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Die Gartenlaube (1862)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Bill Hammer.
Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
Von Otto Ruppius.


Ueber dem Walde stand ein rother glänzender Schein am Himmel, hier und da von aufzuckenden feurigen Garben durchstrahlt, und mischte sich seltsam mit dem matten Lichte des ersten Mondviertels.

„Das brennt in Pleasant-Grove,“ sagte der Mann, welcher aus der Thür eines einsamen Farmhauses unter den roh gearbeiteten Portico getreten war, „wahrscheinlich ist den deutschen Mistkäfern eine Fackel angezündet worden, daß sie sehen lernen, wo der Weg aus dem Staate hinausführt!“ Einige grunzende Laute beschlossen die Aeußerung, dann beobachtete der Sprecher lautlos das sich immer weiter ausbreitende Feuerzeichen.

Zwei andere Personen waren ihm aus dem Hause gefolgt, ohne indessen ihrem sichtlichen Interesse an der Erscheinung mit einem Worte Ausdruck zu geben – eine jugendlich-schlanke, weibliche Gestalt und ein halbwüchsiger, kräftiger Bursche. Schweigend und mit einer wunderbaren Leichtigkeit klomm der Letztere an einem der Porticopfeiler empor und sandte von dem kleinen Dache aus seine Blicke scharf über den Wald, und erst als der frühere Sprecher langsam in das Haus zurückgetreten, ließ er sich behende wieder hinabgleiten.

„Er hat diesmal fehlgeschossen in seinem Hasse, es ist nicht Pleasant-Grove, das brennt,“ sagte er mit halbunterdrückter, vor Erregung zitternder Stimme, „und die „Mistkäfer“ werden ihm wohl noch einmal zeigen, wo Recht und Gesetz ist, trotz Jefferson Davis und seiner Bande. Zu St. Louis sind die Deutschen schon alle auf den Beinen und haben das Heft in der Hand, hat mir Fred Minner erzählt.“

„Sei ruhig, Bill, er hat scharfe Ohren,“ gab das Mädchen mit einem scheuen Blicke nach der Thür zurück, „er wäre nicht halb so schlimm wider die Deutschen, wenn es nicht gerade Fred Minner’s wegen wäre.“

„Der aber doch seine Zeit finden wird, wo er Miß Alice –“

„Bill!“ unterbrach ihn das Mädchen mit einem mühsam gedämpften Tone des Schreckens, und der Bursche schlug sich mit einer plötzlichen lustigen Grimasse, in der es gleichzeitig wie eine triumphirende Genugthuung zuckte, auf den Mund.

„Ich muß hinüber, Miß Alice,“ fuhr er dann auf den Feuerschein deutend in leisem Tone fort; „Gott weiß, was los sein mag, und meine Mutter ist allein. Soll ich Etwas bestellen?“

„Vater jagte Dich morgen aus dem Hause, wenn Du heimlich gingst,“ erwiderte das Mädchen hastig, „bleib hier, wo Du anderwärts doch nichts helfen kannst!“

„Das Wegjagen kommt ohnehin, sobald er das nächste Mal von Mistkäfern spricht!“ erwiderte der Knabe trotzig; „Geld habe ich schon seit zwei Monaten meiner Mutter nicht bringen können, so will ich wenigstens nach ihr sehen!“

„Aber Vater hat selbst kein Geld, und Niemand ringsherum, Du weißt es!“

„Dann soll er nicht von Mistkäfern reden und meinen, ich fürchtete sein Davonjagen. Fred aber sagt, daß die Menschen, die jetzt den Aufruhr im Staate predigen, an ihrem Unglücke selbst schuld sind. Ich sehe nach meiner Mutter, Miß Alice!“ Und ohne einen fernern Einwand abzuwarten, schlüpfte der junge Bursche die Treppen des Portico hinab, drückte hier den flachen Hut fester auf seinen Kopf und war, in raschen Schritten an dem Gebäude hinschleichend, bald hinter der nächsten Feldeinzäunung verschwunden.

Das Mädchen hatte den Kopf an einen der Pfeiler gelehnt und blickte lange in trübem Sinnen in den Feuerschein hinein, bis ein lauter Ruf im Hause sie aufschreckte und in das Innere eilen ließ. –

Bill – oder Wilhelm, seinem ehrlichen, unverkürzten Taufnamen nach – hatte sich quer durch ein Maisfeld gewunden und trat auf eine Straße hinaus, welche dem Orte des Brandes in gerader Richtung zuzulaufen schien. Rechts und links derselben standen die dunkeln Gestalten einzelner Schwarzer, in schweigender Beobachtung das Aufschießen und Sinken der feurigen Lohe am Himmel verfolgend, und der junge Bursche hielt seinen Schritt an. „Ist das Pleasant-Grove, Dick?“ wandte er sich an den ihm zunächst stehenden Neger.

„Denke nicht, Master William,“ erwiderte dieser langsam, „es ist wohl Mr. Riese’s Mühle, die brennt – er hat so ’was schon in den letzten Tagen voraus gesagt,“ fuhr er halblaut fort, mit dem Kopfe nach dem rückwärts liegenden Farmhause deutend, „und es mag wohl noch schlimm werden mit Allen, die hier herum zu der Union halten!“

„Seid Ihr auch für solche Mordbrenner, die sich Secessionisten nennen, und gegen die Deutschen, Dick?“ fragte der Bursche mit einem Beben des Zornes in seiner Stimme.

„Bst!“ winkte der Schwarze, sich ängstlich umsehend, „ich bin ein armer Nigger, der keine Meinung hat und seines Herrn Brod ißt; aber die Deutschen sind gut, Master William –“ er zog eine Grimasse, als scheue er sich, mehr zu sagen.

Da klang ein Schuß aus der Entfernung – zwei andere folgten unmittelbar danach, und auffahrend eilte Bill auf der [82] Straße davon, seinen Schritt bald in einen scharfen Trab verwandelnd, bis der ihn umgebende Wald ein Ende nahm, die Gegend sich frei vor seinen Augen ausbreitete und er mit keuchendem Athem stehen blieb. Gerade vor sich konnte er in die auflodernden Flammen hineinsehen; es waren nur drei oder vier Häuser, welche brannten, und deutlich ließ sich bemerken, daß der nächste Umkreis keine weitere Nahrung für das Feuer bot; aber es schienen dem immer neu erfolgenden Auflohen nach massenhaft aufgespeicherte Vorräthe zu sein, welche der Vernichtung geweiht wurden. Der Ausdruck einer fast wilden Erbitterung breitete sich indem Gesichte des Knaben aus, und die kräftigen, hartgearbeiteten Hände ballten sich. „O, wenn ich älter wäre –!“ murmelte er, „sie haben alle kein rechtes Herz in der Stadt und lassen sich von einer Handvoll amerikanischer Rowdies in Schrecken halten – Fred Minner ist noch der Einzige unter den Deutschen, an den sich Keins von dem Räubergesindel wagt, aber er kann es allein nicht zwingen –“

Mit einer Miene voll Bitterkeit, die fast über sein Alter ging, verfolgte er die Straße, welche sich jetzt in leichter Biegung von der Brandstätte hinwegzog, scharfen Schrittes weiter, bis die von dem Feuer matt gerötheten Außengebände der „Stadt,“ – eine Bezeichnung, die für eine ungepflasterte Straße von vierzig oder fünfzig Holzhäusern eben nur in Amerika möglich ist – vor ihm auftauchten.

Es war die Zeit, als mehrere Monate vorher der größere Theil der Sclavenstaaten Nordamerika’s sich von der Union losgesagt, Jefferson Davis zum Präsidenten der neuen Conföderation gewählt worden, war und der Gouverneur Jackson von Missouri vergebens alle Minen hatte springen lassen, um auch seinen Staat zum Anschluß an die neugebildete südliche Bundesrepublik zu vermögen. Die einberufene Staats-Convention von Missouri hatte sich gegen jeden Treubruch an der Union erklärt, und Gouverneur Jackson war zur Einsicht gelangt, daß die „Secession“ oder Abtrennung Missouri’s von dem bisherigen Verbände mit dem Norden nur durch offen erklärten Krieg gegen alle unionstreuen Bürger im Staale möglich gemacht werden könne. Auf den Raufboldgeist, der einen Grundzug im gesammten Amerikanerthum bildet, auf das specifisch südliche Gefühl der Sclavenhalter und deren Anhänger, wie auf den instinctmäßigen Haß gegen die zahlreichen deutschen Eingewanderten, welche eifrige Verfechter der „freien Arbeit“ und jetzt enthusiastische Anhänger der gefährdeten Union waren, sich stützend, hatte er die gesammte amerikanische Bevölkerung des Staates zu den Waffen gerufen, um Missouri von der „Oberherrschaft des Nordens“ zu befreien – er selbst war nach diesem Acte aus dem Regierungssitze, Jefferson-City, in das Innere des Landes zurückgewichen, die Stadt vorläufig der Unionsstreitmacht preisgebend, welche sich in St. Louis fast ausschließlich aus Deutschen gebildet hatte, und in den südlich und westlich gelegenen ungeschützten Theilen des Staats begannen jetzt, dem Aufrufe des Gouverneurs gemäß, sich Banden auf Banden von „Secessionisten“ zusammenzurotten, alles herren-, geschäfts- und gesetzlose Gesindel an sich ziehend und bald in größeren Massen unter einem Führer vereinigt, die Städte besetzend, alles der Unionsgesinnung Verdächtige brandschatzend und dann von Haus und Hof treibend, bald in kleineren Rotten das flache Land durchstreifend, sengend und brennend, raubend und mordend. Noch waren bis dahin in der Nähe der Eisenbahnlinie von St. Louis nach Jefferson City, also fast unter dem Auge der zusammengetretenen Unionsstreitmacht, wenig wirkliche Gewaltthaten geschehen; nur die aus den rückwärts liegenden Gegenden nach St. Louis eilenden Flüchtigen und Vertriebenen, wie die mit jedem Tage sich steigernde Anmaßung und Unverschämtheit der „secessionistisch“ gesinnten Amerikaner, von denen oft zwanzig anrüchige, verwegene Charaktere eine ganze Bevölkerung ruhiger Deutschen im Schach zu halten vermochten, gaben hier eine Ahnung von dem allgemeinen Stande der Dinge. Und so war auch der kleine Ort Pleasant-Grove, wie er im amerikanischen Volksmunde hieß, noch ohne größere Beunruhigung geblieben, wenn sich auch seit mehreren Tagen bereits wiederholte Gerüchte über die Bildung räuberischer Secessionshorden in der Nähe verbreitet hatten, und das plötzliche Verschwinden einer Anzahl gefährlicher amerikanischer Charaktere den Nachrichten eine Art von Bestätigung lieh.

Als Bill in die Hauptstraße des Städtchens einbog, sah er, daß die ganze Bewohnerschaft sich in voller Aufregung befand. Vor den Thüren standen die Weiber und Kinder, mit ängstlichen Augen in das Feuer starrend, während die Mitte der Straße von starken Gruppen eifrig sprechender und debattirender Männer eingenommen ward. Der Bursche wand sich zwischen den einzelnen Haufen hindurch, bald einen Augenblick den fallenden Worten horchend, bald mit den Augen nach bekannten Zügen untersuchend, bis er endlich von einer Art Rede, welche in einer der lebendigsten Gruppen laut wurde, festgehalten zu werden schien.

„Ist Alles recht, daß wir für die Union einstehen sollen, und ich bin ein Unionsmann so gut als Einer; aber ich habe Frau und Kinder, an die ein rechtschaffener Familienvater denkt, ehe er sein Leben unnütz auf’s Spiel setzt, und was von Secessionisten hinterm Mühlberge und im Busche steckt, ist uns dreifach überlegen. Hätten sie uns übrigens zu Leibe gewollt, so würden unsere Häuser gerade so brennen wie die Mühle, und ich sehe nicht ein, warum wir die Menschen jetzt noch reizen sollen. Riese, der Müller, hat letzte Woche den Streit mit dem rothen Mulligan gehabt, den er wegen seiner Redensarten über die Deutschen niedergeschlagen hat – jetzt sieht er die Folgen. Es ist noch immer besser gewesen, derart Menschen aus dem Wege zu gehen!“

„Und so hat sich eine ganze Stadt voll deutscher Männer immer von zehn amerikanischen Rowdies geduldig in’s Gesicht schlagen lassen!“ ward Bill’s Stimme hörbar, der mit zuckenden Lippen die Friedensrede angehört. Alle Köpfe drehten sich nach dem Burschen, der Sprecher aber maß ihn einen Moment mit den Augen und sagte dann, sich geringschätzig wegwendend: „Jungen haben hier nicht mitzureden!“ Eine glühende Röthe schoß in Bill’s Gesicht; einen Augenblick schien er zu zaudern, seine Empfindung durchbrechen zu lassen; dann aber war er mit einem Schritte dicht vor des Sprechers Gesichte. „Jawohl, Jungen sollten auch nicht mitzusprechen haben,“ rief er, während die volle Erregung aus seinen Augen blitzte; „aber wenn Männer so feig reden, daß die Jungen sich schämen müssen, deutsch zu heißen, so lassen sie sich’s nicht wehren! Kommen Sie nur heran!“ fuhr er fort, beide Hände langsam ballend, als der Andere eine drohende Bewegung machte, „ich sage Ihnen doch die richtige Wahrheit in’s Gesicht. Wenn die Deutschen nicht vor jedem Schlage zurückwichen und den Rowdies Stand hielten, wenn sie jeden, der die Faust hebt oder das Messer zieht, bedienten, wie es der Müller Riese mit dem rothen Mulligan gethan, so gäb’s bald einen andern Respect vor den Deutschen –“

„Laß es gut sein, Bill!“ unterbrach ihn eine sonore Stimme, und eine Hand legte sich leicht auf seine Schulter, „Du hast Recht, aber damit ist jetzt nichts geholfen, und Du sollst nützlichere Arbeit haben!“ Und aufblickend sah Bill in das erhitzte Gesicht eines hochgewachsenen jungen Mannes, welches sich von ihm der umstehenden Menge zuwandte. Erst jetzt bemerkte der Bursche, wie rasch sich während seiner Worte der Kreis seiner Zuhörer erweitert hatte, sah, daß die Augen der halben Bewohnerschaft auf ihm ruhten, und seine Keckheit wich einer leichten Befangenheit, die indessen rasch schwand, als der so eben hinzugetretene Freund seine Hand kräftig faßte, um ihn an seiner Seite zu halten. „Ich bin eben so wenig als Andere dafür, Nachbarn,“ fuhr der Letztere gegen die Umstehenden gewandt fort, „daß wir jetzt an einen Angriff auf die Secessionisten denken, so zweckmäßig es auch wäre, dem Gesindel gleich eine tüchtige Lehre zu geben; aber wem Hab und Gut lieb ist, der denke an eine kräftige Vertheidigung. Der Rowdy ist feig, wo er auf rechten Muth trifft, und daß unsere Häuser nicht bereits ebenso brennen wie die Mühle, liegt nur darin, daß diese Räuberbande nicht sicher über den Empfang ist, den wir ihr bereiten könnten. Laßt das geringste Zeichen von Verzagtheit blicken, und sie werden über uns sein schlimmer als ein Heerde hungriger Wölfe. Wer mit mir die rasche Organisirung eines Widerstandes versuchen will, so lange es noch Zeit ist, der sei mit seinem Gewehre so schnell als möglich bei meinem Hause. Morgen früh, denke ich, werden wir Verstärkung haben, und so heißt es: während der Nacht tapfer auf dem Posten sein, damit die Hülfe nicht für uns zu spät komme!“

Der Sprecher schritt, den Burschen mit sich führend, rasch aus dem Haufen, in welchem sich jetzt ein wirres Durcheinander von Stimmen erhob, und wandte sich nach dem untern Theile der Straße. „Wirst Du wohl einen Auftrag von mir ausführen, Bill, wenn Du auch die Nacht über nicht schlafen kannst?“ fragte er.

[83] „Ich thue Alles für Sie, Fred!“ erwiderte der Angeredete, fast zärtlich zu dem jungen Manne aufblickend.

„Aber es könnte im schlimmen Falle Gefahr dabei sein!“

„Sie haben für meine Mutter gethan, was ich nicht konnte, Fred, und ich habe mich noch vor keiner Gefahr recht gefürchtet.“

„Gut, Bill, es handelt sich um uns Alle, und ich wüßte kaum, wem außer Dir den Auftrag anzuvertrauen. Wir müssen morgen früh eine Abtheilung Unions-Militair von Jefferson-City hier haben, oder können nur unserer gesammten Habe den Rücken kehren. Ich habe Nachricht, wie es andern deutschen Orten ergangen ist, und jedenfalls wartet die Bande, die hier in der Nähe liegt, nur darauf, sich beim Morgenlichte von unserer Stärke und Haltung zu überzeugen. Ich habe Bekannte in der Nähe des Commandirenden in Jefferson, und an einen derselben wirst Du einen Brief überbringen. Fällst Du aber unterwegs den Secessionisten in die Hände und sie entdecken das Schreiben bei Dir, so hängen sie Dich möglicherweise auf, Bill – ich muß Dir die Lage der Dinge in ihrem vollen Lichte zeigen. Kommst Du indessen glücklich durch, so kannst Du Dir sagen, daß Du unser Städtchen gerettet hast, und was von der Bewohnerschaft für Dich und Deine Mutter gethan werden kann, das wird geschehen. Zu Deinem Troste magst Du übrigens annehmen, daß ein kleiner Kerl wie Du nicht die halbe Gefahr läuft, die jeder Erwachsene zu bestehen hätte.“

Der Bursche nickte überlegend. „Ich kann mich nicht viel mit Umwegen abgeben, um Jemand auszuweichen, wenn ich zu rechter Zeit eintreffen soll,“ sagte er; „höchstens daß ich mich nach der Eisenbahn hinüberschlage. Aber sie werden mich nicht hängen, wenn ich auch wirklich unter sie gerathen sollte. Für alle Fälle versprechen Sie mir, Fred, daß Sie für meine Mutter sorgen wollen, und ich will die Sache unternehmen.“

„So lange ich noch etwas zu essen habe, soll’s ihr auch nicht fehlen, darauf nimm mein Wort!“ erwiderte der junge Mann, des Knaben Hand kräftig drückend, und Beide gingen raschern Schrittes schweigend weiter. Erst als Fred in den Hof neben einem neuen, freundlichen Hause einbog, fragte er: „Du kommst von Anderson’s Farm?“

„Yes, Sir! und es ist Alles recht wegen Miß Alice, so viel auch der Alte auf die deutschen Mistkäfer schimpft!“ war die Antwort. „Wenn ich nicht gehängt werde und Sie wollen einmal die junge Lady dem Alten vor der Nase wegholen, so rechnen Sie nur auf mich!“

„Still jetzt davon,“ erwiderte der junge Mann mit einem Blicke nach der Straße, wo bereits einzelne Männer mit Gewehren sich zu sammeln begannen, „wollte nur Gott, der morgende Tag wäre schon glücklich vorüber!“ Er öffnete rasch die Hinterthür des Hauses und schritt, von dem Knaben gefolgt, in das dunkele Innere.

Fünf Minuten darauf wanderte Bill schon mit schnellen Schritten wieder durch die belebte Straße nach dem entgegengesetzten Ende der Stadt, öffnete dort die Thür zu einem niedrigen Häuschen und stürmte in die sich unmittelbar nach der Straße öffnende Wohnstube. Am Fenster saß eine ältliche, gebeugte Frau, den Feuerschein beobachtend, und mit einem „Nur einen Augenblick, Mutter!“ schlang der Knabe seine Arme um ihren Hals.

„Was ist es, Willy?“ fragte sie, sich seiner stürmischen Liebkosung halb entziehend und seinen Kopf in beide Hände nehmend, während die mattbrennende Lampe eine deutlich ausgeprägte Sorge in ihrem weißen leidenden Gesichte beschien, „hast Du wieder Thorheiten mit Deiner Wildheit begangen?“

„Nichts, Mutter, und ich begehe überhaupt keine Thorheiten!“ erwiderte er, ihre Hände fassend. „Fred Minner sagt, ich heiße nicht umsonst „Hammer“, und so lasse ich mich nur nicht von Jedem zum Ambos machen. Jetzt aber habe ich einen Auftrag für den Fred zu besorgen und komme ich nicht sogleich wieder, so wird er immer nach Dir sehen – das war’s, was ich Dir sagen wollte!“ Damit hatte er von Neuem ihren Hals umschlungen, drückte zwei ungestüme Küsse auf ihren Mund und war im nächsten Momente bereits wieder zum Zimmer hinausgeeilt. Zehn Schritte vom Hause entfernt, wandte er noch einmal den Kopf zurück und sah die Frau durch das geöffnete Fenster wie in ängstlicher Sorge ihm nachblicken; er winkte ihr einen lustigen, beruhigenden Abschiedsgruß zu und bog dann in die letzte kurze Seitengasse, welche in der Richtung des Feuers in’s Freie führte, ein.

Vor ihm schlängelte sich, sobald er das letzte Haus erreicht, ein breiter Pfad nach der unglücklichen Mühle; rechts hinüber lag eine langgestreckte Anhöhe, dieselbe, welche er auf seinem Wege nach der Stadt passirt, und hierhin nahm er raschen Schritts seinen Weg über den unebenen Grasboden. Als er indessen auf die Fahrstraße traf, überschritt er diese und verfolgte seine bisherige Richtung, immer rechts hinüber, wo ihm eine weit hervortretende Waldecke in dem ungewissen Mondlichte dunkel entgegen blickte. Eine Zeitlang wanderte er, während seine Augen stets beobachtend die Gegend überliefen, rüstig vorwärts, bis die einzelnen Waldpartien sich deutlich vor seinen Augen abzuzeichnen begannen. Da kniete er nieder und legte eine kurze Weile das Ohr auf den Boden. Mit einem Nicken der Befriedigung erhob er sich wieder. „Hier herum sind sie nicht,“ murmelte er weiterschreitend, „und habe ich erst die Eisenbahn, so ist kaum noch Gefahr, auf sie zu treffen!“ Er verfolgte den Saum des Waldes, bis sich ihm eine schmale Oeffnung in den Gebüschen zeigte. Vorsichtig lauschend blieb er hier einige Secunden lang stehen, aber nicht ein fallendes Blatt störte die Todtenstille, welche über seiner Umgebung lag, und ohne weiteres Zögern schlug er den Waldpfad ein, welcher sich vor ihm öffnete.

Es war so dunkel hinter dem dichten Laubdache, daß nur die völligste Bekanntschaft mit dem Terrain ein rasches, ungehindertes Vorwärtsgehen ermöglichen konnte, aber Bill’s vorsichtig auftretender Fuß stockte nur, sobald irgend ein Geräusch zu seinem Ohre drang. Stets war es indessen nur ein fallender dürrer Ast, das Bersten der Rinde eines alten Stammes gewesen, das ihn erschreckt, und mit jeder Minute, die ihn mehr an das eigenthümliche nächtliche Leben des Waldes gewöhnte, schritt er zuversichtlicher vorwärts; demohngeachtet aber hob sich seine Brust mit einem tiefen, erleichternden Athemzuge, als er nach fast halbstündigem Marsche plötzlich das Mondlicht durch die Walddunkelheit dringen und gleich darauf eine freie, tiefe Schlucht seinen Weg unterbrechen sah. „Die Eisenbahn, Gottlob!“ murmelte er und klomm den Einschnitt nach den Schienen hinab. Ein vielbetretener Fußpfad lief hier neben dem Geleise hin, und rascheren Schritts nahm der Bursche die neue Richtung auf. Rechts und links begleitete ein dunkeler Wald die Bahn, aber das Mondviertel stand noch hoch genug, um Licht auf den Weg des Dahineilenden zu streuen; freundliche Gedanken traten in sein Gesicht, als er vor sich in den erhellten Streifen des Nachthimmels blickte, und bald begann er mit einer leise gesummten Melodie seine Schritte taktmäßig zu begleiten. Es schien auch seine Stimmung nicht zu trüben, als die Bahn eine Biegung machte und der über den Weg fallende Schatten der Bäume ihm jede Fernsicht benahm; seinen Gedanken hingegeben und in augenscheinlichem Sicherheitsgefühle wanderte er vorwärts, bis nach geraumer Weile ein plötzlicher Zuruf von der Höhe der Böschung ihn aufschreckte und seinen Schritt anhalten ließ.

„Steh ruhig da unten, wenn ich Dir nicht eine Ladung in die Beine schicken soll!“ klang es, als Bill bei dem Erblicken einer dunkeln Figur eine unwillkürliche Bewegung zur Umkehr machte, und die Erhöhung vom Walde herab stieg eine breitschultrige Männergestalt.

„Halloh, was giebt’s denn?“ erwiderte der Bursche, keck den Kopf hebend.

„Wirst’s gleich hören, mein Kerlchen!“ gab der Herannahende zurück und faßte Bill’s Schulter, diesen nach der Mondseite kehrend und scharf in sein Gesicht blickend, „willst Du mir wohl sagen, wo Du herkommst?“

„Von Mr. Anderson’s Farm,“ entgegnete der Befragte trotzig und machte zugleich einen kräftigen Versuch, seine Schulter dem Griffe des Andern zu entwinden; „ich lasse mich nicht so anfassen, Sir, ich brauche vor Niemand davonzulaufen!“

„Ruhig, mein Schäfchen, scheinst aus der richtigen Schule zu sein, mußt’s aber doch einmal leiden!“ lachte der Examinirende und grub mit eisernem Drucke seine Finger in Bill’s Fleisch.

„Und wo soll die Reise hingehen?“

„Sie werden mir den Knochen zerbrechen!“ rief Bill, die Zähne aufeinander beißend, aber ohne Zucken den Druck aushaltend.

„So, dann sträube Dich nicht, mein Herzblatt, und nun rede!“

Eine Secunde lang war der Knabe ungewiß, was zu antworten, eine Secunde, deren Pein sich nur in dem Zucken seiner Mundwinkel ausdrückte, aber sein Auge blieb fest auf das Gesicht des vor ihm Stehenden gerichtet. Sein Stolz hatte ihn noch niemals [84] eine Lüge sagen lassen, und auch jetzt fühlte er, daß jede Unwahrheit in seinen Mienen zu lesen sein würde. „Ich habe einen Auftrag zu besorgen,“ sagte er in seiner frühern trotzigen Weise, „und ich denke nicht, daß Jeder das Recht hat, mich auf der Straße anzuhalten und auszufragen!“

„Sprichst Dein Englisch recht gut, Kindchen, hast auch eine Manier, die mir ganz gefällt,“ entgegnete der Andere mit einem häßlichen Lächeln, „sehe Dir aber doch an, daß Du zu dem deutschen Sauerkraut gehörst. Wollen Dir einmal die Zunge lockermachen, und Du thust gut, wenn Du nicht zu starrköpfig bist. Es sind Kriegszeiten, mein kleines Füllen, wo nicht viel Umstände gemacht werden!“ Er setzte den Finger an den Mund und ließ einen scharfen Pfiff ertönen, der nach wenigen Secunden zwei andere rauhe Männergestalten aus den Büschen brachte.

„Ich denke, hier ist etwas nicht ganz richtig,“ rief diesen der Erstere zu, „das Kerlchen wollte gerade nach Jefferson-City hinauf, und ein Bischen eindringliches Befragen kann nicht schaden!“

Bill glaubte in diesem Augenblick sein Herz sich krampfhaft zusammenziehen zu fühlen. Sein Blick flog in Gedankenschnelle über die ganze Umgebung, um indessen nur die Unmöglichkeit einer Flucht zu erkennen. Die einzige Rettung hätte ihm der Wald gewähren können, ehe er aber eine der steilen Böschungen an beiden Seiten der Eisenbahn zu erklimmen vermocht, mußten ihn längst die nachgesandten Kugeln erreicht haben. Er fühlte sich an beiden Armen gefaßt, hörte den kurzen Wortaustausch zwischen seinen Feinden und sah sich dann rauh die Erhöhung nach dem Walde hinaufgeführt, ohne noch im Stande zu sein, einen Plan für sein Verhalten zu entwerfen; er erkannte die dringendste Nothwendigkeit, sich des ihm anvertrauten Briefs zu entledigen, aber seine beiden Arme waren festgehalten, und jede verdächtige Bewegung seinerseits konnte nur zu schnellerer Entdeckung seines Geheimnisses führen. Er war unsanft durch das Strauchwerk am Rande der Böschung gestoßen worden und ward jetzt zwischen hochstämmigen, spärlich stehenden Bäumen fortgeführt; schon nach fünfzig Schritten aber sah er hinter einer Gebüschpartie helles Feuer blitzen, hörte Stimmen und rohes Lachen, und kaum zwei Minuten nachher begann der eine seiner Führer die Zweige zu theilen und voran tretend den Gefangenen nach sich zu ziehen. Da stolperte dieser und wäre zu Boden gestürzt, wenn nicht der Vorangehende ihn mit einem Fluche wieder aufgerissen hätte, aber das Gebüsch hatte dem Burschen den Hut vom Kopfe gestreift und in die Dunkelheit seiner Blätter aufgenommen; Niemand als Bill selbst war es gewahr worden, und als dieser jetzt zwischen seinen Wächtern auf den freien, grasigen Platz, in dessen Mitte das Feuer brannte, heraustrat, glänzte es auf seinem Gesichte wie der Triumph über einen gelungenen Streich.

Es war ein wunderliches Bild, was sich in dem grellen Scheine des hell lodernden Feuers dem Auge bot. Wohl an fünfzig Männer mochten auf dem Boden umher lagern, aber ein eigenthümlicher Contrast zeigte sich zwischen den verschiedenen Gruppen. Während nahe dem Feuer ein Haufen wilder Gestalten lag, in deren Mitte ein spannendes Kartenspiel seinen Gang zu nehmen schien, und jede Wendung desselben von den Zuschauern mit Flüchen oder tollem Gelächter begleitet ward, während an einer andern Stelle eine kleinere Gruppe zwischen ausgestreckten Schläfern saß und in eifrigem Gespräche die Flasche kreisen ließ, hatte sich, mehr zur Seite, wo zwei Pferde zusammengekoppelt standen, eine Anzahl Männer auf untergelegten Decken niedergelassen, die ihrem Aeußern nach zur bessern Gesellschaft gehörten. Dort wurden Cigarren geraucht, und die Worte fielen in kaum anderer Weise, als es in jedem Besuchszimmer zulässig erschienen wäre. Nachlässig an einen Baumstamm gelehnt, in einer mit goldenen Tressen besetzten Uniform, eine Art grauer Militairmütze auf dem Kopfe und einen langen Cavalleriesäbel über die Kniee gelegt, saß dort ein gebräunter, bärtiger Mann, wie es schien, in einer Auseinandersetzung, der er mit kurzen, energischen Handbewegungen Nachdruck verlieh, gegen seine noch unmilitairisch bekleidete Umgebung begriffen, und dorthin ward jetzt Bill von seinen Begleitern geführt.

„Ein aufgefangener Vogel, Cornel[1], dem einmal unter die Flügel geschaut werden soll!“ rief einer der letzteren, den Gefangenen vorführend; „er war auf dem Wege nach Jefferson-City und scheint von Pleasant-Grove zu kommen!“

Der Mann in Uniform sah rasch auf, und die noch eben im Gespräche so gefällige Miene verwandelte sich in einen eigenthümlichen Zug des Hasses. Sein Blick überflog die kleine Gestalt und blieb zuletzt in den dunkeln Augen, des Vorgeführten hängen, die fest und furchtlos auf seinem Gesichte hafteten. „Du gehörst zu dem deutschen Ungeziefer und bist nach Jefferfon-City geschickt?“ fragte er in einem Tone, der jeden Widerspruch abschneiden zu wollen schien.

„Ich bin ein geborner Missourier und habe nichts mit Ungeziefer zu thun, Sir,“ war die kecke Antwort, „die Männer haben mich von der Eisenbahn hierher geschleppt, und ich weiß jetzt noch nicht weßhalb!“

„Und was hattest Du auf der Eisenbahn zu thun?“

„Ich habe einen Auftrag zu besorgen, den ich verschweigen soll,“ erwiderte der Bursche ohne Zögern, „und wenn ich hier mit Gentlemen zu thun habe, so werde ich nicht weiter darum gepeinigt; ich könnte ganz leicht zehn Lügen vorbringen, aber ich mag nicht!“

Der Officier sah dem Knaben mit einem finstern, durchdringenden Blicke, in welchem dennoch ein gewisses Behagen an seinen Worten durchschimmerte, in’s Gesicht und hob dann den Kopf nach der Menge rauher Gestalten, welche beim Beginn des Verhörs ihre Plätze verlassen und sich herbeigedrängt hatten. „Ist Einer von den Leuten von Pleasant-Grove hier?“ fragte er.

„O, wir kennen das Kind!“ wurde die höhnende Stimme eines sich vordrängenden Menschen laut, als habe dieser nur darauf gewartet, sein Wort anbringen zu können, „’s ist der Bill Hammer, und wenn das deutsche Volk in Pleasant-Grove einen Schlag beabsichtigt, so ist er gerade der Rechte, um mit Hand und Mund vorweg zu gehen.“

(Fortsetzung folgt.)
  1. corrumpirter Ausdruck für Colonel, Oberst.


Bilder aus dem Kaukasus.
Nr. 3.
In einem armenischen Hause in Bajazid.

Wir wandeln auf biblischem Boden. Als Noah nach dem Verrinnen der großen Fluth mit seinem zoologischen Cabinet auf dem Ararat, dem Archen-Berge, sitzen blieb, stiegen mit ihm aus Sem, Ham und Japhet, und Noah erfand den Wein, und seine Söhne bevölkerten von Neuem die Erde.

Der vierte Nachkomme Japhet’s, Haik, wohnte dem Thurmbau zu Babel bei, und als die große Verwirrung der Zungen begann, zog er mit dreihundert Getreuen seines Geschlechts in das Land zwischen dem Wansee und dem Ararat, und ward der Stammvater der Armenier, die sich auch nach ihm das Volk des Haik nannten.

Von diesem Mittelpunkte am Ararat erstreckten die Armenier ihre Herrschaft nach den drei großen Wassern hin, nach dem Schwarzen Meere, dem Kaspischen See und dem Mittelländischen Meere, und so bildet ihr Land noch heute ein Dreieck, von welchem ein Winkel an der Mündung des Kur, der andere an der Mündung des Rion und der dritte im Busen von Skanderun zu suchen ist. Dieses Dreieck mag wohl eine Größe von 5000 Quadratmeilen haben.

Armenien ist im Innern Hochland, im Ganzen Staffel- und Tafelland. Von allen Himmelsrichtungen betritt man dasselbe in Thallandschaften, hinter welchen die Höhen sich aufgipfeln, und zwar von den Thälern aus fast allenthalben mit einem steilen Rand. Von diesem Rand umzogen, breitet das Hochland sich aus; es wechselt von einer Höhe von 2600 bis zu 6000 Fuß (über dem Meere) und bildet wiederum die Basis für zweierlei neue Erhebungen: die Kegelberge und die sogenannten Plateauketten. Von letzteren ist ist die des Ala-Dagh die wichtigste, denn sie theilt dadurch, daß

[85]

Aus dem Innern eines armenischen Hauses.
Nach der Natur aufgenommen von Paul Franken.

sie sich vom Ararat bis zum Vereinigungspunkte der beiden Quellenflüsse des Euphrat hinzieht, das gesammte armenische Plateau oder Tafelland in zwei Hälften, die südliche und die nördliche. Wir lassen die südliche liegen und wenden uns ausschließlich der nördlichen zu. – Hier treiben die Berge die kühnste Romantik. Mit Ketten und Kegeln ragt hier die Erde in die Luft, gewährt fruchtbaren Weideebenen und üppigen Thälern Raum, hat die Rippen der Berge bald aus Porphyr, bald aus Basalt oder aus Trachyt gefügt, zeigt in den ausgebrannten Essen der hohen Kegel die wilde Arbeit Vulcan’s in der Urgeschichte dieser Stätte, legt den dreifachen Ring des Klima’s auf die Staffeln des Landes, den subtropischen der Region des Regens, den milden des veränderlichen Niederschlags, und den starren des ewigen Schnees, und hat die Beete der Flora ausgebreitet, von der Platane und Melone, vom Wein und Reis bis hinauf zur Birke und zum letzten Strauch der Alpenvegetation. Und für jede Region sind aus Noah’s Kasten die Thiere hervorgegangen, die sich in ihr wohl befinden.

Auf diesem nördlichen Tafellande finden wir die Hochebenen von Bajazid, von Erzerum (5580 Fuß hoch), von Kars, von Achalzik und die von Eriwan. Letztere erreicht zwar nur eine Höhe von 2680 Fuß, aber gerade auf ihr steigen die höchsten jener Kegelberge empor: der große Ararat, der sie noch um 13,530 Fuß überragt, der kleine Ararat mit 12,000 Fuß und der Alaghes mit 12,870 Fuß Höhe über dem Meere.

Aus dem Thale des Kur, der in den Kaspischen See mündet, führen drei Hauptwege über den Nordrand des Hochlands: der eine von Tiflis über Gori und Suran nach Kutais, der andere von Tiflis über Elisabethpol und Schuscha nach Nachitschewan, der dritte von Tiflis nach Eriwan und von da nach Bajazid. Auf diesem letzten begleiten wir unsern Reisenden, von dem wir heute die dritte seiner Originalzeichnungen mittheilen (vergl. Nr. 7 und Nr. 21, Jahrg. 1861 der Gartenl.), und finden ihn in Bajazid.

Es war ein Glück für mich, erzählt er, daß auf des Fürsten Fürsprache ein armenischer Kaufmann mir gestattete, in seinem Zimmer zu übernachten, denn in der Karawanserai giebt es keine Logirstuben, und in den Kameelställen wollte ich nicht liegen. Gasthöfe nach Bädekers Vorschriften giebt es hier zu Lande nicht, wo die meisten Einrichtungen und Gewohnheiten des täglichen Lebens sich nur wenig von denen zu Zeiten Abraham’s und Israel’s unterscheiden. Das Haus nun, in dem ich mich befand, hatte, abgesehen von einem [86] Hinterraume, in dem für diese Nacht die Familie zubrachte, und außer dem Weiberzimmer weiter kein Gelaß. Ordnungsmäßige Küchen, Waschräume, Keller und der Art mehr, wie wir es zum Comfort für unerläßlich halten, giebt es nicht. Ein Speicher ist nicht möglich, da sämmtliche Häuser nicht bloß einstöckig, sondern da sich über der Mattenbedeckung des einen Hauptzimmers gleich das flache Hausdach ausbreitet, nicht etwa mit Zink oder Schindeln gedeckt, sondern einfach mit Erde und Unrath vollgehäuft. Die Hausthüre führt sofort in das Zimmer, wie es der beifolgende Holzschnitt zeigt, einen Raum von etwa 16 Fuß Breite bei 18 Fuß Länge. Die Wände sind schmutzig weiß getüncht und mit Verschlägen und Wandschränken zur Aufbewahrung der geringen Habseligkeiten der Einwohner versehen. Ornamentenluxus ist fast nur am Kamin angebracht. Der Boden besteht aus fester Lehmmasse, auf den man gleich an der Thüre zu treten genöthigt ist. Nur in der Tiefe des Zimmers befinden sich Matratzen und Teppiche, erstere, wie rechts auf dem Bilde zu sehen ist, dünn und mit Seidenstoff überzogen, die Teppiche persisches Fabrikat.

Während unsere Mannschaften vor der Hofthür unter freiem Himmel campirten, wurde also für meinen Beamten aus Eriwan und mich das Zimmer hergerichtet. Sage ich hergerichtet, so hat man unter dieser „Herrichtung“ nichts Weiteres zu verstehen, als daß man mir noch einen feinen, buntfarbigen persischen Teppich zum Zudecken hereinbrachte. Mein Gefährte saß inzwischen mit dem Armenier und dessen Sohne im eifrigsten politischen Gespräche in einer Ecke und ließ sich von Beiden auseinandersetzen, wie gern sie russisch würden, um für ihren Handel und ihre Personen eines gesetzlichen Schutzes theilhaftig zu werden, denn die Muselmänner verfolgten sie auf das Zügelloseste, rein nach Launen und Willkür. Vater und Sohn waren ihrer ganzen Erscheinung nach interessant genug, daß ich die Zeit benutzte, um Beide, sicherlich ohne daß sie eine Ahnung davon hatten, zu zeichnen.

Endlich war es Schlafenszeit. Da ich der Abendkost und dem Wasser nicht zusprechen mochte, mußte ich mich entschließen, hungrig schlafen zu gehen, wozu ich übrigens auf meinen Reisen im Kaukasus häufig genug gezwungen war. Unsere Wirthe verließen uns, ich streckte mich behaglich aus, zog mir den persischen Teppich, der nach den feinsten Parfüms duftete, bis über die Ohren und fiel bald in süßen Schlaf. Aber es mochte kaum Mitternacht sein, als ich durch das Knacken eines Pistolenhahns in meiner Nähe geweckt wurde. Das Licht brannte noch, und als ich mich orientirt hatte, sah ich, daß mein Eriwanscher Schlafgefährte bereits auf den Beinen und mit seinen Waffen wohlversehen unter der Schießscharte so hingekauert stand, daß ihn weder Wurf noch Schuß von außen erreichen konnte. „Was ist?“ fragte ich ihn in gebrochenem Russisch, doch bedeutete er mich, nur zu schweigen. Was er mir zuflüsterte, vermochte ich nicht zu verstehen. Daß wir bei der großen Nähe des Lagers innerhalb des Hauses eines angesehenen Kaufmanns in ernstlicher Gefahr sein könnten, war mir undenkbar. Ich versuchte deshalb wieder einzuschlafen, aber Hunderte von gierigen Flöhen, die rege geworden waren, ließen das auch nicht für einen Moment zu. Was half alles Wenden und Drehen und Kratzen und Werfen? Das Tagesgrauen stahl sich durch die Fensteröffnung, und ich hatte mich von Mitternacht ab vergeblich bemüht, meine Ruhestörer zu verscheuchen. Möchte ich nie wieder eine Nacht unter diesem ambraduftigen Perserteppich zubringen müssen, war mein Morgenwunsch, als ich mich erhob und meinen Nachtgefährten antrieb, für unsere Abreise Sorge zu tragen. Er war schnell munter, sah sich besorgt um und rief dann mit beruhigtem Tone: „Gott sei gedankt! Nacht und Gefahr sind vorüber!“ Mehr von den vielen Redensarten, mit denen er mir begreiflich machen wollte, daß unser Leben nur durch einen Zufall gerettet sein könne, verstand ich nicht, sondern vollendete die Skizze des Gemaches, in dem ich übernachtet hatte, und war damit eben fertig, als der Thürvorhang sich öffnete und eine der Töchter unseres Wirthes, die schlanke Aleika, unverschleiert hereintrat, um den Teppich wieder weg zu holen und einige andere Kleinigkeiten mitzunehmen.

Mein ganzes Leben hindurch werde ich der wunderbaren Anmuth, des ganz unbeschreiblichen Liebreizes der jungen Armenierin mit Vergnügen mich erinnern. Sie mochte zwischen dreizehn und vierzehn Jahren sein, also gerade in dem blühendsten Alter der Orientalinnen, und ich bekenne aufrichtig, daß ich niemals etwas vollendeter Schönes gesehen habe, solche süße Frische und Zartheit, solche reine und weiche Färbung der Haut, solche zu zärtlichen Liebesblicken wie geschaffene Augen, scharf und auf das Zierlichste von den schwarzen Brauen überwölbt. Dabei ließ mich die leichte Morgenkleidung deutlich das vollkommene und unsäglich reizende Ebenmaß ihrer Figur erkennen. Um den Kopf hatte sie ein seidenes Tuch so nachlässig anmuthig geschlungen, wie es die raffinirteste Koketterie nicht hätte ersinnen können, und unter dem Tuche hervor quoll das glänzend schwarze und in reichen Linien niederwallende Haar lose bis zu den Knieen herab. Ich erlaubte mir nur verstohlen über mein Skizzenbuch, das ich wieder zur Hand genommen hatte, nach ihr hin zu blicken und war überrascht über das feine, kleine Näschen, während doch sonst die Armenierinnen die gebogene Nase der Jüdinnen haben. Das Kleid oder vielmehr das seidene Hemd, das sie trug, war nach orientalischer Sitte vorn geschlitzt, so daß die Mitte der Brust unbedeckt war. An den Knieen war es lose festgebunden, aber es stand ihr vortrefflich, ebenso wie die weiten rothen Hosen und die gelben Pantöffelchen.

Seh’ ich Deine kleinen Füßchen an,
So begreif’ ich nicht, Du holdes Mädchen,
Wie sie so viel Liebreiz tragen können,

dachte ich mit Mirza-Bodenstedt und ließ meine Augen ihre Bewunderungs- und Huldigungsreise ungestört fortsetzen. Ich darf sagen ungestört, denn mich würdigte das reizende Kind auch nicht eines Blickes. Sie ging im Zimmer hin und her, als ob ich gar nicht da sei, und nur als sie mit unnachahmlicher Grazie sich an einem der Wandschränke auf den Zehen emporhob, um irgend Etwas bester hervorlangen zu können, warf sie einen flüchtigen, aber so mächtigen Blick ihrer Houriaugen auf mich, daß es mir war, als erhielte ich einen körperlichen Eindruck davon. Dieser Blick war aber auch wirklich der einzige, dessen sie mich würdigte. Wieder davonschwebend ergriff sie noch den Perserteppich, unter dem ich geschlafen hatte, und schüttelte ihn mit einer Gebehrde aus und faltete ihn mit einem Unwillen zusammen, daß es mir plötzlich klar wurde, es war ihr Teppich, es war die Decke, auf der ihre zarten Glieder Nachts zu ruhen gewohnt waren und dessen sie sich nur diese Nacht zu meinen Gunsten hatte berauben lassen müssen. Die nächste Nacht sollte er wieder ihre edlen Formen einhüllen. Ich dachte an meinen übereilten Morgenwunsch und machte mich auf, um nicht noch mehr übereilte Morgenwünsche in mir aufkeimen zu lassen.

Werfen wir einen Blick auf unser Bild. Die männlichen Figuren desselben sind der armenische Kaufmann und sein Sohn, beide in türkischen Costümen, nur die Kopfbedeckung ist die hohe, weiße armenische Filzmütze, umwunden mit roth und blau geblümten Tüchern. Das Mädchen trägt ein weißes Tuch über den Kopf geworfen, die Aermel sind ebenfalls weiß, das Kleid ist von schwarzem Sammet und mit Goldlitzen in türkischem Geschmacke besetzt. Die Hosen sind aus leichtem Seidenstoffe und von rother Farbe, die Füße nackt, denn beim ungenirten Verweilen im Hause werden die Pantoffeln meist geschont. Während Vater und Sohn getreu nach der Natur gezeichnet sind, habe ich die Tochter so hinzugefügt, wie sie im Hause gekleidet zu sein pflegt. Alle sind das, was wir Naturkinder zu nennen pflegen, denn von der Unmasse unserer europäischen Bedürfnisse hat man hier keinen Begriff. Bis auf die Unterschiede, welche das armenische Christenthum nothwendig mit sich führt, sind Leben und Gebräuche wie in der Türkei. Die Frauen zeigen sich nie, und es war ein Glücksfall, daß wir ihre Bekanntschaft machten.

Aleika war meinen Blicken entschwunden, ich durfte nicht erwarten, sie noch einmal zu sehen, und wollte auch Nichts dazu thun. Deshalb hielt mich nun Nichts mehr. Ich trat vor das Haus und trieb meine Leute an, alles zur Abreise Erforderliche zu beschleunigen. Dem Vater Aleika’s bot ich für gastliche Bewirthung einige Goldstücke, die er aber anzunehmen verschmähte. Er hatte mir zugesagt, mich auf dem Ritt in’s Lager begleiten zu wollen; als ich im Sattel saß und nach ihm umsah, war er schon an meiner Seite – und nun ging es schneller fort, als mir nach den Strapazen der letzten Tage lieb war. „Fahr wohl, holdselige Aleika!“ dachte ich, als ich dem Hause Valet sagte, „und möge der armenische Jüngling, der Dich früher oder später heimführt, möglichst wenige der Charaktereigenthümlichkeiten seines Volkes haben.“


[87]
Thier-Charaktere.
Nr. 3.     Affen.

Ich habe von meiner frühesten Kindheit an eine sehr große Vorliebe für Affen gehabt, und deßhalb habe ich mich bei meinem vieljährigen Aufenthalte und meinen Reisen in den Tropenländern vielfach mit ihnen beschäftigt und sie beobachtet, sowohl im Urwalde wie in meiner Wohnung. Ob sie Verstand und Vernunft, oder nur Instinct besitzen, will ich nicht untersuchen, sondern einfach erzählen, wie ich sie beobachtet habe und wie sie mich und die mich besuchenden Freunde ergötzten.

Ich war kaum einige Tage in San Jose, der Hauptstadt Costa-Rica’s, als mir ein kleiner schwarzer Affe mit weißem Kopfe und Gesichtchen zum Geschenk gemacht wurde. Der kleine Kerl hatte noch nicht viel gesehen von der Welt, von seiner Heimath, dem schönen Urwalde, denn er war kaum 8 Tage alt, und man hatte ihm die Mutter, die ihn in den Armen trug, erschossen, um ihn zu fangen. Er war furchtsam, verkroch sich, jammerte und machte ein so trübseliges Gesichtchen, als wenn er den ganzen Kummer seiner elternlosen Lage im tiefsten Herzen fühlte. Wie ein Kind hätschelte und pflegte ich ihn, und so dauerte es denn nicht lange, daß er sich nicht mehr fürchtete, zu mir herankam und sich gern auf meinen Schooß legte.

So wie sich sein Körper entwickelte, entwickelte sich auch sein neckischer Geist. Er wurde schon manchmal unartig, untersuchte Alles, zerbrach Kleinigkeiten und stahl, und als er fünf Monate alt war, konnte er vollständig als Repräsentant seiner Race gelten in allen leichtsinnigen und dummen Streichen.

Häufig hatte ich ihn in meiner Wohnstube, deren Thür direct auf die Straße ging, frei umherlaufen. Mir gegenüber wohnte eine Frau, die Eier, Früchte und Kuchen verkaufte. Der Tisch, auf dem diese Sachen lagen, stand in der Stube nahe an der Thür, so daß man von meiner Stube aus alle diese Herrlichkeiten liegen sah. Schon oft hatte er sehnsüchtig hinüber geäugelt und sich auch wohl bis an die Thür gewagt, um das Terrain zu recognosciren; immer aber kam er leer zurück, weil die Frau seitwärts am Tische saß. Eines Tages saß ich in der Thür und las, als er an mir vorbei huschte und wieder über die Straße zu der Thür lief. Vorsichtig stellte er sich an den Thürpfosten, legte die Händchen auf die Schwelle und lugte mit einem Auge in die Stube. Im selben Augenblicke war er auch auf dem Tische, griff mit jedem Händchen ein Ei und war mit einem Sprunge vom Tische auf der Straße. Durch den Sprung fiel er auf die Vorderbeine, und um sich zu stützen, damit er nicht auf die Nase falle, mußte er entweder beide Eier zerbrechen oder eins fallen lassen. Wohlweislich that er das Letztere, und kam mit dem einen Eie angelaufen, so rasch er nur konnte. Die Frau war natürlich nicht bei ihrem Tische.

Die Freude darüber, daß ihm dieser Streich gelungen, die er durch die drolligsten Capriolen kund gab, war unbeschreiblich. Von allen Seiten wurde das Ei berochen, beleckt und umgedreht; er suchte hineinzubeißen, allein das Mäulchen war zu klein. Endlich schlug er es auf den Boden, daß es zerbrach, und leckte es auf. Als er damit fertig war, lief er auf die Straße und leckte auch das zweite Ei auf, aber mit einer Hast und indem er jeden Augenblick nach dem gegenüber liegenden Orte des Diebstahls hinsah, daß es deutlich war, er fühlte eine schwere Schuld auf dem kleinen Gewissen, für die er jeden Augenblick Strafe erwarten konnte. Ich ging nun zu der Frau, die wieder an ihrem Tische saß, bezahlte die Eier und machte sie aufmerksam auf den Dieb; denn ich war sicher, daß er es nicht beim ersten Male bewenden lassen würde. Am nächsten Morgen nahm ich ihn wieder mit in die Stube. Kaum war die Thüre offen, so huschte er wieder über die Straße und lugte auf dieselbe Weise um die Ecke in die Stube, kam aber augenblicklich zurück. Die Frau saß auf ihrem Posten! Nach einer Viertelstunde ging er abermals, und so sechsmal vergeblich. Jetzt gab er es auf und beschäftigte sich bei mir in der Stube, als wenn er Alles vergessen hätte; nach einer Viertelstunde lief er plötzlich wieder hinüber, war mit einem Sprunge auf dem Tische und kam mit zwei Eiern wie das erste Mal zurück. Ich bezahlte wieder die Eier und bezahlte sie noch verschiedene Male, bis es mir zu arg wurde. Als er dann wieder eines Tages hinüber lief, prügelte ich ihn tüchtig durch. Von der Zeit an hatte das Stehlen ein Ende. Wie ein unartiges Kind hatte er die Lehre begriffen.

Eines Morgens fand ich, wie dieses häufig passirte, in meinem Morgenschuh einen Scorpion. Der Stich dieser ekelhaften Thiere ist dort, wo ich wohnte, auf einer Höhe von 5000 Fuß in der Cordillere, nicht tödtlich, sondern verursacht nur Geschwulst, Schmerz und ausnahmsweise Krämpfe. Deshalb durfte ich wohl den Versuch machen, denselben in die Nähe des Affen zu bringen, um zu sehen, ob er wohl die gefährliche Waffe desselben kenne und wie er sich davor hüten würde, wenn er ihn fangen und fressen wollte. Ich nahm ihn mit der Pincette auf und brachte ihn zum Affen hinaus. Er bewegte sich heftig, um sich frei zu machen, und so hielt ich ihn dem Affen hin.

Der Affe besah ihn sich von allen Seiten, streckte zögernd das Pfötchen aus, um ihn zu greifen, zog es aber jedesmal wieder zurück. Es war deutlich, daß er ein großes Verlangen hatte nach dem leckern Bissen, daß er aber auch die Gefahr kannte, die ihm bei einem unvorsichtigen Griffe drohte. Ich setzte nun den Scorpion auf die Erde. So wie er frei war, legte er augenblicklich den Schwanz auf den Rücken, um zum Hauen gerüstet zu sein im Falle eines Angriffs, und fing eiligst an zu laufen. Augenblicklich wurde der Affe ganz lebendig, sprang und lief um denselben herum, streckte das Pfötchen aus um ihn zu greifen, zog es aber jedesmal wieder zurück, weil er den rechten Griff nicht machen konnte. Bei diesem Manöver drohte der Scorpion aus dem Bereiche des Affen zu kommen, weil letzterer angebunden war. Als er dieses merkte, schlug er ihn rasch und mit ungeheurer Behendigkeit vor den Kopf, daß er eine ganze Strecke rückwärts flog. Dieses wiederholte sich wohl eine Viertelstunde lang, bis der Scorpion endlich, wahrscheinlich von den Schlägen betäubt, stillstand, jedoch immer mit dem zum Schlagen bereiten Schwanze. Diesen Augenblick der Ruhe schien der Affe erwartet zu haben, denn im Nu war er hinter ihm, ergriff den Scorpion beim Schwanze so, daß das letzte Glied mit dem Stachel ihm aus der Hand stand, warf ihn sich in’s Maul, biß ab uns warf den Schwanz fort. Alles dieses war das Werk eines Augenblicks, und seine Hast zeigte deutlich, wie sehr er die Gefahr kannte.

Am ersten Tage, als ich ihn bei mir in der Stube frei herumlaufen ließ, saß er vor mir auf dem Tische und untersuchte emsig Alles, was er dort vorfand. Endlich fiel ihm auch ein Schächtelchen mit Streichzündhölzern in die Finger. Es dauerte nicht lange, so hatte er es geöffnet, roch hinein und schüttelte den Inhalt auf den Tisch. Ich nahm nun eins, riß es über den Deckel, daß es sich entzündete, und hielt es ihm hin. Voll Verwunderung riß er die kleinen Aeugelchen auf und sah starr in die helle Flamme. Ich zündete nun ein zweites und drittes an und hielt sie ihm wieder hin. Endlich streckte er zögernd das Pfötchen darnach aus, nahm es, hielt es sich vor das Gesichtchen und schaute verwundert in die Flamme. Plötzlich kam ihm die Flamme an die Fingerchen, und im Nu hatte er es fortgeworfen. Ich machte nun die Schachtel zu und stellte sie vor mir hin. Nach seiner hastigen Manier glaubte ich, daß er sich augenblicklich darüber hermachen würde. Dieses geschah jedoch nicht. Er setzte sich daneben, besah und beroch es von allen Seiten, ohne es anzufassen; dann kam er zu mir, schmiegte sich an mich und ließ seine leise bittenden Töne hören, als wenn er voll Verwunderung sei und fragen wollte: Was ist denn das? Dann ging er wieder zu der Schachtel, drehte sie nach allen Seiten um und versuchte sie zu öffnen. Es dauerte nicht lange, so war ihm dieses gelungen, und ich glaubte nun, er würde hastig hineingreifen. Allein er that es nicht! Er schien ängstlich und unsicher, hüpfte drum herum und kam endlich wieder zu mir mit seinen bittenden Tönen. Ich zündete nun wieder eins auf dem Deckel an, und hielt es ihm hin. Als es ausgebrannt war, nahm er sich eins, riß es über den Deckel, der vor ihm stand, und warf ihn dabei um. Rasch drehte er ihn wieder um, die Streichseite nach oben und fing wieder an zu reißen. Durch Zufall hatte er das Hölzchen verkehrt in der Hand. Ich drehte es ihm um, und augenblicklich fing er wieder an zu reißen, bis es zündete. Jetzt erst schien er zu sich selbst zu kommen. Sein ganzes Wesen zeigte die größte Freude und [88] Aufregung; mit der ganzen Hand griff er hinein, nahm wohl ein Dutzend und fing an zu reißen, bis sie zündeten. Als sie ausgebrannt waren und er den Griff zum zweiten Male versuchte, wollte ich das Schächtelchen fortnehmen, aber ich kam zu spät! Im Nu hatte er es ergriffen, war mit einem Satze auf der Erde, lief damit unter die Veranda und strich, so rasch er konnte, da ihm der Deckel fehlte, über die Steine. Die Steine waren feucht, und so wollte das Ding nicht gehen, und deshalb ließ ich ihn gewähren und ging wieder in die Stube. Nach einigen Minuten sehe ich ihn wieder hereinhüpfen auf drei Beinen mit dem Schächtelchen im rechten Arme, und war nicht wenig erstaunt, daß er gleich zu mir auf den Tisch kam. Ganz willig ließ er sich die Schachtel wegnehmen, schmiegte sich an mich und that wieder bittend, als wenn er sagen wollte: Wie ist denn das? das Zeug will nicht brennen, zeige es mir noch einmal! Es waren noch 14 Hölzchen übrig geblieben. Ich nahm eins heraus, riß es über den Deckel, daß es zündete, und hielt es ihm hin. So wie es ausgebrannt war, ergriff er Schachtel und Deckel, und rannte damit eiligst wieder unter die Veranda. Jetzt hatte er es begriffen! Er riß nun eins nach dem andern über den Deckel, daß sie zündeten. Nicht ein einziges ließ er übrig.

Ich hatte ihm ein gefährliches Kunststückchen gelehrt, denn ich durfte nie mehr die Schachtel so stehen lassen, daß er sie erreichen konnte.

Einer meiner Freunde, der mich fast täglich besuchte, hatte die böse Angewohnheit, ihn stets zu necken und mit dem Stocke nach ihm zu stoßen, um sich an seinen komischen Sprüngen und seinem Gesichterschneiden zu ergötzen. Das arme Thierchen konnte sich trotz seiner Behendigkeit nicht immer schützen, und flüchtete sich dann stets Schutz suchend in meine Arme. Wenn mein Freund sich nur sehen ließ, zeigte er durch Mienen, Gebehrden und Schreien seine innere Wuth an. Eines Tages war der Affe unter der Veranda, als mein Freund zu mir hereinkam und sich neben mich an den Tisch setzte. Es dauerte nicht lange, so sah ich den Affen heranhüpfen. Als er auf der Thürschwelle war und seines Feindes, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, ansichtig wurde, stutzte er, aber im selben Augenblicke war er auch hinter ihm auf der Stuhllehne und biß ihm in’s Ohr, daß das Blut hinterherkam. Ebenso rasch war er auch wieder auf der Erde, rannte in den Hof und ließ dabei seine lachenden Töne hören, die deutlich zeigten, wie sehr er sich freute, seinen Feind gestraft zu haben.

Um diese Zeit erhielt ich noch ein junges Thierchen, so klein, daß es kaum auf seinen vier Beinchen sich halten konnte. Das arme Ding war früh Waise geworden, denn Tags vorher war ihm die Mutter, die es in den Armen hielt, erschossen worden und der leichtsinnige Vater, wie gewöhnlich, entflohen. Ich war sehr neugierig, zu sehen, wie er sich wohl gegen dasselbe betragen würde, und setzte es deshalb vor ihm auf die Erde. Es sah augenblicklich, daß nicht die Mutter ihm gegenüber stand, denn es zeigte nicht das geringste Verlangen, zu dem Alten zu kommen, sondern kauerte sich mit der kummervollsten Miene zusammen und blieb auf derselben Stelle sitzen. Der Alte dagegen richtete sich mit verwundertem Gesichte in die Höhe, staunte es an und ging dann vorsichtig zu ihm. Einen Augenblick besah und beroch er es sich und nahm es dann liebevoll in seine Arme und drückte es fest an die Brust. Ich holte nun jedem ein Stückchen Tortilla. Der Alte aß mit seinem gewöhnlichen Appetite, der kleine aber nicht; theilnahmlos wie ein krankes Kindchen hielt er das Brod in seinem Pfötchen. Der Alte war rasch mit seiner Portion fertig, und ich vermuthete sicher, daß er bei seiner angebornen Habgier nun über das Stück des Kleinen herfallen würde; allein er ließ es ihm. Ich holte nun Milch, um seine stiefväterliche Liebe auf eine noch härtere Probe zu stellen, aber auch diese rührte er nicht an. Er setzte den Kleinen auf die Erde, und erst dann, als dieser sich satt getrunken hatte, nahm er den Rest, nahm den Kleinen wieder auf den Schooß und setzte sich ruhig hin. Bis dahin war der Alte angebunden. Ich machte ihn nun los, um zu sehen, ob er wohl von ihm fortlaufen würde, da ihn seine angeborne Neugierde und Beweglichkeit sonst keinen Augenblick ruhen ließ. Augenblicklich stand er auf und ließ den Kleinen los, lief aber nicht fort. Der Kleine kletterte nun langsam auf seinen Rücken, legte die Vorderbeinchen um seinen Hals und die Hinterbeinchen um seinen Hinterleib, grade so wie die Mutter das Kleine im Walde trägt, und dann ging der Alte mit ihm in die Stube und trieb seine gewöhnlichen Allotria. So hatte er ihn nun wochenlang auf dem Rücken sitzen, bis er sich selbst helfen konnte. Er hatte den Kleinen vollständig adoptirt. Ich hatte ihm ein Stück wollener Decke gegeben, in das er sich Abends kunstgerecht einhüllte, wie die dortigen koketten Damen in ihre Shawls. Stets faßte er es an zwei Ecken an, warf es sich über den Kopf und zog es über das Gesichtchen, so daß nur für ein Auge eine Lücke blieb, und zog es dann unterm Kinn zusammen. Aber auch hiermit zeigte er, daß er seine Selbstsucht der Liebe zu seinem Pfleglinge gern zum Opfer brachte, denn so wie Abends die Zeit der Ruhe kam, legte er den Kleinen auf seinen Schooß und hüllte ihn so ein, wie eine sorgsame uns liebende Mutter dieses nur thun kann. Die gegenseitige Liebe kannte keine Grenzen.

Nichts Interessanteres giebt es, als diese Thiere im Urwald zu beobachten, wie sie spielen, zanken, sich unterhalten, sich lieben, gemeinschaftlich auf Diebereien ausgehen und den Raub theilen.

Trotz der ungeheuren Massen, die sich dort umher treiben, gelingt es doch nur äußerst selten, sie auf längere Zeit zu Gesichte zu bekommen, weil sie stets wandern und man den einmal eingeschlagenen Pfad nicht verlassen kann in dem undurchdringlichen Walde. Mir jedoch war das Glück günstig, weil ich einige Monate auf der Insel Ometepe im Nicaragua-See lebte. Die Insel hat ungefähr 8 Stunden im Umkreise, ist mit Hochwald bewachsen, der nur wenig Unterholz hat, so daß man überall sich frei bewegen kann. Sie ist fast nur von Indianern bewohnt, die in den beiden Dörfern Moiogalpa und Pueblo grande zusammen wohnen. Der Indianer ist ein großer Freund der Affen und deshalb verfolgt er sie nicht, und dieses war der Grund, daß auf diesem kleinen Eilande ihre Zahl ungeheuer groß war und sie sehr wenig Furcht vor Menschen hatten.

Eines Tages war ich auf einer Streiferei in die Nähe des Dorfes Moiogalpa gekommen. Ich hatte mich unter einen Baum gesetzt, um einige Schmetterlinge zu ordnen, die ich gerade gefangen hatte, als ich plötzlich die Affen kommen hörte. Obschon sie auf ihren Wanderungen selten einen Ton von sich geben, so hört man sie doch schon vom Weitem durch das Knistern und Krachen der trocknen Zweige, die sie bei ihrem Springen in den Bäumen zerbrechen. Dieses Mal aber tönten eine Masse Stimmen wild durcheinander, so daß sich mir die Vermuthung aufdrängte, es müsse etwas Besonderes vorgefallen sein. Es dauerte kaum einige Minuten, als der ganze Schwarm in großer Hast ankam und über mir und in den nebenstehenden Bäumen Halt machte. Die kleinen Thierchen waren in sehr großer Aufregung. Die hellen Aeugelchen blitzten wie Feuer, sie sprachen mit einander und sahen alle ängstlich und mit lang vorgestrecktem Halse nach der Gegend hin, von der sie gekommen waren. Ich brauchte nicht lange nachzusinnen, was sich ereignet haben mochte, denn ich sah einige, die reife Platanos trugen, und andere mit Maiskolben, und deshalb war es sicher, daß sie bei einem Diebstahle ertappt worden waren. Ihre ganze Aufmerksamkeit war so sehr nach dem Orte der bösen That hingerichtet, daß sie mich da unten nicht gewahr wurden, und so konnte ich sie denn ruhig beobachten. Die gemeinsame Gefahr hielt sie alle so sehr in Spannung und Aufregung, daß auch die, welche beim Diebstahle leer ausgegangen waren, nur an die eigne Sicherheit dachten und darüber den Hunger oder den Genuß der leckern Früchte vergaßen. Allein dieses dauerte nicht lange, denn als sie sahen, daß sie nicht verfolgt wurden, fing der ganze Schwarm an, wieder lebendig zu werden. Die ersten, die gleichsam zur Besinnung kamen, waren die Leerausgegangenen. Sie sahen sich nach denen um, die Beute hatten und bereits anfingen, dieselbe zu verzehren. Anfangs suchten die Besitzenden sich dadurch zu schützen, daß sie durch Hüpfen von einer Stelle zur andern den Zudringlichen auszuweichen suchten, aber dieses dauerte nicht lange, und es fielen mehrere über einen her. Nun ging es an ein Streiten, Reißen, Springen und Gesichterschneiden, wie man es sich nicht toller vorstellen kann, und an vielen Orten endete der Streit dann mit dem Sprüchworte: „Unrecht Gut gedeiht nicht,“ denn die Früchte fielen zur Erde bei dem Krawall. Ich hatte mich eine Zeitlang an diesem Treiben ergötzt, als ich seitwärts in die Höhe blickte und einen auf einem Aste sitzen sah, der ganz ungestört und mit der größten Ruhe seine Platanos verzehrte. Ich sah ihm eine Zeitlang zu und konnte mir gar nicht denken, warum denn dieser eine ungeschoren blieb. Bald aber sollte sich dieses Räthsel lösen, denn ich sah ein kleines Aermchen nach der Frucht ausstrecken. Es war [89] eine ihr Kindchen stillende Mutter. Die wilden, streitenden Männer schonten sie bei der Ausübung ihren süßen Pflicht. Jeden Augenblick kam das Aermchen wieder zum Vorscheine und jedes Mal wurde es von der Mutter zur Seite geschoben. Endlich erhob sich das Kleine und langte mit beiden Händchen nach der Frucht, und wieder wurden sie bei Seite geschoben, aber in einer etwas mehr unwirschen Manier. Als aber das Kleine sich dennoch nicht beruhigen wollte und immer wieder auslangte, gab sie ihm einige derbe Schläge, und als das noch nichts half, biß sie es, daß es laut aufschrie, warf es auf den Rücken, und fort ging es von Ast zu Ast den andern nach.

Dr. Fr. Ellendorf.





Ein Blick in’s freie Ialien.
Tagebuch-Blätter von Adolf Stahr.
Nr. 1.
Der Wechsel von Nord und Süd. – Keine Polizeiwirthschaft. – Die Sache Gottes. – Am Lago Maggiore. – Alte Freunde. – Die Geschichte eines Gemordeten. – Patriotische Kinder.
Baveno am Lago Maggiore, 29. Septbr. 1861.

Hier in diesem lieblichsten Erdenwinkel will ich versuchen, einige meiner italienischen Reiseeindrücke aus meinem Tagebuche für Euch niederzuschreiben, hier, wo das Wort des alten römischen Poeten, jenes:

Ille terrarum mihi praeter omnes
Angulus ridet –
[1]

eine Wahrheit ist – wenn man von der zweiten Wahrheit absieht, daß jetzt kein solcher Erdenwinkel, wo es Einem wohl werden könnte, mehr ohne die Landplage von reisenden englisch snobs zu finden ist, die unser Einem das Leben vertheuern und gelegentlich mit ihren Prätensionen und ihrem von Jahr zu Jahr breiter und zerflossener werdenden Gequäk, das sie Sprechen nennen, den Naturgenuß und den Mittagstisch verstören.

Es ist nun fast einen Monat her, daß ich das freie Italien, die Italia dei Italiani – wie die Italiener sich mit ihrem Könige auszudrücken lieben – betreten habe; aber es ist mir zu Muthe, als wäre es ein halbes Jahr her, daß ich die Alpen überschritten und zum dritten Male meinen Einzug gehalten in das geliebte Land meiner Sehnsucht. Es war ein heller, sternfunkelnder Morgen, als wir von dem einsamen Alpensee von St. Moritz Abschied nahmen, um über den Malojapaß nach Italien zu gehen. Alle die Alpenriesen, welche rings das fünf- und ein halbtausend Fuß hohe Thal von St. Moritz umgeben, starrten bis zum Gürtel weiß von frischgefallenem Schnee, auf den Thalwiesen schimmerten Reif und Eis; und wenige Stunden darauf, als wir die rauhe Klippenhöhe des Maloja überschritten hatten und der Wagen die zahllosen Windungen der groß und kühn angelegten Gebirgsstraße im vollen Laufe der dampfenden Rosse hinabgedonnert war bis zu den untern Thalstufen des über alle Beschreibung romantischen Bregaglia-Thals, durch das die schäumende Maira rauschend dahinbraust – welch ein Abstand! Statt der wetterzerzausten Tannen und graubärtigen Arven – Kastanienwälder und Weinberge in reicher Fruchtfülle, durchglänzt von dem silberleuchtenden Laube des Oelbaumes, lachende Himmelsbläue, warme, südliche Luft, durchduftet von dem Geruch der Vegetation und der Früchte des Südens. Nie erlebte ich einen so plötzlichen Wechsel von Nord und Süd! Aber meine Gedanken waren diesmal doch weniger als sonst der Natur und den Eindrücken zugewendet, die ihre Schönheit uns in so reicher Fülle bot. Ich warf kaum einen Blick auf die romantisch gelegenen Villen, auf die alten Burgtrümmer und verfallenen Zwingherrnschlösser, deren gebrochene Mauern und trotzige Thürme von den Felsenabhängen niederschauen. Ich hatte kaum eine Empfindung bei dem Anblicke des schauerlichen Felsengrabes von Plurs, unter dessen sechzig Fuß hoher Steindecke eine ganze Stadt von dritthalbtausend Einwohnern seit 243 Jahren begraben liegt, beschattet von dem dichten Kastanienwalde, mit dem die „ewig keimende Natur“ die Todesstätte geschmückt hat. Mein Herz und meine Gedanken waren anderswo beschäftigt. Sie weilten bei den Lebenden, bei den aus dem Grabe der Knechtschaft zu neuem Leben Auferstandenen; sie weilten bei der größten aller Schicksalswendungen im Leben der Völker unserer Zeit und unseres Welttheils, bei der Auferstehung Italiens. –

Der Wagen hält. Wir sind auf italienischem Boden. Ueber dem weißen Kreuze im rothen Felde steht: Reame d’Italia!

Ich hatte, als guter Deutscher, den Paß und die Kofferschlüssel in der Hand und wollte eben aus dem Coupé aussteigen, um die bekannten polizeilichen und mauthnerischen Tribulationen eines Reisenden an mir vollziehen zu lassen, ohne die bekanntlich Thron und Staat nicht sicher bestehen können, als ein soldatisches und dabei doch freundlich und höflich blickendes Gesicht durch das Coupéfenster hereinschaute und mich in meinem Vorhaben mit der die Antwort schon in sich schließenden Frage unterbrach: „Die Herrschaften haben ohne Zweifel nichts Steuerbares bei sich?“ Ich zeigte auf die kleine Kiste, welche den grausam geschmolzenen Rest meiner Raucherfreuden enthielt, und die ich vorsichtig schon in St. Moritz aus dem Koffer genommen. Der Officier – seine militairische Haltung und eine tüchtige Stirnnarbe verriethen ihn als solchen – machte lächelnd eine abwehrende Bewegung, rief uns ein buon viaggio! zu, und fort rollte der Wagen in’s Königreich Italien hinein, ohne Paßfrage, ohne Visitation, „ohne Alles“, wie die Berliner sagen. Schauderhaft! Wie kann ein Reich mit solcher „liederlichen Wirthschaft“ bestehen! Denn ich will es nur gleich auf einmal sagen: es war überall dasselbe in diesem heillosen neuen Reiche. Kein Polizist ließ sich blicken. Nirgends in Italien, nicht in Varenna, nicht in Como, nicht in Mailand, nicht in Turin, der provisorischen Hauptstadt des Reichs, hat sich eine sterbliche Seele um uns und unsre Namen und Pässe, um unsren „Charakter,“ unsere Reiseabsichten, um unser Kommen und Gehen, oder um den Inhalt unsrer Koffer gekümmert; nirgends hat man von Reisenden, die ihr Geld in einer Stadt verzehren wollen, eine Steuer unter dem Titel „Aufenthaltskarte“ verlangt; nirgends hat die Polizei die Freunde, die uns unter ihrem gastlichen Dache beherbergten, mit zeitraubenden An- und Abmeldungen belästigt – wie das Alles im lieben deutschen Vaterlande zur höheren Civilisation unerläßlich nothwendig ist und in Italien unter dem Doppeladler ein Dogma war. Freilich giebt es auch in Italien Leute, die mit dieser Kraftersparniß der Polizei unzufrieden sind – nämlich die Spitzbuben, für deren Ueberwachung und Verfolgung jetzt die Polizei alle die Zeit und Kräfte übrig hat, die sie bei uns für die Molestiruug der ehrlichen Leute verschwenden muß. Aber wäre es denn ein so großes Unglück, wenn bei uns, in Berlin z. B., die Herren Spitzbuben etwas mehr und die ehrlichen Leute etwas weniger über die Thätigkeit der Polizei zu klagen hätten? Ich denke nicht.

So viel wenigstens steht fest, und eine sehr genaue Durchmusterung der öffentlichen Blätter, Zeitungen, Ankündigungen, Maueranschläge etc. hat mir das Resultat geliefert, daß in Turin und Mailand unendlich weniger eingebrochen und gestohlen wird, als bei uns, wo die Anschlagsäulen und Zeitungen täglich von den zahlreichen Thaten der Verehrer des alten Diebesgottes Hermes beredtes Zeugniß geben, und wo Sicherheitsketten und Doppelthüren mit Lugauslöchern und ähnliche bürgerliche Festungsgeräthe fast für jede Wohnung nothwendigste Erfordernisse geworden sind, während dergleichen hier in Italien Raritäten sein müssen, da ich deren seit Wochen nirgends gesehen, so viel Häuser ich auch in den zwei großen Hauptstädten Mailand und Turin betreten habe.

Die einzige Art, die Stimmung eines Volkes kennen zu lernen, ist und bleibt für einen Reisenden doch der Verkehr mit Menschen aller Stände und Berufsclassen. Ich habe diese Methode angewendet, von dem Postillon und Handarbeiter, dem kleinen Landbesitzer und Ackerbauer, dem Fischer und Schiffer aufwärts durch die mittleren und wohlhabenderen Classen der Fabrikanten und Kaufleute, der großen „Besitzer“, der Advocaten und sonstigen Studirten, bis zu dem altangesehenen Edelmanne, dessen Stammbaum nach Jahrhunderten zählt, und ich habe keinen gefunden, der sich nicht – jeder nach seiner Art – mit Freude und Genugthuung [90] des außerordentlichen Umschwungs bewußt gewesen wäre, den die ungeheueren Opfer des Jahres 1859 hervorgebracht haben. Selbst unter den Geistlichen des niedern Klerus, die ich gesprochen, war keiner, der nicht ein Herz gehabt hätte für die große Sache des gemeinsamen Vaterlandes. „Die einzige schwierige Sache,“ sagte mir mein alter Freund Balestrini, Geistlicher am Dome von, Mailand, „ist die römische Frage, aber auch sie wird überwunden werden,“ setzte er hinzu, „denn die Einheit Italiens verlangt es, und der Gedanke dieser Einheit ist nicht mehr zu unterdrücken.“ „Ja, so ist es,“ fügte seine alte greise Mutter hinzu, „denn es ist eine Sache Gottes!“ –

Ich hatte es oft bedauert, nicht schon im vorigen Jahre nach Italien gegangen, nicht Zeuge von dem frischen Enthusiasmus gewesen zu sein, mit dem ein siegesfreudiges Volk die blutig erkämpfte Befreiung von einer verhaßten Fremdherrschaft feierte. Aber es ist besser so. Die Begeisterung des Moments und der bei diesem heißblütigen Volke bis zur höchsten Exaltation gesteigerte Jubel des ersten Freudenrausches, sind jetzt vorüber. Man kann ruhiger beobachten unter Ruhigen; und die Ruhe und Besonnenheit der Italiener, welche ich überall wahrgenommen, die Klarheit der Ansichten und Zwecke, das richtige Bewußtsein über die Schwierigkeit und Gefahren der gegenwärtigen Lage, die Mäßigung und Einsicht der Organe der Presse,, welche die öffentliche Meinung ebensowohl bilden als ausdrücken, übersteigt meine Erwartungen. Natürlich rede ich nur von der Lombardei und von Piemont, denn nur diese beiden Theile Italiens habe ich gesehen und beobachtet; aber sie sind dafür auch der Halt und Kern des neuen Regno d'Italia Und endlich ist doch auch nicht zu vergessen, daß Italien das Vaterland der Staatskunst ist, bei der alle modernen Staaten Europa’s in die Schule gegangen sind.

Aber genug für heute. Denn jeder Aufblick vorn Papiere durch das offene Fenster, an das ich meinen Schreibtisch gerückt habe, ladet mich ein, die Feder wegzuwerfen, zumal an einem Tage, wie der heutige, wo der italische Himmel in der ganzen Kraft und Schönheit herbstlichen Sonnenduftes über diesem schönsten aller italischen Seeen lacht und leuchtet. Es ist gar keine Frage mehr für mich, daß der Lago Maggiore an Mannigfaltigkeit und reizender Lieblichkeit meinen bisherigen Liebling, den Lago di Como, übertrifft, und daß nur die Parteilichkeit meiner Mailänder Freunde mir früher das Gegentheil versichern mochte. Baveno aber ist der Lage nach die Perle seiner Ufer. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir die spiegelklare Fläche in einer Ausdehnung, die an den Golf von Neapel, erinnern kann. Gegenüber, am östlichen Ufer des Sees, der hier bei Baveno sich westlich tief einbuchtet, schimmern im Sonnenglanze die reizenden Städte und Städtchen Suno, Pallanza, Cerro Mombello und Leggiuno, umgeben von sanften Hügeln und stattlichen Gebirgshöhen, deren wundervoll gezeichnete Linien sich auf dem klaren Elemente in zauberischer Weise der Contouren abspiegeln, während die Borromeischen Inseln – unter ihnen Isola bella mit ihrer vielgestuften Gartenpyramide und ihrem leuchtenden Grafenschlosse – wie riesige Wasserpflanzen in nächster Nähe auf der Fluth zu schweben scheinen und einzelne weißüberdachte Barken schwanengleich dahinziehn. Dicht am Hause vorbei, eingefaßt von einer hohen Steinmauer mit ihren steinernen Telegraphenpfeilern, schläft die Simplonstraße in schweigender Sonntagsruhe, daß man das leise Plätschern der kleinen Wellen hören kann, welche den Fuß der Mauer und die Stämme der Maulbeer- und Kastanienbäume bespülen, die zum Theil an dem schmalen Erdrande zwischen Mauer und See, zum Theil im Wasser selbst sich stundenweit hinziehen. – Es ist der schönste Tag, der uns seit unserer Ankunft in Italien geleuchtet hat, und wir wollen ihn genießen, so lange er leuchtet. Also auf und hinaus! Die Abende sind ohnehin jetzt schon lang genug zum Schreiben, und da will ich versuchen, mit Hülfe meines Tagebuchs Euch von den weiteren Eindrücken zu berichten, welche mir dieser kurze Blick in das freie Italien gegeben hat. Die Blätter, auf die ich meine Tagesskizzen hingeworfen, liegen so schon lange genug in der Mappe, und es wird Zeit, daß ich sie Euch sende, damit sie nicht mit mir zugleich über die Alpen nach Hause gehen.

Varenna, Anf. Septbr. 1861.

Bei meinem letzten Besuche des Comer-Sees hatte ich meine Villeggiatur am westlichen Ufer, in der Majolica bei Cadenabbia genommen. Aber der gute Signor Rhigini, der vor drei Jahren dieses freundlichste aller Gasthäuser der Tremezzina inne hatte, dessen sich die Leser meiner „Herbstmonate in Oberitalien“ wohl noch erinnern, war, wie man mir auf dem Dampfschiffe berichtete, inzwischen gestorben, und so beschloß ich denn, diesmal auf dem östlichen Ufer in Varenna, gegenüber von Menaggio, Station zu nehmen.

Es war gegen drei Uhr, als wir hier anlandeten. Das Albergo Reale des Signor Marcionni, das einzige Hotel des kleinen Städtchens, das unter dem Burgthurme des alten in Trümmern liegenden Schlosses der stolzen Sfondrati, die sich „Grafen des Seeufers“, conti della riva, nannten, auf steil abfallendem Felsvorsprunge liegt, war uns von einem deutschen Landsmanne als dasjenige empfohlen, das unter allen Gasthäusern des ganzen Ufers die schönste Aussicht aus den See gewähre, und wir hatten während eines sechstägigen Aufenthaltes Gelegenheit genug, uns von der Richtigkeit jener Empfehlung zu überzeugen. Das stattliche Gasthaus liegt hart am See, dessen blaue Wellen an die dreißig Fuß hohe Quadersteinterrasse heranspülen, welche in einer Länge von etwa 80 und einer Breite von 40 Fuß die ganze nach Südwesten blickende Frontseite des Hauses umgiebt und in den reizend terrassirten, mit Weinlaubengängen, Lorbeer-, Orangen-, Citronen- und Mandelbäumen geschmückten Garten ausläuft. Von dieser Terrasse aus, die zu dem Schönsten gehört, was ich in dieser Art gesehen, zeigt sich der See in seiner imposantesten Gestalt und in seiner größten Breite. Denn man blickt hinein in seine beiden Arme, den von Lecco und den von Como, welche der hohe Bergrücken trennt, auf dessen letztem Ausläufer die alte Villa Serbelloni mit ihren thurmhoch terrassirten Felsengärten prangt, und man übersieht zugleich von Menaggio an bis nach Cadenabbia die ganze Reihe von heiteren Landhäusern, prächtigen Villen und einladenden Gasthäusern, welche das westliche Ufer des Sees bis zu den Berghöhen hinauf bedecken.

Doch auch hier waren es diesmal nicht mehr vorzugsweise die Schönheiten dieser reizgeschmückten Seeufer, sondern vielmehr die Menschen, die wir hier vor drei Jahren kennen gelernt und liebgewonnen, welche wiederzusehen und von deren Erlebnissen in den letztvergangenen Zeiten zu hören wir gespannt und begierig waren. Denn es ist eine unumstößliche Wahrheit in dem Lessing’schen Ausspruche, daß im Grunde doch die edelste Beschäftigung und das bleibendste Interesse des Menschen der Mensch ist. In Varenna aber lebte uns eine befreundete einheimische Familie, die erste an Rang und Bildung, Ansehen und Vermögen in dem kleinen weltabgeschiedenen Orte, wohin nur selten sich der Fuß eines Touristen verirrt, wie wir denn auch diesmal einige Tage lang die einzigen Bewohner des Gasthauses von Varenna waren.

Ein paar Zeilen an Signora Luisa, die Gattin des Advocaten Benini, abgesendet, brachten uns in dem deutsch abgefaßten Antwortschreiben – denn die hochgebildete Italienerin ist eine Freundin und Verehrerin der deutschen Litteratur und unserer Sprache in einem für Italien höchst seltenen Grade mächtig – die erfreuliche Kunde, daß die Freunde daheim und wohlauf seien, und Signora Luisa folgte wenige Minuten später ihrem Billete auf dem Fuße, um uns zu begrüßen und in ihre herrlich gelegene Villa am nördlichen Ende des Städtchens abzuholen. Abends kam auch ihr Gatte von seiner Geschäftstour nach dem nahegelegenen Bellano, dem Hauptorte des Districts, zurück und begrüßte mit gleicher Herzlichkeit die unerwarteten Freunde aus der Ferne. Man sah es Beiden an, daß schwere, stürmische Jahre über ihren Häuptern vorübergezogen waren, und die Erzählung ihres Antheils an denselben gab ein Bild von den Wechselfällen, welche in dieser Zeit des Parteienkampfes hier die Familien betroffen. Wir sahen mehrere Räume des Hauses mit einer großen Bibliothek angefüllt, die wir früher nicht dort gesehen, und mit deren Ordnen der eine der beiden Söhne des Hauses noch beschäftigt war, und erfuhren auf unsere Frage, daß sie die Hinterlassenschaft von Signora Luisa’s Oheim, dem gelehrten Professor Ripamonte zu Padua, sei. Er war ein Anhänger der österreichischen Regierung gewesen und als ein Verräther an der Sache seines Vaterlandes dem Dolche eines Patriotischen Fanatikers zum Opfer gefallen! Ein anderer naher Verwandter des Hauses dagegen, der Dr. Ginarni, wurde in Mailand das Opfer einer österreichischen Kugel, der einzigen, welche nach der verlornen Schlacht von Magenta in Mailand abgefeuert worden ist. Sein Schicksal ist wahrhaft tragisch zu nennen. Wir sahen im Jahre 1858 den schönen, jungen, mit allen Vorzügen [91] des Geistes und der Bildung ausgestatteten Mann, der in wünschenswertester Unabhängigkeit wissenschaftlichen und dichterischen Studien lebte, an der Seite seiner ebenfalls durch Geist und Schönheit ausgezeichneten jungen Gattin, in deren Besitz er nach viele Jahre langen Hindernissen, welche die vornehme Familie der Geliebten ihm entgegensetzte, erst vor Kurzem gelangt war. Man kannte kaum ein glücklicheres und schöneres Paar sehen. Ein schönes Kind auf den Armen der jugendlichen Mutter vollendete ihr Glück. Da brach das Jahr 1859 herein. Die Freunde des jungen Mannes eilten zu den Waffen, die meisten heimlich in’s sardinische Lager, denn noch erfüllten und beherrschten Oesterreichs Schaaren die Lombardei. Er wollte nicht zurückbleiben, obschon seine schwächliche Gesundheit ihn kaum zur Ertragung der Strapazen des Krieges befähigte. Die Verzweiflung seines jungen Weibes, deren schwärmerische Liebe zu dem geliebten Gatten ihren Patriotismus überwog, wandte Alles an, ihn zurück zu halten. Es gelang ihr. Er schrieb einem Freunde, daß er seinen Landaufenthalt verlassen und auf Bitten seiner Frau nach Mailand gehen werde. „Erhebt sich Mailand,“ schloß er seinen Brief, „so wird sich das Weitere von selbst finden, und meine geliebte V… wird dann selber einsehen, daß ich dann nicht mehr zurückbleiben darf!“

Es sollte anders kommen! Die Liebe, die ihn sich bewahren wollte, sollte ihn in den Tod stürzen. Die Schlacht von Magenta war geschlagen, die Oesterreicher retirirten nach Mailand. Um das alte Castell der Schanze lagen ihre Heerestrümmer zu kurzer Rast, umstanden von Neugierigen aller Art, von den Unterdrückten, die sich an der Noth und dem Unglück ihrer Dränger weideten. Ginarni war unter ihnen, der Weg zu seinem Hause, zu Weib und Kind hatte ihn über den Platz geführt. An einer Stelle, wo es ihm unmöglich war, durch die dichten Haufen der zuschauenden Massen zu dringen, wollte er seinen Weg quer über einen von Schildwachen besetzten Raum nehmen. Er hatte kaum die ersten Schritte gemacht, als der Anruf des wachestehenden Kroaten sein Ohr traf, dem im nächsten Augenblicke auf zehn Schritte die sichere Kugel folgte, die sein Herz durchbohrte und ihn entseelt zu Boden streckte. So brachte man ihn seiner angstvoll harrenden Gattin! – Wenige Tage darauf kam dieselbe mit ihrem Kinde zur Signora Benini. Zwischen Wahnsinn und Selbstmord gestellt, hatte sie ihren Entschluß gefaßt; sie übergab das Kind der Sorge der Verwandten und – begab sich als dienende Pflegerin in die Spitäler, um in der Pflege für die verwundeten und sterbenden Tausende der Krieger ihres Landes ihr Leben dem Dienste des Vaterlandes zu weihen!

Signora Benini führte uns hinab zu der ersten Terrasse des Gartens, wo in einer lichten, freundlichen, von Lorbeer und Myrthen umgebenen, kapellähnlichen Halle neben mehreren andern ähnlichen Denkmälern der Liebe auch sein Monument sich befand. Es zeigte in einem Marmorrelief die edlen, schönen, geistdurchleuchteten Züge des hingemordeten jungen Mannes, dessen Namen und Schicksal eine einfache Marmortafel berichtet und dessen Leib hier ruht an demselben Platze, wo er so oft und gern geweilt, und wo wir ihn noch vor drei Jahren glücklich und hoffnungsreich verließen. „Sie werden kaum eine Familie unseres Kreises in Mailand finden,“ sagte Signora Luisa, „die nicht mehr oder minder hart von den Ereignissen jener beiden Jahre getroffen wäre und die nicht mit irgend einem herben Verluste ihren Antheil an den Opfern für unseres Vaterlandes Erlösung dargebracht hätte.“ – Ihre beiden eignen Söhne, von denen der ältere jetzt sich zur Universität, der jüngere zum Militärstande vorbereitete, waren noch Knaben von fünfzehn und dreizehn Jahren, als der Kampf des Jahres 1859 begann. Eines Morgens war der jüngere mit einem wenig älteren Cameraden aus dem elterlichen Hause verschwunden. Er hatte sich Nachts in der elterlichen Barke mit seinem Cameraden ein paar Stunden weit den See hinauf gerudert und dort das Dampfschiff bestiegen, das ihn nach Como führte. Von da verlor sich seine Spur. Der geängsteten Mutter gelang es endlich, dieselbe aufzufinden. Sie traf den Flüchtling bereits eingekleidet im Feldlager Garibaldi’s. Der Chef des Stabes, an den sie sich wandte, beeilte sich, ihr den Flüchtling zuzuführen, der nur nach hartem Widerstreben und mit heißen Thränen der Mutter und nur unter der Bedingung zurückfolgte, daß man ihn nicht ferner abhalte, die militärische Laufbahn einzuschlagen. „Sie thun uns einen Dienst damit,“ sagte der Garibaldische Hauptmann zu der Mutter, die auch den Begleiter ihres Sohnes zurückzuholen beauftragt war, „daß Sie uns die Kinder abnehmen. Der General (Garibaldi),“ setzte er hinzu, „will zwar, daß man, um nicht die Begeisterung niederzuschlagen, keinen, der sich zum Kampfe meldet, abweise, sondern selbst Knaben einkleide. Aber nach einigen Märschen haben wir ein Spital voll kranker Kinder! Denn sie sind bei allem feurigen Enthusiasmus doch nicht fähig, die Anstrengungen unserer Züge auszuhalten, und hier der Camerad Ihres Sohnes wird schwerlich jemals dazu im Stande sein!“ – „Nun denn!“ rief der Knabe in zornige Thränen ausbrechend, „so laden Sie mich in ein Geschütz und schießen mich gegen die Oesterreicher, damit ich doch etwas dazu diene, ihnen Schaden zu thun!“ So lächerlich diese Worte ! klangen, so war doch der Schmerz und der flammende Patriotismus des Knaben von der Art, daß der alte Krieger demselben gerührt die Hand reichte, und ihn und seinen Cameraden mit einem: a rivederci fra due o tre anni! (Auf Wiedersehen in zwei oder drei Jahren!) entließ.





Carl Maria von Weber und sein Denkmal.

Eine Skizze von M. M. von Weber.[2]

Vor allen anderen Künstlern war Ernst Rietschel dazu berufen, das Standbild Carl Maria von Weber’s zu gestalten, denn die wenigen Saiten, die der Genius des Schönen gleichmäßig in der Brust des Bildhauers und des Musikers berührt, erklangen gewiß niemals harmonischer, als in den Werken Weber’s und Rietschel’s. Wie nie weiter zwischen einem Tonkünstler und Bildhauer begegnete sich ihr Streben in der Verlebendigung der Melodie der Bewegung, und während der eine in Tönen Menschengestalten unter uns wandeln ließ, gebot der andere seinen Menschengestalten mit allem Zauber der Formenbewegung zu tönen. Kein anderer Bildhauer wäre daher im Stande gewesen, dem Musiker das sehnsuchtsvolle Emporlauschen nach der Harmonie des Weltalls nachzufühlen, das Rietschel in der Weberstatue verkörpert hat, keiner wäre fähig gewesen, wie er, den romantischen Musiker so unverkennbar durch zwei kleine statuarische Accorde, eine leise Neigung des Hauptes, eine leichte Hebung der Hand, zu charakterisiren. Mag auch durch diese tiefe und feine Charakteristik, gerade weil sie so musikalisch bedeutsam ist, dem Standbilde Weber’s von Rietschel (das wir auf dem angefügten Blatte geben) etwas an statuarischem Werthe genommen worden sein, das Herz ergreift das Bild aber als der Weber, der er war, wie wir ihn kennen und lieb haben, und welchen ein Leben voll Künstlerlust und Qual bildete, dessen Austönen wir fast alle noch mit erlebten und auf das wir einen flüchtigen Blick werfen wollen.

Weber stammt aus einem süddeutschen Geschlecht, dessen Aeltervater, Johann Baptist Weber, 1622 in den Adelstand versetzt worden war. Reiche geistige Begabung, verknüpft mit einer gewissen Rastlosigkeit, war in der Familie erblich, deren Mitglieder sich sämmtlich in Feld, Rath, Kunst und Wissenschaft auszeichneten. In ausgeprägtester Form sammelten sich die Erbtalente und Fehler auf dem Haupte Franz Anton’s, des Vaters von Carl Maria von Weber. Geistvoll und gelehrt, originell durch und durch, die hergebrachten Formen stets vernachlässigend, unruhig von einem zum andern tastend, ergriff er sehr Vieles mit Eifer, fast Alles mit Talent, um es in Nichts zu Eminentem zu bringen, wozu er bei Concentration seiner Gaben unbedingt befähigt gewesen wäre. Wir sehen ihn bald als Militär, Musiker, Hofmann fungiren, sich in der Umgebung verschiedener Fürsten bewegen, wobei er, als ausgesprochener Epikuräer, entschiedene Vorliebe für geistliche Höfe zeigte, bald in der Schlacht bei Roßbach als kurtrier’schen Major eine Rolle spielen, bald als eifrigen und virtuosen Contrabaßspieler mit einem Contrabaß von Stradivarius auf dem Reisewagen Deutschland durchziehen, bald, als Stadtmusikus zu Eutin, mit Studien über die Musik der Hebräer und [92] ihre Scansion beschäftigt. Es war während der Periode dieser mehr interessanten und gelehrten als nützlichen Beschäftigung, daß Carl Maria v. Weber, sein drittgeborner Sohn, zu Eutin am 18. Decbr. 1786 das Licht der Welt erblickte. Bei all’ dem rastlosen Treiben Franz Anton’s ging ein schönes Vermögen, der Rest einer großen Familienhabe, zu der früher die Herrschaften Pisamberg und Grumbach gehört hatten, verloren. Seinen drei Söhnen, Edmund, Fritz und Carl Maria, ließ er eine sehr gediegene musikalische Bildung geben. Der Erstere, ein Lieblingsschüler Joseph Haydn’s, war des kleinen Carl Maria erster Lehrer. Franz Anton hatte bei der Geburt seines jüngsten Sohnes, unter dem Eindrucke der Mirakel, die Mozart als Kind that, beschlossen, aus diesem Kleinen das Wunderkind zu ziehen, dessen Heranbildung er bei seinen älteren Söhnen versäumt hatte. Dem schwächlichen Knaben, der von seinem 4. Jahre an mit Musikunterricht geplagt wurde, behagte der Zwang sehr wenig, er war träg, ohne Lust, und die älteren Bruder erklärten ihn daher auch für talentlos; der Plan ward aufgegeben. Des Dranges und Zwanges ledig, entwickelte sich jedoch der Knabe nun, jener Erklärung gleichsam zum Spott, sehr schnell, glühender Eifer trat an die Stelle des Widerwillens gegen die Musik, und als der Vater einst den zehnjährigen Schüler an einer Messe componirend traf, ward der alte Plan emsig wieder aufgenommen und mit Franz Anton’s ganzer Intelligenz und musikalischer Kenntniß, ohne Mittel zu sparen, durchgeführt. Dabei aber wurden, um Abwechselung in den Unterricht zu bringen, besonders aber auch, um nebenbei ein anderes, vielleicht schlummerndes, bedeutendes Talent zu entdecken, fast alle anderen schönen Künste getrieben, und der Knabe malte, radirte, zeichnete und zwar alles mit Geschick, ohne indeß hervorragende Begabung zu zeigen. Franz Anton lebte im Jahre 1796 zu Hildburghausen, wo er den Unterricht seines Sohnes, den er, nachdem seine älteren Söhne fern von ihm angestellt waren, selbst besorgt hatte, dem trefflichen und vielseitigen J. Peter Heuschkel übertrug, der Weber nicht allein gründlichen Unterricht im Pianospiel ertheilte, sondern auch in den Anfangsgründen der Behandlung mehrerer Blasinstrumente unterwies. Dieser Unterricht trug treffliche Früchte in der wirkungsvollen Art, mit der Weber später die Blasinstrumente in seinen Orchesterwerken verwendete. Wohl mehr, um den berühmten Namen unter den Lehrern seines Sohnes aufführen zu können, als weil er wirklichen Nutzen von dem Unterrichte des sechszigjährigen Greises für den zwölfjährigen Knaben hoffte, brachte Franz Anton von Weber im Jahre 1798 Carl Maria zu Michael Haydn nach Salzburg, der dort Fürstlich Esterhazy’scher Concertmeister war. Die Bekanntschaft mit dem berühmten Musiker war das Beste bei dem Unterrichte, der schlaff gegeben und unlustig genommen wurde. In desto straffere Schule kam Carl Maria zu Ende desselben Jahres in München, wo Joh. Nep. Kalcher ihn, der schon brillant, aber als verzogenes Wunderkind, Clavier spielte, diese Kunst von Grund auf neu studiren ließ. „Das Fegefeuer des Kalcher’schen Unterrichts,“ pflegte Weber später oft zu sagen, „ist Ursache, daß ich sauber und correct spiele, der Art seines Lehrens aber verdanke ich, daß ich weiß, worauf es beim Clavierspielen und beim Componiren für’s Clavier ankommt, und vor Allem mein logisches, musikalisches Denken.“ Als Honig an den bittern Kelch der Kalcher’schen Instructionen, Lectionen und Exercitien wurde Weber der Gesangunterricht bei dem sanften und liebenswürdigen Evangelist Wallishauser gestrichen, durch den in Weber’s Seele der Keim des tiefen Gefühls für das gelegt wurde, was in der Menschenstimme Herzbewegendes wohnt. Es war die hohe Ausbildung dieses Gefühls, durch welches Weber’s Gesangspartieen, in Scherz und Ernst, so unmittelbar und mächtig an die Gemüther und Herzen greifen.

Es ist daher nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß derselbe gute Geist, der es wollte, daß der Freischütz die Welt umwandern, die „Aufforderung zum Tanz“, das Concertstück und die große Polonaise eine neue Aera der Claviercomposition heraufführen und „Leier und Schwert“ das deutsche Volk zum Kampfe treiben sollte, daß dieser es war, welcher Weber zu Wallishausen und Kalcher führte.

Unter dem Einflusse des Bewußtseins der neuen Kräfte konnte es nicht fehlen, daß sich Weber’s jugendliches Talent sofort in der Richtung zu bewegen begann, in die es sich unbewußt, als nach seinem Urziel, hingedrängt fühlte. Eine Oper, „die Macht der Liebe und des Weins“, entstand neben einer Symphonie, Sonate und Liedern, und er war im besten Zuge, eine Reihe unreifer dramatischer Werke zu liefern, als Franz Anton’s unruhiger Geist plötzlich in der neuen Erfindung Sennefelder’s, dem Steindruck, ein Mittel erblickte, seinen immer mehr hinsiechenden finanziellen Verhältnissen wieder aufzuhelfen. Er erinnerte sich des Geschickes, mit dem sein Sohn die Radirnadel geführt hatte, und es wurde beschlossen, Sennefelder sofort zu überflügeln. Es würde vielleicht Franz Anton nicht leicht geworden sein, seinen Sohn der neuen, und diesem gar nicht sehr nahe gehenden, Idee zu Liebe von der Kunst abwendig zu machen, wenn nicht ein wunderliches Ereigniß tiefen Eindruck auf Carl Maria’s lebhaften Geist, dem, bei aller Gläubigkeit und Klarheit, doch immer eine Hinneigung zu Aberglauben und Fatalität anhing, gemacht und so des Vaters Pläne unterstützt hätte.

Es brach nämlich im Hause Kalcher’s Feuer aus und zwar unerklärlicher Weise in dessen Musikzimmer. Nach dessen baldiger Dämpfung ergab es sich, daß Nichts dem Feuer zum Opfer geworden war, als ganz allein der Schrank, in dem sich Weber’s Compositionen befanden. Dem Knaben schien dies ein Fingerzeig des Himmels, ein Kunststreben zu verlassen, dessen Producte höhere Mächte so offenbar verfolgten. Er ging daher mit Lebhaftigkeit auf Franz Anton’s Pläne ein, und dieser war doppelt froh, zugleich eine gute Arbeitskraft zu gewinnen und den Sohn einem sonst seinem Wesen so fremden, mystischen Träumen zu entreißen, das ihn zu bemeistern begann.

Freiberg in Sachsen genoß damals durch seine berühmte Bergakademie, an der Abraham Werner, Lampadius und Andere fungirten, den Ruf, daß daselbst vor allen anderen Städten Deutschlands die mechanischen und chemischen Künste blühten, und Franz Anton v. Weber zog daher mit Carl Maria dahin, in der Hoffnung, dort die technischen Mittel für seine Unternehmungen besser als anderwärts zu finden. Es konnte aber nicht fehlen, daß den beiden Künstlerseelen die Beschäftigung mit der damals noch so unvollkommenen, so viel manuelle Fertigkeit und Geduld mit dem Kleinlichen und Aeußerlichen erfordernden Lithographie bald unerträglich fallen mußte, und in der That entstand, nachdem der Eindruck des Münchener Feuer-Omens verblaßt war, statt des projectirten Steindrucker Ateliers eine musikalische Gesellschaft, statt der Nachbildungen alter Bilder aber eine dreiactige Oper „das Waldmädchen“, und statt hinter der Druckerpresse erblicken wir den vierzehnjährigen Carl Maria bald am Dirigentenpulte der damals in Freiberg domicilirenden Ritter von Rainsberg’schen Schauspielertruppe, seine Oper dirigirend, über deren Werth oder Unwerth er mit den alten, contrapunkt- und ehrenfesten Musikern Freibergs, Stadtmusikus Siegert und Cantor Fischer, in einen wahrhaft burlesken Wochenblatt-Streit gerieth, bei dem von beiden Seiten mit pappenen Keulen und hölzernen Schwertern entsetzlich zugeschlagen wurde und Franz Anton die hagebüchenen Repliken seines Sohnes redigirte, die im Munde des kleinen Riesentödters drollig genug, aber nicht gerade erbaulich lassen. Schon damals aber hatte Weber die Volkspartei in Gestalt der Bergakademisten und Gymnasiasten für sich. Nichts destoweniger war der Streit Ursache, daß das Weber’sche Paar, Vater und Sohn, Freiberg verließen. Wir finden sie im Jahre darauf in Salzburg wieder. Carl Maria hat ein weit reiferes dramatisches Werk, die kleine Oper „Peter Schmoll und seine Nachbarn“ vollendet, die ihm ein höchst ehrendes Zeugniß seines Lehrers M. Haydn eintrug, ohne indeß vor dem Publicum irgend welches Glück zu machen. Zum Claviervirtuosen gereift, durchzog Weber mit seinem Vater zwei Jahre lang Deutschland, Concerte gebend und componirend, in wahrhaft aufreibender Unruhe. Wir sehen ihn in Augsburg, Braunschweig, Hamburg, seinem Geburtsorte Eutin und zuletzt im Jahre 1803 in Wien, wo Haydn und Vogler dem an seinem Schöpfertalente Verzagenden und seine Versplitterung Betrauernden wieder Halt gewährten und Muth einflößten. Der Letztere besonders war es, der darauf drang, daß Weber ein ganzes Jahr lang das Selbstproduciren aufgeben und nur dem Studium der Wissenschaft der Musik obliegend leben sollte, damit er nicht Gefahr liefe, den schönen Strom seiner Gaben im Sande der Modecomposition und des Virtuosenthums verlaufen zu lassen.

Seufzend, aber ernsten Willens, unterzog sich der an ein herumschweifendes Leben gewöhnte junge Künstler der harten, aber segensreichen Cur, und ein volles Jahr, vom Mai 1803 bis Mai 1804, saß er, eisernfleißig studirend, zu des gelehrten, aber

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Carl Maria von Weber’s Denkmal in Dresden.

wunderlichen Kirchenfürsten Füßen. Der Jünger mag wohl dem alten Herrn zu Sinn gewesen sein, denn als man sich von Breslau aus, wo damals eine neue Oper organisirt werden sollte, um einen Musikdirector verlegen, an Voglern wandte, stand dieser nicht an, seinen Zögling dahin zu empfehlen. Zwei Jahre lang stritt er dort, im jugendlichen Alter (er war 19 Jahre alt), wohl auch hier und da seine Stellung verkennend und das Maß des Gleichgewichts überschreitend, mit den althergebrachten Theater-Vorurtheilen der würdigen Stadt, brachte aber schließlich Opernvorstellungen zu Stande, die trotz des ihm oft gemachten Vorwurfs, daß er die Leitung der Bühne über der des Orchesters vernachlässige und oft allzu „neunzehnjährige“ Tempi nehme, von allen Parteien freudig anerkannt wurden und sein Verhältniß zum Publicum sicher zu stellen begannen. Eben war er mit der Composition der von seinem Freunde, dem Dramaturgen des Breslauer Theaters, Rhode, gedichteten Oper „Rübezahl“ beschäftigt, als ihn ein Trunk aus einer irrthümlich ergriffenen Medicinflasche an den Rand des Grabes brachte und lange an das Siechbett fesselte. Das Gerücht formte nach seiner Art geschäftig den bösen Zufall zu einem Attentate auf des jungen Meisters Leben um und brachte ihn dadurch in so unangenehme Beziehungen zu einflußreichen Personen, die für seine Gegner galten, daß seine Stellung in Breslau sehr schwierig zu werden begann und er frei aufathmete, als er von dem musikliebenden Prinzen Eugen von Würtemberg, der sich von seinem Mißgeschick auf dem Schlachtfelde (Verlust der Schlacht bei Halle etc.) in ländlicher Zurückgezogenheit im Verkehre mit den schönen Künsten erholen wollte, die Aufforderung erhielt, ihm das kleine Theater und die niedliche Capelle zu organisiren, durch die er seine Herrschaft Carlsruh in Schlesien zu einem Musensitze zu machen beabsichtigte. Weber folgte der Aufforderung freudig, schrieb eilends noch die großes Aufsehen machende (später umgearbeitete) Ouvertüre zu Schiller’s „Turandot“ und griff dann in Carlsruh praktisch und rüstig zu, so daß der Prinz sich bald entzückt vor einem hübschen Orchester und einer niedlichen Bühne sah, durch welche ihm die besten Musikwerke, die den Kräften des kleinen Instituts erreichbar waren, in höchst präciser, geistvoller Executirung vorgeführt wurden.

Für diese wahrhaften Genüsse dankbar, empfahl der Prinz, als der Krieg im Jahre 1807 die hübschen Carlsruher Kunstschöpfungen zerstörte und Weber, in Mitten eines Landes, das, von Kriegsunruhen überzogen, keinen Sinn für Kunst und Kunstleistungen hegen konnte, sich arm und ohne Subsistenzmittel sah, den jungen, vielseitig gebildeten Mann seinem Bruder, dem Prinzen Louis von Würtemberg, der ihm zwar keine künstlerische Stellung gewähren konnte, ihm aber bis auf bessere Zeiten die Stelle seines Geheimsecretairs anbot.

Nothgedrungen ging Weber darauf ein, und wir sehen ihn nun, zwei Jahre lang, deren Ausgang ein sehr trauriger für ihn sein sollte, die Wirthschaftsrechnungen des Prinzen revidiren, seine Bücher führen, seine Zahlungen anweisen und dem verschwenderischen [94] Herrn oft, wenn die Ausgaben allzu sehr die Einnahmen überstiegen und Gläubiger, Handwerker und Lieferanten dem Herrn Geheimsecretair v. Weber die Hölle gar zu heiß machten, sehr kräftige Ermahnungsbriefe schreiben. Die maßlos schroffe und fast tyrannische Handlungsweise des Königs Friedrich Wilhelm von Würtemberg war Weber in tiefster Seele antipathisch, und er gab dieser Empfindung indirect häufig genug in den Briefen Ausdruck, die er im Namen des Prinzen Louis an den König zu schreiben hatte und die, wegen der zügellosen Lebensweise des Prinzen, meist ohnehin ärgerlichen Inhaltes für den König waren. Es konnte nicht fehlen, daß der König den Concipienten dieser Briefe, die der Prinz stets, oft ohne sie zu lesen, unterzeichnete und die nicht immer bloß Geschäftliches enthalten haben mögen, errieth und einen gründlichen Widerwillen gegen ihn faßte. Es kam dem Monarchen daher gelegen, als sich in den Finanzverhältnissen des Prinzen Erscheinungen zeigten, für die die Bezeichnung „Unordnungen“ ein euphemistischer Ausdruck sein würde, daß die ganze Schuld auf den Geheimsecretair von Weber geschoben werden konnte, der auch sofort arretirt und nach kurzer Untersuchung sogleich über die Grenze geschafft wurde. Würtemberg blieb Weber bis zum Tode des Königs Friedrich verschlossen. Erst sehr spät ist Weber’s Ehre, durch besseres Verständniß der wahren Motive jener Unordnungen, von jedem Flecken gereinigt worden; für den Augenblick haftete ihm ein böser Makel an, obwohl Niemand von denen, die ihn kannten, an seine Schuld glaubte und man nur beklagte, daß er, in jugendlichem Leichtsinne, sein Vertrauen Personen geschenkt hatte, die dasselbe schlecht rechtfertigten und ihn dadurch in diese böse Lage brachten.

Tief bildend, ja ihm eine neue Richtung gebend, hat in Stuttgart der Umgang mit dem Kapellmeister Danzi auf Weber gewirkt, dem er bis an sein Lebensende die wärmste Freundschaft bewahrte. Besonders in Bezug aus die Form des instrumentalen Ausdrucks soll, nach dem Zeugnisse der damaligen Kunstgenossen Weber’s, Danzi’s Einfluß bestimmend für Weber gewesen sein. Er selbst pflegte mit dem Weggange von Stuttgart den Abschluß seiner Lehrjahre zu datiren. Von der Anregung, die Weber durch Danzi empfing, zeugt die Menge musikalischer Arbeiten,, zu denen er neben seiner Secretariatsthätigkeit Muße fand. Die „Sylvana“ ward aus dem „Waldmädchen“ geschaffen, die kleine Rochlitzsche Cantate „der erste Ton,“ die einen bedeutenden Ruf erhielt, entstand, nebst einer Menge von Liedern und Clavier-Compositionen, worunter die große Polonaise in Es dur. Außerdem konnte es nicht fehlen, daß den jungen, eben im Gährungsprocesse für den Antritt einer neuen Kunstperiode begriffenen Künstler der Verkehr mit Männern wie Dannecker, Haug, Reinhardt, Wächter etc. mächtig leitend berührte.

Von dem unfreiwilligen Verlassen Stuttgart’s an erhielt Weber’s ohnehin schon so unruhig bewegtes Leben die Form einer mehrjährigen, wahrhaften Pilgerfahrt, die ihn alle Wonnen und Schmerzen, allen Jubel und alle Enttäuschungen der Künstlerlaufbahn durchkosten ließ. Zunächst nach Mannheim eilend, wo ihm eine Menge werther Freunde lebten und er in der Prinzessin (nachherigen Großherzogin) Stephanie eine edle Beschützerin hatte, begründete er dort seinem hinfällig werdenden Vater, dessen pecuniäre Mittel fast ganz erschöpft waren, eine bescheidene, aber behagliche Heimath. Eine kurze Zeit schien es, als wollte man ihn dort als Musikdirector fesseln, doch die Sache scheiterte, man kann sagen, zum Glücke, an des Kapellmeisters, des talentvollen, aber auch neidischen, alternden und trägen Peter Ritter, Widerstand; denn was wäre Weber ohne seine Kunstreisen geworden? Wie hätte er so das ganze deutsche Volk am Herzen fassen können, wenn er nicht mit allen Stämmen des deutschen Volkes gelebt und musicirt hätte?

Der Anfang wurde mit kleinen Ausflügen gemacht, auf denen er sich im Badener Land und zwischen Frankfurt, Darmstadt, Mannheim, Cassel, Carlsruhe hin und her bewegte. Diese Zeit war es, wo Weber die Freundschaften schloß, die ihn ohne Wanken durch das ganze Leben stützend, tröstend und erheiternd begleiteten. Er lernte Alexander v. Dusch, Gänsbacher, Gottfried Weber kennen und lieben und erneute die alte Freundschaft mit Meyerbeer. Zum trautesten Verkehr mit den letzteren Dreien führte ihn der gemeinsame Wunsch, noch einmal den Unterricht Vogler’s, der inzwischen geistlicher Geheimrath des Großherzogs von Darmstadt geworden war, zu genießen, zusammen. Da kam die Sommerzeit von Weber’s Jugend! Wir sehen die geistvollen, heiteren Studiengenossen, die selbst schon junge Meister waren, im Wetteifer den Unterricht eines abgöttisch verehrten Lehrers genießen, aber auch im Wetteifer Darmstadt mit den Spukgeschichten ihrer tollen Streiche erfüllen. Auf Jahrmärkten, in Wachtstuben, beim Bauerntanz auf Kirchweihen sah man die jungen Musikanten „Melodien sammeln“. Wenn aber dann das ehrbare Darmstadt sein langweiliges Gesicht in ernste Falten ob des wilden Treibens legen wollte, machten sie so hübsche Musik, daß ihnen Niemand böse sein konnte. Vogler pflegte, wenn er auf die vier jungen Evangelisten seiner Lehre blickte, wie er sie nannte und die doch dann so ganz andere Dinge als seinen Glauben predigten, zu sagen: „Gottfried weiß am meisten, Meyer thut am meisten, Carl Maria kann am meisten und Johann[3]trifft am meisten!“

Fortsetzung folgt)


Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)


Veronika von Gunta an den Grafen von Rottenbuel.

„Gunta, den 5. Mai 1788. 

Haben Sie meinen aufrichtigen Dank, mein Herr Graf, für alle die gütige Zuvorkommenheit, welche Sie mir während dieses ganzen Winters bewiesen haben. Es that mir sehr wohl, mich Ihrer Theilnahme versichert halten zu dürfen, und wenn Schnee und Eis mich bisweilen für Tage und Tage von aller Welt abschieden, und mein armes Haus mir recht verödet schien, weil der Blick, der mein Leitstern durch das Leben gewesen ist, nicht mehr über demselben waltet, und die liebe Stimme, die ich jetzt nur noch in meinen Träumen vernehme, nicht mehr über mich und über unser Haus gebietet, dann haben die Bücher mir freundlich Gesellschaft geleistet, und mein Sinn hat sich daran aufgerichtet, mein Herz sich daran erwärmt.

Aber ich kannte die beiden Romane bereits, die Sie mir zuletzt gesendet haben. Sowohl die Nouvells Héloïse von Rousseau, als die Leiden des jungen Werther von Herrn Goethe hatte ich gelesen, als im vorigen Sommer unser Graubündener Dichter Herr von Salis uns besucht hatte und viel von Poesie und von den früheren und jetzt lebenden Dichtern die Rede gewesen ist. Ihre Schwester war nicht dafür, daß mein Vater mir diese Bücher zu lesen verstattete, mein Vater aber hatte kein Bedenken, mir den Genuß zu bereiten, und Genuß habe ich sehr viel davon gehabt. Es war mir, während ich las, immer zu Muthe, als stünde ich auf unsern Alpenhöhen und sähe hinab gen Süden nach Italien hin, wo Alles anders und Alles schöner ist, als bei uns; Alles so warm, so die Sehnsucht weckend, so verlockend und so überwältigend, daß man Scheu fühlt, es kennen und lieben zu lernen, aus Furcht es wieder entbehren zu sollen. Mein ernster Vater war ganz jung geworden bei den gedachten Büchern, und ich empfinde in der Erinnerung an ihn und an seine Freude noch ein ganz besonderes Glück und eine höhere Rührung, so oft ich sie wieder lese.

Nur Eines, daß ich es Ihnen bekenne, ist mir damals und jetzt wieder aufgefallen und hat mich in meinem Genusse innerlich beeinträchtigt. Ich vermisse an Werther’s Lotte die rechte Wahrhaftigkeit des Herzens, und ich meine, wem diese fehle, der könnte auch die rechte, wahrhaftige Liebe nicht empfinden, und der habe auch die einfache Herzensgüte nicht, welche Anderen kein Leid bereiten mag. Wenn ich mich der Thränen über Werther’s Leiden nicht erwehren konnte, so kränkte es mich immer um so mehr, daß Lotte ihn nicht mit offner Wahrheit von diesen Leiden heilte,

[95] und in das Mitleid über seinen Tod mischte sich ein rechter Zorn gegen seine Lotte. Es muß sicherlich ein großes Unglück sein, keine Gegenliebe zu erhalten, wo man sein Herz hingegeben hat; ich meine aber, Liebe zu erregen, wo man sie nicht empfindet, und Unglück über einen guten Menschen zu verhängen, müsse die Seele zuletzt ebenfalls mit sich selbst in Unfrieden bringen, und ich weiß nicht, wie man mit seinem Gewissen fertig werden kann, wenn man sich eingestehen muß, daß man, wie Lotte, durch Nachgiebigkeit gegen sich selbst oder durch Unaufrichtigkeit gegen einen Andern das Unglück eines liebevollen Herzens verschuldet hat. Wollte ich doch lieber mein eignes Leben in dem fernsten Winkel der Erde still für mich tragen gehen, als eine Seele betrüben, die von mir ihr Glück erwartet. Ich liebe diese Lotte nicht, wie schön Herr Goethe sie auch ausgestattet hat.

Und nun verzeihen Sie mir, Herr Graf, wenn ich es wagte, Ihnen so unumwunden meine Meinung zu sagen, und Ihre Ansichten in diesem Punkte nicht zu theilen. Damit ich Ihnen aber doch meinen Dank ausdrücke, lege ich Ihnen ein Paar Gedichte des Herrn Gaudenz[WS 1] von Salis bei, welche eine liebe Freundin mir gesendet hat, und ein Gedicht des Herrn Matthison, das man im Bodmer’schen Haus für mich abzuschreiben die Güte gehabt hat. Der Frühling und das Grün und der Sonnenschein, die er so gar lieblich besingt, lassen sich bei uns leider noch erwarten. Vielleicht bringen Sie mir die Blätter wieder, lieber Herr Graf, wenn die prophetische Beschreibung des Dichters sich auch hier bei uns in Wahrheit verwandelt haben wird. Mit der aufrichtigsten Hochachtung, mein verehrter Herr Graf, Ihre ergebene
Veronika von Gunta.“ 


Graf Joseph von Nottenbuel an die Freifrau von Thuris.

„Den 6. Mai. 

Ich sende meinen Reitknecht heute nur herüber, um Dir eine Frage vorzulegen, liebe Schwester, deren genaue Beantwortung ich von Dir zu erhalten wünsche. Kennt Veronika den Namen der Marquise, und was weiß sie von mir, von meiner letzten Vergangenheit? Sie hat mir heute einige Bücher geschickt und mir in ihrem kleinen Briefe ein Urtheil über den Werther mitgetheilt, das ich durch eine Kenntniß meiner persönlichen Erlebnisse eingegeben glaube. Sei so gut mich zu benachrichtigen, was ich davon halten soll. Der Brief hat mich in doppeltem Sinne überrascht.

Ich komme in den nächsten Tagen zu Dir hinüber.“


Die Freifrau von Thuris an ihren Bruder.

„Den 6. Mai. 1788. 

Veronika weiß von der Marquise Nichts! Beruhige Dich darüber, mein lieber Bruder! – Da ich der Hoffnung nicht entsagen mochte, Dich von der Neigung zu dieser unheilvollen Frau geheilt zu sehen, und den Wunsch in mir hege, daß Du, wie die Bibel es nennt, Dir hier unter den Töchtern des Landes ein Weib nehmen solltest, so habe ich darauf gehalten, Deine Verhältnisse als ein Geheimniß zu bewahren. Was also Veronika Dir auch geschrieben haben mag, eine Nebenabsicht oder einen Hintergedanken hat sie sicherlich nicht dabei gehabt. Aber Deine Theilnahme für sie macht mir Freude und ermuthigt meine Wünsche zu schönen Hoffnungen. Komme bald zu mir, und wir wollen die liebe und schöne Einsame gemeinsam besuchen.“


Die Freifrau von Thuris an ihren Bruder.

„Thuris, den 17. Mai. 

Du hast nicht Wort gehalten, lieber Bruder, und ich habe Dich seit zehn Tagen vergeblich erwartet. Man sagte mir, Du seist ohne Begleitung auf die Jagd gegangen, als ich am letzten Montag bei Dir war. Woran liegt es, daß Du der Bitte, mich zu besuchen, die ich Deinen Leuten auszurichten auftrug, nicht nachgekommen bist? Ich hoffe nicht, daß Dir ein Unfall zugestoßen ist, oder daß Du sonst ein übles Hinderniß gehabt hast. Beruhige mich darüber, lieber Bruder.“


Graf Joseph an die Freifrau von Thuris.

„Rottenbuel, den 18. Mai. 

Weshalb ich nicht gekommen bin? Frage die Seligen, weshalb sie sich nicht losreißen aus ihrer trunkenen Anbetung des Göttlichen, um auf die Erde zurückzukehren. Frage – – o! aber was sollen die Worte, was soll die Mittheilung, da Du ja doch Alles schon weißt, wenn Dir diese Worte die Wonne meines entzückten Herzens verrathen haben.

Vor einer Stunde bin ich von Gunta heimgekehrt, heimgekehrt in mein Haus, das mir wie verwandelt erscheint, seit ich weiß, daß sie es mit mir bewohnen, daß Veronika hier schalten und walten wird, daß ich mit ihr von diesen Erkern hinabsehen werde auf die Bäume, welche unsere Altvordern mir hier gepflanzt, und unter deren Schatten meine und Veronika’s Kinder einst spielen werden.

Gesegnet sei die Stunde, in welcher Du mich zur Heimkehr mahntest – ja ich möchte sagen, gesegnet sei das Unheil, das mich von Paris entfernte. Ich fühle mich wie ein verklärter, wie ein neugeborner Mensch, ich denke mit anderen Gedanken, ich empfinde mit anderen Sinnen; und das Alles ist ihr Werk, Veronika’s Werk, der Liebe Werk, die mir die Seele befreit von allen bösen Erinnerungen, und mir mit dem Glauben an die Reinheit des Weibes auch die Fähigkeit zu neuer Liebe und, daß ich es Dir gestehe, eigentlich erst das Verständniß der Liebe gegeben hat; denn was mich zu Franziska hingezogen, verdiente diesen Namen nicht.

Wie das gekommen ist? Ich brauchte es Dir nicht zu sagen, wenn es mich nicht so glücklich machte, es mir selbst zu wiederholen. Daß Veronika schön sei, wer hätte das nicht beim ersten Blicke sehen sollen? Aber es war nicht diese Schönheit, die mich an sie fesselte, so sehr sie mich entzückt. Es war die reine, unverfälschte Wahrheit ihrer einfachen Natur, die schöne Seele, der alles Edle und Erhabene angeboren ist, die nur sich selber nachzugeben braucht, um immer das Richtige zu finden und das Rechte zu thun, die mich sie lieben machten. Ich sah sie als die gehorsame und gefügige Tochter ihres Vaters, als die gastliche Wirthin ihres Hauses, als das Kind des Volkes, in dem sie geboren worden. Im fröhlichen Tanze, im wilden Orkan der Nacht, am Krankenlager und an der Leiche ihres Vaters, einsam in ihrem Schlosse sich und ihrem Grame überlassen, eine kluge Verwalterin, eine milde Herrin, eine sanfte Helferin der Leidenden – immer, immer war sie sich gleich; und ich konnte sie nicht mehr sehen, ohne mich in ihrer Nähe vor den Stunden zu fürchten, die ich fern von ihr zuzubringen hatte.

Es hätte Deiner Mahnung, daß ich Veronika nicht eben oft besuchen möge, nicht bedurft; war sie mir doch heilig wie meine Ehre, wie das Andenken an meine Mutter, wie hätte ich sie auch nur dem Schatten einer Mißbilligung preiszugeben vermocht! Aber ich konnte den Trost nicht entbehren, daß sie meiner dachte, und wie die Schrecken unseres Winters sich auch zwischen uns aufthürmten, so fand der treue alte Bernhard doch stets den Weg von mir zu ihr, und unsere Gedanken traten einander näher, unsere Empfindungen wurden zu einem einzigen allmächtigen Gefühl.

Im Zweifel an mir selbst hatte ich mir stets mißtraut; endlich litt es mich nicht länger. Die heiße Sehnsucht, die mich zu ihr zog, die mich mir selbst entfremdete, konnte mich nicht täuschen; und an der Wonne, mit welcher ich den erwachenden Frühling in meine Seele leuchten fühlte, ermaß ich, daß mein Herz frei geworden sei und rein genug, die Geliebte in dasselbe aufzunehmen.

In guter Stunde ritt ich nach Gunta. Daß ich Dir sie beschreiben könnte, diese seligen Augenblicke hoffnungsvoll bangender Zuversicht! daß ich Dir sie schildern könnte, die freudige Inbrunst, mit welcher ich meine Jugend mir wiedergegeben fühlte!

Es war schon Mittag, als ich ihr Haus sich vor mir erheben sah, und nun ich es erblickte, wankte mein Herz. Ich hatte ihr nie von meiner Liebe für sie geschrieben, sie hatte Nichts gesagt, was mich zu hoffen berechtigte, Nichts, was ich nur auf mich allein zu beziehen gehabt hätte, so bereitwillig meine verlangende Seele es sich zu meinen Gunsten auszulegen wußte.

Ich wollte mich sammeln, noch eine letzte Viertelstunde mit mir allein sein. Ich stieg an der hintern Seite des Gartens vom Pferde, das ich einem Buben zur Führung überließ, öffnete die kleine Pforte neben der Gärtnerwohnung, und trat in das kleine Gehölz ein, das dieselbe von dem Garten abtrennt. Niemand hatte mein Kommen bemerkt, die Leute waren bei der Arbeit, und ungesehen ging ich den Weg nach dem Schlosse hinauf.

Die Sonne schien warm hernieder, die jungen Blätter zitterten leise, als ob sie sich zu entfalten strebten, das Gras duftete, wo mein Fuß es betrat, und funkelnd in seinem weißen Gischte schoß blitzschnell das Wasser des Baches an mir vorüber, zum Thal [96] hinab. Ich setzte mich auf der Bank unter dem großen Wallnußbaume nieder und sah nach ihrem Fenster hin, vor dem die Vorhänge sich leise im Luftzug bewegten, und sah zu dem schneeigen Gipfel des Berges empor, und nun ich mich ihr so nahe wußte, kam eine friedensvolle Ruhe über mich, und ich fühlte, daß Veronika der Friede für mich sei.

Mit einem Male hörte ich mir gegenüber die Zweige des Gebüsches sich bewegen, und mitten in dem jungen Grün, wie eine Lichtgestalt schön, in ihrem weißen Gewande, stand Veronika vor mir. Ich sprang empor, sie trat erschrocken zurück, aber schnell wieder Herr über sich selbst, sagte sie freundlich: „Ach, Graf Joseph! ich dachte an Sie, darum überraschte es mich so, Sie vor mir zu sehen!“ – Und da ich stumm vor ihrem Anblick stehen blieb und ihre Hände ergriff und in ihr Auge blickte, da füllten diese sanften Augen sich mit Thränen, eine heiße Röthe, die glückverkündende Morgenröthe meiner Zukunft, überzog ihre Wangen, und trunken und verwirrt ihr liebeseliges Antlitz an meiner Brust verbergend, sagte sie: „Ach Bester! ich kam von meines Vaters Grabe, und – –“

Sie vollendete nicht, sie weinte. Ich hielt mich nicht länger und schloß sie in meine Arme. „Was bekümmert Dich, Veronika?“ fragte ich sie.

„Ich dachte an meines Vaters Grabe nur an Dich!“ seufzte sie und hob die schönen thränenschweren Augen zärtlich zu mir empor.

Und nun ich es Dir schreibe, überfluthet sie mich wieder, die ganze Fülle meines Glückes, daß ich die Brust im Freien kühlen muß. Sage Dir selbst, was mich bewegt!

Morgen kommt Veronika zu Dir; an Dein Herz, das mir dieses Kleinod herangebildet, lege ich meine Braut, bis ich sie als mein Weib in das Haus unserer Väter geleiten kann. Sie bei uns mit dem Segen Deiner Liebe!“


Die Freifrau von Thuris an ihren Sohn.
„Thuris, den 20. Mai 1788. 

„Mein Lieblingswunsch hat sich erfüllt, geliebter Sohn! Der Onkel hat sich mit unserer Veronika verlobt. Eine bessere Wahl konnte der Onkel nicht treffen, ein würdigeres Mädchen konnte der Reihe unserer Ahnen nicht einverleibt werden. In wenig Wochen soll ihre Verbindung gefeiert, werden, und ich würde mit freudiger Zuversicht dem Tage entgegen sehen, wenn nicht die allzu lebhafte Empfindung meines Bruders mir es deutlich zeugte, wie sehr die Leidenschaft seines Herzens über ihn Gewalt hat. Indeß ich vertraue der liebevollen Klarheit unserer Veronika, daß sie ihn zu beruhigen, zu fesseln und zu beglücken wissen wird. Sie grüßt Dich schwesterlich und hofft, Du werdest heimkommen, sie als ein Bruder zum Altare zu geleiten. Auf nahes Wiedersehen also, für das es ohnehin bald Zeit ist.“ –


Ulrich von Thuris an seine Mutter.
„Paris, den 12. Juni 1788. 

„Vergieb mir, theuere Mutter, wenn ich Deinem Wunsche mit nächstem heimzukehren, noch nicht Folge leiste, und vergönne mir vielmehr, meine Reisezeit noch auszudehnen. Ich möchte England kennen lernen, Schottland besuchen, ehe ich nach Hause komme.

Du wirst ja ohnehin jetzt weniger einsam sein, geliebte Mutter, da der Onkel und Veronika künftig in Deiner Nähe wohnen werden.

Veronika des Onkels Braut! Veronika meine Tante! Wie mir das auffällt! Ich hatte von jeher Deinen Plan gekannt und mit dem Onkel selbst davon gesprochen; nun er sich verwirklicht hat, befremdet mich das Vorhergesehene, das Erwünschte, ja, es kommt mir unbegreiflich vor. Kann man denn Mißgunst fühlen gegen einen Freund? und eifersüchtig sein auf seine Schwester? Wie wunderlich ist unser Sinn, wie eigensinnig unser Herz!

Grüße das Brautpaar von mir und sage ihm meine besten Wünsche. Wenn ich mich zu wundern aufhöre, will ich selbst ihnen schreiben.

Lebe wohl, theuere Mutter, und laß mich reisen. Ist mir’s heute doch, als hätten Du und ich Veronika verloren, als hätten wir – mein Herz nicht recht gekannt. Sage ihr nicht, daß ihr Glück mich heute noch nicht freut. Lebe wohl, theuere Mutter! Wenn ich wiederkehre, sollst Du Deinen alten Ulrich in mir finden.“


(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüthen.



Julius Mosen. Wie das schöne Weihnachtsfest Jedem, trotz Leid und Schmerz, eine helle Freude bringt, so brachte es auch unserem Dichter Julius Mosen zwei fromme herzerfreuende Gaben. Der Schillerverein sandte ihm eine Ehrengabe, um ihm zu beweisen, daß noch manches Herz dankbar die Gewalt seiner Lieder fühle. Und auch von hoher fürstlicher Hand wurde ihm ein Zeichen liebevoller Theilnahme gesandt; die Großherzogin Elisabeth von Oldenburg, die stets bemüht ist, ihn durch die liebenswürdigste Aufmerksamkeit zu erfreuen, schickte dem kranken Dichter am heiligen Abend ihr Bild, begleitet von einigen freundlichen Zeilen. Freude und Trost brachten ihm diese liebevollen Gaben, sowohl der alten Genossen, als der hohen gütigen Frau.

Möchten doch nun endlich auch seine Werke, die theilweise schon vollständig vergriffen, theilweise noch gar nicht weiter bekannt sind, dem deutschen Volke nicht länger vorenthalten werden, und die Gewalt seiner Worte, die jedes deutsche Herz mächtig rühren, nicht lediglich durch Tradition fortleben, sondern möglichst bald in einer billigen, dem Volke zugänglichen Gesammtausgabe dargebracht werden.

*§*





Eine seltsame Musikfreundin. Ich hatte meinen Sommeraufenthalt auf einer reizenden Besitzung in der Nähe von Pankow, wo eine bedeutende Landwirthschaft betrieben wurde. Die dazu gehörigen großen Gebäude lehnten mit dem Hofe von einer Seite an den das Herrenhaus umschließenden Garten. Eine mit Orangerie und Blumen besetzte Rampe führte zu einem großen Saale, in welchem zuweilen musicirt wurde. Oft sahen wir, während dies geschah, einen geflügelten Bewunderer langsam und leise die Rampe herauf und, wenn die Thüren gerade geöffnet waren, in den Saal hinein spazieren, wo er eben so leise und lauschend unverrückt auf einem Fleck stehen blieb, bis die Musik geendet.

Dieser Bewunderer war kein Anderer als eine Gans, welche, wenn die kleine Heerde vom Felde heimkehrte, den Tönen folgte und mit bewunderungswürdiger Klugheit sich Eingang in den ringsum verschlossenen Garten zu verschaffen wußte, ohne diesen Eingang lange Zeit hindurch irgendwem zu verrathen. Nur der aufmerksamsten Beobachtung gelang es, eine kleine, wahrscheinlich vom Hunde gemachte Unterhöhlung der Einzäunung, welche dichtes Fliedergesträuch deckte, zu erspähen, durch welche sie, nicht ohne Anstrengung, ihren regelmäßigen Gang nahm. Ebenso auffällig war das in jeder Hinsicht anständige und bescheidene Verhalten dieser seltsamen Zuhörerin. – Wenn sie durch längere Pausen sich zum stillen Rückzüge bewogen sah, kehrte sie doch gleich wieder um, sobald die Musik auf’s Neue begann. Die musikalische Gans wurde von Allen respectirt, selbst von dem kleinen Stubenkläffer, welcher sonst jedem Eindringling sehr feindlich gesinnt war.




Kleiner Briefkasten.



A. L. in Berlin. Wir können Ihnen nur die in Chemnitz erscheinende „Deutsche Industrie-Zeitung“, redigirt von Rob. Binder, empfehlen. Sie entspricht allen Anforderungen, welche man an ein solches Blatt stellen kann, und hat sich rasch einen großen Leserkreis erworben, der sich noch mit jeder Woche erweitert.

M. A. in B. Lassen Sie sich durch nichts irre machen, die Redaction der Gartenlaube ruht noch in den Händen desselben Mannes, der die erste Nummer des Unternehmens zusammenstellte und seit 10 Jahren die Zeitschrift allein geleitet hat.

F. L. H. in B. Ganz nach Wunsch dem Papierkorb einverleibt.

F. L. B. in Breslau. Nicht zu brauchen. Bitte über das Manuscript zu disponiren.

L. K. in Pottenbrunn. Wenden Sie sich mit Ihrem Anliegen an die Redaction des „Arbeitgebers“ in Frankfurt a. M.

D. A. U. in Leipzig. Ihr Manuscript „El. u. Leb.“ steht zur Verfügung.

I. K. in Miltenberg a. M. Wir werden über den beregten Gegenstand (die Bücherrollen von Herculanum; aus Pompeji besitzt man keine) später einen besondern Artikel bringen.





In der unterzeichneten Verlagshandlung ist so eben erschienen:

Supplement-Band
zu allen Ausgaben von
Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen.

Derselbe erscheint in drei, in monatlichen Zwischenräumen auf einander folgenden Lieferungen. Der Subscriptionspreis jeder Lieferung von etwa 5 Bogen ist nur 7 1/2 Rgr. Die 1. Lieferung ist bereits erschienen und durch jede Buchhandlung zu beziehen.

Leipzig, im Februar 1862.

Ernst Keil.

  1. Wie dieser lacht kein Winkel der ganzen Welt mich an.
  2. Sohn des großen Componisten, Verfasser des im Jahre 1852 erschienenen Epos: „Roland’s Graalfahrt“.
    D. Red.
  3. Johann Gänsbacher war ein ungemein feinfühlender Musiker, daneben aber auch vortrefflicher Büchsenschütze.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gnudenz