosen bei Culm über den Haufen warf und bei Wachau König Murat’s berühmten Reiterangriff abschlug, aber, obschon ein geborener Feldherr von unvergleichlichem strategischem Scharfblick und erstaunenerregender Kaltblütigkeit, durch höfische Ränke und niedrige Eifersüchtelei seiner russischen Mitgenerale, im Leben nie die Anerkennung finden sollte, die seinem Genie und seiner Thatkraft gebührte.

Der Sohn, Prinz Wilhelm von Würtemberg, der an seinen Wunden noch immer hart danieder liegt, scheint mit den kriegerischen zugleich die menschlichen Tugenden, jene edle Bescheidenheit und liebenswürdige Menschenfreundlichkeit, geerbt zu haben, welche seinen unvergeßlichen Vater zierten. Davon geben die Zeilen Zeugniß, welche der Prinz mit fieberhafter Hand von seinem Siechbette aus an den Feldmarschall Lieutenant von Gablenz geschrieben hat, nachdem ihm die Kunde von seiner sechsunddreißig Vordermänner überspringenden Beförderung zum General geworden war. Voller Bescheidenheit lehnt er darin die Lobsprüche ab, die ihm der Kaiser und sein Commandeur gezollt hatten; sein Verdienst sei einzig und allein der Vorzug, sich an der Spitze eines Regimentes zu befinden, welches bereits im italienischen Kriege sich unverwelklichn Lorbeeren errungen habe, einer Schaar von Tapfern, die unter jedem andern Führer denselben Heldenmuth an den Tag gelegt haben würde. Hierauf macht er seine Vorschläge, wie die Stellen der gebliebenen Officiere seines Regimentes neu zu besetzen seien, und schließt mit den schönen Worten: „Verübeln mir Ew. Excellenz diese Bitte im Interesse meiner ehemaligen Cameraden nicht, – es sind die letzten Sorgen eines Vaters für seine hinterlassenen Kinder!“

Wir theilen diese Worte, die, wie wir jetzt bestimmt hoffen dürfen, glücklicher Weise nicht die letzten des tüchtigen Heerführers gewesen sein werden, nach einer (Korrespondenz der Kölnischen Zeitung mit; es sei uns aber bei diesem Anlasse auch die Bemerkung vergönnt, daß wir selbst aus eigener Erfahrung unsern Lesern erzählen können, welches dankbare Andenken nicht nur der wackere Sohn dem großen Vater, als seinem leuchtenden Vorbilde, bewahrt, sondern mit wie regem Antheile er auch die Erscheinungen der Zeit, in Leben und Literatur, verfolgt. Kaum hatte die Gartenlaube in Nr. 37 und 38 ihres letzten Jahrgangs dem „vergessenen Helden der Befreiungskriege“ einen späten Kranz der gerechten Würdigung auf das Grab gelegt, so wurde dem Herausgeber unseres Blattes die Freude eines eigenhändigen Brief den Herzogs Wilhelm von Würtemberg zu empfangen, in welchem derselbe sich namentlich nach den nähern Verhältnissen des Autors des „ausgezeichneten Artikels“ erkundigt, der „das Leben und die Thaten seines Vaters in einer ebenso historisch wahren und treuen Art schildert, wie er die wichtigsten Momente desselben in das richtige Licht zu stellen weiß,“ um dem Verfasser seinen herzlichen Dank für den „vollkommen gelungenen Aufsatz“ selbst ausdrücken zu können.

Wir denken, dies Schreiben spricht für sich selber.




Ein deutsches Gedicht das Festlied zur Galileifeier in Pisa. Daß der vielverschrieene Deutschenhaß der Italiener nicht und niemals der Nation, sondern lediglich dem Systeme galt, unter dessen Joche die ganze Halbinsel beinahe ein halbes Jahrhundert lang seufzen mußte, daß man vielmehr in Italien, weitherziger vielleicht als anderswo, anzuerkennen weiß, wie viel die menschliche Civilisation dem deutschen Geiste schuldig geworden ist, – dafür kann es keinen schlagenderen Beweis geben, als daß in der Vaterstadt Galilei’s, in Pisa, das Festcomité für die bevorstehende Jubelfeier des großen Landsmannes ein deutsches Gedicht zum officiellen Festliede erkoren hat und auf einem typographisch reich ausgestatteten Blatte, mit daneben gedruckter wörtlicher und freier italienischer Übertragung, verbreiten läßt. Dies Gedicht aber ist dem diesjährigen Auerbach’schen Volkskalender entlehnt, der bekanntlich im Verlage der Gartenlaube erscheint. Es bildet dort den poetischen Gedenkspruch für den Monat Februar, und wir können uns nicht versagen, unsern Lesern in wortgetreuer Übersetzung die Bemerkung mitzutheilen, mit welcher das aus dem Präfecten der Provinz, Luigi Tenelli, dem Rector der Universität, Silvestro Centosanti, und dem Gonfaloniere (Vorstand) der Stadt, Angelo del Punta, bestehende Comité, das uns soeben sein Festprogramm zusandte, die deutsche Dichtung einleitet:

„Ein Schriftchen, das jährlich unter dem bescheidenen Titel „Volkskalender“ (Berthold Auerbach’s Volkskalender 1864 – Leipzig, Keil – in 8.) veröffentlicht wird und das für jeden Monat ein wichtiges Factum verzeichnet, führt für den Februar des laufenden Jahres die Geburt Galilei’s an und fügt ein kurzes Gedicht bei.

Diese Wahl ist neben anderen Thatsachen, die erwähnt werden könnten, so bezeichnend, um darzuthun, welche Beachtung in Deutschland jenem großen Manne geschenkt wird; das Gedicht selbst so schön, daß das Festcomité beschlossen hat, es in der Ursprache mit einer zur Seite stehenden Übertragung wiederzugeben und am Tage des glücklichen Jubelfestes als einen Beweis der Hochachtung und des Dankes für diejenigen zu vertheilen, welche Deutschland in so schöner Weise die Wiederkehr des Geburtstages unsers großen Landsmannes in das Gedächtniß gerufen haben.“

Im Augenblicke, wo wir diese Zeilen in die Presse geben, wird eben die nach dem uns mitgetheilten Programme sehr würdig ersonnene Feier ihren Anfang genommen und unser deutsches Gedicht schon in tausenden von italienischen Herzen seinen Wiederhall gefunden haben.


  1. Mitredacteur des Kladderadatsch.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Riesendarm