Die Gartenlaube (1863)/Heft 18
Almenrausch und Edelweiß.
Quasi ließ den funkelnden Blick wie durchbohrend auf Kordel haften. „Wenn ich Dir nur in’s Herz sehen könnt’!“ knirschte er. „Wenn ich wüßt’, daß es Dein Ernst wär’ … Du solltest schon sehen, ob der Quasi Wort halten kann! – Ich hab’ Dir’s geschworen, Kordel, und wenn meine Schand’ so tief wär’ wie der Hintersee, ich will Dich mit mir hinunterreißen bis auf den Grund … ich könnt’s vergessen, Kordel, wenn ich nit fürchten müßt’, daß Dein’ Falschheit so tief ist, wie meine Schand’ … Kordel, wenn ich Dich jetzt beim Wort nehmen thät’ …“
„Thu’s!“ rief sie rasch, aber noch rascher folgte Quasi’s Erwiderung.
„Ich hab’s schon gethan!“ sagte er, der Betroffenen näher tretend. „Deswegen bin ich wieder in der Ramsau – ich geh’ in Dienst: es ist Alles schon in Ordnung mit dem Hartelbauern … seit sechs Wochen hab’ ich keinen Tropfen Branntwein über die Lippen gebracht. …“
Kordel war zu überrascht, um sogleich eine genügende Antwort zu finden. „Das wird nur Dein eigener Nutzen sein …“ sagte sie halblaut.
„Mein Nutzen?“ rief er wild. „Auf den kommt’s nit an! Meinst Du, was ich thu’, ich thu’s meinetwegen? Deinetwegen geschieht’s! Dich will ich demüthig sehen – will Dich dahin bringen, daß Du Wort halten mußt, und dann vor mir stehst und Deine Lüg’ eingestehen und Dich schämen mußt … vor mir, vor dem schlechten Burschen schämen. …“
„– Das erlebst nit …“ erwiderte Kordel gefaßt.
„So beweise mir’s!“ rief er heftiger. „Ich hab’ schon angefangen, Dir den Willen zu thun … gieb Du auch nach! Morgen ist Sonntag … ich will in die Kirch’, in Amt und Predigt gehen. … Wenn dann die Burschen draußen vor der Freithofthür stehen und beim Herausgehen mit den Mädeln reden … versprich mir, daß ich Dich anreden darf. …“
„Nein. …“
„So leid’s wenigstens, daß ich Dich grüß’! Versprich mir, daß Du mir danken, daß Du Dich nit abwenden willst. …“
„Nein –“
„Nein?“ schrie Quasi losbrechend. „Und Du willst mir weiß machen, daß es Dir Ernst ist mit Dein’ Versprechen? Du willst, ich soll der Narr sein und Dir glauben? Auf was sollt’ ich mich verlassen dabei?“
„Auf mein Wort.“
„Da verlass’ ich mich lieber auf mich selbst!“ rief er wieder „Was brauch’ ich auch all das Zeug’ und das Warten und die Schererei! Jetzt bist wieder allein mit mir… weit und breit ist keine lebendige Seel’; jetzt bin ich sicher, daß der verrückte Alte mir nit in den Weg kommt. … Auf wen willst Du jetzt Dich verlassen?“
Kordel erwiderte kein Wort, aber sie deutete gen Himmel, und wie eine Antwort von dort fuhr auf einmal ein Windstoß um die Hütte, daß die Läden schlugen und vom steinbeschwerten Dache die Schindeln flogen.
„Was ist das?“ rief Quasi erschrocken und riß die Thür auf, die der Sturm ebenfalls zugeworfen hatte. Der ganze Himmel war mit schwarzem Gewölk bedeckt, das vom Winde gejagt in die Berge hereinflog und ihre ruhigen Häupter verhüllte. „Das bedeutet nichts Gutes!“ fuhr er fort. „Schließ den Kaser zu, Kordel, und mach’, daß wir weiter kommen!“
„Es hat keine Gefahr,“ sagte das Mädchen in den Sturm hinausblickend. „Es ist nur ein Gewölk – da hinten kommt schon wieder der blaue Himmel nach!“
„Nein, nein,“ erwiderte Quasi, „es kann leicht noch mehr nachkommen; die weißen Striche und das Gekräusel sehen gerade so aus, als wenn’s einen Schneesturm geben sollte! – Geschwind, Kordel, mach’, daß Du fortkommst!“
„Ich kann nit, wenn ich auch wollt’ – die Kalbin ist krank, ich kann das arme Thier nit allein verschmachten lassen! …“
„Aber wenn der Schneesturm käm’, könntest Du ein Unglück haben! Es ist doch besser, wenn Du gehst, die Kalbin kann man morgen nachholen…“
Aus Worten und Mienen des Burschen sprach so unverhohlene unverstellte Angst, daß es Kordel bewegte und sie ihn mit milderem gütigem Blicke ansah. „Das geht nit,“ sagte sie, „und was kann mir denn geschehen da in meiner Hütten? Wenn ich Abends nit daheim bin, kommt der Bauer mit den Leuten herauf und schaut nach und holt mich. … Aber weil Du doch gerade da bist und willst ein Uebriges thun, so lauf’ hinunter zu meinem Bauern – in zwei Stunden kannst unten sein … in zwei Stunden mach’ ich mich dann auf den Weg und geh’ ihnen entgegen bis zum Marterl, wo die drei Ahorn stehen. Sie sollen mit dem Karren herauf kommen – der Weg über’s Marterl ist wohl nit so gut, aber es ist um ein gutes Theil näher!“
[274] Quasi kannte das Mädchen genug, um zu wissen, daß weiterer Widerspruch nichts gefruchtet hätte. „Ich will thun, was Du haben willst,“ sagte er, „ich will laufen, was ich kann; Du sollst es sehen, daß ich auf das acht’, was Du verlangst, und daß ich’s ausführ’, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab’. … Und wann seh’ ich Dich nachher wieder? Wann und wo kommen wir wieder zusammen?“
„Das überlaß unserm Herrgott,“ erwiderte Kordel fast feierlich, – „wann und wo’s aber geschieht, will ich Dich fragen, ob Du Wort gehalten hast!“
Der Bursche eilte hastigen Schrittes fort, Kordel trat an die Thüre, um nach dem Himmel zu sehen. Er war noch mit dichter weißgrauer Hülle bedeckt, und das ganze Gewölk jagte in unruhigem Zuge dahin, aber es hatte sich wieder gehoben und streifte nur die Berghäupter und Felsgipfel; die mittlere Berglage war wieder frei und ungefährdet. Der Trank für die kranke Kalbin, aus allerlei Kräutern zusammengebraut, war inzwischen fertig geworden und die Sennerin eilte damit nach dem Stall. Es stand noch übler mit dem Thiere, der eingegossene Heiltrank fruchtete nichts, und trotz aller Mittel und Versuche, welche Erfahrung und Uebung dem Mädchen an die Hand gaben, war es bald unverkennbar, daß es verloren war. Fast zwei Stunden waren über dieser Beschäftigung vergangen, als das Thier verendet hatte und jede weitere Sorgfalt überflüssig ward. „Jetzt hab’ ich mich so gefreut,“ sagte Kordel, es betrachtend, „daß wir auch heuer so glücklich gewesen sind, und jetzt im letzten Augenblick kommt noch ein solches Unglück! Der Bauer wird nit wenig aufbegehr’n – die schönste Kalbin und so auf einmal … es ist hell – licht, als wenn ihr Jemand was angethan hätt’. …“ Sie verstummte, aber ihre Gedanken folgten Quasi und der Möglichkeit, daß wohl er es gewesen, der die Ziegen versprengte – wenn er auch dem Thiere etwas gegeben hätte, vielleicht nicht um es zu tödten, sondern nur um sie in der Alm festzuhalten, nachdem alle Andern sich entfernt hatten? „Den schönen Kranz,“ sagte sie dann kopfschüttelnd, „den brauchst Du jetzt auch nit mehr – den nehm’ ich mit hinunter … und aufgehalten,“ setzte sie rascher hinzu, „bin ich jetzt auch von nichts mehr! – Ich will aber auch gleich fort; um die Kalben kann morgen der Bauer herauf kommen oder der Knecht … wenn ich mich jetzt auf den Weg mach’ und der Quasi die Botschaft ausgerichtet hat, müssen sie mir begegnen, eh’ ich zu dem Marterl hinunterkomm’ …“
In der schon vorher aufgeräumten Hütte war bald Alles wieder zurecht gestellt; sie ergriff den unnöthig gewordenen Kranz und trat unter die Hüttenthür, indem sie sich bekreuzte und mit Weihwasser besprengte. Das Gewölk jagte und flog wie zuvor, und vom Norden her pfiff es schneidig kalt. „Es sieht fast bedenklich aus!“ flüsterte sie, um sich herblickend, „vielleicht wär’s am Gescheidtesten, wenn ich im Kaser blieb, bis sie kommen und mich holen. … Aber warum soll ich ihnen den Schrecken machen? Bis zum Wald komm’ ich jedenfalls hinunter, und wenn ich nur den erreicht hab’, dann kann’s so weit nimmer gefehlt sein. … Also in Gottes Namen, vorwärts und frisch aufgetreten!“
Sie schloß die Thür und prüfte den Verschluß; dann eilte sie den grünen Almplatz dahin, welcher nach dem Thale zu von einem vorspringenden Felsknie wie von einer schützenden Mauer umgeben war. Der Wind hatte einen Augenblick nachgelassen und senkte die Flügel, als wolle er Athem holen zu erneutem Ansturm, das Gewölk benutzte die Ruhe, um sich in die Tiefe zu senken und wie eine riesige grauweiße Schlange den Steinberg herabzukriechen. Ungefährdet hatte Kordel den Felsvorsprung erreicht und war um die Bergschneide getreten – links stürzte die Wand neben dem schmalen Pfade senkrecht ab, daß die Tannengipfel von unten vergeblich sich in die Höhe streckten, zur rechten Seite lag wüstes, unwirthliches Felsengetrümmer wild durcheinander und stieg in eine schaurige Felsschlucht empor; es gab keinen Weg, als von schmalen Pfad, der zwischen dem Abgrund und dem Steingeröll sich zur Halde senkte, die in beträchtlicher Entfernung grün und freundlich vom Waldsaume herauf winkte. Kordel hatte eben die Mitte der gefährlichen Bahn erreicht – da tönte ihr entsetzliches Gebrüll in’s Ohr; durch die Bergschlucht herab fuhr der Sturm, wie aufheulend vor Wuth sein Opfer zu erfassen, und eh’ sie sich zu besinnen vermochte, stand sie mitten in dem Gewölk, das er vor sich her wälzte, und das sich in wirbelnden Schneemassen entlud. Sie vermochte kaum, sich aufrecht zu halten vor dem gewaltigen Anprall des Sturmes; in dem jagenden treibenden Gestöber vermochte sie nicht einen Schritt vor sich zu sehen – sie konnte nicht mehr nach der Almhütte zurück – sie vermochte keinen Schritt weiter zu setzen, denn jeder konnte sie in den Abgrund stürzen. „Heilige Mutter Gottes!“ rief sie erschrocken, „so hat’s mich doch erwischt … [1]das ist ein böses Schneewehen – hoffentlich dauert’s nit lang, weil’s gar so scharf anhebt. …“ Vorsichtig tastete sie dabei seitwärts unter den Felstrümmern hin und fand eine Stelle, wo zwei halb aneinander gelehnte, halb sich überschiebende Blöcke eine Art Nothdach bildeten, das mindestens für den Augenblick vor dem Schnee eine Zuflucht gewährte. Sie kroch hinein und kauerte sich nieder, so gut es ging, über den Felsen fiel der Schnee immer dichter und dichter, und der Wind sauste durch den Spalt, daß ihr das Mark in den Gebeinen schauerte.
Geduldig und gelassen harrte das muthige Mädchen in der furchtbaren Lage aus; sie that es in dem Gedanken, daß das Unwetter sich bald ausgetobt haben werde und daß, wenn es nicht geschah, die Ihrigen nicht mehr ferne sein konnten. Quasi hatte ihre Botschaft sicher ausgerichtet, also waren sie gewiß zur rechten Zeit aufgebrochen, das Unwetter beschleunigte ihre Schritte – sie hatte ihnen den Weg bezeichnet, sie mußten an ihr vorüber oder doch an sie heran kommen, daß sie ihnen zuschreien konnte! – Aber Secunde um Secunde verrann, der Wind schnaubte immer wilder und kälter, und vor ihrer Felslücke lag der Schnee schon über schuhtief zusammengeweht; da erfaßte sie mit einmal die Angst mit allen Schrecken ihrer Lage, und das Haar sträubte sich bei der Möglichkeit hier noch länger andauern zu sollen. Wenn der Schneesturm, statt nachzulassen, nur noch einige Zeit anhielt … wenn die Ihrigen sie in der Almhütte sicher und geborgen glaubten … wenn sie nicht kamen ... vor der Wuth des Wetters nicht kommen konnten … wenn sie hier bleiben, elend im Schnee erfrieren und begraben werden müßte. … Mit einem wilden Schrei des Entsetzens sprang sie aus ihrem Versteck hervor und stieß ihr verhallendes Hülfegeschrei in die tobende Luft und den schwer und stumm fallenden Schnee. „Heilige Mutter Gottes!“ rief sie und stürzte mit hoch aufgehobenen Händen in die Kniee, „verlaß mich nit und steh’ mir bei … laß mich nit so elend zu Grunde gehen … und so jung, so jung – und in allen meinen Sünden, ohne Beicht’ und Absolution. …“ – Keine irdische Hülfe antwortete, das Wetter scheuchte die Unglückliche wieder in ihren Schlupfwinkel zurück, aber der innere Trost blieb dem kindlichen Gemüthe nicht aus. „Ich will nit so ungestüm thun,“ sagte sie, „ich will auf unsern lieben Herrgort vertrauen und nit verzweifeln … er sieht mich in meiner Noth und wird’s recht machen … das ist wohl die Strafe, die er mir schickt … ich will’s geduldig ertragen und will beten. …“ Mit erstarrenden Händen faßte sie nach dem Rosenkranz, und über die frostzitternden blauen Lippen floß ein inbrünstiges, heißes Gebet. Sie ward immer kälter und starrer und bemerkte nicht mehr, daß der Schnee immer höher heraufstieg an dem Eingang ihrer Höhle – ein Gefühl unendlicher Ermüdung kam über sie und mit ihr der freundlichste aller Tröster, der Schlaf. Gedanken und Wahrnehmungen flossen ihr ineinander; es klang ihr in den Ohren und sie glaubte die Glocken der Pfarrkirche zu hören, die zum Hochamt riefen, sie sah mit verschwimmenden Augen die schimmernden Flocken und meinte, das Gewölbe in der Kirche zu sehen, an welcher die Glorie Gottes und der himmlischen Heerschaaren gemalt war … die Wolken wurden wirklich und senkten sich zu ihr herab, auf ihnen lächelnde Engelskinder … das eine nahm ihr den Kranz, den sie im Schooße liegen hatte, und winkte damit … das andere kam immer näher und lächelte ihr immer freundlicher zu … seine Züge veränderten sich … sie waren ihr bekannt und doch wieder so selig verklärt … es war das geliebte Antlitz ihres schuldlosen Kindes. … „Mein Kind … mein Roserl,“ sagte sie mit dem Lallen eines Träumenden – sie wollte die Arme ausbreiten gegen die selige Erscheinung – und war hinübergeschlummert – der Schlaf hielt sie fest und legte sie unfühlbar in die dunklen Arme seines ernsteren Bruders. …
Vor dem Felsen heulte und jauchzte der Sturm noch grimmiger und wirbelte den gefallenen und den fallenden Schnee durcheinander, daß er zusammengeweht sich wie ein Schlußstein vor das Felsengrab der Sennerin schmiegte.
– Indessen war Quasi mit hastigen Schritten den Berg hinab geeilt. Sein Eifer war so groß, daß er den gebahnten Weg verschmähte und als erprobter Bergsteiger die nähere Richtung durch Wald und Felsen einschlug, galt es auch manchen Sprung über [275] Bach oder Kluft zu thun. Schon war er wohlbehalten an der letzten Abdachung des Berges angelangt, wo ein Bach sich aus steiler Felskluft auf die Schaufelräder einer kleinen Mühle stürzt und neben der Mühle sich ein kleines Häuschen an den Waldhang lehnte, das nun verschwunden ist, damals aber den Holzknechten Aufenthalt gab, wenn sie der Winter aus ihrem Nomadenleben von Berg und Wald herabgescheucht hatte. Noch war das Wetter sich gleich geblieben, ja, von dem schmalen Thalgrunde sah es sich an, als sollte der ganze Sturm unschädlich vorüber ziehen; nur eisig kalt fuhren die Windstöße auch in dem niedern Grunde dahin.
Quasi wollte auch an der Hütte, die er sonst oft besucht, in rascher Beugung vorüber, als es von innen an die Scheiben des Fensterchens kopfte. Verwundert hielt er an, und im nächsten Augenblick stand ein anderer Bursche unter der Thür, sprang auf Quasi zu und hielt ihn am Arm, um ihn nach der Hütte zu zerren.
„Er ist es wahrhaftig!“ schrie der Mensch. „Ich hab’ fast meinen Augen nit getraut – aber Du bist es, Lateinischer! Wo kommst her und wo willst hin? Komm nur herein in die Hütten und erzähl’, wie’s Dir ’gangen ist!“
„Laß mich gehen, Hennenrupfer,“ sagte Quasi und wollte sich losmachen, „ich hab’ keine Zeit, ich hab’ eine wichtige Botschaft auszurichten. …“
„Die darf ich doch auch wissen, Brüderl?“ entgegnete der Andere. „Ich helf’ Dir, was es auch ist, wirst mich nit leer ausgehen lassen dabei! Kennst unsere alte Cameradschaft, und wir zwei taugen doch am allerbesten zusammen – Du hast Dich hinausgelogen selbiges Mal in der Wimbach, daß es eine Lust gewesen ist; aber ich hab’s nit schlechter gemacht! Sie haben mich lang genug herumgezogen, aber sie haben mir doch nichts anhaben können … ich bin wieder frei, Brüderl, und jetzt wollen wir dem Schergenpack erst zeiget, was wir können!“
„Es ist nichts Solches, was ich auszurichten hab’,“ sagte Quasi zögernd, „ich muß dem Bauer eine Botschaft thun – eine Kalm ist krank ’worden droben auf der Alm. …“
„Kalm? Bauer?“ lachte der Hennenrupfer spöttisch. „Ich glaub’ gar, Du willst zum Kreuz kriechen und gut thun, wie sie’s nennen ?“
„– Und wenn’s so wär’?“ erwiderte Quasi unsicher; er fand den Muth nicht in sich, die falsche Scham zu überwinden und ein offenes Ja auszusprechen.
„Dann thät’ ich Dich höchstens auslachen,“ war die Antwort, „und ließ Dich’s probiren, bis Du’s erfahren hättest, wie ich, daß Dir überall der Weg verrammelt ist! Aber meinetwegen – thu’ was Du willst, ich will Dich nicht aufhalten, aber so eilig wird’s doch nicht sein, daß Du nit ein Gläsl trinken könntest mit einem alten Cameraden? Komm herein – der Wind schneidet so grimmig kalt, daß Du die Erwärmung wohl mitnehmen kannst auf den Weg!“
Quasi wollte widerstreben, er wollte dem Verführer sagen, daß er keinen Branntwein mehr trinken wolle, daß er schon seit Wochen keinen mehr getrunken habe – aber es blieb beim Willen; Wort und That blieben aus, und ehe er eigentlich recht wußte, wie es geschehen war, saß er in der niedrigen dumpfen Stube neben dem Gesellen. Der war wie außer sich vor Freude und ließ den alten Kumpan gar nicht wieder los; wäre Quasi unbefangener gewesen, so hätte er aus seinen Blicken errathen, daß diese Anhänglichkeit weniger seiner Person galt, als der breitgliederigen silbernen Kette, welche Quasi trug und welche den Hennenrupfer auf das Dasein einer Uhr schließen ließ.
Mit sich selber kämpfend ergriff Quasi das so lang gemiedene verführerisch duftende Glas; er entschuldigte sich, daß er ja nicht aus Neigung trinke, sondern nur um sich gegen die Kälte zu stärken, daß er das Versäumte doppelt einholen werde, und daß es ja keine Gefahr habe bei dem anhaltenden Wind. Der erste Trunk war gethan und mit ihm die Mauer des Entschlusses durchbrochen; die alte Leidenschaft wühlte und spülte daran, bis der Vorsatz in Trümmern lag und die alte Fluth sich vernichtend darüber hinwälzte. Dem ersten Glase folgte ein zweites, diesem ein drittes und viertes, bis es ihm leidig ward und er des Zählens wie des Fortgehens vergaß – die lange Entbehrung machte die Wirkung des Getränks noch rascher und bedeutender; er sah es nicht, wie draußen der Schnee zu fallen begann, er fühlte es nicht in der Abstumpfung des Rausches, wie der treulose Kamerad ihm unmerklich Uhr und Kette aus der Tasche zog und sich zur Thüre hinausschlich – er war dem alten Dämon verfallen.
Auf der Ledermühle und im Hause von Kordel’s Dienstbauer stieg inzwischen Besorgniß und Unruhe mit jeder Minute. Der Bub’ war mit den Ziegen heimgekommen und erzählte, wie er der Sennerin durch einen fremden Burschen Botschaft gethan, sie solle nur allein abtreiben; sie war also ohne Zweifel aufgebrochen, und als es zu dämmern begann und sie noch nicht da war, stand die Gewißheit fest, daß sie durch irgend einen Zufall verspätet und in das Unwetter gerathen war, dessen Wüthen man auch im Thale spürte, wenn auch dessen volle Kraft an den Höhen sich austobte. Der Bauer schickte wiederholt nach der Ledermühle herüber und ließ nachfragen, ob das Mädchen nicht etwa doch noch gekommen und vielleicht zuerst an das elterliche Haus gegangen war; in diesem ging die Müllerin finster und trotzig hin und wieder, aber eben diese Unruhe ließ erkennen, daß die Sorge auch in ihr leicht geartetes Gemüth sich einzuschleichen begann. Der blöde Alte aber war von der Thüre des Hauses nicht wegzubringen; er lag buchstäblich auf der Lauer vor derselben und stieß nur manchmal dumpfklagende Töne aus, als ob er das schreckliche Geschick seines Lieblings ahnte und bejammerte.
Nicht minder entsetzt und aufgeregt war Evi; sie rannte rastlos von Gehöft zu Gehöft, und ihr war es zuzuschreiben, daß die Nachricht von Kordel’s Ausbleiben sich wie Feuer verbreitete, das der Windesflug von Giebel zu Giebel trägt. Bald hatte sich an der Kirche vor dem Hause des Pfarrvicars eine Anzahl Burschen und Männer versammelt, welche sich mit dem Vicar und dem Schullehrer beriethen, was geschehen könne, die Vermißte aufzusuchen und wo möglich zu retten. Schnell waren Laternen und Kienfackeln herbeigebracht; man rüstete Stangen und Stricke und beschloß, in zwei Abtheilungen den Berg zu ersteigen, welche sich wechselseitig anrufen und mit Feuern oder Flintenschüssen Signal geben sollten, sobald eine Spur gefunden war. Die eine Schaar zog beim Wirthshause über die tosende Ach den schmalen Steinpfad in den Tannenwald hinauf; dort mündete der gewöhnliche Almpfad, den die Sennerin vermuthlich eingeschlagen hatte. Bei ihnen war Evi, die sich nicht wehren ließ, die geliebte Genossin aufzusuchen, und todtenblaß, aber wort- und tränenlos neben dem Führer dahin schritt. Die andere Abtheilung ging der Straße nach bis gegen die Mühlen hin, wo ein zweiter Pfad auf die Almen führt, zwar beschwerlicher aber kürzer; es war daher nicht unmöglich, daß Kordel ihn eingeschlagen hatte. Einige furchtbare Stunden der Mühe vergingen den Suchenden unter hundert Gefahren, denn der Wind löschte die Fackeln, und trotz der Schneereife sanken die Männer oft in den mehr als knietiefen Schnee. Umsonst war alles Rufen und Spähen, kein Gegenruf antwortete, keine Spur der Verunglückten zeigte sich. Endlich war die Almhütte erreicht und damit auch die letzte Hoffnung verschwunden, denn die Hütte war wohl verschlossen und leer – nun bestand kein Zweifel mehr, das Mädchen war im Freien von dem Unwetter überrascht worden. Es fruchtete auch nichts, daß der Wind sich nach einiger Zeit legte und sogar der Mond einige Secunden durch das Gewölke brach; in dem aufgethürmten Schnee lag jede Spur begraben, und das fahle Licht diente nur dazu, die Trostlosigkeit weitern Suchens erkennen zu lassen. Dennoch ermüdeten die jungen Männer nicht, von Evi’s unermüdetem Eifer angespornt, welche nicht abließ, nach allen Seiten um die Hütte herum den Schnee zu durchwaten und zu durchsuchen. Mehrmals mußte einer der Männer die Ueberkühne zurückhalten. „Es geht nit mehr,“ sagte Kordel’s Dienstherr endlich, „es ist nirgends ein Zeichen zu finden von dem armen Geschöpf – und wir dürfen’s auch nicht wagen, weiter um die Bergschneide und gegen die Schlucht vorzudringen … der Schnee liegt gar zu tief und zu locker … ein einziger unrechter Tritt könnt’ machen, daß eine Lahn (Lawine) abgeht und uns Alle miteinander verschüttet oder hinunterreißt. …“ In dem Augenblick, als er das sagte, ließ sich ein leises, knisterndes Geräusch vernehmen, das mit rasender Geschwindigkeit näher kam und zum schmetternden Donnerkrachen anwuchs … unfern der bebenden und betenden Schaar tobte und stäubte die Schneemasse in der riesigen Felsrinne heran und wälzte sich, Alles in einen sprühenden Nebel umhüllend, in die Tiefe auf den krachenden Wald.
Trostlos und schweigend wurde der Rückzug nach der andern Seite angetreten, auf welcher die zweite Schaar herankommen sollte und bald, nicht minder trostlos und erschöpft, sich einfand. Gemeinsam [276] wanderte man dem Thale zu, an der Mühle und der Herberge der Holzknechte vorüber. Einem der Burschen fiel es ein, in der Hütte nachzusehen, ob auch da von der Sennerin nichts gehört oder gesehen worden war. Schlaftrunken kam der Bewohner herbei und beantwortete die Fragen der späten Besucher; bei dem Lichte ihrer Laternen erblickten sie Quasi, der aus der Ofenbank lag und schlief.
Der Schein der Lichter, der ihm auf’s Gesicht fiel, der Lärm der Stimmen weckte ihn – er sprang auf; bei dem Anblick der Versammelten verflog der Rest der Betäubung und des Schlafes, und eine entsetzliche Ahnung des Geschehenen schlug wie ein Blitzstrahl in seine Seele. Mit einem Sprunge war er in der Thüre, blickte in die Schneewüste hinaus und sank mit einem herzbrechenden Schrei, das Gesicht in den Händen verbergend, in die Kniee. „Die Kordel!“ schrie er entsetzt. „Jesus, Maria und Joseph … sie suchen die Kordel! Sie ist verschneit, und ich bin schuld daran. …“ In der ausbrechenden Wuth des ersten leidenschaftlichen Schmerzes zerraufte er sich das Haar und zerschlug sich Brust und Gesicht, er mußte mit Gewalt abgehalten werden, sich den Kopf an der Wand zu zerstoßen. Nur nach und nach und aus einzelnen Worten erfuhren die Landleute, was vorgefallen war, und beriethen eben, was zu thun sei, als der Pfarrer herankam. Er war mit den Sterbesacramenten herausgeeilt, um die Unglückliche, falls sie gefunden und nicht mehr zu retten sein sollte, mit den letzten Tröstungen des Glaubens zu stärken. „Jetzt wissen wir wohl die Richtung, die sie eingeschlagen hat,“ schloß der Bauer seinen Bericht an ihn, „aber es nutzt uns nichts – gerade dorthin ist die Lahn niedergegangen. …“
„Für das arme Mädchen,“ sagte erschüttert der Vicar, „ist es zu Ende mit Menschenhülfe und Menschentrost … wir vermögen nichts mehr, als sie Dem zu empfehlen, der da noch helfen und trösten kann! Wir wollen beten, daß er sie gnädig zu sich aufnehme, und wenn sie noch nicht überstanden hat, daß er sie vor Verzweiflung bewahre und stärke in ihrem furchtbaren Todeskampf.“
Der Pfarrer stand vor der Thüre der Hütte und ertheilte mit erhobener Monstranz den Segen nach dem Berge hinauf, wo Kordel lag. Der Meßner klingelte, und wie um ein Sterbebett knieten die Bauern entblößten Hauptes im Schnee und sprachen das Gebet des Herrn für das Heil der armen Seele.
Quasi hatte den Augenblick, als man seiner nicht achtete, benützt und war entflohen.
– Schnell war der Winter auf seinen Lieblingsthron in den Bergen gestiegen, streng hatte er ihn behauptet und nur mit widerwilligem Zögern schien er ihn verlassen zu wollen. Die Sonnenseite des Thals, der minder steile, breit gedehnte und fast überall urbar gemachte Lattenberg war schon schneefrei, während noch kein Sonnenstrahl die Schattenseite mit dem Steinberg getroffen hatte, und dort höchstens durch die allgemeine Erwärmung der Luft die oberste Schicht der Schneedecke sich zu erweichen und zu schmelzen begann. Endlich stürzten die Bergquellen und Bäche rauschender und übervoll in das Thal, als lebende Eilboten, daß auch hier die Herrschaft der Kälte gebrochen war und der Thauwind mit lauem Flügelschlag über den erstarrten Höhen dahinzog.
Eines Abends saß Evi auf der Hausbank vor der Ledermühle, die Mutter Kordel’s neben ihr. Sie war nicht von der Mühle gewichen und hatte den Alten als Magd gedient und sie wie eine Tochter gepflegt. Die letzten Worte der Freundin waren ihr ein heiliges Vermächtniß und ein Auftrag, den sie treulich erfüllen wollte. Ohne ihn, ohne das Geheimniß, das noch über Kordel’s Schicksal lag, wäre sie lang aus der Ramsau hinweggezogen, in welcher ihr so zu sagen auf Schritt und Tritt traurige Erinnerungen entgegen traten. Die Müllerin war noch hagerer als früher, und die frühere Lebhaftigkeit schien von ihr gewichen zu sein. Das traurige Loos des einzigen Kindes hatte sie erschüttert, aber sie wollte gefaßt erscheinen und war darüber in sich gekehrt und finster geworden. Sie trug die unverkennbaren Zeichen eines rasch entwickelten zehrenden Zustandes an sich, und die fliegende Fieberröthe der eingefallenen Wangen machte die Schminke überflüssig. Schweigend, die Spinnrocken vor sich, saßen Beide; Evi’s Gedanken aber schwebten um das noch immer unbekannte Grab der Freundin. Sie erinnerte sich der trüben Ahnung, die beim Abschiede von ihr sie auf einmtal überkommen hatte, des Widerstrebens, mit dem sie gegangen war; sie machte sich Vorwürfe darüber, daß sie es gethan, und wurde nicht müde, sich in träumerischer Selbstqual jedes Wort, jede Gebehrde der Unglücklichen in’s Gedächtniß zu rufen. Welch’ eine Fülle von Leiden war schon von diesen Bergen auf sie hereingestürmt – sie begriff selber nicht, woher sie die Kraft genommen, ihr nicht zu erliegen. Zwei Menschen, die ihr die besten Freunde gewesen, waren ihr in schrecklicher Weise entrissen worden … und als sie des Dritten, des Allerbesten gedachte, da brach ihr beinahe das schwergeprüfte Herz, und unbewußt schossen ihr die Thränen aus den Augen.
Die Müllerin achtete nicht darauf, aber der arme Blöde, der an der Schwelle gekauert lag, kam herbeigekrochen, zupfte sie am Rock und sah ihr mit dem traurigen verstörten Gesicht in die weinenden Augen empor, als wolle er sagen, daß er recht gut wisse, wem diese Thränen galten.
Nach einiger Zeit ertönten Fußtritte den Bergweg herauf, und der Brigadier schritt auf die Mühle zu, in welcher er seit Kordel’s Anwesenheit ein nicht seltener Gast gewesen war. Er blieb nach kurzem Gruße vor dem Hause stehen, daß Evi aufmerksam wurde und ihn genauer ansah. „Sie bringen eine neue Botschaft,“ sagte sie, „ich sehe es Ihnen am Gesichte an …“
„Die bring’ ich wirklich,“ erwiderte der Brigadier mit traurigem Ernste, „eine erfreuliche und doch gar sehr betrübte Botschaft! Ich bin eigens heraufgekommen, unm es Euch in aller Ruhe zu sagen … Jetzt sind alle Zweifel gehoben … sie ist gefunden …“
Evi’s Thränen strömten stärker; die Müllerin saß unbeweglich, als ob das Gehörte sie gar nicht berühre – der Blöde horchte und schien sich aufrichten zu wollen.
„Seit der Schnee etwas weg ist,“ fuhr der Mann fort, „ist kein Tag vergangen, an dem nicht gesucht wurde. Es hat sich recht gezeigt, wie allgemein beliebt das Mädchen war, und ich bin sehr charmirt, daß man ihr Gerechtigkeit hat widerfahren lassen … so eben sind sie hinauf mit dem Sarg, um sie herunterzubringen – morgen um neun Uhr findet die feierliche Beerdigung statt.“
Evi wollte etwas fragen, aber die Stimme versagte ihr.
„Ich weiß, was Du wissen willst,“ fuhr der Brigadier fort, „ich kann’s errathen … Sie lag keine zwei Schußweiten von der Bergschneide entfernt, dort wo die Schlucht heruntergeht … unter ein paar Felsblöcken lag sie da – in sitzender Stellung … den Rosenkrauz um die Finger gewunden … einen verdorrten Blumenkranz im Schooß … den Kopf ein wenig vorgeneigt, wie ein Schlafender … sie scheint nicht hart hinübergegangen zu sein …“
Dem festen Manne bebte die Stimme bei dem Bericht; die Müllerin stand hastig auf. „Wir müssen einmal Alle sterben …“ sagte sie hart und verschwand im Hause. Der Alte lag mit dem Gesicht im Grase und regte sich nicht. Der Brigadier nickte Evi noch zu: „Um neun Uhr … morgen …“ und war hinter den Bäumen verschwunden.
– Am andern Tage war die ganze Bevölkerung der Gegend in Bewegung. Die Ramsau ist nach uraltem Gebrauche in vier „Gnotschaften“ getheilt, die sämmtlich Eine Gemeinde ausmachen und deren Mittelpunkt die Kirche ist. Von dieser aus sind gerade Linien kreuzweise übereinander gezogen und so die Gnotschaften gebildet. Für je zwei derselben ist an dem das Thal durchziehenden Sträßchen eine sogenannte Todtencapelle erbaut, deren eine in der Richtung gegen die Wimbach und den Kniebis, die andere nach der Reualm und der Schwarzbach-Wacht hin steht. Bis zu diesen Capellen werden die Leichen aus den zerstreuten und hoch gelegenen Gütern und Häusern von ihren Angehörigen auf den Schultern heruntergetragen, oder wo der Weg es gestattet, auch auf Karren und sonstigem Fuhrwerk heruntergebracht. Dort erwartet sie der Pfarrer, um sie auszusegnen und, als kämen sie unmittelbar aus dem Sterbehause, nach dem Kirchhofe zu begleiten.
Eine zahllose Menschenmenge drängte sich um die Capelle auf dem Reichenhallersträßchen, denn Jung und Alt nahm an dem traurigen Geschicke der armen Kordel Antheil, und wer es irgend möglich machen konnte, unterließ es nicht, ihr die letzte Ehre anzuthun und ein Vaterunser für sie zu sprechen. Lautes Weinen und Rufen der Klage entstand, als die Männer, die sie aufgesucht hatten, mit dem Sarge herangeschritten kamen, auf den sie einen Kranz von den ersten Frühlingsblumen gelegt und damit Hut und Bergstock der Verunglückten verziert hatten – war sie doch in ihrem Berufe gestorben und im Sinne des Volkes der Auszeichnung so würdig, wie der in der Schlacht gefallene Krieger, dem man den bekränzten blutigen Degen auf die Truhe legt. Zwischen den Stimmen des Jammers und der Trauer wurde auch manche der Erbitterung
[277][278] gegen Quasi laut, denn es ging von Mund zu Mund, wie Niemand Anderer den Tod des Mädchens auf dem Gewissen habe und wie wohl er thue, sich nirgends sehen zu lassen, denn von Seite des Volkes wenigstens würde ihm die Vergeltung nicht ausgeblieben sein.
– Schon waren die Worte und Gebräuche der Aussegnung vorüber und man wollte eben aufbrechen, als eine Bewegung in der Menge entstand und der alte Müller, der zu Hause entronnen war, sich gewaltsam durchdrängte und heulend über den Sarg warf … „Kordel …“ schrie er mit herzzerreißender Stimme, und die unsägliche Gewalt seines Schmerzes gab ihm sogar für einige Augenblicke die Fähigkeit, sich frei zu bewegen und aufzurichten, wieder. „Kordel mein! Komm wieder … ich laß Dich nit her … o Kordel … mein Kind …“ Alle standen erschüttert und bemühten sich vergebens, den Unglücklichen zu beruhigen oder zu entfernen; es gelang erst, als die gewaltsame Anspannung der Leidenschaft nachließ und er wieder in den frühern Zustand blöder Gleichgültigkeit versank und sich ohne Widerstreben wegbringen ließ.
Der kleine Friedhof der Ramsauer Kirche war zu eng, in seiner Ummauerung den ganzen Zug der Leidtragenden aufzunehmen. Evi ging hinter dem Sarge, als erste Klägerin; sie hatte sich ausgeweint und brachte nichts mit an das offene Grab der Freundin, als ein stummes im Leide fast brechendes Herz. Die Mutter lag krank in der Ledermühle und unfähig sich zu erheben. Auch Mentel’s Vater, der strenge Bühelbauer, fehlte nicht unter dem Todtengeleite; ihm zur Seite ging der Brigadier in straffer soldatischer Haltung, aber die Oberlippe mit dem mächtigen Schnurbart verrieth durch ihr Zucken seine innere Bewegung. Unter lautem Schluchzen wurde der Sarg versenkt, und die Thränen der Weiber und Mädchen flossen noch reichlicher, als der Vicar seine Anrede begann und die Trauernden zum Trost und zur Erhebung ermahnte und ihnen verkündete, daß die Berge um sie herum nicht fester ständen, als das Wort des Herrn, der versprochen habe, daß ohne sein Wissen kein Haar vom Haupte des Menschen fallen solle! Jedes Einzelne trat dann hinzu, um der Begrabenen mit einer Schaufel voll Erde den Wunsch ewiger Ruhe hinabzuschicken; dann ward das Grab eingefüllt, der Hügel leicht geformt und das Kreuz auf denselben gesteckt. Es trug Namen, Alter und Sterbetag, und erzählte in schlichten Worten die Todesart; über dem Weihbrunnkesselchen war noch ein besonderes Schildchen angebracht; der Lehrer, der in der Reimerei so wohl bewandert war, als im Malerhandwerk, hatte es eigens selbst gefertigt und hinzugefügt. Auf dem Schildchen war eine schöne blühende Rose gemalt, deren Stengel geknickt war, daß sie den Kopf zur Erde senkte. Darunter stand die Inschrift:
„Wie schön ist nicht die Rosenblüh’,
Stell’ Dich nur vor mich her,
Denn kommst Du wieder morgen früh
– Leicht findst Du mich nit mehr!“
Nach und nach ward es stiller und leer auf dem Kirchhof – nur die Mauer entlang schlichen noch ein paar Mütterchen, um nach Gräbern umzusehen, an deren Bewohner niemand mehr gedachte, als sie. Der Brigadier verweilte noch vor Kordel’s Grab, und nebenan bei einem auch erst unlängst aufgeschütteten Hügel stand der Bühelbauer, bleich und mit kummergebeugtem Nacken, und schien sein Weib um die sorgenlose Ruhe da drunten zu beneiden. Sie war mit den Blättern im Herbste gefallen, wie sie geahnt hatte – aber sanft und schmerzlos, denn Evi’s Botschaft vom Sohne hatte sie getröstet.
Auch Evi war noch in der Nähe und schritt der kleinen Capelle zu, die an der Mauer gegen die Kirche hin erbaut ist und damals zum Beinhause diente, denn unter dem Altare waren in einem vergitterten Behältniß Knochen und Schädel aufbewahrt, deren einstige Namen auf den unkenntlich gewordenen Stirnen beschrieben standen. Es war Evi nicht entgangen, daß, während die Aufmerksamkeit Aller auf Grab und Begräbniß gerichtet war, in der Capelle ein Männerkopf mit wüstem dunklem Haar sichtbar geworden, den sie nur zu wohl erkannte. Der Bursche wagte sich offenbar nicht aus seinem Versteck hervor und wollte doch Zeuge der traurigen Handlung sein; darüber tauchte in Evi’s Gemüth ein so tiefes inniges Mitleiden auf, und so abgeneigt sie ihm war, als demjenigen, der alles Leidwesen und selbst den Tod der Freundin verschuldet hatte, vermochte sie es doch nicht, so ganz gleichgültig und theilnahmlos an ihm und seiner Verlassenheit vorüberzugehen.
„Versteck’ Dich nit, Quasi,“ sagte sie, in die Kapelle eintretend, „ich hab’ Dich schon gesehen und es ist nur Deinetwegen, daß ich komm’ …“
Er hatte sich in den hintersten Winkel auf eine Betbank gekauert. „Laß mich gehen,“ murrte er. „Was willst von mir? Du kannst mir doch nit helfen …“
„Wer weiß!“ sagte sie nähertretend und herzlich. „Man muß niemals nit verzweifeln!“
„Für mich giebt’s nur noch Eins auf der Welt,“ erwiderte er dumpf. „Ich will warten, bis Niemand mehr draußen ist bei dem Grab – dann will ich auch hin und will ein Wörtl reden mit der, die drunten liegt … dann will ich schauen, wo der Hintersee am tiefsten ist!“
„Nein, Quasi, das ist’s nicht, was Du noch zu thun hast auf der Welt! Willst Du zu dem fremden Leben auch noch Dein eigenes auf Dein Gewissen nehmen? Mach das Gewicht lieber leichter als schwerer … Du kannst gar wohl noch was Andres thun auf der Welt!“
„Und was wär’ denn das?“
„Du kannst wieder gut machen …“
Quasi lachte wild auf. „Gutmachen?“ rief er, „kann ich den armen Wurm wieder lebendig machen, der durch mich so elend hat zu Grund geh’n müssen? Ja, ja … durch mich! Ich hab’ sie umgebracht – ich, der ich sie lieber auf den Händen getragen hätt’ – der … Aber ich mag nit reden davon, es glaubt mir’s doch kein Mensch, wenn ich sag’, wie gern ich sie gehabt hab’ …“
„Zeig’s, daß man Dir’s glauben kann,“ erwiderte Evi eifrig. „Du kannst sie freilich nit mehr lebendig machen, aber Du kannst thun, was sie verlangt hat von Dir …“
„Ja, ja,“ sagte der Bursche, finster vor sich hinstarrend. „Ueberlaß unserm lieben Herrgott, wann und wo wir wieder zusammen kommen, aber wann und wo’s geschieht, will ich Dich fragen, ob Du Wort gehalten hast …“
„Was meinst?“ fragte Evi verwundert. „Was ist das?“
„Das war ihre letzte Red’, wie ich von ihr ’gangen bin …“
„Und Du besinnst Dich noch, was Du zu thun hast? Werd’ ein ordentlicher Mensch, Quasi – kehr’ um auf Deinem schlechten Weg, bereu’ und geh’ in Dich – damit Du ihr einmal Antwort geben kannst auf die Frag’ …“
„Es ist unmöglich,“ entgegnete er fast tonlos, „einmal hab’ ich’s auch geglaubt, daß ich mich wieder heraus heben könnt’ ... ich hab’s erfahren, daß es nimmer geht; die Bürd’, die auf mir liegt, druckt mich hinunter … auf dem Grund, in der tiefsten Tiefen vom Hintersee, da ist mein Platz!“
„Nein, Quasi – die Kordel schaut Dir zu; sie langt Dir die Hand vom Himmel hinunter und hilft Dich hinauf ziehen, wenn Du nur willst!“
Er schwieg einen Augenblick wie nachsinnend. „Es geht nicht mehr,“ sagte er dann finster, „ich kann kein ordentlicher Mensch mehr werden – ich kann nit mehr gut machen, und wenn ich’s wollt … dann ist’s aus mit mir, dann hab’ ich meinen geweisten (gewiesenen) Weg!“
Evi ward aufmerksam. „Wie ist das?“ sagte sie. „So ist’s die Kordel nit allein … Du hast noch was Andres auf dem Gewissen? Vielleicht gar noch was Schwereres?“
„Mein Platz ist schon hergericht’,“ erwiderte er grinsend, „es darf nur ein Anderer aufstehen und mich hineinlassen … in’s Zuchthaus …“
„Wie ist das zu nehmen?“ rief Evi noch eifriger. „Hast Du was gethan, was eine so schwere Straf’ verdient, und ein Andrer muß sie aussteh’n statt Deiner?“
Quasi schwieg und sah vor sich nieder.
„Wenn Du’s mit der armen Kordel nur eine einzige Minuten aufrichtig gemeint hast,“ fuhr das Mädchen in steigender Aufregung fort, „so red’ jetzt und sag’ die Wahrheit … Am End’ bist Du’s gewesen, der den Jäger gestochen hat …“
Quasi schwieg, wie zuvor.
„Du bist es gewesen – sonst könntest Du nit schweigen auf diese Frag’. Und Du kannst es über’s Herz bringen, daß ein braver ordentlicher Bursch statt Deiner unschuldiger Weis’ im Zuchthaus sitzt? daß seine Mutter sich zu Tod gekränkt hat und der Vater auch nit mehr weit hin hat bis zu der Gruben? … O Quasi, Quasi … was hast Du Alles liegen auf Deiner Seel’ … und Du kannst nur einen Augenblick fragen, was Du zu thun hast? Geh’ hin zum Landgericht, sag’ die Wahrheit, mach’ daß der Lebendige wenigstens wieder frei und froh werden kann, wenn Du auch die Todten nimmer aufwecken kannst!“
„Das Zuchthaus,“ sagte der Bursche schaudernd und halblaut … „das Zuchthaus ist ein schreckliches Wort! Und für wen soll ich [279] das thun? Für die Andern? Was gehen die mich an … die sollen selber für sich sorgen! Oder für die Kordel? Für eine Person, die mich gehaßt, die mich veracht’ hat, wie eine Krott (Kröte) am Weg?“
„Und die durch Dich elend zu Grund ’gangen ist! Und wenn sie Dich veracht’t hat, hat sie nit Recht gehabt? Bist Du nit einem Jeden in der Ramsau zuwider, daß sie sich abwenden und ausspucken, wenn sie Dir begegnen? Aber wenn’s Dich wurmt, so zeig, daß sie Dir Unrecht thun – zeig’s, daß Du den Haß und den Abscheu nit verdienst … thu, was recht ist vor Gott und Deinem Gewissen, und schau’, ob die Leut dann nit anders von Dir denken …“
Der Bursche erwiderte nichts; er hatte die Hände vor’s Gesicht geschlagen.
„Du sagst, die Kordel hat Dich gehaßt,“ fuhr Evi dringender fort, „aber einmal – das weißt Du selber am besten, einmal hat sie Dich geliebt, und ein Herz, wie das ihrige gewesen ist, das kann nur einmal lieben und vergißt die Eine Lieb’ niemals mehr! Die Wurzel steckt noch in der Erden – und wenn Du das Unkraut hast wachsen lassen über der Lieb’ zu Dir … reiß’ es aus, Quasi, daß das zarte Pflanzel wieder Luft kriegt und Licht – mach’ daß sie Dich wieder gern haben kann … in der Ewigkeit …“
Quasi regte sich nicht, aber seine bebenden Hände zeigten, was in ihm vorging.
„Nit wahr, Du willst es thun?“ rief Evi wieder. „Ich darf sagen, was Du mir anvertraut hast? Ich darf’s allen Leuten sagen?“
Der Bursche schauderte wie zuvor. „Das Zuchthaus,“ murmelte er bewegt, „das ist ein schreckliches Wort und eine noch schrecklichere Sach’ … aber es wird nit lang dauern, hoff’ ich … Thu’ was Du willst, Evi – ich will machen, daß ich einmal der Kordel die Antwort nicht schuldig zu bleiben brauch’ …“
„O Du lieber Himmelvater da droben!“ rief Evi aufjauchzend, „wie soll ich Dir danken! Vergelt’s Gott tausendmal, Quasi – Du wirst es gewiß nit bereu’n!“ Fast außer sich, athemlos und wankend, eilte sie hinaus auf den Friedhof. „Kommts her,“ rief sie, „Herr Brigadeer – Bühelbauer … Alle kommt’s daher … es giebt eine große Neuigkeit und eine große Freud’ … Der Bühelbauern-Mentel ist unschuldig! Da in der Beinhauscapellen drinnen ist der Quasi … er hat’s mir eingestanden – er ist’s gewesen, der den Jäger-Gaberl selbigesmal gestochen hat in der Wimbachklamm … führt ihn auf’s Landgericht – er hat’s versprochen, er will Alles sagen …“
Sie mußte erschöpft innehalten. Der Brigadier, in seinem Geschäfte gewandt, hatte schon Quasi, der aus dem Beinhause hervorgetreten war, am Kragen und forderte die Bestätigung der überraschenden Angabe. Quasi sah ihn gelassen an, streckte die Hände hin und sagte: „Bind’ts mich nur – ich hab’s gethan und ich will haben, was mir gehört …“ Der alte Bühelbauer sagte nichts; ihm vergingen die Augen, und die ebenfalls herbeigeeilten Bauernweiber mußten den Zusammensinkenden wegführen – dem Leide hatte das starke Herz Stand gehalten, unter der Wucht der Freude drohte es zu erliegen.
Evi blieb allein auf dem Friedhofe zwischen den Gräbern der Bühelbäurin und Kordel’s. „So ist es doch gekommen, wie sie gesagt hat!“ rief sie. „Das selbige Gewölk hat’s wirklich an den Tag gebracht, und die Unschuld ist wieder gefunden, wie etwas was verloren und begraben gewesen ist im Schnee – das habt Ihr Zwei miteinander erbitt’ bei unserm Herrgott im Himmel!“
Wenige Wochen später war eine Feierlichkeit in der Ramsau, wie das stille Thal sie noch nicht schöner und freudiger gesehen hatte. Obwohl es nicht roth im Kalender stand und auch kein abgeschaffter Feiertag eine Ausrede bot, die Arbeit liegen zu lassen, ruhten doch auf allen Höfen die Hände und Ackerwerkzeuge; desto mehr hatten die Füße zu thun, denn bei der Todtencapelle am Berchtesgadner-Sträßchen schien schon die gesammte Bevölkerung des Thals versammelt zu sein, und noch nahmen die Fußgänger und Fußgängerinnen kein Ende, welche von allen Seiten herbeiströmten. Unweit der Capelle war aus Tannenreisern ein Bogen über die Straße gespannt und mit Bändern und Papierstreifen geziert, wie man zu thun pflegte, wenn etwa ein neuer Vicar in die Berggemeinde einzog, oder wenn gar aus dem benachbarten Berchtesgaden, seinem Lieblingsaufenthalte, König Max der Gütige zum Besuche hereinkam oder auf die Gemsjagd fuhr an den Hintersee.
Mentel wurde zurückerwartet; dem unschuldig Verurtheilten und nun Gerechtfertigten bereitete das Landvolk den festlichen Empfang.
In gedrängten Gruppen umgab es den Lehrer und den Brigadier, welche erzählten, wie Quasi wirklich Alles aufrichtig und vollständig eingestanden habe; wie da das Verfahren schnell zu Ende geführt und dem Mentel seine Freiheit angekündigt werden konnte. Der alte Bühelbauer stand seitwärts neben dem Herrn Vicar; er trug den Nacken wieder so gerade wie sonst, als sei er noch einmal jung geworden, und sprach leise und angelegentlich mit dem geistlichen Herrn und überhörte darüber beinahe, daß ein Wägelchen die Straße heranrasselte. „Er ist’s!“ schrie es. „Er kommt. Grüß’ Gott, Mentel, grüß’ Gott daheim in der Ramsau!“ und Alles drängte nach dem Wagen, daß Mentel kaum abzusteigen vermochte. Auch der alte Bauer wollte zum Wagen hin, aber er hatte sich doch in seiner Kraft getäuscht – es ging ihm wie damals auf dem Friedhofe und er wäre umgesunken, hätten ihn nicht Mentel’s Arme gehalten.
Vater und Sohn hielten sich umschlungen – lang und schweigend, ein solches Wiedersehen hat seine Sprache nur in Thränen, und auch gar Manchem im Umstand wurden die Augen feucht. „Vater – Vater!“ war endlich Alles, was Mentel herausbrachte, und der Alte konnte unter Schluchzen nichts Anderes erwidern als: „Daß das die Mutter nit erlebt hat … aber sie ist gestorben im Glauben an Deine Unschuld!“
Der Vicar benutzte den Augenblick, um in einer kurzen Anrede an seine letzte Grabpredigt anzubinden, und wie eine feierliche Bestätigung von oben klang es, als von der Kirche her die Glocken in seine Mahnung ertönten, wie der Herr sein ewiges Wort erfülle und kein Haar vom Haupte des Menschen fallen lasse ohne sein Wissen. Am Schlusse hieß er den dem Leben und der Gesellschaft Wiedergebenen willkommen und forderte ihn auf, den ersten Gang keinen andern sein zu lassen, als den zum Dankgebet in die Kirche.
Das gesammte Volk schloß sich an und drängte in das Gotteshaus, durch das bereits die Orgel erscholl. Durch die Grüßenden alle schritt Mentel an des Vaters Seite zu dem gewohnten Platz; er grüßte und dankte wieder, aber dem Alten entging es nicht, daß sein Blick dennoch wie irrend durch die Menge glitt, als suche er ein vermißtes Angesicht. Er wandte sich einem alten Nachbar zu und sagte ihm etwas in’s Ohr, worauf dieser kopfnickend und mit schlauem Lächeln die Kirche verließ.
In der Ledermühle war indessen Evi einsam gesessen und wehrte der Müllerin die Fliegen ab, die todeskrank und schwach auf einigen Kissen auf der Ofenbank lag und eingeschlafen war. Das arme Mädchen hatte einen harten Kampf gekämpft. Als Mentel’s Befreiung und seine Wiederkehr in die Heimath entschieden war, hatte sie keinen Augenblick mit dem Entschlusse gezögert, das Thal zu verlassen; es sollte nicht den Anschein haben, als wollte sie ihm wieder begegnen und frühere Beziehungen anknüpfen – es sollte das um so weniger, als der alte Bühelbauer seit der neuen Wendung der Dinge sich um sie gar nicht gekümmert und, in seinem Grolle verharrend, sie nicht einmal eines dankenden Wortes gewürdigt hatte. Dennoch hatte die Ausführung dieses Vorsatzes sich Tag um Tag verzögert, denn die von Kordel übernommene Verpflichtung lag ihr nicht minder warm am Herzen, und sie konnte es nicht über sich bringen, den hülflosen Blöden in seinem gesteigerten Stumpfsinn und das arme Weib zu verlassen, das sich in innern Vorwürfen und unausgesprochenem Grame verzehrte. Sie mußte jedenfalls so lange bleiben, bis eine taugliche und verlässige Person gefunden war, welcher man die Ledermühle und ihre unglücklichen Bewohner ruhig anvertrauen konnte, und eine solche war bei den bestehenden Verhältnissen nicht leicht zu finden. Endlich war eine Wahl, wenigstens zur Aushülfe, getroffen, und Evi hatte den Bitten der Müllerin so weit nachgegeben, daß sie in einiger Zeit wieder zu kommen versprach. Bis dahin durfte sie glauben, daß die Dinge auf dem Bühelhofe sich geändert haben würden, so daß ihrer Rückkehr, wenn sie dann noch nöthig war, nichts mehr entgegen stand. Darüber war der Tag herangekommen, an welchem Mentel’s Rückkehr erfolgen sollte und eine Zögerung nicht mehr möglich war. Die neue Wirthschafterin war noch in’s Dorf zum Krämer hinabgelaufen und kam immer noch nicht zurück; ängstlich, mit hochklopfendem Herzen trat Evi an’s Fenster und hörte das Glockenläuten, dessen Deutung sie nur zu wohl verstand. Endlich sah sie die Alte gegen die Mühle herankommen und ergriff hastig den schon bereit liegenden Wanderbündel. Die Müllerin schlief noch immer. Evi ließ die Alte, die von den Ereignissen im Dorfe [280] erzählen wollte, nicht zu Worte kommen und drängte sie in die Hausflur hinaus. „Grüß’ mir die Müllerin noch einmal,“ sagte sie, „sie soll sich nit zu sehr kränken; wie ich mich daheim ein bissel losmachen kann, bin ich wieder da … ich will rückwärts hinaus – damit ich dem Müller nicht begegne … es käm’ mich gar zu hart an; halt’ ihn fein gut, den armen Menschen. … Nit wahr?“
Damit wollte sie fort, aber die Frau ließ sie nicht los. „Was eilt’s Dir denn gar so sehr?“ rief sie. „Man kann Dir ja gar nicht ausrichten, was man auszurichten hat! Da drunten unter den Bäumen ist mir ein Mannsbild in den Weg gekommen und hat nach Dir gefragt und hat Alles so genau gewußt von Dir, daß es wohl ein guter alter Bekannter sein muß. Er will durchaus mit Dir reden und läßt Dich bitten um Alles in der Welt, Du sollst hinauf kommen zu dem großen Lindenbaum an der Wegscheid – dort will er auf Dich warten … er hat Dir was recht Nothwendiges zu sagen.“
„Mir?“ sagte Evi verwundert. „Wer soll das sein? Wie sieht er aus?“
„Ein kleiner hagerer Mann ist’s mit einem griseligen (graulichen) Bart und einem wachsgelben Gesicht. …“
„Mein Weg führt mich ohnedem an den Linden vorbei,“ sagte Evi sie unterbrechend, weil eine Ahnung in ihr aufzuckte. „Da werd’ ich ja sehen, was es ist und was er will. … Und so nochmals b’hüt Gott beieinander. …“
Sie eilte fort, auf der Berghöhe dahin, hinter den einzelnen Höfen und dem einsamen Kirchlein am Kunterweg, dessen Kuppel sich über Hügel und Wald emporhob. Schon nahte sie der Linde, die ihr tausendjähriges Laubdach frischgrün und weithin ausbreitete, groß genug, einem ganzen Wallfahrtszuge einen schattigen Ruheplatz zu gewähren. Sie erkannte schon von fern, daß ihre Ahnung sie nicht betrogen hatte – dennoch schrak sie wie unwilllürlich zurück.
Unter der Linde, auf einer der mächtigen aus dem Boden aufragenden Wurzeln saß der Jäger-Gaberl, nicht zu verkennen, wenn er auch nicht mehr das Gewand des Jägers trug, sondern etwas fremdartig gekleidet war.
„Du bist’s?“ rief sie unwillig. „Was kannst Du mir zu sagen haben?“
„Erräthst Du’s nicht?“ erwiderte er lachend. „Ich meine, ich sollte Dir just gelegen kommen! Du willst ja fort; da ist das, was ich bringe, gewiß am rechten Platz!“
„Geht’s Dich an, was ich im Sinn hab’?“
„Aha, Du bist noch immer so oben hinaus? Giebst es noch immer nicht wohlfeiler? – Anhören sollst Du mich wenigstens! Ich bin das letzte Mal fort in aller Eil’ …“
„Du weißt, warum!“
„Nichts weiß ich – eine Dummheit war’s! Wär’ ich geblieben, kein Mensch hätt’ mir ein Haar gekrümmt. Hab’ ich mich nicht meiner Haut wehren müssen? Hab’ ich in dem Getümmel wissen können, wen mein Hirschfänger trifft? Hat er’s nicht selbst gesagt, der … derjenige, den ich nicht nennen will?“
„Weil er ein goldenes Gemüth gewesen ist, das Du gar nit verstehst – weil er Dich nicht hat in’s Unglück bringen wollen!“
„Was hat’s mir genützt? Fort war ich einmal und auf meinen neuen Posten hab’ ich auch nicht mehr hingekonnt – da hab’ ich mich kurz resolvirt und bin ausgewandert, tief nach Ungarn hinunter! Da ist doch noch ein ungebundenes, ein fideles Leben, ich hab’ mir eine Schenkwirthschaft eingerichtet und lebe wie der Vogel im Hanfsamten! Jetzt bin ich noch einmal herauf gereist – ich wollte meine Mutter und meine Verwandten sehen und, wenn’s angeht, eine fidele Wirthin mitnehmen in’s Ungarland …“
„Ich hab’s schon einmal gesagt, Glück auf den Weg – und das bald! Es könnte leicht sein, daß Dir Einer begegnet und Dich fragt, ob Du ihn so gewiß erkannt hast, dort in der Wimbachklamm.“
„Er soll mir kommen – ich hab’s nicht mit ihm zu thun, sondern mit Dir … Dich will ich fassen und nimmer loslassen. …“
Er ergriff wirklich ihren Arm, aber sie sprang zurück und rief:
„Weg von mir mit Deiner blutigen, meineidigen Hand. …“
„Meineidig?“ höhnte er. „Ich glaube, Du träumst! Wer kann aufstehen und kann mir beweisen, daß ich ihn nicht dafür gehalten habe? Mehr hab’ ich nicht geschworen. … Aber Du – fürchtest Du Dich nicht noch weit mehr, daß Du dem Gewissen begegnest? Warum gingst Du sonst fort? Du siehst ein, daß Du nicht mehr bleiben kannst … daheim hast Du auch nichts zu suchen … es bleibt Dir doch nichts übrig, als Deiner Lebtag ein Dienstbot’ herumzufahren unter den fremden Leuten … Sei gescheidt, Evi, und geh’ lieber mit mir – im Ungarland da ist’s ein anderes Leben. …“
„Geh’ mir aus dem Weg,“ sagte Evi kurz, „lieber betteln, als Dir was verdanken – lieber sterben, als mit Dir gehen!“
„Zum Betteln kann’s mit der Zeit vielleicht kommen,“ höhnte der Jäger, „vom Sterben ist noch keine Rede! Jetzt soll’s aus einem andern Ton gehen, und der heißt – müssen“
„Wer will mich zwingen?“ sagte Evi stolz.
„Ich!“ erwiderte Gaberl. „Gehst Du nicht gutwillig mit mir, so gehst Du mit Gewalt!“ Er that einen gellenden Pfiff und fuhr fort: „Dort auf der Straße wartet mein Knecht mit meinen ungarischen Hetzern … er wird gleich da sein, dann heben wir Dich auf und tragen Dich in den Wagen und fort über die Grenz’ nach Ungarn – kein Hahn kräht Dir nach!“ Damit fasste er sie wiederholt am Arme und riß sie an sich. Sie hielt sich an den Stamm der Linde und bot alle Kraft zum Widerstande auf, um zu entrinnen, eh’ der Knecht eintraf, den sie schon über die Felder heranspringen sah. Sie rangen miteinander – da schlug fernes Geräusch an ihr Ohr – sie machte eine letzte verzweifelte Anstrengung sich loszureißen, welche gelang … ein hastiger Sprung in’s Freie – aber er war zu kurz und über eine der Riesenwurzeln der Linde stürzte sie zu Boden. …
– Als sie wieder erwachend die Augen aufschlug, war es ihr, als ob sie träume. Einige Augenblicke sah sie wie prüfend und sich besinnend im Kreise umher, und ein seliges Lächeln überflog ihr Gesicht. Um sie herum standen lauter fröhliche, lachende, ihr zunickende Menschen; es war die halbe Einwohnerschaft der Ramsau, darunter der Vicar und der Bühelbauer, der gar nicht so ernsthaft und streng aussah, wie sonst – und neben ihr kniete Mentel, hielt eine ihrer Hände an die Brust gedrückt und blickte ihr mit aller Innigkeit der Liebe in’s Gesicht. „Was ist denn das?“ stammelte sie. „Träumt mir denn oder bin ich gestorben und wach’ im Himmel auf – bei der ewigen Lieb’ und im ewigen Frieden?“
„Noch bist Du bei uns auf der Erden, Gott sei Dank,“ sagte Mentel zärtlich, – „aber die ewige Lieb’ ist doch bei Dir!“
„– Und der ewige Frieden!“ setzte der Bühelbauer nähertretend hinzu. … „Steh’ auf, Evi – ich sag’ Dir’s vor allen Leuten, Du bist die bravste Person, die ich kenn’, und ein ordentliches Madel; ich bin selbst draußen gewesen und hab’s so mit herein gebracht vom Tölzer Landgericht. Ich hab’ Dir unrecht gethan – Du aber hast Dich nit gerächt dafür; Du hast meiner lieben Bäuerin zu einer ruhigen Sterbstund’ verholfen und hast mir meinen Sohn wieder gebracht … dafür soll der Bursch’ auch Dein gehören, wenn Du ihn magst! Steh’ auf, es ist Alles schon hergericht’ in der Still’ – der Hof gehört’ von heut’ an dem Mentel, Eure Zeugnisse sind da – die Erlaubniß ist da – die Dispens ist da wegen der Verkündigung – wenn Du willst, kann am Sonntag die Hochzeit sein … gieb mir die Hand und schlag ein!“
Evi war an Mentel’s Arm aufgestanden; sie vermochte noch immer nicht sich in den schnellen Wandel zu finden und zu antworten. „Du sagst nichts?“ rief Mentel. „Willst Du’s nit wiederholen vor aller Welt und unter Gottes freiem Himmel, was Du mir nur an dem schrecklichen Ort gestanden hast, wo Du allein zu mir ’kommen bist, wie ein guter Engel?“
„Laß sie gehen, Meutel,“ sagte der Bühelbauer, nicht ohne einen Anflug von Mißmuth, daß das gehoffte freudige Ja sich so lange erwarten ließ. – „Ich weiß schon, was sie verlangt und auf was sie wartet. …“ Er trat etwas näher und wollte die Hände erheben, um sie wie ein Bittender zu falten, im selben Augenblick aber hielt Evi sie umfaßt und lag weinend an der Brust des nicht minder gerührten Alten. „Da ist Dein Platz jetzt, als meine liebe Schwieger,“ sagte er, indem er sie in Mentel’s Arme führte, der sie innig umschlang. „Und jetzt vorwärts!“ fuhr er fort. „Es ist Alles in Ordnung und gut hat sich’s betroffen, daß wir von der Mühl’ herauf ihr gleich nach sind und haben den Jäger, den schlechten Burschen, versprengt. – Jetzt hinunter in’s Dorf und auf den Bühelhof, und damit Dich Keins über die Achsel anschaut, weil Du fremd und nit reich bist, so nehm’ ich Deinen Wanderbündel in die Hand und trag’ ihn Dir nach in’s Haus als Gemeindevorsteher und Bauer!“
Jubelnd setzte der Zug sich in Bewegung und schlängelte sich den waldigen Kunterweg hinab; Jauchzen und Gesang erscholl, die Musikanten, die mitgegangen waren vom Hochamte her, bliesen [281] voran, und hinter ihnen kamen die Kinder, besonders die Mädchen in der festlichen Kirchentracht mit weißen Kleidern und offnen Haaren, durch das ein rothes Band geschlungen ist oder ein grüner Zweig.
Mentel zog seine überglückliche Braut an sich; sein Herz war so voll von Dingen, die er ihr alle zu sagen hatte, daß er aus Ueberfülle wortarm wurde wie sie. „Also gehörst jetzt mein, wirklich und wahrhaftig mein?“ flüsterte er. „Und dasselbe Zetterl, das ich gefunden hab in der bösen Nacht – es ist doch von Dir gewesen und für mich? Weißt Du die drei Buchstaben noch? Der dritte – der heißt Rosenrot. …“
„Ich will Dich lieben bis in Tod …“ erwiderte Evi und sank ihm an die Brust.
Die Hochzeit auf dem Bühelhof fand bald statt; sie war ein Fest nicht nur für die Bewohner des Gehöftes, sondern für jene der ganzen Ramsau – ein Fest, dem reine schöne Tage folgten, denn mit dem schwergeprüften Paare war fortan das Glück, und sie führten, nach der Bezeichnmtg des Volks, ein Leben „wie im Himmel!“
Quasi ertrug das Zuchthausleben nicht lang: er starb nach wenigen Monaten. Die Müllerin war ihm vorangegangen, von Evi bis zum letzten Athemzuge mit der Sorgfalt einer liebenden Tochter verpflegt. Die einsame Ledermühle wurde verkauft und der blöde Alte auf dem Bühelhofe untergebracht; aber er war fremd dort und wollte nicht bleiben – eines Morgens wurde er todt auf Kordel’s Grab gefunden.
Von dem Jäger kam keine Kunde mehr in’s Land; nach vielen Jahren kam ein landfremdes unbekanntes Weib und hing in der Kapelle am Kunterweg neben dem Altar einen Hirschfänger auf, wie die Jäger sie zu tragen pflegen. Sie war weit hergekommen deswegen und hatte, wie sie sagte, das letzte Gelöbniß eines Sterbenden damit erfüllt – diesen selbst nannte sie nicht, aber das Volk glaubte ihn zu errathen.
In der obern Stube des Bühelhofes hing Mentel’s Stutzen; darunter in einem immer frisch erhaltenen Kranze von Alpenrosen und Edelweiß eine unvollendete Farbenskizze aus Reinthaler’s Rücklaß, die fröhliche Gesellschaft darstellend, die sich einmal auf dem Scharten-Kaser zusammengefunden. Oft standen Mentel und Evi davor und dachten der edlen Todten, und wie von Allen ihnen allein das Leben sich entfaltet hatte zu Blüthen der Liebe und des Glücks. „Wir wollen Gott dafür danken alle Tag!“ sagte dann der junge Bauer, sein Weib an sich drückend, „aber wahr ist es halt doch geblieben, was ich damals gesungen hab’:
Denn Almenrausch und Edelweiß,
Die g’hören dennerscht z’samm!“
An einem jener herrlichen Octobertage, an denen das letzte Jahr so reich war, stand ich vor der Begräbnißstätte der Familie von Humboldt in Tegel. Dieselbe gleicht durchaus nicht den prunkvollen Erbbegräbnissen anderer adliger Familien, welche ihr Angedenken in Marmor und Erz zu bewahren und zu verherrlichen suchen. Keine gotische Kapelle, kein griechischer Tempel erhebt sich hier stolz und anspruchsvoll und bezeichnet den Ort, wo die „Edlen“ ruhen, dennoch ergreift uns Ehrfurcht beim Anblick dieses wirklichen Friedhofes, über den sich nur Gottes blauer Himmel wölbt. Eine schattige Lindenallee führt uns von dem Schlosse Tegel zu einem höher gelegenen Tannenwäldchen, in dessen Mitte sich ein großer grüner Rasenplatz, mit Blumen und Sträuchen bepflanzt, ausbreitet. Ein eisernes Gitter schließt das Viereck ein, welches die heilige Menschensaat beschützt; nicht das Kreuz, das nur zu oft mißverstandene Symbol des Glaubens, sondern die Marmorstatue der „Hoffnung“, von Thorwaldsen’s Künstler- und Freundeshand gebildet, blickt von hoher Säule auf die theuren Gräber nieder, welche durch keine rühmenden Inschriften, sondern nur durch die Namen der großen hier ruhenden Todten hinlänglich bezeichnet und vor Vergessenheit geschützt werden. Ein unaussprechlicher Zauber ist über das Ganze ausgegossen, ein Geist des Friedens und, fast möchte ich sagen, griechischer Heiterkeit mit classischer Ruhe und Würde vereint. Eine grüne Bergwand, die den Hintergrund bildet, wehrt den rauhen Stürmen und wacht über die heilige Stille des Todes. Die Strahlen der untergehenden Sonne lassen das Marmorbild der Hoffnung in rosig goldenem Lichte glühen, während der Abendwind leise durch die Gipfel der alten Bäume des Parkes rauscht und die herbstlich gefärbten Blätter auf die epheuumrankten Gräber streut.
Das ist die Begräbnißstätte der Familie Humboldt; hier ruhen Wilhelm und Alexander, die geistesverwandten Brüder, die Dioskuren deutscher Wissenschaft.
Kehren wir von dem Friedhofe zu dem Schlosse zurück, das nach den Plänen Schinkel’s 1822 erbaut worden ist, so begegnen wir auch hier überall den Spuren des Genius und seinem unvergänglichen Walten. Griechischer Geist spricht aus der mit dorischen Säulen geschmückten Halle, aus den Reliefs und Marmorbildern an den Wänden. Wir wenden uns zunächst nach dem Studirzimmer Wilhelm’s von Humboldt, das rechts zur ebenen Erde liegt. In der Nähe des Fensters, durch welches das freundliche Grün der Bäume blickt, steht der massive Schreibtisch von Mahagoniholz, woran der Weise so manche dunkle Nacht durchwacht und des Wissens Schätze gefördert. Hier schrieb Wilhelm von Humboldt in ehrenvoller Muße seine Forschungen über die Kawi-Sprache und jene Sonette, die verschwiegenen Blüthen seines Herzens, umgeben von den schönsten und erhabensten Kunstwerken des Alterthums und der Gegenwart, antiken Statuen, Copien Rafael’s und Zeichnungen und Arbeiten von Thorwaldsen. Dicht neben diesem Arbeitszimmer befindet sich das kleine, höchst einfache Schlafcabinet, worin Wilhelm von Humboldt, der berühmte Staatsmann und Gelehrte, am 8. April 1835 starb.
Wilhelm von Humboldt, der Sohn des Majors und Kammerherrn Alexander Georg von Humboldt, aus altadeligem Geschlecht, wurde am 22. Juni 1767 in Potsdam geboren. Seine Mutter war Marie Elisabeth Colomb, verwitwete Frau von Hollwede, welche die Güter Riegenwalde in der Neumark, Falkenberg und Tegel erbte. Da der Vater frühzeitig starb, ruhte die Last der Erziehung ihrer beiden Söhne allein auf den Schultern der Wittwe. Sie sorgte dafür in wahrhaft ausgezeichneter Weise, indem sie ihnen den berühmtesten Pädagogen der damaligen Zeit, den bekannten Kampe, Verfasser des Robinson, und später den kenntnißreichen Botaniker Kunth zu Lehrern gab. Ehe die Brüder die Universität besuchten, war es ihnen noch vergönnt, in Berlin den Vorlesungen eines Dehm über politische Statistik, des bedenkenden Rechtskundigen Klein über Naturrecht und vor Allen dem Unterrichte des berühmten Philosophen Engel beizuwohnen. Wichtiger noch als diese wissenschaftlichen Grundlagen war der Umgang und die Freundschaft, deren die strebsamen Jünglinge von Männern wie Biester, Ramler, Moritz, Teller, Friedländer und Herz gewürdigt wurden, den Geistesverwandten, Schülern und Freunden eines Lessing und Mendelssohn, den Trägern jener humanen Aufklärung, die mit Friedrich dem Großen den Thron bestieg und Berlin zur Stadt der Intelligenz erhob. Vor der Einseitigkeit dieser bloßen Verstandesrichtung wurde Wilhelm von Humboldt durch den Verkehr mit liebenswürdigen Frauen und besonders mit der schönen Hofräthin Henriette Herz behütet, bei denen das Gemüth seine volle Rechnung fand. Im Kreise dieser Freundinnen herrschte bereits jene sentimentale Richtung der Siegwart-Periode vor, die in Goethe’s Werther später ihren poetischen Ausdruck fand. Es bildete sich eine Art Tugendbund der „empfindsamen Seelen“ mit besonderen Statuten, Zeichen und geheimen Chiffern für die Eingeweihten, die mit einander correspondirten und das vertraute Du bei ihren gegenseitigen Herzensergüssen gebrauchten.
Unterdessen war die Zeit herangerückt, wo die beiden Brüder mit ihrem Hofmeister Kunth die Universität in Frankfurt a. d. O. bezogen, welche sie nach kurzem Verweilen mit der berühmteren in Göttingen vertauschten, wo Wilhelm von Humboldt neben juristischen Collegien besonders Philologie bei dem berühmten Heyne hörte. In seinem Hause lernte Humboldt dessen geistreiche Tochter Therese und ihren späteren Gatten, den genialen Naturforscher Forster kennen, mit dem ihn, wie mit dem berühmten Geschichtsforscher Johannes von Müller und dem bekannten philosophischen Dichter Jacobi, bald die innigste Freundschaft verband.
Ein so reichhaltiges Leben mußte notwendiger Weise einen bedeutenden Einfluß auf den Bildungsgang des Jünglings üben, dessen Geist im Umgang mit den hervorragendsten Männern seiner
[282] Zeit sich erweiterte und klärte, so daß hier der Grund zu seiner humanen und idealen Weltanschauung, zu der ihm eigenthümlichen harmonischen Vollendung gelegt wurde. Auch die großen, welterschütternden Ereignisse des Jahrhunderts sollten nicht spurlos an ihm vorübergehen; in Begleitung seines Bruders und des früheren Erziehers Campe war es ihm vergönnt, den ersten, noch nicht mit Blut befleckten Triumphen der neugeborenen Freiheit in Paris selbst beizuwohnen. Hier traten ihm die Geschicke der Völker und die Lehren der Geschichte nahe, die sich in unauslöschlichen Zügen ihm einprägten. Der Rückweg führte ihn durch die Schweiz und Süddeutschland, wo er die großartige Natur, die türmenden Gebirge, die schneebedeckten Felsmassen und die eisigen Gletscher auf sein Empfindungsleben und seine Phantasie einwirken ließ. Immer blieb ihm aber der Mensch und sein Denken das Wichtigste; deshalb suchte er überall neue Verbindungen anzuknüpfen, so in Zürich mit dem bekannten Lavater, den er jedoch schon damals als einen geistreichen Charlatan richtig würdigte.
Vorbereitet wie Wenige seiner Altersgenossen trat Wilhelm von Humboldt nach beendeten Studien in den Staatsdienst; für ihn war die Hochschule zur wirklichen Universitas des Geistes geworden. Zwar fand er in Berlin den alten Kreis der Freunde wieder, aber die Stimmung, besonders in den höhern Gesellschaftsschichten, hatte sich wesentlich verändert. Die fast an Frivolität grenzende Aufklärung unter Friedrich dem Großen hatte einem noch verwerflicheren Pietismus weichen müssen, der durch des verrufenen Wöllner’s Religionsedict allen bisherigen Fortschritten des preußischen Volkes für immer eine Schranke zu setzen drohte. Ein unerschütterliches Bollwerk gegen diesen gläubigen Despotismus bildete das berühmte Kammergericht zu Berlin durch seinen Freimuth und erprobten Rechtssinn. An dieser Behörde arbeitete Wilhelm von Humboldt als Referendarius, und der Zufall wollte es, daß er bei einer der wichtigsten Entscheidungen dieses Gerichtes neben seinem Lehrer Klein als Protokollführer in einem Censurprocesse fungiren und so an dem folgenden Ausspruche wenigstens mittelbar Theil nehmen durfte: „Vielmehr verdient Beklagter öffentlichen Dank, daß er ohne Nebenabsichten als ein gewissenhafter und verständiger Staatsdiener seine Stimme gegeben und, so viel an ihm ist, die Rechte der Vernunft und die mit ihnen verbundene Ehre der preußischen Regierung aufrecht erhalten hat.“
Humboldt zog es unter den obwaltenden Verhältnissen vor, den Staatsdienst zu verlassen und nur noch seiner eigenen Ausbildung ferner zu leben, indem er den Grundsatz festhielt: „Der Moral erstes Gesetz ist: bilde Dich selbst, und nur ihr zweites: wirke auf Andere durch das, was Du bist.“ – Dieser Schritt wurde ihm wesentlich erleichtert durch die Begründung einer eigenen Häuslichkeit, indem er durch die Vorsorge der „empfindsamen Freundinnen“ die für ihn geschaffene Lebensgefährtin in Caroline von Dacheröden fand. Schon auf seiner Rheinreise lernte Wilhelm von Humboldt das durch Adel und Feinheit der Gesinnung ausgezeichnete Mädchen kennen, mit dem er sich bereits 1790 verlobte, um sie ein Jahr später als treue Gattin beglückt heimzuführen. Mit dem Titel eines Legationsrathes schied er aus dem preußischen Staatsdienste und bezog das Gut seier Frau, Burgörnen in der Nähe von Mansfeld.
Seinem Vorsatze getreu benutzte er die selbstgewählte Muße zu seiner Bildung im weitesten Umfange, indem er zunächst seine durch Heyne in Göttingen angeregten philologischen Studien wieder aufnahm. Schon im Dacheröden’schen Hause hatte Humboldt die Bekanntschaft des großen Philologen Wolf gemacht, der von Neuem mächtig in ihm die nie erloschene Liebe zu dem classischen Alterthum anfachte. Dennoch verlor er über diese Studien nicht den Sinn für die lebendige Gegenwart und ihre fortschreitende Entwicklung. Schon früher beschäftigte er sich mit den Schriften des großen Königsberger Philosophen Kant; immer mehr vertiefte er sich in dem Bergwerke der Gedanken, welche jener zuerst aufgedeckt. Ein Ergebniß des eigenen Nachdenkens und Forschens waren die „Ideen über Staatsverfassung“, worin er die Freiheit des Individuums gegenüber der bureaukratischen und politischen Bevormundung des Staates in Schutz nahm.
Die Vorliebe für Kant war der eigentliche Kitt jener Freundschaft zwischen Humboldt und Schiller, die sich zunächst aus ihren beiderseitigen Herzensangelegenheiten und Familienbeziehungen entwickelt hatte. Der Dichter des Don Carlos war der Magnet, welcher Humboldt von Burgörnen nach Jena zog, wo Schiller als Lehrer der Geschichte eine Anstellung gefunden hatte. Beide begegneten sich in demselben Streben nach den Idealen der Menschheit, in der gleichen ästhetischen Weltanschauung, in der Verehrung und dem Studium der Kant’schen Philosophie.
Das innige Verhältniß der schon früher befreundeten Frauen pflanzte sich auf die Männer fort, beide Familien bildeten bald nur eine; täglich sah man sich, und oft dauerte das anregende Gespräch bis spät nach Mitternacht. Mit gerötheten Wangen und leuchtenden Augen entwickelte der Dichter dem lauschenden Freunde seine erhabenen Gedanken, welche dieser in sich aufnahm und weiter zu immer größerer Klarheit entwickelte.
Kindespflicht und Familienrücksichten nöthigten Humboldt, den verehrten Dichter und Jena zu verlassen, da seine Mutter gefährlich erkrankt den Sohn in ihrer Nähe wünschte. An die Stelle der mündlichen Unterredung trat jener Briefwechsel mit Schiller, der ein herrliches Zeugniß für ihre Freundschaft und geistige Größe ablegt und zu den hervorragendsten Denkmälern deutscher Bildung gezählt werden darf. Einigen Ersatz für den abwesenden Freund gewährte der Umgang mit der geistreichen Rahel Levin und mit dem vielbegabten, wenn auch charakterlosen Gentz, der schon früher mit Wilhelm von Humboldt bekannt geworden war. Größtentheils aber beschäftigte sich dieser mit größeren kritischen Arbeiten, unter denen sein Werk „Ueber Goethe’s Hermann und Dorothea“ den ersten Platz behauptet und gleichsam sein ästhetisches Glaubensbekenntniß ausspricht.
Gleich nach dem Tode der Mutter trat Humboldt mit seiner Frau eine größere Reise an, die ihn zunächst nach Frankreich und dann nach Spanien führte, wo er durch Kenntnißnahme des Baskischen den Grund zu seinen späteren umfassenden Sprachstudien legte. Reich mit Schätzen des Geistes und neuen Anschauungen beladen, kehrte er über Weimar, wo er den theueren Schiller traf, nach Berlin und Tegel zurück. Hier wurde er nicht wenig durch den Antrag der Regierung überrascht, wieder in Staatsdienste zu treten. Durch den Cabinetsrath Beyme wurde er zum Ministerresidenten in Rom dem Könige vorgeschlagen und von diesem angenommen, ein Posten, den er trotz seiner Liebe zur Freiheit um so lieber antrat, da er ihm die Gelegenheit verschaffte, seinen Neigungen und Studien auf classischem Boden zu leben. Im Herbst des Jahres 1802 reiste Humboldt nach Rom, wo sein Haus auf dem Pincischen Hügel bald der Mittelpunkt einer ausgezeichneten Gesellschaft wurde, angelockt von dem Geiste Humboldt’s und der bezaubernden Liebenswürdigkeit seiner Gattin. Vor Allen waren Schriftsteller und Künstler, wie Schlegel, die Staël, Rauch, Tieck und Thorwaldsen, hier willkommen und gern gesehen. So benutzte er seinen Einfluß zur Hebung der Kunst, welche damals Hand in Hand mit unserer Literatur einen nie geahnten Aufschwung nahm, an dem Humboldt selbst keinen geringen Antheil hatte. In seiner amtlichen Stellung, die ihm hinlängliche Muße ließ, erwarb er sich die Achtung seiner Vorgesetzten sowie der römischen Regierung, bei der er Preußen in würdigster Weise vertrat.
Während er so in Rom voll classischer Erinnerungen schwelgte, stürzte indeß die Monarchie Friedrich des Großen, aus der sein hoher Geist längst gewichen war, unter dem Angriffe des neuen Cäsars schmachvoll zusammen. Schmerzlich war der Eindruck, den eine so unerwartete Niederlage hervorrief, aber in Humboldt lebte nicht nur die unfruchtbare Bewunderung des classischen Alterthums, sondern auch sein Bürgersinn, die männliche „Virtas“ der großen Vorwelt. Er beugte sich weder wie der abtrünnige Johannes von Müller vor Napoleon’s blendender Gewalt, noch flüchtete er wie Goethe vor dem Sturme der Zeit in die stille Wissenschaft, einem ohnmächtigen Quietismus huldigend.
Thätig nahm er an der Wiederbelebung und neuen Schöpfung des preußischen Staates Theil, die der Minister Stein unter den ungünstigsten Verhältnissen mit eherner Kraft in’s Leben rief. Der unglückliche König ernannte Humboldt zum Leiter des Cultus und Unterrichts, und dieser erfaßte seine große Aufgabe mit freudigem Opfermuthe und hohem Sinn, indem er den „deutschen Geist“ vor Allem als die einzige wirksame Waffe gegen die Gewalt und den Despotismus Napoleon’s richtig erkannte und in der Seele des niedergedrückten Volkes zu erwecken suchte. Er selbst rührte und schürte die heilige Gluth, indem er die ihm zu Theil gewordene Aufgabe der Erziehung des Volkes mit bewunderungswürdiger Energie und Weisheit löste. Für diesen hohen Zweck schien ihm das Elementarerziehungswesen, wie es [283] Pestalozzi lehrte, besonders geeignet, weshalb er als einer der eifrigsten Beförderer desselben für seine Einführung in Preußen wirkte. Fast noch wichtiger war die Gründung der Berliner Universität, die er dem Könige vorschlug, indem er seinen Antrag mit folgenden Worten motivirte: „Auf’s Neue würden sich Eure Majestät dadurch Alles, was sich in Deutschland für Bildung und Aufklärung interessirt, auf das Festeste verbinden, einen neuen Eifer und neue Wärme für das Wiederaufblühen Ihrer Staaten erregen und in einem Zeitpunkt, wo ein Theil Deutschlands vom Kriege verheert, ein anderer in fremder Sprache von fremden Gebietern beherrscht wird, der deutschen Wissenschaft eine vielleicht kaum jetzt noch gehoffte Freistatt eröffnen.“
Es war dies einer der größten und kühnsten Gedanken, unter den Augen der fremden Unterdrücker, während auf dem Lande eine fast unerschwingliche Kriegssteuer lastete, mit den schwersten Opfern eine wissenschaftliche Lehranstalt in der Metropole des Landes zu begründen, aus welcher, wie Pallas Athene geharnischt aus dem Haupte Jupiters, der Geist der Freiheit in unbezwinglicher Rüstung hervorsprang. Männer wie Fichte, Schleiermacher, Wolf und Böckh, Savigny und Reil wurden von ihm berufen, und schon diese Wahl beweist seine Weisheit und die freisinnige Richtung, die er der neuen Hochschule für immer zu geben gedachte, indem er nicht einen engherzig preußischen, sondern einen allgemein deutschen Stand dabei verwalten ließ und eine wirklich ideale Schöpfung in’s Leben rief.
Nachdem er so mehr als seine Pflicht gethan, wünschte er von Neuem sich von den Geschäften zurückzuziehen, um seiner eigenen Ausbildung ferner zu leben. Aber der Staat konnte seine Dienste nicht entbehren; durch Cabinetsordre vom 14. Juni 1810 wurde er zum außerordentlichen Gesandten in Wien mit dem Titel eines Geheimen Staatsministers ernannt. Auf der Reise dahin lernte er in Prag den damals durch Napoleon geächteten Stein persönlich kennen. Beide Männer legten hier den Grund zu einer trotz der Verschiedenheit ihrer Naturen bis an ihr Ende dauernden Freundschaft; zugleich besprachen sie die Noth des Vaterlandes und die Mittel zur Erweckung und Befreiung des deutschen Volkes. In Wien war es Humboldt angenehm, manchem alten Freunde zu begegnen, vor Allen dem talentvollen Gentz, dem Vertrauten Metternichs, Friedrich Schlegel, Adam Müller und dem jugendlichen Theodor Körner, für den er mit väterlicher Liebe besorgt war.
Die Flammen von Moskau und der Rückzug des französischen Kaisers aus Rußland veränderten mit einem Schlage die Weltverhältnisse. Der König von Preußen erließ jenen denkwürdigen Aufruf an sein Volk und verband sich mit dem Kaiser Alexander zur Bekämpfung Napoleon’s. Alles lag daran, Oesterreich zu gewinnen und seinen Beitritt zu erlangen. Jetzt erst entwickelte Humboldt den ganzen Reichthum seiner Kenntnisse der Menschen und Verhältnisse, und während er als echter Idealist über den Geist aufjubelte, welcher in dem preußischen Volke loderte und flammte, wußte er als vollendeter Diplomat die Vorurtheile des Wiener Cabinets zu schonen und den schwankenden Metternich zu entscheidenden Schritten zu drängen. Er selbst wurde von dem Strome der Begeisterung getragen und erfuhr in sich eine mächtige Umwandlung, indem er, von der lebendigen Bewegung der Gegenwart ergriffen, nicht mehr allein in classischen Erinnerungen lebte, sondern den Augenblick in seiner ganzen Bedeutung erfaßte und das von seiner idealen Höhe nur zu oft verkannte Volk erst jetzt schätzen und achten lernte. In diesem Sinne sandte er den eigenen Sohn mit den Worten in den heiligen Kampf: „Es ziemt sich für den Jüngling, an dem Kriege Theil zu nehmen, der einmal sein und der Seinigen Dasein sichern soll.“ – Aber der Kampf um die Freiheit und nationale Unabhängigkeit trug trotz des Sieges über Napoleon nicht die gehofften Früchte; was die Schwerter der Helden errungen, sollten die Federn der Diplomaten wieder vernichten. Nicht Humboldt trifft die Schuld des Geschehenen; er war unablässig bemüht für die Größe Preußens, für das Wohl Deutschlands; an ihm scheiterten die Künste eines Metternich und Talleyrand, der ihn in seinem Zorne mit Unrecht le sophiste incarné, die Fleisch gewordene Sophistik nannte. Er verachtete die Ränke der gewöhnlichen Diplomaten, er kannte keine Intrigue, aber gerade weil er nur die Wahrheit zu seinem Schilde gebrauchte, blendete er er mit ihrem Glanze die verwöhnten Augen der Höflinge, die ihn für den gewandtesten Sophisten und schlausten Diplomaten hielten.
Schon in jener Zeit hatte Humboldt einen für die damaligen Verhältnisse durchaus freisinnigen Verfassungsentwurf für Deutschland entworfen, der jedoch an den Ränken Metternich’s und an der Schwäche und Nachgiebigkeit Hardenberg’s scheiterte, der immer mehr von der sich nach dem Kriege erhebenden Reaction überflügelt und zu weiteren Rückschritten gedrängt wurde. Nach wie vor blieb Humboldt seiner Ueberzeugung treu. In seiner Klarheit durchschaute er die überall wieder emportauchende Lüge trotz der pietistisch frommen und patriotisch gleißnerischen Maske. Nicht mit Unrecht fürchtete der Kaiser Alexander von Rußland seinen kalten Scharfblick und sarkastischen Spott, weshalb er verlangte, daß der König von Preußen vor Humboldt aus der eben gestifteten „Heiligen Alliance“ ein Geheimniß machen sollte. Noch mehr war der altersschwache Staatskanzler darauf bedacht, ihn zu entfernen, um einen eben so klugen als kühnen Beurtheiler seiner unverzeihlichen Maßregeln zu beseitigen. Zu diesem Zwecke erhielt Humboldt den Posten eines Gesandten in London, den er jedoch nur kurze Zeit bekleidete, da Hardenberg schnell genug zu der Einsicht gelangte, daß ein Mann wie Humboldt der Regierung in ihrer damaligen Lage unentbehrlich war.
Zum Minister des Innern ernannt beschäftigte sich dieser ausschließlich mit der Verfassung, welche Friedrich Wilhelm der Dritte seinem Lande feierlich versprochen hatte; sie schien ihm die wichtigste Angelegenheit für den preußischen Staat, gleichsam die Garantie seiner Größe und Zukunft. Leider wurde seine Arbeit durch die Bemühungen der damaligen Junkerpartei, durch die schwankende Gemüthsart des Königs und durch die Macht der Verhältnisse, welche das verfassungsfeindliche österreichische Cabinet schlau zu benutzen verstand, vereitelt. Die Ermordung Kotzebue’s, die That eines edlen, aber verirrten Jünglings, diente zum Vorwande, ein gegebenes Versprechen zu brechen und die Freiheit an ihren Wurzeln, in den Universitäten, anzugreifen. Es folgten die berüchtigten „Karlsbader Beschlüsse“, welche, verbunden mit anderen Mißhelligkeiten, Humboldt bestimmten, sein Ministerportefeuille niederzulegen und für immer aus dem Staatsdienste zu scheiden.
Von Neuem kehrte er zu seinen geliebten Studien zurück, indem er die ihm gewordene ehrenvolle Muße zur Abfassung seines berühmten Werkes „über die Kawi-Sprache“ benutzte, womit er eine neue Aera für die philosophische Sprachforschung schuf und der Linguistik eine nie zuvor geahnte Bedeutung gab. Zugleich siedelte er nach Tegel über, dessen Schloß er nach den Angaben des genialen Schinkel restauriren ließ. Von nun an lebte er nur noch ausschließlich für die Wissenschaft und seine Freunde, zu denen er die ersten Männer seiner und aller Zeiten zählen durfte. Sein Tegel wurde im eigentlichen Sinne ein Tempel des Genius, ein Sammelplatz der erhabensten Geister, aber auch dem Herzen räumte Humboldt die ihm gebührenden Rechte ein, wie sein bekannter „Briefwechsel mit einer Freundin“ rührend bezeugt. Charlotte Diedé hieß die beklagenswerthe Frau, welche er als junger Mann in Pyrmont kennen gelernt und der er bis in das späteste Alter ein rein freundschaftliches Andenken bewahrte. Sie hatte eine unglückliche Verbindung mit einem ungeliebten Manne gelöst und von Neuem ihr Herz einem unwürdigen Verführer geschenkt. Arm und verlassen, geächtet von der lieblosen Welt, hülflos und krank, eine Beute der Verzweiflung, wandte sie sich an den Freund ihrer Jugend und fand bei ihm Trost und Rath, Hülfe und Unterstützung.
Noch einmal rief ihn die Julirevolution in das politische Leben zurück, in den Tagen der Bewegung und der drohenden Gefahr verlangte der König seinen Rath, und er entzog ihm denselben nicht, ohne jedoch thätig und dauernd in die Lenkung der ihrer Bestimmung unaufhaltsam entgegeneilenden Regierung einzugreifen. Das Alter und zunehmende Kränklichkeit ließen ihm die bisherige Ruhe doppelt wünschenswerth erscheinen; sein Zustand, eine beginnende Lähmung, fand weder in Gastein, noch im Seebade, das er auf Anrathen seines Arztes besuchte, die gewünschte Besserung. Am Abend des 8. April 1835, als eben die Sonne ihre letzten Strahlen in sein Zimmer warf, schlossen sich die klaren Augen des großen Geistes, endete er sein harmonisches Dasein, das in gleicher innerer Abrundung und Vollendung kaum in einem anderen Sterblichen gefunden werden dürfte. Im Garten zu Tegel, an der Säule, welche das Bild der Hoffnung trägt, dort ruht, an der Seite der ihm vorangegangenen ebenbürtigen Gattin und des ihm spät erst nachgefolgten berühmten Bruders, Wilhelm v. Humboldt, gleich groß als Staatsmann, Gelehrter und als Mensch.
Noch ehe ein Kind lesen lernt, weiß es gewöhnlich schon, daß der Löwe der König der Thiere ist, und diesen König baldmöglichst einmal zu sehen, ist daher jedenfalls ein ganz gerechtfertigter Wunsch. Aber auch selbst dem Erwachsenen ist dieses berühmte Thier ein so anziehendes, daß es ganz begreiflich ist, wenn, wo in einer Menagerie der Löwe fehlt, dies als eine große Lücke und als eine wesentliche Beeinträchtigung des Geschäfts betrachtet wird. Selbst die zoologischen Gärten können in dieser Hinsicht dem Strom nicht gut widerstehen. In Dresden z. B. sah man sich, obgleich noch gar kein Raubthierhaus erbaut war, im vorigen Jahre genöthigt, ein Paar Löwen anzukaufen, nur um den ewigen Nachfragen, „wo denn die Löwen seien,“ genügen zu können. Neben den Löwen sind es natürlich nun auch die Tiger, Leoparden, die gräßlichen Hyänen,
überhaupt die gefährlichen Thiere, welche in einer Menagerie die meiste Anziehungskraft auf die Menge ausüben, und deshalb sieht man diese auch am allerhäufigsten. Von den großen katzenartigen Raubthieren soll nun diesmal Einiges erzählt werden, natürlich ohne daß es dabei auf eine Bereicherung der Naturgeschichte abgesehen ist.
Die ersten Löwen, welche ich sah, waren die der großen Aken’schen Menagerie. Der größte, der berühmte Nero, befand sich mit einer prächtigen Tigerin in einem Käfig, und der von diesen beiden abstammende Bastard, von welchem ich später erzählen werde, war lange Jahre nachher noch in der Kreuzberg’schen Menagerie zu sehen. Ein anderer in der Menagerie selbst geborener, ausgewachsener Löwe hieß Wilhelm, und er wurde sogar besungen; ich erinnere mich, daß in der Bude gedruckte Gedichte auf diesen Löwen feilgeboten wurden. Wie man es in der Aken’schen Menagerie außerordentlich verstand, Alles recht anziehend für das Publicum zu gestalten, so geschah es auch mit den großen Raubthieren. Es gab Tage, wo die Fütterung derselben nur mit lebenden Thieren geschah, was grausam erscheint, es aber eigentlich nicht ist, da dadurch die Raubthiere sich besser erhalten, indem sie eben von der Natur darauf angewiesen sind. Vor der Fütterung nun wurden aber gewöhnlich eine Anzahl mehr als armstarker Pfähle hereingebracht und damit an die Käfige geschlagen. Die Löwen, schon durch die Erwartung des Futters erregt, geriethen dadurch in die größte Wuth, packten mit Zähnen und Klauen das Holz und rissen, ihren Grimm daran auslassend, dasselbe in Nu zu Splittern auseinander. Noch heute wundert es mich, daß sie sich dabei nicht verwundeten, wenigstens habe ich niemals Etwas davon bemerkt.
Als die Aken’sche Menagerie eingegangen war, dauerte es einige Zeit, ehe wieder neue, d. h. größere, auftauchten, und es war fast, als wenn auch die Löwen kleiner gerathen wären. Der erste Löwe, der mir aus dieser Zeit wieder lebhaft erinnerlich ist, wurde dies auch mehr dadurch, daß ich ihn häufig zeichnete, als daß er sich auszeichnete. Er befand sich in der damals blühenden Schreier’schen Menagerie, derselben, welche die erste Giraffe nach Deutschland brachte. Dieser Löwe lebte mit einem kleinen Hunde zusammen, und wenn Diana sich auf Mars, so hieß der Löwe, gelegt hatte und beide ihr Schläfchen hielten, so war das ein ganz reizender Anblick, wenn nur der Löwe nicht gar so griesgrämlich ausgesehen hätte. Er gehörte zu der Race, bei welcher die Schultern und der Bauch nicht mit langen Haaren bewachsen sind, und welche sich wieder in eine lebhaft gefärbte und eine mehr graugelbe Race zu theilen scheint.
Die Abwartung der Thiere in dieser Menagerie wurde hauptsächlich von zwei Wärtern, einem Tyroler, Brandel, und einem Italiener, Angelo, besorgt, der eine rothblond, der andere kohlschwarz, von Haaren nämlich. Der Tyroler war es auch, welcher in den Käfig des Löwen ging und dessen Dressur, welche einfach genug war, zeigte, wobei der Hund ganz still in einer Ecke saß. Als ich einst diesen Thierbändiger zeichnete (denn er trug einen fußlangen Bart, was mir sehr malerisch erschien), frug ich ihn, wie es ihm zu Muthe gewesen, als er das erste Mal in den Käfig des Löwen hinein gegangen sei. Da gestand er mir, daß er bei dieser Gelegenheit nicht ganz nüchtern gewesen, da er, weil das zureden seines Herrn nicht hinreichend gefruchtet, zur Erhöhung seines Muthes zum Spiritus seine Zuflucht genommen habe. Es sei aber Alles gut abgegangen. Wahrscheinlich hatte er sich als großer Thierbändiger [285] seit dieser Zeit auch den Bart wachsen lassen, was aber seiner Gemüthlichleit keinen Eintrag gethan hatte.
Daß junge Thiere, wenn sie in einer Menagerie geboren worden sind, hauptsächlich das Publicum anziehen, versteht sich von selbst, und am meisten ist dies natürlich mit Löwen der Fall. Um möglicherweise Junge zu erzielen, und weil die Geselligkeit überhaupt den Thieren zuträglicher ist, haben es die Menageriebesitzer gern, wenn sie Löwe und Löwin zusammen in einem Käfig haben können, aber dieses Zusammenlassen, wenn die Thiere nicht aneinander gewöhnt sind, glückt nicht immer. Ich war einst Zeuge, als man in der frühern Preußer’schen Menagerie einen solchen Versuch machte. Der Löwe und die ihm bestimmte Gattin waren Nachbarn, hatten sich aber noch nie gesehen. Es wurde
Anstalt gemacht, aus der die beiden Thiere trennenden Käfigwand das oberste Bret herauszunehmen, um den Beiden zunächst Gelegenheit zu geben, sich sehen zu können, und die Löwin, welche den Zweck der Arbeit sehr wohl zu begreifen schien, nahm großen Antheil an dem Fortschritt derselben und schien überhaupt lebhafte Sehnsucht nach dem von ihr wohl gerochenen Bräutigam zu hegen. Derselbe war aber keineswegs in bräutlicher Stimmung, unwillig saß er in einer Ecke und gab seinen Aerger über die Störung durch Knurren deutlich zu erkennen. Jetzt ward das Bret herausgezogen, die Löwin stellte sich aufrecht, um nach dem Löwen zu schauen, aber kaum ward dieser sie gewahr, als er brüllend und mit einem Satze auf sie losstürzte. Zwar wurde er schnell zurückgetrieben, aber es war zu spät, die Löwin hatte in der Vordertatze eine tiefe klaffende Wunde, welche ihr die Klaue des Löwen geschlagen hatte. Bitter enttäuscht stand sie da auf drei Beinen, die verwundete Tatze schüttelnd, so daß das Blut auf meine noch jetzt andächtig aufgehobene Zeichnung spritzte, während der Löwe grollend und in höchster Aufregung in seinem Käsig umherraste. Der Versuch war mißlungen, und noch mehrere Tage lang sah ich die Löwin in ihrem Käfig liegen und ihre Wunde eifrig lecken, die indeß bald wieder heilte.
Wenn dieser Vorfall beweist, daß nicht Alles sich liebt, was Löwe heißt, so kann man doch auch wieder sehen, daß, wenn solche Thiere einmal an einander gewöhnt sind, sie gewöhnlich große Zuneigung zu einander hegen, selbst wenn dabei kein Gattenverhältniß im Spiele ist. Schon das Verhältniß zu einem etwa mit eingesperrten Hunde gestaltet sich stets zu einem freundschaftlichen, wenn derselbe einmal in Gnaden angenommen worden ist.
Bei jungen, noch nicht abgestumpften Löwen tritt die erwähnte Anhänglichkeit am deutlichsten hervor. In der Menagerie eines Herrn Liphard befanden sich auch zwei junge, südafrifanische Löwen, offenbar Brüder und Zwillinge. So ungebehrdig und wild diese herrlichen Thiere sich sonst gegen Jedermann, Herrn Liphard ausgenommen, benahmen, so zärtlich waren sie selbst gegen einander. Oft kam es vor, daß der eine sich platt vor den andern hinlegte und dann die Beiden, indem sie sich gegenseitig die Schnauzen beleckten, sich förmlich zu küssen schienen. Auch im Liegen und Ruhen hielten sie sich oft wie innig umschlungen, was bei solchen gewaltigen Thieren einen sehr eigenthümlichen Eindruck machen mußte.
In der rührendsten Weise ist mir aber diese Anhänglichkeit in einem Fall vorgekommen, der mir in der That dadurch unvergeßlich geworden ist, obgleich er auch an sich von dem, was man in Menagerien gewöhnlich beobachten kann, gänzlich abweicht. Es war die schon erwähnte Schreier’sche Menagerie, als sie, wie gewöhnlich, nach dem Tode des Gründers ihrer Auflösung entgegenging, in welcher zur Zeit, wo sie sich in Stuttgart befand, zwei hübsche junge Löwen zusammen in einem Käfig gezeigt wurden, Männchen und Weibchen. Damals waren die Thiere noch beide ganz gesund und überhaupt fast nicht zu unterscheiden, da die Mähne des Männchens [286] kaum die ersten Anfänge zeigte. Einige Zeit darauf sah ich die Menagerie und diese Löwen in Leipzig wieder, aber leider das Männchen sehr verändert. Zwar hatte sich seine Mähne etwas entwickelt, aber das ganze Thier war diesmal wirklich ein Krüppel geworden; der Rücken war krumm, die Vorderbeine waren nach außen gekrümmt, wie die eines Dachshundes, und die sonst so schöne Haltung des Löwen war in eine gebückte, lebenssatte umgekehrt. Ich will sein Aussehen nicht weiter beschreiben, es war zu traurig, und natürlich konnte wohl nur die enge Käfighaft die Hauptursache dieses Zustandes sein, wenngleich die Löwin gesund und kräftig geblieben war. Dies mochte auch des damals als Major-Domus fungirenden Wärters Angelo Ansicht sein, und um dem Löwen mehr Gelegenheit zur Bewegung zu geben, entschloß er sich, das kranke Thier aus dem Käfig heraus und – auf den ersten Platz zu nehmen. So kam es, daß, als ich eines Morgens in die Menagerie kam, ich zu meinem Schrecken auf dem sonst ganz leeren ersten Platz den Löwen kauern sah, blos an einen Strick gebunden. Der hinzukommende Angelo beruhigte mich aber gleich und führte mich an der Hand bis dicht an den Löwen hin. In der That fiel es dem armen Thier nicht ein, Jemandem etwas zu Leid zu thun, er versuchte höchstens einige Schritte zu machen, um sich ächzend gleich wieder hinzusetzen.
Das Rührendste nun dabei war die Löwin. Gerade ihrem bisher gemeinschaftlichen Käfig gegenüber war der Löwe angebunden, so daß sie ihn von ihrem Wagen herab immer vor Augen hatte: Dumpf und in ganz eigenthümlicher Weise knurrend ging sie unaufhörlich in ihrem Behälter auf und ab, immer den Blick auf ihren armen Gefährten gerichtet. Manchmal blieb sie stehen, um, den Kopf an das Gitter gedrückt, ihre Augen noch mehr auf dem fast Halbtodten haften zu lassen. Es schien, als wäre ihr erst jetzt das Bewußtsein seines traurigen Zustandes gekommen, da sie ihn in fast völliger Freiheit sah und doch außerstand, dieselbe zu benutzen. Sie wollte brüllen, aber es blieb ein bloßes Stöhnen, kurz das ganze Benehmen des Thieres zeigte eine solche Theilnahme an dem Zustande des Gefährten und zugleich eine solche Sehnsucht, wieder mit ihm zusammen zu sein, daß ich über diesen Anblick fast vergaß, in wessen Nachbarschaft ich mich befand. Der Zustand des Löwen war übrigens ein unrettbarer. Zwar gab sich Angelo alle Mühe mit dem Thier und führte es, wie er mir erzählte, in der Nacht sogar im Freien umher; der Löwe wird aber wohl bald verendet sein.
Von dieser traurigen Scene mich trennend, will ich mich dem Löwenpaar zuwenden, dessen Portraits diesen Zeilen beigedruckt sind. Es waren dies zwei in der Kreuzbergschen Menagerie befindliche prachtvolle Thiere von wahrhaft königlicher Haltung und ungebrochenem Muth. Eine fast ganz schwarze nur an den Backen hellere Mähne bedeckte nicht blos Hals, sondern auch Schultern des Männchens, sich dann noch breit am Bauch desselben hinziehend; es ist dies die Tracht der südafrikanischen Race. Und doch, sollte man es meinen, erschien dieser Löwe, bei aller Pracht seiner imposanten Erscheinung, einmal in einer höchst komischen Situation. Es geschah dies bei der Reinigung des Käfigs. Bei derselben dient ein langstieliger Besen, dessen Handhabung auch der Löwe gewöhnlich ruhig mit ansah. Einmal fiel es ihm aber doch ein, die Sache nicht zu dulden. Mit einem Sprunge packte er den Besen und riß ihn dem Wärter aus der Hand. Sehr oft zersplittern in einem solchen Fall die Thiere den eroberten Gegenstand; unser Löwe aber, als er sah, daß man ihm den Besen wieder abjagen wollte, nahm denselben in den Rachen und wandelte nun mit stolzerhobenem Haupte, seinen Besen im Maul und mit demselben überall anstoßend, unaufhörlich im Käfig hin und her, so daß über diesen komischen Anblick selbst das Menageriepersonal, welches sonst nicht sehr empfänglich für dergleichen ist, herzlich lachen mußte. Später, als er den Beweis hinreichend geliefert hatte, daß er sich die freie Verfügung über den Besen gewahrt, ließ er sich denselben gutwillig wieder abnehmen.
Wie überhaupt im Leben das Tragische und Lächerliche oft hart nebeneinander liegt, so ist es auch hier. So erinnere ich mich einer gleichfalls sehr komisch abgelaufenen Begebenheit in der Liphard’schen Menagerie, wenn auch da die Löwen nicht selbst die komische Rolle spielten. Von zwei sehr schönen, einer seltenen Art angehörigen, langschwänzigen Papageien war der eine aus seinem Bauer entflohen und flog nun in der Bude umher. Ich war ganz allein und rief schnell den Wärter, aber gerade in demselben Augenblick, als derselbe herbeikam, flog der Papagei an das Gitter der beiden südafrikanischen Löwen, welche, erst ruhig daliegend, sofort auf den Vogel losstürzten. Dieser ließ aber schnell genug das Gitter los und rettete sich auf das davor angebrachte Bret, an welchem die Lampen aufgehängt wurden, während die Löwen dastanden und ihn gierig anglotzten. Der Wärter, um nun den Papagei zu fangen, stieg langsam, damit er den Vogel nicht verscheuche, auf die Schranke, welche den ersten Platz von den Thieren trennt, und ich hielt ihn dabei. Leise richtete er sich auf, streckte den Arm aus und plötzlich packte er den Papagei fest am Schwanz. Er hielt ihn auch wirklich ganz fest – den Papageischwanz nämlich, während der Vogel selbst, der wahrscheinlich wußte, daß derselbe ihm wieder wachsen würde, kreischend und unbeschwänzt fortflog, wobei er einer ganz andern Art anzugehören schien. Die nachschauenden Löwen, das verblüffte Gesicht des jugendlichen Wärters und das sehr lebhafte des eintretenden Herrn Liphard bildeten dabei eine sehr interessante Abwechselung.
Ich sprach schon im Eingang von den zwei Löwen, welche man im vorigen Jahre für den Dresdener zoologischen Garten kaufte, um nur das Publicum zu befriedigen. Dieselben gehörten zu einer Sammlung blos afrikanischer Thiere, welche Herr Casanova, der Besitzer des früheren in Moskau abgebrannten Affentheaters, persönlich aus Afrika geholt hatte. Außer Giraffen, einer Masse gefleckter Hyänen, einem echten afrikanischen Elephanten (dem ersten nach Deutschland gekommenen), vielen Leoparden etc. fehlten auch Löwen nicht, und zwar waren es lauter junge Thiere. So war ein noch ganz kleiner Löwe, als Herr Casanova auch in Leipzig sich aufhielt, mit einem noch kleineren Leoparden und vier etwas größern Hyänen zusammengesperrt. Es war immer Krieg unter der Gesellschaft, und zwar hielten es Löwe und Leopard miteinander. Dem letzteren, dem das Kauen noch sehr schwer wurde, wollten die Hyänen immer sein Fleisch entreißen, wobei aber der junge Löwe kräftig für den Bedrohten eintrat. Das kreischende, widerwärtige Geschrei der Hyänen, vermischt mit dem Knurren ihrer Feinde, bildete dabei eine schauerliche Musik.
Diese Sünde hat schon den Capuziner in Wallensteins Lager in Feuereifer gebracht, und so ist’s nach ihm Tausenden seiner weißen, braunen und schwarzen Collegen ergangen. Alle Achtung vor den Strafpredigten dieser geweiheten Herren, aber eine Frage ist’s dennoch, ob die Rede, welche soeben vom Munde der jungen und alten Frauen unseres Bildes zu strömen theils beginnt, theils droht, der des zornsprudelndsten Capuziners im Geringsten nachstehen wird. Denn etwas so Abscheuliches, als hier geschehen, wo drei Bauern ihren braven Weibern wahrscheinlich an der Kirchthür untreu geworden sind und sich in’s Wirthshaus geschlichen haben, um die Stunde des Gottesdienstes mit einem offenbar heillosen fremden Stromer bei Bierkrug und Kartenspiel zu verbringen, – etwas so Abscheuliches macht die Zungen der Gerechten feurig.
Der erste Blick auf die vorliegende Situation der Betheiligten überzeugt uns, daß hier der Capuziner die Wette verlieren würde, denn nicht auf dem gemüthlichen Gebiete des Wortspiels treibt sich die schöne Rede unserer erzürnten Frauen umher, sondern mit der Geradheit und Schärfe des Schwerts fährt sie auf die verblüfften Opfer los. Seht nur die hübsche Junge! Ist es schon die Gattin, oder ist es noch die Braut des jungen Bauern, der in größerer Verlegenheit sich noch nie seine Pfeife gestopft hat? Er sieht schwerlich, was er soeben verrichtet, denn
[287] das böse Gewissen drückt ihm schon allein die Augen nieder. Wie prächtig steht sie da, kampfbereit die Fäuste an den Hüften, die holde Sittenwächterin. So rüstet der Spott sich zu einem gedeihlichen Donnerwetter! Noch schlimmer droht es dem älteren Manne, welcher zwar, wie auch der jüngere, augenscheinlich die Kartenblätter eiligst versteckt hat und gleichwohl den Muth nicht zusammenbringen kann, sich umzudrehen, aber es läuft ihm sicherlich kalt den Rücken hinab von dem stummen Blick des schwersten Vorwurfs, den seine ebenso schlanke als gestrenge Ehehälfte auf ihm ruhen läßt. Das Schlimmste aber scheint dem Jammermännlein zu drohen, das die Angst vor seinem frommen Hausengel hinter den Bretverschlag trieb, an dem er die harmlose Stellung eines sich am Ofen Wärmenden anzunehmen sucht. Mit seiner Physiognomie der Verzweiflung correspondirt trefflich das grimmige Antlitz der Alten, die jetzt quer schielenden Blicks zur Thür hereintritt. Wehe, wenn das Trio in vollen Gang kommt; was vermag dem gegenüber der schnarrendste Brummbaß! – Als einen solchen vermögen wir von dem vorstehenden Mannsvolk Niemanden zu erkennen, als den feinen Patron, der mit ausgezeichneter Frechheit die verrätherischen Karten in der Hand behält und dem ausbrechenden Unwerter wie einer besondern Lustbarkeit entgegensieht. – Du selbst, liebes Publicum, bist in Gestalt des neugierigen Bauern und der Wirthsmagd dargestellt, die an der Thür sich die Sache mit ansehen, leider aber Beide die menschliche Schwachheit einer kleinen Schadenfreude nicht verbergen können. So geht’s! Hätten die Drei ihre Gesangbücher nicht da auf der Ofenbank, in der respectwidrigen Nähe der Mausfalle, liegen lassen, sondern pflichtschuldig in die Kirche getragen, so würde sich Benjamin Vautier nicht gemüßigt gesehen haben, ihre Ertappung auf frischer That und die nächsten Folgen ihres Leichtsinns der Nachwelt zum abscheulichen Exempel auf die Leinwand zu bringen; nun das Bild fertig und gar als Holzschnitt an die große Glocke der Gartenlaube gehängt ist, hilft den Sündern kein Leugnen mehr, sondern nur gute Besserung. –
Wer von unsern Lesern einmal nach Leipzig kommt, der kann das Original unseres Bildchens im Museum daselbst betrachten, dem es durch den Kunstverein einverleibt wurde, nachdem es auf der letzten Londoner Ausstellung sich viele Freunde erworben hatte. Zu diesen werden nunmehr auch unsere Leser gehören, und darum wird es in der Ordnung sein, wenn wir sie mit dem Künstler selbst näher bekannt machen.
Benjamin Vautier ist ein geborener Waadtländer. Den ersten Zeichenunterricht erhielt er in Genf. Im Jahre 1850 zog er nach Düsseldorf, wo er anfangs die Akademie besuchte, dann aber als Privatschüler bei Professor P. Jordan eintrat. Nachdem er hierauf noch einige Zeit in Paris die Schätze der Kunst genossen, kehrte er nach Düsseldorf zurück, um seinen Stab dort in den Boden zu stecken. Unter den jüngeren Meistern des Düsseldorfer Künstlerkreises ist Vautier einer der hervorragendsten, und er hat sich als ebenso tüchtig als Maler wie als Zeichner für den Holzschnitt bewährt. In letzterer Beziehung brauchen wir nur auf seine Illustrationen zu Immermann’s unvergleichlicher Idylle „Der Oberhof“ (Bruchstück aus dessen „Münchhausen“) hinzuweisen. Von seinen Gemälden, deren Stoffe hauptsächlich aus der unerschöpflichen Bilderfundgrube des Schwarzwaldes und aus der Schweiz entlehnt sind, werden als ganz besonders gelungene der allgemeinsten Beachtung empfohlen: eine Spinnerin, ein Schulausgang im Winter, das Innere einer Kirche, ein Jahrmarkt in Württemberg, eine Auction in einem Schloß, eine Dorfnähschule, der Pfarrer und sein Vicar als Schachspieler, nach der Schule. Letzteres, ein Bild von außerordentlich komischem Effect, brachte dem Künstler von Seiten des Königs von Preußen die goldne Medaille ein. Außerdem sind die meisten der genannten Bilder im Stich erschienen und gehören zu dem lieblichsten Wandschmuck.
Holland in Noth. Es ist bekannt, daß der Welthandel der Niederlande seit Jahrhunderten schon beständig im Abnehmen begriffen ist, trotzdem doch Holland nächst England das für den europäischen Handel am günstigsten gelegene Land ist, trotzdem es noch bis vor Kurzem das alleinige Monopol des japanesischen Handels besaß.
Dieser Rückschritt hat nun wohl zum Theil seinen Grund darin, daß andere Völker, wie z. B. England, die Niederlande dadurch überflügelten, daß sie neue Hülfsquellen entdeckten und neue Producte auf den Markt brachten, welche den Strom des Weltverkehrs von Holland abzogen und ihnen zulenkten. Doch muß man diese Abnahme auch gewiß mit dem Umstande zuschreiben, daß der Zugang nach Holland selbst nach und nach immer schwieriger, ja, was Amsterdam betrifft, für Schiff und Mannschaft sogar gefährlich wurde. So versandete schon vor 200 Jahren der frühere Wasserweg durch die Zuidersee in das Y (sprich Ei) kurz vor Amsterdam bei dem sogenannten Pampus bis auf 8 Fuß Fahrwasser. Um diesen Knotenpunkt zu überwinden, erfand man gegen Ende des 17. Jahrhunderts die sogenannten Kameele, die auf ähnlichem Princip beruhen, wie die in diesen Blättern jüngst besprochenen Bauer’schen. Man füllte damals große hölzerne Kasten mit Wasser, befestigte sie an beiden Seiten des Schiffes und pumpte dann das Wasser aus den Kasten wieder heraus, wodurch sich diese mit dem Schiffe um ungefähr 5–6 Fuß hoben. War diese Untiefe überwunden, so fand man dann wieder und findet noch heute vor Amsterdam 40 Fuß Tiefe, die auch beständig durch die Wirksamkeit sogenannter Moddermolen und Baggerschuiten (Baggerschiffe) erhalten werden kann.
Bei einer Durchfuhr von circa 4000 Schiffen jährlich ward die Unausführbarkeit dieser Operation auf die Dauer bald erkannt; man schaffte ein Auskunftsmittel, indem man 1819–25 mit einem Kostenaufwand von 12 Millionen Gulden den berühmten nordholländischen Canal erbaute, der in ziemlich gerader Linie in einer Länge von zwölf deutschen Meilen von Amsterdam nach der Rhede von Texel läuft.
Dieser hydraulische Prachtbau (jetzt noch der größte derartige in Europa bestehende) erregte damals die Bewunderung der ganzen Welt. 138 Fuß breit, 20–24 Fuß tief bietet er Raum für zwei Fregatten nebeneinander. Er würde auch heute noch von seinem Werthe nichts eingebüßt haben, wenn die Einfahrt in denselben nicht wieder durch die unheilvollen Versandungen versperrt, und dadurch der Canal unbrauchbar geworden wäre. So ist denn auch hier wieder die Passage von 5000 Schiffen auf die Hälfte geschmolzen, und die großen Ostindienfahrer werden immer seltenere Gäste in Amsterdam. Wenn sich auch die holländische Rhederei nolens volens diesen Gefahren unterordnet, so giebt es für die anderen Nationen doch immer noch Häfen genug, wo sie mit weniger Gefahr löschen können. Sie blieben also hier fort.
Jetzt kam Holland in Noth, denn Amsterdam ist so ziemlich Holland. Dazu sah man hier mit scheelen Augen das immer zunehmende Aufblühen von Hamburg, Bremen und Rotterdam, wovon namentlich der Hafen der letztgenannten Stadt wenn auch nicht bequemer liegt, so doch wenigstens ohne Gefahr zu gewinnen ist, weshalb viele Schiffe von Amsterdam sich nach Rotterdam wandten.
Es ward also zur Lebensfrage, wie man das Meer, den Lebensnerv von Amsterdam, wieder fahrbar bis vor seine Schleußen leiten könne. Zu dem Zwecke wurden der Regiernug Vorschläge gemacht. Den entschiedensten Gegner hierbei hatte man natürlich in Rotterdam mit seinen Verbündeten zu bekämpfen, und die Abgeordneten schlugen sich, ihrer sonstigen phlegmatiichen Natur ganz zuwider, in den Kammerverhandlungen mit ebenso feuriger Bravour, wie ihre Kollegen es noch in Berlin und Kassel thun und auch wohl noch lange thun werden. Hier ist aber jetzt der Antrag zu Gunsten Amsterdams in beiden Häusern durchgebracht, und demzufolge wird man noch in diesem Jahre mit der größten Arbeit beginnen, die Holland jemals unternommen, wogegen selbst die Trockenlegung des Haarlemer Meeres nur als Vorspiel erscheint.
Zum richtigen Verständniß des Folgenden wolle der Leser einen Blick auf eine gute Karte von Holland werfen. Das ganze Y wird trocken gelegt, mit Ausnahme einiger schmalen Küstenstriche, wodurch man die bequemere Verbindung der Küstenorte und der in das Y mündenden Flüsse unterhält. Dieses Trockenlegen (Poldern) erstreckt sich bis an die Zuidersee. Letztere wird dann von Westen nach Osten mit der Nordsee durch einen 33 niederländische Meilen langen Canal verbunden, der vor Amsterdam sich zu dem jetzt schon bestehenden schönen Hafen erweitert, an der nördlichen Küste des Y längs Saardam sich hinzieht, dann zwischen Haarlem und Beverwyk Nordholland durchschneidet, wo er sich zwischen den Dünen nochmals zu einem Vorhafen erweitert und alsdann, ungefähr 52° 20’ n. Breite und 4° 86’ östl. Länge von Greenwich, in die Nordsee ausmündet. Diese Mündung wird dann noch durch zwei starke, weit in das Meer hinausgedehnte Deiche geschützt.
Laßt Euch nun einmal durch einige Zahlen die ungeheueren Dimensionen des Unternehmens veranschaulichen. Der Canal erhält auf einigen Punkten eine Breite von 60 Ellen, die mittlere Breite ist 80 Ellen, auf mehreren Strecken erweitert sich diese bis zu 100 Ellen und darüber. (Der Canal von Suez ist nur 80 Ellen breit.) Wie an der Nordsee wird auch der Eingang in der Zuidersee durch zwei Deiche geschützt, Hafenköpfe genannt. Der Nordsee-Hafenkopf soll eine Länge von 2000 Ellen erhalten, bei einer Tiefe von 80 Fuß unter Wasser, die beiden Spitzen des Hafenkopfes eine Weite von 260 Ellen offen lassend. Der Zuidersee-Hafenkopf wird 1500 Ellen lang bei einer Tiefe von 27 Fuß unter Wasser. Die Wassertiefe des Canals wird 30–40 Fuß betragen und nöthigenfalls durch Dampfkraft geregelt, d. h. durch Pump- und Schöpfwerke dafür gesorgt werden, daß die Tiefe nie weniger beträgt.
Das durch Trockenlegung des Y gewonnene Land wird 6000 Bunders (1 B. = 1 franz. Hectare oder 1000 Quadrat-Meters) betragen. Der Vorhafen in den Dünen wird 300 Ellen Strahl groß sein, und dahinter werden zwei starke Schleußen gebaut, um nöthigenfalls einem übermäßigen Steigen des Wassers in dem Canale, wodurch Ueberschwemmungen entstehen würden,
[288] Schranken zu setzen. Die größten Seeschiffe können alsdann mit unverminderter Ladung in drei Stunden den Zwischenraum von der Nordsee bis Amsterdam zurücklegen, wozu sie jetzt durch den nordholländischen Canal in der Regel mehrere Tage gebrauchen. Dieser alte Canal ist 79 Kilometer, der neue nur 23 Kilometer lang, eine günstige Differenz also von 56 Kilometer. Die Kosten der Ausführung, wozu ein gewisser J. G. Jäger in Amsterdam (beiläufig bemerkt, ein Deutscher) die Concession erhalten, werden auf 18 Millionen Gulden geschätzt, und die Zeit der Ausführung auf 7 Jahre ununterbrochener Arbeit. –
Wahrlich, wenn man diese Zahlen betrachtet und dabei bedenkt, daß Holland selbst keinen Stein, keine Planke besitzt, sondern nun erst den Rhein hinauf, um Holz, und nach Norwegen, um Granit zu holen, gehen muß – da möchte man wohl vor der Ausführung dieses kühnen Planes zurückschrecken. Nicht so der Holländer. Erfreut, daß nun endlich zur That reifen wird, was Jedermann sehnlichst erwartete, beeilt sich Jeder, nach seinen Kräften die nöthigen Geldmittel zu beschaffen. Die 18 Millionen werden im Nu gezeichnet sein, und ist erst diese Basis gesichert, so braucht man weiter keine Besorgnisse zu hegen. Die Baumeister in Holland verstehen ihr Fach und werden die Fundamente so kolossal massiv in den schlammigen Boden einsenken, werden die Deiche so fest stampfen, binden und kacheln, die Schleußen so bombenfest bauen, daß das Ganze auch nicht um einen Zoll breit dem ungeheueren Drucke des Wassers weichen wird. Man beginnt damit, das Wasser an der Zuidersee abzudämmen. Die Aufführung dieser Deiche ist das Mühsamste, das Auspumpen des Wassers läßt sich nachher vermittelst Maschinen leichter bewerkstelligen. Behufs Anlegung des Deiches werden zunächst drei Reihen starker Pfähle aus skandinavischem Greinenholz hintereinander in den Grund getrieben. Jeder Pfahl ist 35 Fuß lang und 1½ Fuß dick, diese drei Reihen werden durch starke Querbalken verbunden und mit Steinen ausgefüllt. Die äußerste Reihe wird noch gegen den Wellenschlag durch Faschinen und Felsblöcke geschützt. Hinter dieser Brustwehr kommt erst der eigentliche Deich, dessen Fuß wiederum aus Steinen besteht, worauf Lehm, Faschinen, ausgebrannte Coaks und Erde mit einander abwechseln, die zusammengehalten werden durch schwere Steinplatten und Weidengeflecht, das alle 3 bis 4 Jahre erneuert werden muß. Solche Deiche werden den neuen Canal überall umsäumen.
Von der guten Unterhaltung dieser Deiche, die man an den Küsten und mitten im Lande zu Hunderten zählen kann, hängt die Existenz des ganzen Landes, das Leben der Bevölkerung ab; deshalb wacht auch der Waterstaat (die hier für besonders angestellten Beamten) darüber mit der peinlichsten Aufmerksamkeit, die Unterhaltungskosten verschlingen jährlich an sechs Millionen Gulden. Trotzdem bricht das Wasser alljährlich das Joch und verheert ganze Strecken durch Ueberschwemmungen, die aber wenig mehr allgemein bekannt werden, wenn sie nicht eben so riesige Dimensionen annehmen, wie z. B. jene bekannte Ueberschwemmung von 1825. Diese, sowie ähnliche frühere und spätere traurige Episoden, ragen wie Leichensteine hervor aus der holländischen Geschichte, und leider gleicht ihre Chronik nur zu sehr einem Gottesacker.
Um so mehr muß man es anerkennen, daß das Volk im Kampfe mit dem mächtigen Feinde nicht erlahmt, beständig angreifend und vorrückend bleibt, immer zur Abwehr eines Ueberfalles gerüstet. Als man vor zwölf Jahren das Haarlemer Meer trocken legtem, tauchten schon Stimmen auf, die dasselbe mit dem Y vorgenommen wissen wollten. Jetzt geht man hieran, und schon richten sich Aller Augen unwillkürlich auf die Zuidersee. Sollte die wirklich zu groß sein? Ah bah! Probiren wir unsere Kraft erst einmal am Y, nachher wollen wir weiter sehen! Und die Geschichte wird es sehen, daß mit der Zeit auch dieser gefräßige Währwolf ausgetrieben wird, und dann geht’s zuletzt noch an die Arrondirung jener Inselkette mit dem festen Gestade.
Das ist nun wohl jetzt noch ein kühner Gedanke, und bis er zur That reift, darüber können noch Generationen hinsterben. Aber wir glauben doch, damit den heimlichen Gedanken manches Holländers auf den Kopf getroffen zu haben, ein Gedanke, der sich offen in der Devise ihres Landeswappens (ein schwimmender Löwe) ausspricht, womit wir in würdiger Weise diese Zeilen schließen wollen: Luctor et emergo! (ich ringe und bleibe oben!)
Eine Reliquie von Theodor Körner. Eine solche befand sich auf dem alten Universitäts-Carcer in Leipzig, derjenigen alten Baulichkeit, welche bis 1834 die Stelle, wo jetzt das Augusteum (neue Universitätsgebäude) steht, bestens mit verunzieren half, andererseits jedoch für die ab und zu dort „eingesponnenen“ Musensöhne ein viel amüsanteres Receptaculum war als die jetzigen auf den innern Hofraum des Augusteums ausmündenden Carcer. Denn in den alten Nestern, deren Gitterfenster auf den freien Platz vor dem Grimmaischen Thore hinaus sahen, hatten die dort sitzenden Studios doch den Ausblick in’s Freie und die Erquickung des lieben Sonnenscheins, nicht zu gedenken der mannigfachen anderen tröstlichen Correspondenz in der Dämmerungsstunde, gepflogen mit theilnehmend nach dem Befinden und auch dem Bedürfniß (an Bier, Tabak, Wurst, Lectüre etc. etc.) dort oben sich erkundigenden Brüdern, Schwestern oder gar Freundinnen. Ueberhaupt waren die alten Carcer viel romantischer und gemüthlicher, schon durch ihr Alter und die sich daran knüpfenden Erinnerungen. Wer hatte hier nicht schon alles „gesessen“ in früherer Zeit, was theilweise noch die vielen, Jahrzehnte alten Inschriften und Gedenkverse an den Wänden und unter den in einsiedlerischer Muße mit Bleistift, Feder oder auch einfach durch in’s Tintenfaß eingestippte Zeigefinger ausgeführten Wandgemälde bezeugten. Traf es sich doch nicht selten, daß der „sitzende“ Sohn plötzlich ein solches Erinnerungszeichen von seinem einst hier ebenfalls seßhaft gewesenen Vater vorfand. Und nun erst jene Wandgemälde selbst, humoristischen, grotesken, tragikomischen Inhalts, zum Theil sogar kunstgerecht in Wasserfarben al fresco ausgeführt, wie das famose „Marius auf den Trümmern von Carthago“, in Schlafrock, Unterhosen, Cerevis, mit langer Quastenpfeife und leerem Bierglas in der Rechten, dies wehmüthig anschauend, darunter die Worte:
„Die Liebe ist der Güter höchstes nicht –
Der Uebel größtes aber ist – der Durst.“
Wie gesagt, wer hatte nicht in längstvergangenen Tagen auf diesen selben Holzstühlen schon gesessen, vielleicht gar Lessing, Goethe, als Leipziger Studenten, wo nicht Leibnitz selbst, hier zuerst über seiner Monadenlehre brütend! Einen nachweisbar historisch merkwürdigen Stuhl der Art aber gab es dort wirklich noch zu meiner Zeit, und dieser eben ist die Reliquie, welche ich meine. Es war ein Stuhl, auf welchen Theodor Körner seinen Namen eingeschnitten, da er hier einst wegen eines als Corpsbursch der Saxonia in Connewitz ausgefochtenen Duells hatte „brummen“ müssen. Dieser Stuhl nun war von seinen nachfolgenden Besitzern so mit deren Namen bedeckt worden, daß für den meinigen, als ich 1831 dort auch einmal in silentiis kneipen mußte, kaum noch Platz war. Dennoch bin ich, gleich allen meinen Vorgängern, stolz, auch auf diesem Stuhl einst gesessen zu haben, und lasse hier deshalb die öffentliche Frage ergehen: wo in dieser Körner’sche Stuhl hingekommen? Liegt er zwischen anderem Gerümpel vielleicht mit auf einem der Böden des Paulinums? – Es wäre wenn wir „alten Burschen“ uns zur Octoberfeier dieses Jahres in Leipzig zusammenfinden, doch sicher eine Freude mehr, diesen für uns vorzugsweise historisch merkwürdigen Schemel als eine cara memoria dann bei der Festtafel mit eingereiht zu finden. Und ein würdigster Inhaber, vielleicht gar noch ein ehemaliger Studiengenosse Körner’s und selbst ein Lützower, der auf ihm Platz nähme, fände sich auch wohl dafür heraus unter den Festgenossen. Der könnte dann, doppelt berechtigt, als unser „Vorsitzender“ fungiren.
Verfasser des patriotischen Schauspiels
Studenten und Lützower (aus 1813).
Zur Eisen-Liqueur-Frage. Aus mir zugekommenen Zuschriften geht
hervor, daß man diesen Liqueur zu den Charlatanerien rechnet. Allein er
ist kein Geheimmittel, welches für unnatürlich hohen Preis verkauft
wird und gegen alle nur möglichen Uebel helfen soll, sondern es ist ein
Surrogat eines Nahrungsmittels, welches dann Vortheil schafft,
wenn dem Körper eine Nahrung geboten wird, die zu wenig Eisen in sich
enthält, wenn überhaupt dem Blute die gehörige Menge von diesem zum
Leben ganz unentbehrlichen Stoffe fehlt.
Leben und Gesundheit können nämlich nur dann bestehen, wenn unserm Körper (Blute) diejenigen Stoffe in der gehörigen Menge fortwährend zugeführt werben, aus denen er aufgebaut ist und die durch Abnützung der Organe in Folge der verschiedenen Lebensthätigkeiten immerfort theilweise wieder verloren gehen. Zu diesem Material, welches unsern Körper aufbaut, gehört nun aber neben Wasser, Eiweißsubstanzen, Fetten, Salzen etc. auch das Eisen, und wer dasselbe nicht in der erforderlichen Menge durch die Nahrung (besonders bluthaltige, thierische Nahrungsmittel) in seinen Körper einführt, wird krank. Ebenso würde aber auch derjenige krank, welcher zu wenig von Eiweißstoff, Fett, Salzen etc. genösse. Diese Thatsache, welche ich zu wiederholten Malen in meinen Aufsätzen erwähnt und zur Aufstellung diätetischer (Speise-) Regeln benutzt habe, hat Dr. Freigang in Leipzig ebenfalls aufgegriffen und einen Liqueur bereitet, der Solchen, die zu wenig Eisen im Blute haben, sicherlich ebensoviel Nutzen bringen wird, als eine eisenhaltige Arznei aus der Apotheke.
- ↑ WS: Im Original überzähliges Hochkomma entfernt.