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Die Gartenlaube (1862)/Heft 27

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 27.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Untergang der „Amazone“.

Nichts ist wohl natürlicher, als daß der Leser dieser Zeilen, bevor er sein Interesse denselben zuwendet, das wohlbegründete Recht in Anspruch nimmt, die Vergangenheit des Autors kennen zu lernen. So möge er denn erfahren, daß mein Name Charles Whitman ist und daß ich im Jahre 1817 in Berks-County, Pennsylvania, geboren wurde. Nachdem ich dann in Lancaster eine für die damalige Zeit gut zu nennende Schulbildung genossen hatte, kam ich in Philadelphia bei einem Droguisten in die Lehre, wo ich es aber bald satt wurde und meiner Neigung zum Seeleben folgte, indem ich mich auf einem Ostindienfahrer als Leichtmatrose einschiffte. Da es nicht der Zweck dieser Zeilen ist, meine Kreuz- und Querfahrten auf dem Ocean zu schildern, so will ich nur noch einfach hinzufügen, daß ich bei dem Eintritt des gegenwärtigen Bürgerkrieges das Unglück hatte, mein eigenes Schiff durch den Kaper Jefferson Davis verbrannt zu sehen, und so gezwungen wurde, als erster Steuermann auf dem „Black Hawk“ (schwarzer Falke), einem großen Neu-England Klipper, einzutreten. Hätte ich nur ahnen können, welche traurige Begebenheit sich an dieses Schiff knüpfen würde, ich würde es sicher vorgezogen haben, einfach anderswo vor den Mast zu gehen, als hier den Comfort eines ersten Officiers zu genießen. –

Nachdem wir in Boston eine Ladung Maschinerien und Thee an Bord genommen hatten, nahmen wir die nördliche Passage über den atlantischen Ocean und befanden uns nach dreiwöchentlicher Fahrt zwischen Dunnet-Head und den Orkney’s, von wo wir direct auf das Skager Rack zusteuerten; im Kattegat und in der Ostsee etwas aufgehalten liefen wir direct vor dem westlichen Winde in den finnischen Golf ein und am zweiundvierzigsten Tage, nachdem wir Cap Cod aus Sicht verloren hatten, lagen wir unter den Batterien von Kronstadt vor Anker. Während der ganzen Reise, auf welcher sich Mr. Morton, der Master, als ein ausgezeichneter Navigator, aber auch als ein schonungsloser Tyrann der Mannschaft gegenüber betrug, hatte ich wenig Gelegenheit, mit ihm vertraut zu werden, da unser zweiter Steuermann kurz nach unserer Abfahrt erkrankte und mir somit der Dienst wenig Zeit überließ. Nur so viel bemerkte ich, daß hinter seinen finstern grauen Augen der Teufel lauerte und daß er Menschenleben wenig achtete. Wenn bei stürmischem Wetter andere Schiffe ihre Segel einzogen, setzte er erst recht Leesegel auf, unbekümmert ob bei dem Ausschütten der Maintopsegel und dem heftigen Stampfen des Schiffes Jemand über Bord ginge oder nicht. Als in der Straße von Pentland bei dickem Nebel eine Fischersmack nur dadurch dem Uebersegeln entging, daß der Mann am Ruder das Schiff schnell einen halben Strich abfallen ließ, fuhr er denselben wie ein Tiger an, weshalb er seinen Curs nicht steuere, den Fischern geschehe ganz recht, wenn sie nach der Hölle geschickt würden, da sie in seinem Fahrwasser nichts zu thun hätten. Bald nach diesem Vorfalle vertraute mir eine alte Theerjacke, die den Master vor langen Jahren gekannt haben wollte, an, daß Morton früher Howard geheißen habe, daß derselbe sich bei der bekannten Meuterei auf der Vereinigten-Staaten-Brigg Sommers betheiligt und späterhin bei der Bildung der deutschen Marine eine Commission (Officierspatent) erhalten habe, dann habe er ihn aus den Augen verloren, bis er ihn zu seinem Erstaunen auf dem Quarterdeck des Black Hawk wiedergefunden habe. Morton mußte in der That ein vielbewegtes Leben geführt haben, sein wettergebräuntes, tieffaltiges Gesicht zeugte von starken Leidenschaften, und wenn er getrunken hatte, machte er das Schiff der Mannschaft zur Hölle. Daß ich unter solchen Umständen mich ihm gegenüber ganz passiv verhielt, nur gewissenhaft auf meinen Dienst achtend, versteht sich von selbst. Um so angenehmer war es mir, als er gleich nach unserer Ankunft in Kronstadt mit dem nächsten Dampfer nach Petersburg, wo er schon früher gewesen sein wollte, abfuhr, mir die Zollhausgeschäfte und das Ausladen des Cargo vollständig überlassend. Während seiner Abwesenheit athmeten wir Alle frei auf, und diese Tage waren sicher die angenehmsten, welche ich auf dem Black Hawk zubrachte. –

Ein Mäkler, der hin und wieder auf dem Schiffe zu thun hatte, erzählte mir, daß Morton, der schon früher in Sebastopol bei der Hebung der versenkten Schiffe thätig gewesen sei, sich bei der Admiralität um eine Anstellung auf der Marine beworben habe, aber abschlägig beschieden sei, weil man, obwohl man seine ungemeine Tüchtigkeit anerkenne, befürchte, er würde zu unabhängig handeln, eine Erfahrung, welche die kaiserliche Regierung nur zu oft bei Amerikanern gemacht habe. –

Endlich nach vierzehntägiger Abwesenheit erschien Morton wieder an Bord, aber sehr mißgelaunt, was er dadurch erklärte, daß er keine Rückfracht nach den Vereinigten Staaten finden könne, er sei deshalb entschlossen, bei der schon vorgerückten Jahreszeit nach Kopenhagen zu segeln, wo er Briefe von seinen Rhedern zu erwarten habe, auch hoffe er dort eine Ladung für St. Thomas einzunehmen. So lichteten wir denn Anfang October die Anker und lavirten mit Gegenwinden langsam durch die Ostsee dem Sunde zu. Auf dieser Fahrt wurde Morton zutraulicher gegen mich, auch war sein Betragen gegen die Mannschaft ungleich milder, nur selten fluchte er und noch seltener drohte er mit dem Tauende. Da der zweite Steuermann, der an einem unheilbaren Lungenübel litt und nach seinen grünen Bergen in Vermont jammerte, noch immer das Bett hüten mußte, war er lediglich auf meine Gesellschaft angewiesen und wurde nun auffallend mittheilender. [418] Ich erstaunte über die Fülle von Begebenheiten, deren Zeuge er gewesen war, auch konnte ich seine Sprachkenntnisse nicht genug bewundern. Er gab mir zu verstehen, daß er eine lange Zeit über mit den Vereinigten-Staaten-Marschällen nicht auf dem besten Fuße gestanden und es deshalb vorgezogen habe, eine Reihe von Jahren in den europäischen Gewässern sein Glück zu versuchen, wozu ihm die Kriege und Revolutionen reichlich Gelegenheit gegeben hätten. Erst bei dem Ausbruche des Bürgerkriegs drüben sei er nach den Neu-England-Staaten zurückgekehrt und habe dann, durch den Einfluß eines Senators, dessen Sohn er einst einen Dienst erwiesen habe, unterstützt, das Glück gehabt, das Commando des Black Hawk zu übernehmen. –

Endlich nach elftägiger Fahrt warfen wir Mitte October vor Kopenhagen dicht unter der Dreikronenbatterie Anker, und Morton, der mir mitgetheilt hatte, daß er dort von früher her sehr bekannt sei, ging sofort an’s Land, um alte Freunde aufzusuchen und Briefe von seinen Rhedern auf der Post abzuholen. Erst am nächsten Morgen kam er wieder an Bord, wie es schien, ziemlich verstimmt, und theilte mir mit, daß es schwer sein würde, Fracht für St. Thomas oder für Westindien zu bekommen, da die Verschiffer des Krieges halber der neutralen Flagge den Vorzug gäben; außerdem hätten ihm seine Rheder die Instruction hinterlassen, wo möglich wegen der südländischen Kaper keine Ladung für die Vereinigten Staaten anzunehmen; wenn es ihm nicht gelänge, in den baltischen Gewässern Fracht nach irgend einem andern europäischen Hafen zu bekommen, möge er nach Southampton segeln, dort würde er weitere Briefe und Vollmachten vorfinden. Er fügte hinzu, und dabei flog es wie ein schwarzer Schatten über seine wettergebräunte Stirne, er habe alte Bekannte am Lande getroffen, und vielleicht, wenn ich und die Mannschaft die rechte Sorte von Leuten am rechten Platze wären, könnten wir noch ein recht profitables Geschäft machen, wenn es auch nahe an der Hölle vorbeiginge.

„Denken Sie nicht, Charley,“ fuhr er vertraulich fort, „daß unser schwarzer Falke tüchtige Rippen hat, und daß sein Rückgrat (Kiel) stark ist, wie das einer Fregatte? Es mag sein, daß wir diesen Winter noch mit Eis zu thun haben, und so denke ich, es ist besser, wenn wir Leute von Nyholm kommen lassen, um unsern Vordersteven stärker zu machen.“

Diese und ähnliche Aeußerungen Morton’s fielen mir um so mehr auf, da ich die Verstärkung unseres Vorderstevens für eine vollkommen unnütze Ausgabe hielt, während doch sonst der Master bei seiner mir wohlbekannten Geldgier einer fast übermäßigen Sparsamkeit huldigte. Außerdem war unser Schiff so stark, wie es Holz und Eisen möglicher Weise machen können; werden ja doch die großen Neu-England-Klipper vom besten Material gebaut.

Gegen Abend kamen zwei Herren an Bord, die mich so ziemlich an unsere Broadway-Dandies erinnerten; sie begrüßten Morton sehr freundlich und nach einigen gewöhnlichen Redensarten folgten sie ihm in die Kajüte, wo er sich mit ihnen einschloß. Nach Verlauf von zwei Stunden verließen sie das Schiff, und Morton, den ich noch nie so höflich gesehen hatte, begleitete sie auf das Artigste nach der Fallreepstreppe, dann trat er freundlich zu mir hin und sagte, er hätte mit seinen Besuchern über eine sehr wichtige Angelegenheit gesprochen, die er mir vielleicht späterhin, wenn ich unverbrüchliches Stillschweigen geloben wolle, mittheilen werde.

Am nächsten Tage, da ich von Morton bereitwillig Urlaub erhalten hatte, schlenderte ich gemüthlich in den Straßen Kopenhagens herum, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu beschauen.

An diesem wie an den folgenden Tagen kam ich öfter mit dänischen Seeleuten zusammen, die, wie ich, gern beim Kruge Bier und der holländischen Pfeife ihr Garn spannen. Da die meisten von ihnen englisch und viele auch deutsch sprachen, konnte ich mich ganz gemüthlich mit ihnen unterhalten. Das Thema des Gespräches war in der Regel der anscheinend bevorstehende Krieg mit Deutschland, das sie im Grunde ihres Herzens haßten. Preußen, das im letzten Kriege seine eigenen Landsleute und Bundesgenossen verrathen habe, unterfange sich jetzt, kriegerische Drohungen auszustoßen, und zeige übermüthig auf seine neu entstehende Marine. Ja, wenn noch die Handelsherren von Hamburg und Bremen eine solche Sprache führten, dann müsse man noch Respect haben, das seien praktische Leute, die gewiß tüchtige Kriegsschiffe ausrüsten und tüchtige Seeofficiere anstellen würden, aber das windbeutelige Schreibervolk in Danzig verstehe vom Marinedienst so viel, wie der Esel vom Lautenschlagen. Die deutschen Seeleute seien gut genug, sagte mir ein alter Hafenbeamter, auch viele von den Officieren, allein der stupide Junkergeist, der von Berlin aus sich geltend mache, wirke wie ein Mehlthau auf die junge Pflanze der preußischen Marine. Die ganze Administration sei in den Händen von unwissenden Landratten, die sich freilich gut auf den Parademarsch verständen, aber keinen Schooner von einer Fregatte unterscheiden könnten. Da sei es doch bei ihnen ganz anders, da gelte ein alter vergilbter Stammbaum nichts, nur das Verdienst würde belohnt; die Marine sei an und für sich demokratisch, deshalb schätze man sie in Dänemark über Alles, während in Preußen das Junkerthum dieselbe aus ebendemselben Grunde verabscheue. – Es thut mir leid, daß ich diese und ähnliche Aeußerungen nur oberflächlich in meinem Tagebuche notirt habe, da sich das gesunde, klare seemännische Urtheil darin aussprach. Da ich selbst einmal an Bord eines Kriegsschiffs gedient hatte, so mußten mir Einrichtungen, wie sie mir bei der preußischen Marine als bestehend geschildert wurden, im höchsten Grade unzweckmäßig, ja sogar lächerlich vorkommen; jedenfalls sind die Anschauungen des Paradeplatzes auf dem Quarterdeck eines Orlogschiffes nicht am Platze; wenn man ihnen huldigt, wird man bald nur zu seinem eigenen Schaden erkennen, welchen Mißgriff man gemacht hat.

Morton, der jetzt außerordentlich zutraulich gegen mich wurde und mich häufig mit in die Stadt nahm, schien alle Hoffnung aufgegeben zu haben, Fracht zu bekommen, und da der zweite Mate immer hinfälliger wurde – kaum zeigte er sich bei Sonnenschein auf dem Deck – so trug er mir auf, noch mehr Ballast einzunehmen, um das Schiff schwerer zu machen. Der Black Hawk ohne Ladung ging in der That zu hoch aus dem Wasser, was bei stürmischem Wetter, und einem solchen sahen wir in der That auf der Nordsee und im Canal entgegen, nicht zweckmäßig ist, zumal wenn das Schiff, wie das unsere, hohe Klippertakelage hat. Liegt zu wenig Gewicht auf dem Kiel und man setzt bei sehr hohen Masten viel Segel auf, so wird das Schiff, wenn es einigermaßen stark weht, überstürzig und kann leicht vollständig umschlagen. Auch am Bugsprit ließ Morton neue Stützbalken anbringen, deren Construction er selbst nach eigener Idee leitete; ebenso wurde das cutwater[1] durch starke eichene Bohlen verplankt, alles Vorrichtungen, als wenn wir direct in den arktischen Ocean hinein steuern müßten. Als ich Morton fragte, zu welchem Zwecke er diese Veränderungen träfe, lächelte er auf zweideutige Weise und sagte: „Charley, Sie müssen nicht so neugierig sein; wenn die Zeit kommt, werden Sie mir dankbar sein, daß ich unseres Falken Schnabel schärfe, er wird es bald nöthig haben.“ – Da er auf meine weitern Fragen nicht antwortete, sonst aber Alles that, um meine gute Meinung zu gewinnen, so achtete ich nicht weiter darauf. Sind wir Seeleute doch durchgängig sorglose Menschen, welche das Kopfzerbrechen nicht sehr lieben, und ist nicht der Capitain absoluter Herr auf seinem Schiffe, der Keinem Rede und Antwort zu stehen hat? Auffallend war es mir jedoch, daß jene oben bezeichneten Herren öfter an Bord kamen, und daß Morton ihnen zu seiner und ihrer Zufriedenheit die Veränderungen zeigte, welche er am Bugsprit vorgenommen hatte. Seeleute waren diese Herren nicht, auch keine Schiffsbauer, das konnte man an ihren Händen sehen; ich traute ihnen instinctmäßig nichts Gutes zu, fast konnte ich mit Shakespeare sagen:

„Juckend sagt mein Daumen mir,
Etwas Böses naht sich hier.“

Eines Nachmittags, als ich auf dem Königsneumarkte die Reiterstatue des Königs Christian V. bewunderte, fühlte ich, daß Jemand leise meine Schulter berührte. Als ich mich umschaute, gewahrte ich meinen alten Hafenbeamten, der mich, indem er mir von seinem echten cavendish[2] anbot, freundlich anredete.

„Nun, Meßmate, wenn Ihr so ein vertracktes preußisches Kriegsschiff sehen wollt, so kommt mit mir hinüber nach der Insel Amager; die Corvette Amazone ist im Ansegeln begriffen. Uebrigens braucht Ihr nicht sehr zu eilen, denn sie ist langsam, wie eine Schnecke.“

Da ich weiter nichts zu thun hatte, nahm ich das Anerbieten an, und bald waren wir in Christianshaven, von wo wir in kurzer Zeit einen Punkt erreichten, von dem wir das sich nahende Schiff ziemlich gut beobachten konnten. In der That, wenn mir der Alte nicht gesagt hätte, daß die Amazone ein Kriegsschiff sei, [419] und wenn ich nicht die Stückpforten gesehen hätte, hätte ich kaum geglaubt, ein solches vor mir zu haben. Unverhältnißmäßig hohe Masten auf einem Rumpf, der mehr einem oblongen Waschtubben ähnlich sah, als dem einer schmucken Corvette, dazu schlottrige Wanten und das laufende Takelwerk so wenig straff angezogen, daß das seemännische Auge dadurch beleidigt wurde, alles das mußte einem alten See- und Seekriegsmann keine hohe Meinung von ihrer Seetüchtigkeit einflößen. Sie lavirte langsam bei mäßigem Gegenwind heran, und so oft sie umlegte, sah man, daß ihre Manöver nur langsam und mit schwachen Kräften ausgeführt wurden, was mir mein alter Freund dadurch erklärte, dieses sei ein Uebungsschiff und habe nur wenig alte Matrosen an Bord, der Dienst würde von halbwüchsigen Seecadetten gethan. „Daraus könnt Ihr sehen,“ fuhr er fort, „wie wenig man in Danzig von der Marine versteht, da man sich kein Gewissen daraus macht, einen solchen alten Kasten mit unerfahrener junger Mannschaft im Herbste den Stürmen des Kattegats und der Nordsee preiszugeben. Und doch bilden sich diese Pickelhauben ein, sie könnten es mit dem Dannebrog aufnehmen. Ihre Kriegsschiffe mögen gut genug sein, schmutzigen Spionen- und Höflingsdienst für Franz II. zu thun, aber Breitseiten werden sie nie austauschen können; die preußischen Junker denken wie die Juden: das Wasser hat keine Balken.“

Nachdem der alte Seemann auf diese Weise seinem Herzen Luft gemacht hatte, kehrten wir nach Christianshaven zurück, wo wir bei einem Glase Grog gemüthlich fortplauderten. Gegen Abend ging ich an Bord, wo ich Morton noch nicht vorfand; ich gab dem Bootsmann und dem Segelmacher noch einige Befehle und begab mich dann in mein Stateroom, theilweise um das Schiffsjournal in Ordnung zu bringen, theilweise um mein eigenes Tagebuch, das ich stets sorgsam führte, mit dem Erlebten zu bereichern.

Mitten im Schreiben wurde ich durch ein Geräusch unterbrochen und ich hörte, daß der Steward zwei Fremde in die Kajüte führte, wo sie den Master erwarten wollten. Ich schenkte diesem Umstande erst wenig Aufmerksamkeit, als ich plötzlich an ihren Stimmen erkannte, daß diese Herren die mysteriösen Besucher Morton’s waren. Da ich dicht in ihrer Nähe war, nur durch eine dünne Breterwand getrennt, so konnte ich jedes Wort verstehen. Sie sprachen absichtlich deutsch, weil sie vermutheten, von der Mannschaft verstände keiner diese Sprache; sie hatten weder eine Ahnung, daß ich in ihrer unmittelbaren Nähe sei, noch daß ich als geborener Pennsylvanier jedes Wort verstehen könnte. Als ich den Namen Amazone mit Morton in Verbindung gebracht hörte, wurde ich doppelt aufmerksam und suchte meinem Gedächtnisse, wenn nicht gerade alle Worte, doch den correcten Sinn derselben einzuprägen. Der Eine hatte einen unangenehm scharfen Dialekt, ich will ihn daher den Schnarrenden nennen; der Andere sprach süßlich und salbungsvoll, wie ein Baptistenprediger, ich will diesen daher als den Schmelzenden bezeichnen.

„Aber, mein Verehrtester,“ begann der Schnarrende, „wann haben Sie dann den Baron zuletzt gesehen?“

„Erst vorgestern in Fredensborg,“ antwortete der Schmelzende, „wo er mit der Gräfin *** eine lange Unterredung in Bezug auf unsere Angelegenheit hatte. Die hohe Dame hätte sich sehr beifällig geäußert, sagte er, und wenn wir unser Unternehmen durch Morton zu Stande brächten und für die strengste Discretion einständen, so könne uns der Dannebrogorden nicht fehlen. Der Baron setzte hinzu, weiter könne sich sein Hof nicht mit der Sache befassen, man habe die Werften von Nyholm zur Disposition gestellt, das sei genug. Herr Hall sei zu rechtschaffen; wenn er etwas davon erführe, würde er Morton in Eisen legen lassen.“

Der Schnarrende: „Herr Hall ist ein bürgerlicher Parvenü, er kennt keine nobeln Gefühle; er sollte wissen, daß die neue Schöpfung der Marine unserer Partei ein Dorn im Auge ist und daß wir in dem Ausbau derselben nur ein Manöver der Demokratie sehen, um das gute alte feudale Preußen in den Schwindel der Revolution hinein zu reißen; deshalb sollte ich meinen, daß dänische Staatsmänner jedes Ereigniß, das dazu beiträgt, unserm König und dem Prinzen die Schöpfung einer Seemacht zu verleiden, mit Freuden begrüßen, wenn sie auch die Connivenz ablehnen. Denn da das Interesse Dänemarks es nie erlauben kann, daß Preußen sich zu einer Seemacht entwickele, und da die Feudalpartei unseres Landes in einer solchen eine gefährliche Neuerung sieht, so ist ja beiden Parteien gedient, wenn man dieselbe im Keime erstickt.“

Der Schmelzende: „Darin haben Sie vollkommen Recht; wie schwer wird es schon, die bürgerlichen Elemente in der Armee zu majorisiren, und nun sollen wir diesem Volk einen so großen Einfluß im Staate einräumen! Ja, wenn sie alle so wären, wie der Capitain Kühn; der war hübsch demüthig und bescheiden und ehrte in Franz dem Zweiten unser Princip. Dieser Lieutenant Herrmann aber von der Amazone soll mit der liberalen Partei coquettiren; er hat sich sogar geweigert, in See zu gehen, weil das Schiff nicht mehr tüchtig sei und er die Verantwortlichkeit für das Leben der Seecadetten nicht auf sich nehmen wolle; erst gemessene Befehle von Berlin konnten ihn dazu bewegen.“

Der Schnarrende: „Was diese Menschen doch für einen Instinct haben!“

Der Schmelzende: „Wahrlich, Freundchen, wir treiben diesmal die gewagteste, aber die ehrenvollste Diplomatie, denn so im Stillen der guten Sache dienen, dem demokratischen Institut einen Genickfang geben, von dem es sich so leicht nicht wieder erholt, das ist eine diplomatische That ohne Gleichen, und einen hohen Orden für solche Verdienste erhalten, ist doch immer ehrenhafter, als für gewöhnliche Hofdienste. Nur Eines macht mir Sorgen, daß der Coup mißlingt und der König oder der Prinz Wind davon bekommt. Wenn Seine Majestät auch im Grunde des Marineetats überdrüssig sind, so würde man sich höchsten Ortes doch sehr erzürnen und unsere gut gemeinten Dienste für nichts weniger als loyal betrachten und darnach handeln.“

Der Schnarrende: „Befürchten Sie Nichts, mein Verehrtester. Morton ist uns gut von St. Petersburg aus empfohlen, er ist gewiß der Mann dazu, sein Wort zu halten. Außerdem ist er ja ganz in unserer Hand, da er die Hälfte der stipulirten Summe erst nach vollbrachter That erhält. Doch still; ich glaube, er kommt.“

Ich hörte in diesem Augenblicke Morton gewaltig fluchen, weil ihm die Deckwache keine Laterne an die Fallreepstreppe gestellt hatte; er schien etwas angetrunken zu sein und trat geräuschvoll in seine Kajüte, wo die Fremden seiner harrten. Ich blies schnell mein Licht aus, legte mich in das Bett und that, als wenn ich schliefe.

„Endlich!“ sagte einer der Herren in deutscher Sprache, „wir dachten schon, daß Mr. Morton sich anders besonnen hätte.“

„Ein ordentlicher Mann hält auf sein Wort,“ antwortete Morton; „doch bevor wir weiter reden, erlauben Sie einen Augenblick, daß ich sehe, ob wir sicher sind.“

Bald darauf öffnete sich die Thür meines Staterooms, und Morton leuchtete vorsichtig hinein, um zu sehen, ob ich fest schliefe. Ich that natürlich, als wenn ich selbst durch die Trompeten Jericho’s nicht geweckt werden könnte, und schnarchte wie ein Irländer, der seine volle Ladung Whisky genommen hatte. Beruhigt zog er sich zurück.

Das Gespräch in der Kajüte wurde nun leise fortgeführt, und ich verstand bald, daß von Geld die Rede war. Ich hörte das Knittern von Banknoten und Morton’s dumpfe Stimme: das sind 10 Hundertpfundnoten, all right, aber wie steht es mit dem Wechsel?“

„Hier ist er,“ flüsterte die Stimme des Schnarrenden; „wenn Sie die eingegangenen Verpflichtungen getreulich erfüllt haben werden, können Sie die andern 1000 Pfund sofort auf Sicht von unserm Banquier in London ziehen.“

„Der Handel ist abgeschlossen, basta, that will do!“ versetzte Morton, „nur Eines wünschte ich mir, daß wir nämlich recht stürmisches Wetter in der Nordsee finden möchten; denn wenn es recht ordentlich weht und es passirt Etwas, so wird man um so weniger Verdacht schöpfen, da dann auch schon bessere Schiffe in den Hafen einlaufen, von wo sie nie zurückkehren.“

„Die Lootsen von Helsingör sagen ja,“ meinte der Schmelzende, „daß es um diese Jahreszeit immer im Kattegat und in der Nordsee stürmt; übrigens, wann wollen Sie segeln?“

„Wir können schon morgen früh oder morgen Mittag in See stechen,“ entgegnete Morton, „da wir Alles geordnet haben. Die alte Schnecke werden wir bald genug einholen, jedenfalls wird sie bei Kronenburg Anker werfen, da wollen wir sie uns ein bischen näher beschauen. Bei Anbruch des Tages will ich Alles klar machen lassen, und mit der Strömung, die jetzt günstig ist, werden wir bald im Sund sein. Aber, meine Herren, nun ein Glas zum Abschied. Heda, Steward!“ schrie er laut, „Hund von einem Jungen, schläfst Du schon? Wart, ich will Dir Beine machen!“

Bald darauf hörte ich das Klirren von Gläsern, das Knallen [420] von Champagnerpfropfen, und Morton brachte übermüthige Toaste aus, die von den anderen Herren leise beantwortet wurden. Man trank auf guten Erfolg und trennte sich. Kurz nachher erschien der Master in meinem Stateroom, weckte mich, den anscheinend in tiefen Schlaf Versunkenen, und theilte mir mit, daß wir mit Tagesanbruch die Anker lichten würden, der Helsingörer Lootse würde noch in der Nacht an Bord kommen.




Wer kennt nicht die freundliche Stadt Helsingör am Sunde, der vielbelebten Weltstraße, und das durch Hamlet so berühmte alte Schloß Kronenburg, auf dessen äußerster hoher Platform am Flaggenmaste die Dannebrogsfahne weht, an der nach altem Brauch kein Schiff, ohne zu salutiren, vorübersegelt? Dort ankerten wir am 2. November im hellen Sonnenschein, außerhalb des kleinen Nothhafens, auf dessen Steindamme die blaugekleideten Sundlootsen mit ihren Fernrohren nach nahenden Schiffen auslugten. Eine halbe Seemeile von uns ankerte die preußische Corvette Amazone, welche eben im Begriff war, ein Boot auszusetzen. Wir thaten das Gleiche, und ich ging mit Morton an’s Land, wo wir von der Bevölkerung viele Klagen über die Aufhebung des Sundzolles hörten. – Die Schiffe langen hier in der Regel schaarenweise an, wie die Zugfische, was sich dadurch leicht erklären läßt, daß der Wind meistens entweder für die Fahrzeuge, welche aus der baltischen See, oder für die, welche aus dem Kattegat kommen, günstig sein muß. So kommt es denn, daß sich mitunter vor der Nord- oder Südpassage zum Sund Hunderte von Schiffen anhäufen, die dann die erste günstige Brise benutzen, um von einer See in die andere zu kommen. So geschah es auch, daß wir rings von Fahrzeugen umgeben waren, die, wie die Amazone und wir, südliche Winde erwarteten, um nach dem Kattegat zu steuern.

Am Lande angekommen verließ mich Morton, um verschiedene Erkundigungen einzuziehen; ich sah, wie er sich auf dem Hafendamm eifrig mit einem Sundlootsen unterhielt, der hin und wieder nach der Amazone hinzeigte. Ich selbst that einige Fragen über das preußische Kriegsschiff, deren Antwort mich bald belehrte, wie wenig beliebt die schwarz-weiße Flagge hier war.

Die kurze Zeit, welche mir an diesem Tage übrig blieb, benutzte ich noch dazu, Hamlet’s Grabmal zu besuchen, welches sich auf einer Wiese hinter einem kleinen Schlosse befindet. Der königliche Däne mit seiner Ahnung eines großen Verbrechens und seiner Unentschlossenheit schwebte mir vor, es lastete auf mir wie drückende Gewitterschwüle. Als ich, wie es alle Engländer und Amerikaner thun, welche nach Helsingör kommen, jene wunderliche Säule umfaßte und in der Idee schwelgte, daß hier die Manen des unglücklichen Prinzen trauerten, wurde ich plötzlich gewahr, daß sich eine kleine Gesellschaft junger Leute in Seemannstracht näherte. Ich zog mich zurück, um dieselben ungestört beobachten zu können, und sah bald, daß sie zur Mannschaft der preußischen Corvette gehörten. Einer von ihnen trug ein reich gebundenes Buch, aus dem er Stellen zu recitiren schien. Sie umringten die halbverfallene Säule, welche das Grab Hamlet’s schmückt, und horchten auf die Verse, welche der halbwüchsige Midshipman ihnen aus dem Munde des königlichen Dänen vortrug. Einer der Seecadetten, ein schmächtiger junger Mensch, verlangte die Kirchhofsscene, da dieses unstreitig auch der Platz sei, wo Hamlet und Horatio die Todtengräber Ophelia’s Grab hätten machen sehen. Kaum hatte der Lesende die betreffende Stelle aufgeschlagen und die Scene zu recitiren angefangen, als plötzlich zu meinem großen Erstaunen Morton, der unbemerkt hinzugetreten war, ihn unterbrach und ebenfalls Shakespeare citirend (auf Englisch) fortfuhr: „Hier steht das Wasser: gut; hier steht der Mensch: gut. Wenn der Mensch zu diesem Wasser geht und sich selbst ertränkt, so bleibt’s dabei, er mag wollen oder nicht, daß er hingeht. Merkt Euch das! Aber wenn das Wasser zu ihm kommt und ihn ertränkt, so ertränkt er sich nicht selbst. Daher, wer an seinem eignen Tode nicht schuld ist, verkürzt sein eigenes Leben nicht.“

Die durch diese Unterbrechung unangenehm berührten Seecadetten sahen Morton unwillig und erstaunt an, und einer schickte sich an, ihn zurecht zu weisen, als er von einem andern darauf aufmerksam gemacht wurde, daß man in Helsingör sei und sich dort nicht herausnehmen könne, was man etwa in Danzig oder Berlin einem Civilisten bieten dürfte. Morton lüftete höhnisch seinen Hut, nahm mich unter den Arm und schritt mit mir über die Wiese der Stadt zu. Unterwegs sagte er:

„Bemerkten Sie wohl, Charley, was für eine Sorte grüne Jungens diese Preußen sind? Werden im Leben keine Seeleute, so lange sie gedrillt werden, wie die Soldaten auf dem Paradeplatze. Einer von diesen jungen Hunden (puppy’s) wollte mich sogar anfahren, weil ich mir den Scherz erlaubte, sie in ihrer eingebildeten Empfindelei zu stören. Da sind unsere Jungens von Annapolis bessere Leute, sie verstehen einen praktischen Spaß; aber sie machen sich auch nichts daraus, in Sturm und Wetter die große Bramstenge ebenso unbesorgt zu umhalsen, als wie diese unreifen Knaben Hamlet’s verfallene Denksäule. Kommen Sie, Charley, lassen Sie uns erst auf dem Hafendamm ein wenig nach dem Wetter ausschauen und dann gemüthlich ein Glas Irisch Whiskypunsch auf glückliche Fahrt ausleeren. Schauen Sie sich Helsingör und das alte Schloß noch einmal recht ordentlich an, Sie möchten so leicht nicht wieder in diese Gegend kommen.“ –

Es war am Morgen des 3. November, als die den dicken Nebel verscheuchende Sonne die Rhede von Helsingör mit ihrem Glanze überstrahlte. Der Wind hatte sich des Nachts günstig gestaltet, und es wehte aus Südost gen Süd eine frische Brise. Die vielen Schiffe, welche auf günstiges Wetter gewartet hatten, um aus dem Sunde in das Kattegat zu kommen, benutzten diese Gelegenheit und spannten alle Segel auf. Morton, der schon bei Tagesanbruch auf dem Deck erschienen war, sah fleißig nach dem Wetterglase und meinte, die gute Witterung würde nicht lange anhalten. „Der Preuße dort,“ fuhr er fort, indem er auf die hohen Masten der Amazone zeigte, „muß es aber besser wissen, denn er macht wahrhaftig alle Anstalten, um in See zu stechen. Wenn der es mit seinem alten Waschtubben wagt, braucht sich unser Klipper nicht zu scheuen. Also alle Hände auf’s Deck! Mr. Whitman, lassen Sie die Anker lichten, schnell! was zögern Sie? steckt Ihnen Hamlet noch im Sinn? Setzen Sie nicht zu viel Segel auf, denn wir wollen in des Preußen Fahrwasser bleiben; Sie sehen ja, er ist langsam wie eine deutsche Postkutsche.“

(Schluß folgt.)




Schweizer Alpen-Bilder.

Nr. 4.   Die Pässe und Säumerpfade der Schweizeralpen.

Kennst Du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maulthier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Fluth.
 Goethe.

Was sind Säumerstraßen? Ursprünglich verdienten sie wohl diesen Namen nicht, und vor zwanzig Jahrhunderten mögen diese schlangenartig über die in die Wolken ragende Grenzscheide zwischen dem Norden und dem Süden sich hinwindenden Pulsadern des Verkehrs wohl nichts weiter gewesen sein, als die Fußspuren der Menschen und Saumthiere, die um des Gewinns willen den Schrecknissen der schaurigen Gebirgswildniß Trotz geboten und die Producte des Nordens nach dem sonnigen Süden, oder umgekehrt die duftenden Erzeugnisse der wärmeren Zone dem nebeligen Norden zugeführt hatten – kaum bemerkbare Indianerpfade, deren Schrecknisse aber immerhin größer waren, als diejenigen, welche der Tomahawk und das Scalpirmesser der Araucaner oder der Comantschen in der Urwaldswildniß bieten mögen. Da lauerte auf der einen Seite der gähnende Abgrund, ein zu lauter Ruf konnte auf der andern die schlafende Lauine wecken, daß sie mit Donnergebrüll niederstürzte vom schwindelnden Hange und in ihrem rasenden Anpralle Roß und Reiter mit sich durch die Luft wirbelte, als wären es bloße Spielzeuge von Thonerde, die ein übelgelauntes Kind zerschmetternd gegen die Wand wirft;

[421]

Ein Zug Saumthiere vom Schneesturm überfallen.
Originalzeichnung von H. Jenny.

oder es kamen langsam, in weiten wallenden grauen Talaren, die Nebelgeister herauf gewallt aus den unergründlich tiefen Schluchten des Gebirgs, umspannten den Verwegenen, der es gewagt, ihr Revier zu betreten, mit ihren trügerischen Schleiern, bis sein strauchelnder Fuß, vom geblendeten Auge nicht mehr geleitet, die schmale Grenze zwischen Tod und Leben nicht mehr zu unterscheiden vermochte, die schmale Kante längs des Felsens nicht findend, hinaustrat in’s Leere, und Roß und Reiter zerschellend auf’s unsichtbare Felsenbette hinunterstürzten. Zuweilen waren es die Schneekönigin und ihr treuer Genosse, der Wirbelwind, die den Wanderer mit ihrem eisigen Blumennetz umspannen, und den Beiden war nur schwer zu entkommen, denn ihre Schlingen legten sich so ermattend um die steifer und steifer werdenden Glieder, bis die vollständige Ermattung selbst die Sinne erfaßte und unüberwindliches Schlafbedürfniß dem Wehrlosen die Zügel des Saumthieres aus den Händen wand. Da hatte Schneekönigin weiter nichts mehr zu thun, als den bereit gehaltenen weißen Mantel über die Schläfer zu decken, und sie durfte sicher sein, daß kein Sterblicher Roß und Mann je wieder aufweckte.

Doch dieser primitive Zustand des Säumerpfades dauerte eben an den meisten Punkten nicht länger als bis zu dem Zeitpunkte, wo aus der Nacht der Zeit auch das anfangs freilich sehr spärliche Licht der helvetischen Geschichte auftaucht, und den welterobernden Römern war es vorbehalten, zuerst jene Pfade in „Pässe“ oder in eine Art von Straßen umzuwandeln. Zur Bezwingung der Cimbern und Teutonen überschritt der Consul Lucius Cassius den Mont-Cenis, und Marius benutzte nach seiner Niederlage denselben Weg für sich und seine römischen Legionen; die einsamen schneeigen Höhen des großen St. Bernhard sahen den welterschütternden Julius Cäsar mit seinen unbezwinglichen Cohorten vorüberziehen, [422] um die Salassier niederzuwerfen, und zu Kaiser Augustus Zeiten war jener Paß schon ein vielgebrauchter Weg geworden.

Wie billig erwiderten später die Völkerschaften des Nordens die römische Aufmerksamkeit mit der Artigkeit eines Gegenbesuches, warteten aber weislich, bis die übele Laune der durch Ueppigkeit und verschwenderischen Haushalt in Verfall gerathenen Römer nicht mehr so sehr zu fürchten war.

In friedlicher Absicht also sind wenigstens die Alpenpässe nicht gangbarer gemacht, und von den Römern an bis zu dem letzten Weltumpflüger Napoleon sind diese Pfade fleißiger mit Blut gedüngt worden, als irgend ein anderes Fleckchen Erde. Auf den einsamen Pfaden Graubündens würgte im dreißigjährigen Kriege der österreichische Feldherr Baldrion, bald von den Rhätiern geschlagen, bald als entmenschter, erbarmungsloser Sieger sengend und mordend in das arme Alpenland wieder einbrechend; auf des Gotthard’s kalten Höhen und an seinen südlichen und nördlichen Abhängen focht der Russe Suwarow seine blutigen und erfolglosen Schlachten gegen die fränkische Republik, und über den großen St. Bernhard zog der Götze des Jahrhunderts, Napoleon, zur Schlacht von Marengo. Das Beste, was aus diesen Würgereien hervorging, ist die prachtvolle Straße, die der nimmersatte Eroberer zum Zwecke dieses Alpenübergangs über den genannten Berg erbauen ließ, denn ihre Ausführung hat den Impuls gegeben zu den riesigen Anstrengungen, welche seither gemacht worden sind, die Alpenübergänge mittelst solcher Kunststraßen praktikabler zu machen. Graubünden, Uri und Tessin haben in den letzten Jahrzehnten fast Unglaubliches auf diesem Gebiete vollbracht. Namentlich besitzt der erstere Canton jetzt ein beinahe vollendetes Straßennetz, das über Höhen, die früher nur mit Lebensgefahr der Säumer mit seinen Rossen beschritt, den bequemen Verkehr mit Fuhrwerken ermöglicht und dem Handel den wichtigsten Vorschub leistet.

Aus dem Gesagten nun geht hervor, daß der Begriff Alpenpaß ein gar sehr relativer ist. Ist von den eben besprochenen Kunststraßen die Rede, so ist auf denselben eben nicht viel mehr Gefahr des Verunglückens vorhanden, als drunten im Thale in den Eisenbahnwaggons. Da herrscht im Sommer und Winter mit wenigen Unterbrechungen ein reges Leben. Haust der Winter ein paar Tage gar zu arg und wirbelt zu große Schneemassen zusammen, so sind die Rutner dafür da, die verschneite Passage wieder fahrbar zu machen.

Die schweizerischen Bergstraßen nehmen die Richtung gegen die großen Bewässerungsadern hin, die der ewigen Gletscherwelt entströmen. Der Gotthard sucht die Reuß und den Ticino, der Bernhardin den Hinterrhein, der Stilfserjochpaß die Adda etc. Je höher hinauf es geht, desto schwieriger wurde der Bau, und je stärker die Steigung, um so complicirter sind die Zickzacklinien, in denen der Weg über gewaltige Brücken, durchbrochene Felsenthore und längs der schroffen Felsenwände etagenartig, wie riesige, langgestreckte Befestigungsmauern über einander geschichtet, dem Kamm des Gebirges zuführt. Schroffer abfallend als die Nordseite des Gebirgs, bot dabei die Südseite viel mehr Schwierigkeit als jene. Besonders zahlreich und durch ihre Endlosigkeit langweilig sind diese Schlangenwindungen im steilen Tremolathale in Tessin. Der Wanderer mag sich gefaßt machen, durch 46 solcher Windungen hindurch lavirt zu werden, bevor er sich droben im Hospize mit einem Glas Veltliner die steifgewordenen Glieder aufthauen kann. Auch die Querthäler, die umgangen werden müssen, tragen zu der ungebührlichen Verlängerung dieser Kunststraßen mächtig bei. Häufig erblickt man Punkte der vor sich liegenden Straße anscheinend in nächster Nähe, und es dauert dennoch Stunden, bis man dieselben erreicht. In denjenigen Gegenden, wo der Winter und sein Vetter Boreas auch gar zu wild ihr Wesen treiben, stehen zum Schutze der Wanderer feste steinerne Zufluchtshäuser, an denen die rasenden Stürme des Gebirges umsonst ihre Kraft versuchen würden. Meist dienen dieselben auch den Rutnern (Bahnmachern) zur Wohnung, die da oben eine nicht gar zu kurzweilige Existenz haben mögen. Eingeschneite Reisende treffen in diesen Häuschen, selbst wenn sie unbewohnt sind, Holz, um Feuer anzumachen, und wohl auch ein Brod, um sich, wenn die Unbilden der Witterung zu längerem Aufenthalte nöthigen, vor dem Hunger schützen zu können.

Ein äußerst interessantes Schutzmittel gegen die Gefahren der Lauinenstürze im Winter und Frühling sind die sogenannten Gallerien. Bald sind es durch Felsen getriebene Gänge, wie auf dem Stilfserjoch, bei Gondo und Algabi, auf der Südseite des Simplon, oder auch künstlich ausgemauerte Wölbungen mit schießschartenartigen Luftöffnungen. Man trifft sie auf fast allen Alpenstraßen an Stellen, welche den wiederkehrenden Grundlauinen ausgesetzt sind. Ihre Construction ist so fest, daß sie selbst den furchtbarsten Lauinenstürzen zu widerstehen vermögen, obschon es ein ganz eigenthümliches Gefühl erregt, die winterlichen Ungethüme über sich wegdonnern zu hören. Zuweilen begegnet’s auch, daß der Schneesturz eine Fläche breit genug einnimmt, um die beiden Ausgänge der künstlichen Höhle zu verschütten. Das hat aber so viel nicht auf sich; man braucht deswegen noch keinen düstern Gedanken an’s Lebendigbegrabensein Raum zu geben, denn die Rutner sind in solchen Fällen gewöhnlich rasch bei der Hand, um den Verschütteten wieder Luft zu machen. – Die längste dieser Gallerien ist die auf der Splügenstraße; sie mißt 1530 Fuß und galt lange für ein Wunderwerk der Baukunst. Bei der Vorsicht, die auf diesen Alpenstraßen im Transport der Reisenden angewendet wird, kommen Unglücksfälle im Sommer kaum noch häufiger vor als in der Ebene. Höchstens kann der Postwagen hin und wieder einem großen Trupp Vieh begegnen, der von welschen Viehhändlern über die Alpen transportirt wird. Da hat dann der Postillon freilich seine liebe Noth, mit seinem Fuhrwerke durch das störrische gehörnte Volk hindurch zu kommen, das auf der engen Passage weder nach links noch rechts ausweichen kann und durch sein Scheuwerden die Schwierigkeiten der Situation noch vermehrt. Da tönen dann freilich Postillons- und Viehtreiberflüche in keineswegs harmonischem Gemische durcheinander, und das Kreischen der reisenden Damen ist auch kaum geeignet, das Concert zu einem angenehmen zu machen. Indessen man wickelt am Ende Rindvieh und Postpferde, Postillone und Viehtreiber, Engländer und Franzosen, Deutsche und Amerikaner, Herren und Damen glücklich auseinander, und der Postwagen rollt ungehemmt und ohne weiteres Unglück den sonnigen Geländen Italiens zu. Im Winter, nun, da sieht es freilich etwas krauser aus. Schon sehr früh rückt der mürrische Geselle im Herbste da wieder in sein beliebtestes Quartier ein, das er vor wenig Wochen nur nach langen und harten Kämpfen mit seinem gefährlichsten Gegner, dem heißen Föhnwinde, verließ. Die ersten Versuche, von den einsamen Revieren wieder nachhaltig Besitz zu ergreifen, werden bis zur Mitte des October zuweilen noch abgeschlagen. Später aber hat’s ein Ende mit den Räderfuhrwerken, Mensch und Waare müssen von da an auf Schlitten weiter befördert werden. Auf den französischen Pässen hat diese Transportweise nichts Absonderliches. Es werden da sechsplätzige, verschlossene Schlitten gebraucht, deren Fenster, statt aus gläsernen Scheiben, aus hölzernen Schiebern bestehen. Die löbliche schweizerische Eidgenossenschaft packt das Ding aber anders an; sie läßt auf den Walliser und Graubündner Pässen die Reisenden in ein- und zweiplätzigen Schlitten über das Gebirg „säumen“. Bis zur Region des Schnees fährt man noch im Postwagen; kommt aber der glatte Gleitweg, so ladet man Reisende und Gepäck ab, läßt den Wagen an der Seite der Straße stehen – es stiehlt ihn Niemand – und packt die Passagiere und ihr Gepäck in die ebenfalls unbewacht in umgestürztem Zustande am Straßenrand stehenden Schlitten, versteht sich, nachdem man dieselben zuerst aufgerichtet hat. Jeder Passagier erhält einen Büffelmantel, welchen kaum die Kugel einer Enfieldbüchse zu durchbohren vermöchte. Jeder Schlitten ist mit nur einem Pferde bespannt. Voran fährt der Postillon, den Schluß macht der Conducteur, die übrigen Schlitten werden ohne Leitung der Weisheit der Pferde überlassen. Hat es Nachts vorher zu arg geschneit, so wird zur Vorsicht noch ein mit Ochsen bespannter Bahnschlitten vorausgesandt, den die mit Schaufeln bewaffneten Rutner begleiten, um an den schwierigsten Stellen Bahn zu brechen. Der Reisende hat dann das winterlich und wunderlich genug aussehende Schauspiel, zwischen zehn bis zwölf Fuß hohen Schneebastionen durchzufahren oder gar durch lange Schneetunnels zu gleiten, die von den Rutnern an denjenigen Stellen durchgebrochen worden sind, wo stürzende Lauinen oder Windwehen den Schnee zu gewaltigen Massen aufgeschichtet haben.

Die größten Gefahren, welche sich bei diesen lebhaft an die Nordpolfahrten erinnernden Uebergängen darbieten, liegen einerseits in dem Ausgleiten der Schlitten, bei dem in jähen Krümmungen am schwindelnden Rande des Abgrunds hinführenden Wege. Da müssen denn die sehnigen, knochenstarken Gebirgsrosse ihre Kraft erproben, [423] und sie thun dies in einer mit so viel Klugheit gepaarten Weise, daß der erschrockene Wanderer nicht selten darin einen Grund zu mächtigem Erstaunen findet. Häufig ist es vorgekommen, daß solche Thiere, wenn der Schlitten auf glatter Bahn ausgeglitten war und bereits mit seiner gewaltigen Schwere schwebend über dem Abgrund hing, sich sofort ohne Befehl an die Seite der aufsteigenden Felsenwand an den Boden legten und ruhig abwarteten, bis die Führer zu ihrer Rettung herbeieilten. Einen zweiten gefahrdrohenden Moment bildet der Umstand, daß im Frühling der von den Lüften über die Gebirgskämme weggewirbelte Schnee sich auf den Straßen zu mächtigen Wällen aufbaut, welche weit über das solide Straßenbett hinaus den Abgrund überragen. Da kann es dann freilich begegnen, daß der ganze Train, statt auf der eigentlichen Straße, über diese von der Natur nicht eben sehr solid construirten Brücken ohne Joche und Bogen wegkutschirt. Im Winter halten übrigens diese hängenden Schneebastionen sehr fest, im Frühling aber, wo der Föhn ihre Grundlagen zu schmelzen anfängt, hängt es oft nur von einem ganz geringfügigen Umstand ab, daß nicht die ganze Karawane, Roß und Mann, einen gefährlichen Sprung in die Tiefe macht. Gerade dieser Umstand, verbunden mit den häufigen Lauinenstürzen, mag es gewesen sein, welcher dem Tremola-Thal (Zitterthal) seine Benennung und einer Strecke der Splügenstraße den noch weniger einladenden Namen Passo della morte (Todespaß) verschafft hat.

Hier und da kommt es auch vor, daß der im Winter nur für eine Schlittenbreite geöffnete laufgrabenartige Weg total wieder verschneit wird, die ganze Postkarawane buchstäblich stecken bleibt und von den Rutnern erst aus ihrem Verhängniß herausgegraben werden muß. Solch ein erzwungener Halt kann zuweilen Tage lang dauern. Meist gelingt es dabei aber wohl den Reisenden, das nahe Hospiz zu erreichen und, wie auf dem Bernhard, in Gesellschaft der gastfreien Mönche die Wiedereröffnung des Weges beim warmen Ofen abzuwarten.

Die Rutner haben begreiflicher Weise einen mehr als harten Dienst, und es gehört zu diesem Gewerbe eben jene eiserne Gebirgsnatur, die im ewigen Kampfe mit den Unbilden der Witterung sich endlich fast bis zur Unempfindlichkeit der heimischen Gebirgsblöcke abgehärtet hat. Diese Bahnbrecher werden theilweise von den Cantonsregierungen, bei bedeutendern Pässen, wie namentlich auf dem Gotthard, aber von der Eidgenossenschaft besoldet. Der letztere Paß ist ein sehr bedeutender Punkt im Budget der kleinen Republik, denn der jeweilige Ansatz für den Schneebruch beträgt alljährlich nicht weniger denn sechstausend Francs. Die Arbeit wird in der Weise verrichtet, daß zuerst mit einem Dutzend tüchtiger Zugochsen, die vor den Bahnschlitten gespannt und in die Schneewildniß hinausgetrieben werden, der erste Durchpaß erzwungen wird. Das giebt nun freilich eine ziemlich mangelhafte Passage, aber dem Schlitten auf dem Fuße folgen die Rutner und schaufeln den entstandenen Graben so weit aus, bis er als Fahrbahn dienen kann. Dieselbe dann den Winter über in brauchbarem Zustande zu erhalten, ist die fernere Aufgabe dieser Kraftmenschen. So gefährlich auch ihre Arbeit sein mag, so ist es dennoch selten, daß ihnen dabei ernstliches Unglück begegnet. Sie kennen das Gebirg so gut wie ihre eigene Rocktasche, wissen den Lauinenstürzen aus dem Wege zu gehen, und wer den Berg überschreiten will, wird stets wohl daran thun, ihre Rathschläge nicht leichtsinnig zu mißachten.

Aus lauter Gefahr, Beschwerlichkeit und Nasenfrieren besteht aber so eine Winterfahrt denn doch keineswegs. Der Humor kann auch noch da oben in den eisigen Revieren fortkommen, wenn er einigermaßen sorgfältig gepflegt wird. „’s geht leichter bergab, als bergauf,“ ist ein altes schweizerisches Sprüchwort, das sicherlich seine volle Berechtigung hat und den praktischen Sinn meiner Landsleute auch in der Sprüchwörterfabrikation beurkundet. Ist man oben auf der Paßhöhe angekommen, haben sich Menschen und Pferde mittelst einer tüchtigen Collation für die Weiterreise gestärkt, und hat sich der vernünftige Theil der Gesellschaft wieder sorglich in die Büffelhaut eingewickelt, so geht’s gar lustig mit hellem Gejauchze und fröhlichem Gelächter durch die eisige Luft dahin, dem mildern Süden entgegen. Zuweilen bietet ein vollständig mit gefrornem Schnee bedeckter, nicht allzuübermäßig steiler Abhang Gelegenheit, eine weitschichtige Krümmung der Straße abzuschneiden, und dann fliegt der Zug mit der Schnelligkeit geschmierten Blitzes in schnurgerader Richtung in die Tiefe, ohne den mindesten Schaden zu nehmen. Damit ein allfälliger Purzelbaum nicht allzugroßes Unheil anrichten könne, sind auch die Schlitten unbedeckt und selbstverständlich ohne Fenster, sodaß die Umgeworfenen, ohne sich den Kopf durch die Glasscheiben zu stoßen, ein paar Mal das Rad schlagen und doch schließlich wohlbehalten unten ankommen können.

Bis jetzt haben wir es aber nur noch mit den fahrbaren Alpenpässen, mit den eigentlichen Chausseen des Hochgebirgs zu thun gehabt, auf denen vielleicht auch noch einmal das in den Ebenen so schwer vermißte Posthorn und das romantische Schellengeklingel nicht mehr ertönen wird, während dafür der grelle Pfiff des Dampfungeheuers den einsam über den Gebirgskämmen schwebenden Adler aus seiner majestätischen Ruhe aufschreckt und das gesellige Murmelthier in seine Höhle zurückscheucht. Streitet man sich doch jetzt schon in den eidgenössischen Räthen über die Frage, ob Citronen und Pomeranzen von der Locomotive künftig über den Gotthard oder den Lukmanier geholt werden sollen, und nehmen sich die Eisenbahnbarone beider Lager darob fast bei den Köpfen. Die Romantik ist selbst achttausend Fuß über dem Meere nicht mehr sicher, und hätte sie nicht glücklicherweise Flügel, so würd’s ihr gehen, wie dem ausgerotteten Geschlechte der Steinböcke.

Etwas anders aber gestaltet sich die Sache jedoch auf den zahllosen, zwar ebenfalls vielfach benutzten Alpenpässen, wo an den Gebrauch der Fuhrwerke nicht zu denken ist, den eigentlichen Säumerpfaden auf den vielfach verschlungenen Rücken der Graubündner-, Tessiner-, Walliser- und Berneralpen. Da ist der Naturwüchsigkeit noch mehr denn genug. Zu kunstvoll sind diese Straßen keineswegs angelegt, der Mensch hat da der Natur nur sehr wenig in’s Handwerk gepfuscht und meint, er habe schon viel gethan, wenn er hie und da ein paar Granitfündlinge in einen Sumpf hineingerollt, über den hinweg sonst schlechterdings von Mensch und Vieh nicht zu kommen war. Gallerien und Zufluchtshäuser sind da verpönte Luxusgegenstände, und der Säumer mag sich mit den Schneestürmen abzufinden suchen, so gut er es eben vermag. Viel, wenn oben auf der Paßhöhe etwa ein hölzernes Häuschen erbaut ist, in dem man den Pferden bei gar zu häßlicher Zudringlichkeit des Schneesturmes etwas Futter reichen kann. Wie bleichende Schädel den Karawanenzng durch die Wüste bezeichnen, so liegen an diesen Säumerpfaden nicht selten die Gerippe umgekommener Saumrosse. Ueberall tragen die Saumrosse Maulkörbe; dem vordersten Thiere wird eine Glocke angehängt, damit, wenn der Zug von Nebel oder Schneegestöber überfallen wird, der Führer aus dem Schalle die Richtung erkennen kann, welche das von seinem feinen Instincte geleitete kluge Thier genommen. Auf diesen einsamen, meist langweilig zwischen höheren Gebirgskämmen hindurch laufenden aussichtslosen Säumerpfaden kommen Unglücksfälle weit häufiger vor, als auf den fahrbaren Alpenstraßen. So ging einmal im Puschlav ein Mann, der zur Winterszeit Veltlinerwein über die Bernina säumen wollte, elendiglich sammt allen seinen Saumthieren zu Grunde. Der Zug wurde bei schneidender Kälte von einem so argen Schneesturme überfallen, daß Mann und Rosse förmlich in den kalten Flocken begraben wurden. Wahrscheinlich erlag der Führer bald. Die Pferde aber, auf merkwürdige Weise von ihrem Instinct geleitet, wußten sich bis zu einer seitwärts von ihrem Wege liegenden Weide durchzuarbeiten, wo sie früher gesommert worden waren. Sie stießen die Thüre der Alphütte ein, aber nur die eine Hälfte der Thiere gelangte in’s Innere; denn die vordersten hatten beim Eindringen die ihnen zu beiden Seiten herabhängenden Weinfäßchen (Lageln) abgestreift und so den Eingang verrammelt. Die draußen gebliebenen erlagen wohl rasch den Unbilden der Witterung. Die in die Hütte gelangten aber hatten nur um so länger zu leiden. Bei der Auffindung ihrer Leichen erzeigte es sich, daß sie das Lederzeug ihres Saumgeschirres verzehrt halten.

(Schluß folgt.)



 

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Aus den Zeiten der schweren Noth.

Nr. 6. Ein braunschweigischer Bauer.

Eine halbe Stunde von Braunschweig, umgeben von fruchtbaren Feldern, üppigen Wiesen und wohlgepflegten Hopfengärten, liegt das freundliche Dorf Oelper. Für den Braunschweiger knüpft sich an diesen Ort ein besonderes patriotisches Interesse, und selten wohl wandelt ein Städter den als Spaziergang beliebten Weg dorthin, ohne erst durch das auf einer Anhöhe errichtete eiserne Monument an den 1. August 1809 als den Tag erinnert zu werden, an welchem Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig, ausgeschlossen von dem Frieden von Znaim, auf seinem berühmten Zuge von Böhmens Grenze bis zum Gestade der Nordsee, hier das sich seinem Weiterzuge entgegenstellende westphälische Armeecorps unter Reubel schlug. Schill’s Schicksal, der zwei Monate früher in den Straßen von Stralsund wie ein edles Wild zu Tode gehetzt war, schwebte am 1. August auch über Friedrich Wilhelm’s Heldenhaupte. Der Kampf war ein ungleicher, es war das Ringen einer kleinen, nur nothdürftig ausgerüsteten Schaar mit einem dreimal stärkeren Feinde, aber diese kleine Schaar war ausgezogen für Deutschlands Befreiung und stritt nun, durch Oesterreichs Friedensschluß mit Napoleon der Rache dieses übermüthigen Siegers preisgegeben, für Haupt und Leben, während jener nur „dem hohlen Winke des Herrschers“ folgte. Die Einwohner Oelpers waren an jenem Tage in nicht geringer Noth. Ihre Häuser, in deren Kellern Weib und Kind verborgen saßen, waren von Kugeln durchbohrt, ihre Gärten verwüstet, die noch nicht völlig beendete Ernte theilweise von Roß und Mann zertreten. Als aber nach grausiger Nacht die Sonne des zweiten August über dem Siegesfelde emporstieg, der Feind sich zurückgezogen hatte, der Held aber, für den sie gebangt, als freier deutscher Mann weiter gezogen war mitten durch geknechtetes Land, da war auch die Bekümmerniß um die gefährdete Habe dem Hochgefühle gewichen, ihren Herzog als Sieger über die Bedrücker gesehen zu haben. Es war wohl natürlich, daß Ereignisse wie dieses in jener Zeit tiefster Erniedrigung starke Hebel für die Erweckung des deutschen Nationalgefühls wurden; Schill’s ritterliches Ende, Palm’s Hinrichtung sind neben vielen andern, bis zu dem um des Vaterlandes Fall gebrochenen Herzen der Königin Louise hin, die mit Thränen in die Erde gestreute Saat, aus der später die goldene Aehre der Freiheit emporschoß.

In jener Zeit, wo Napoleon aus den bunt zusammengeworfenen Ländern Braunschweig, Hessen, Altmark u. s. w. seinem Bruder Jerôme das neue Königreich Westphalen gegründet hatte, und man von dem im Herzen Deutschlands etablirten französischen Hofe aus sich bemühete, das deutsche Volk nach französischem Muster zuzustutzen, war es in dem Dorfe Oelper besonders der Ackermann Oppermann, der voll Haß gegen den Usurpator deutsche Gesinnung und Gesittung zu erhalten und zu fördern suchte. Schon damals standen die Einwohner des durch Hopfen- und Tabaks-Cultur bekannten Dorfes in dem Rufe intelligenter, betriebsamer Leute; das rege Interesse, welches Herzog Karl Wilhelm Ferdinand an den in seinem gesegneten Ländchen neu auftauchenden Erwerbsquellen nahm, brachte sie wiederholt mit dem Herzoge sowie mit seinem Sohne und Nachfolger Friedrich Wilhelm in nähere Berührung. Noch kurz vor Beginn des Gefechtes bei Oelper war Letzterer mit freundlichem Gruße an den vor seinem Gehöfte stehenden Oppermann herangeritten und hatte ihn gebeten, einen alten Mann, Namens Hagen, der sich dem Corps des Herzogs bei Zittau angeschlossen, aber seiner Schwäche wegen zurückbleiben mußte, in sein Haus zu nehmen; – Oppermann that es mit Freuden, und Hagen, ein treuherziger, patriotisch gesinnter Mann, wurde bald eingeführt in den kleinen Kreis der Gleichgesinnten, für die Oppermann’s Haus der Sammelplatz ihrer geheimen Zusammenkünfte war. Wenn dann die Männer Abends im sorgfältig verrammelten Stübchen beisammen saßen, aus den sonst versteckt gehaltenen Pfeifen rauchend, an deren Köpfen das Bild Friedrich Wilhelm’s prangte, dann umstanden die älteren Söhne, Wacht haltend, das Haus, denn es waren schon die Tage gekommen, wo der ehrliche Mann sich des unverfänglichsten Wortes enthalten mußte, wollte er nicht Gefahr laufen, von den Spionen der sanctionirten westphälischen Polizei als „gefährlich“ bezeichnet, in das Castell nach Cassel zu wandern. Aller Vorsicht ohngeachtet war man doch von Seiten jener spionirenden Behörde auf Oppermann und seine Freunde aufmerksam geworden, man kannte ihn als deutschgesinnt, man fahndete auf ihn; es fehlte nur die Handhabe, um den im besten Rufe stehenden Mann anzufassen, – doch auch dafür sollte Rath werden.

Im Spätherbst 1811 brachte Hagen, der in der Zwischenzeit nach Wolfenbüttel übergesiedelt war, einen an ihn mit eingegangenen Brief vom Herzog Friedrich Wilhelm an Oppermann, worin dieser, sich auf die bisher ihm bewiesene Treue und Ergebenheit beziehend, ihm mittheilte, daß er zum Zweck eines nahe bevorstehenden Unternehmens gegen die westphälische Regierung eine große Menge Waffen in Hannöverisch-Münden habe aufkaufen lassen, die er von dort ab durch sichere Leute nach Wolfenbüttel schaffen lassen wolle; Hagen solle sich dort nach einem Manne umsehen, welcher dieselben bis zum bestimmten Tage in Verwahrung nehmen könne, Oppermann möge dagegen für zwei bedeckte vierspännige Ackerwagen sorgen, um darauf die Waffen von Münden abzuholen. Das Nähere solle ihm durch einen Bevollmächtigten, den er binnen Kurzem nach Oelper senden würde, und dem er sich ohne Rückhalt anvertrauen könne, mitgetheilt werden. – Mit Thränen in den Augen drückte der wackere Mann das theuere Schreiben an seine Lippen und sagte rasch entschlossen zu Hagen: „Ich bin zu Allem bereit, sorgt Ihr für den, der die Waffen verwahrt, ich liefere sie dorthin – Gott wird helfen.“ – Kurze Zeit darauf wurde Abends an Oppermann’s Thür gepocht; eine Magd, die geöffnet hatte, brachte ihrem Herrn, der eben mit den Seinen beim Abendessen saß, die Nachricht, daß zwei fremde Herren draußen seien, die ihn zu sprechen wünschten. Dieser, schon daran gewöhnt, Besuche zu empfangen, die von seinen Hausgenossen unerkannt kamen und gingen, ergriff die auf dem Tische stehende Lampe und trat auf die Hausflur hinaus. Hier begrüßte ihn Hagen mit einem Händedruck und wies schweigend auf seinen in der Dunkelheit stehen gebliebenen Begleiter. Mit einem Wink nach diesem führte Oppermann Beide in ein kleines Stübchen des zweiten Stocks, dessen Thür er, nachdem sie eingetreten, sorgfältig verschloß. Der Fremde, den Hagen nun als den in des Herzogs Briefe angekündigten Bevollmächtigten vorstellte, war ein stattlicher Mann in den mittleren Jahren, dessen Manier, trotz der bürgerlichen Kleidung, den ehemaligen Militair verrieth. –

„Ich bin erfreut,“ sagte er mit vertraulichem Tone an Oppermann herantretend, „einen Mann persönlich kennen zu lernen, der durch gleiche Gesinnung meinem Herzen lange schon nahe stand, und der das Vertrauen unseres verehrten fürstlichen Herrn in einem so hohen Grade besitzt. Ich komme, um mit Ihnen die Ausführung eines Dienstes näher zu verabreden, der für des Herzogs Unternehmen augenblicklich von Wichtigkeit ist. – Dieses Unternehmen, an welchem eine große Zahl deutscher Männer sich unter des Herzogs Leitung betheiligen, wird unser Vaterland von dem Joche befreien, unter das es schmachvoll gerathen ist. Hier meine vom Herzog ausgestellte Vollmacht.“ Dabei übergab er Oppermann ein Schriftstück, worin Friedrich Wilhelm alle Diejenigen, welche bei dem Waffentransporte nöthig sein würden, aufforderte, sich dem Inhaber unbedingt anzuvertrauen.

Nachdem Oppermann dem Bevollmächtigten hierauf versichert hatte, daß der Herzog auf ihn rechnen könne und daß er die Wagen stellen werde, richtete dieser die Bitte an ihn, bis zu dem noch näher zu bestimmenden Tage auch 900 Thaler bereit zu halten, die dem Herzoge, der augenblicklich über eine solche Summe nicht verfügen könne, zur Bestreitung der nächsten Kosten bei Auslieferung der Waffen nöthig wären. Auf Oppermann’s Bedenken, daß er selbst nicht im Besitze so vielen baaren Geldes sei, verwies ihn der Fremde an gleichgesinnte Freunde und machte ihn dabei besonders auf den Ackermann und derzeitigen Municipalrath Meier aufmerksam, der ein reicher Mann und guter Patriot sei. Oppermann versprach nun auch die Beschaffung des Geldes, und nachdem der Bevollmächtigte Hagen den Auftrag ertheilt, einen gleichfalls zuverlässigen Mann in Wolfenbüttel auszukundschaften, der die Waffen in Verwahrung nehmen wolle, beiden Männern aber die äußerste Vorsicht und Geheimhaltung anempfohlen hatte, trennten sie sich spät in der Nacht.

Gegen Ende des Monats December waren alle Anstalten zu dem Unternehmen beendet. Hagen hatte einen vor Wolfenbüttel [425] wohnenden Mann, Namens Möbes, gefunden, der sich zur Aufnahme der Waffen bereit erklärt hatte; die geforderten 900 Thaler waren von Oppermann theils aus eigenen Mitteln beschafft, theils von Meier vorgeschossen; einen der nöthigen Ackerwagen stellte der Erstere, und sein ältester Sohn, der aus dem westphälischen Militärdienste desertirt war, sollte denselben fahren; den zweiten lieferte der Ackermann Sonnenberg, zu dessen Leitung ein Freund des jüngeren Oppermann, Bode, bestimmt war.

Am 29. December versammelten sich die Eingeweihten Abends 11 Uhr zum letzten Male in Oppermann’s Hause, wo sich auch der Bevollmächtigte einfand. Dieser verabredete nun, daß die Wagen am folgenden Morgen in Immendorf, einer Poststation an der nach Münden führenden Heerstraße, eintreffen sollten, neben den obengenannten Fuhrleuten sollten Hagen und ein gewisser Altag die Expedition begleiten, er selbst, ausgerüstet mit einem dahin lautenden Passe, werde unterwegs als Weinhändler und Besitzer der zu ladenden Waaren auftreten. Allen empfahl er dann, ihre Hoffnung auf Gott zu setzen und frischen Muth zu behalten, Oppermann dankte er beim Abschiede noch besonders für alle bis dahin bewiesene Treue und Hingebung. „In den ersten Tagen des neuen Jahres,“ sagte er bedeutungsvoll, „sollt Ihr von mir hören; die Tage der Tyrannenherrschaft sind gezählt; was Schill und Dörnberg nicht gelang, das ist Braunschweigs Friedrich Wilhelm vorbehalten, Deutschland wird ihm seine Befreiung verdanken und dann auch derer nicht vergessen, die wie Ihr treulich geholfen haben.“ –

Am 30. December früh 5 Uhr verließen die beiden Ackerwagen Oppermann’s Gehöft. Es war ein kalter stiller Wintermorgen, Oppermann hatte den Sohn bis an das Hofthor begleitet und ihn dort mit einem warmen Druck der Hand entlassen; in Nachdenken versinkend blickte er dem durch die öde Dorfgasse rasselnd davon fahrenden Fuhrwerk nach, immer entfernter vernahm er den Hufschlag der Pferde und das Rollen der Räder; als es endlich ganz still wurde, falteten sich fast unbewußt seine Hände, mit einer Thräne im Auge blickte er empor zum Himmel, an dem noch die Sterne schimmerten, als wolle er das eben begonnene Werk dem empfehlen, der über dem Sternenzelte wohnt, dann schritt er langsam seinem Hause zu, um an das gewohnte Tagewerk zu gehen. Zur bestimmten Stunde langten die beiden jungen Männer mit ihren Gespannen in Immendorf an; als sie eben beim Frühstücke saßen, traf auch der Bevollmächtigte mit Hagen und Altag ein, und man trat nun gemeinschaftlich die Weiterreise an. Alle waren heiter und voll Zuversicht, in den Gasthäusern, in denen man einkehrte, spielte der Weinhändler seine Rolle prächtig, mehrere Male stießen sie auf Patrouillen westphälischer Gensd’armen, ein Blick aber in den von ihrem Führer vorgezeigten Paß schnitt alle weitere Nachfragen seitens dieser Plagegeister ab. In der Abenddämmerung des 1. Januar 1812, des für Napoleon so verhängnißvollen neuen Jahres, langte die Expedition in Münden an, wo im Gasthause „zum braunen Hirsch“ ausgespannt wurde. Nachdem der junge Oppermann und Bode die Pferde besorgt hatten, kam der als Bedienter fungirende alte Hagen zu ihnen und machte die Anzeige, daß der Herr gemeinschaftlich mit ihnen zu Abend zu speisen wünsche. Alle begaben sich nun auf das Zimmer des Bevollmächtigten im ersten Stock, wo bereits ein Tisch servirt war. Man setzte sich; das behaglich erwärmte Zimmer, das nach einer an dem Tage zurückgelegten zwölfstündigen Fahrt vortrefflich mundende Abendessen, der reichlich ausgesetzte Wein rief bald eine sich Allen mittheilende Fröhlichkeit hervor, in welcher der Herr den Uebrigen voranging; er sprach seine Freude darüber aus, daß bis dahin Alles so gut gegangen, erschöpfte sich in Spottreden über die gefürchtete westphälische Polizei, deren gerühmte Wachsamkeit so einfache Leute wie sie ein Schnippchen schlügen, und rieth, sich nach den Strapazen der letzten Tage nun gütlich zu thun. – Gegen das Ende der Mahlzeit forderte er auf, nochmals die Gläser zu füllen, da er einen Toast ausbringen wolle. In der fröhlichsten Stimmung erhob sich die Gesellschaft von ihren Sitzen und stimmte mit jubelndem „Hoch“ in den von dem Führer gesprochenen Trinkspruch: „Es lebe der Alte!“ – Die Gläser erklangen, im Einverständniß drückten sich die Gefährten die Hände – da plötzlich hörte man schwere Tritte und Säbelgeklirr auf dem Vorsaale, die Thür flog auf, ein Detachement Gensd’armen trat mit gezogenen Säbeln ein, und der demselben voranschreitende Wachtmeister rief: „Im Namen des Königs, Ihr seid meine Gefangenen!“

Starr vor Schrecken, auf den eben noch Freude strahlenden Gesichtern die Blässe des Todes, standen die Vier da; ihre Blicke suchten den, der sie auf dem Wege hierher durch das bloße Vorzeigen seines Passes von allen Belästigungen der Polizei befreit hatte, aber wie hatte sich in den wenigen Augenblicken seine Miene verwandelt! um seine Lippen zuckte ein teuflisches Lächeln, mit dem triumphirenden Blicke eines Künstlers, der sich eines gelungenen Werkes freuet, überflog er noch einmal die Gruppe, dann wandte er sich rasch der Thür zu und schritt mitten durch die ihm Platz machenden Gensd’armen aus dem Zimmer. Da fiel es den Zurückbleibenden wie Schuppen von den Augen; – „Verrathen!“ klang es durch ihre Seele, abermals hatte raffinirte Schurkerei einen Sieg über vertrauende Ehrlichkeit davon getragen; der angebliche Bevollmächtigte des Herzogs Friedrich Wilhelm – sein Name ist unbekannt geblieben, nur daß es ein Deutscher gewesen, steht fest – war ein Spion der berüchtigten westphälischen geheimen Polizei, der, als er seine Opfer sicheren Händen übergeben hatte, mit dem Bewußtsein einer Heldenthat im Herzen und dem erschwindelten Gelde in der Tasche vom Schauplatze abtreten konnte. Widerstand war unmöglich; an Händen und Füßen geschlossen, führte man die Gefangenen in ein sicheres Gemach des unteren Geschosses, wo sie unter strenger Bewachung eine furchtbare Nacht durchwachten; – als der Morgen des zweiten Januar grauete, waren sie, von den Gensd’armen umringt, auf dem Wege nach Cassel.

Die von dem Bevollmächtigten dem alten Oppermann beim Abschiede gegebene Versicherung, daß er in den ersten Tagen des neuen Jahres von ihm hören solle, erfüllte sich mit Schrecken. Ueber Nacht erschienen die gefürchteten Gensd’armen auch in Oelper und verhafteten dort Oppermann, den Kothsassen Julius Sonnenberg, welcher den zweiten Wagen gestellt, Meier, der das Geld vorgeliehen hatte, sowie noch mehrere durch Mitwissen an dem Unternehmen betheiligt Gewesene; Gleiches widerfuhr auch dem Gärtner Möbes vor Wolfenbüttel, der sich zur Aufnahme der Waffen bereit erklärt hatte. Oppermann zeigte sich vom ersten Augenblicke an gefaßt; einmal in der Gewalt der Tyrannei, täuschte er sich über sein bevorstehendes Schicksal keinen Augenblick; auch dachte er zu edel, um die bei ihm aus dem reinsten, opferfreudigsten Patriotismus hervorgegangene That gegen die in Abrede zu stellen, deren Servilismus gegenüber er sich ohngeachtet seiner Fesseln ein freier Mann fühlte; nur die durch seine Vermittlung mit in das Verderben Gezogenen beklagte er und suchte die Anklage möglichst von ihnen abzulenken.

Streng von einander geschieden waren die Gefangenen im Castell zu Cassel untergebracht. – Der nach einem mißglückten Fluchtversuche in verschärfte Haft zurückgebrachte jüngere Oppermann sah zufällig von dem eisenvergitterten Fenster seines Kerkers ab die Ankunft seines Vaters und dessen Genossen, doch ward dem Sohne nicht erlaubt, sich ihm auch nur einen Augenblick zu nähern. Die mit den Gefangenen angestellten einzelnen Verhöre schleppten sich durch volle zwei Monate, der Bevollmächtigte kam dabei nicht wieder zum Vorschein. Am 7. März führte man die Angeklagten zusammen vor eine aus zwei französischen und fünf deutschen Officieren zusammengesetzte Militärcommission, um ihnen ihr Urtheil zu verkündigen, es lautete für Alle: „Tod durch Pulver und Blei,“ – „wobei indeß die Commission einstimmig beschlossen habe, theils wegen Alter, theils wegen Jugend und geschehener Verführung, den Andreas Meier, Julius Sonnenberg, Oppermann Sohn, Möbes, Altag und Bode der Gnade Sr. Majestät des Königs zu empfehlen, bei Oppermann dem Vater aber, sowie bei dem ehemaligen Soldaten Hagen sei das ausgesprochene Todesurtheil fest zu halten.“ Kurz vor Mitternacht schon kam die Entscheidung; – den zur Verkündigung derselben unter starker militärischer Bewachung im Hofe des Castells Versammelten wurde bei Fackelschein eröffnet, daß „Se. Majestät das bezüglich der genannten sechs Gefangenen eingereichte Gnadengesuch bestätigt und die Todesstrafe in lebenslange Eisenstrafe verwandelt habe, an dem älteren Oppermann dagegen und Hagen sei das ausgesprochene Todesurtheil mit Tagesanbruch zu vollstrecken.“

Als man nach diesem Acte die Verurtheilten in ihre Gefängnisse zurückführen wollte, wandte sich der jüngere Oppermann mit der Bitte an den wachthabenden Officier, noch die letzten Stunden mit seinem Vater verleben zu dürfen; aber mit dürren Worten verwies ihn der Angeredete auf die vorgeschriebene Ordnung, nach der solches nicht gestattet sei. – Auf einen Wink des Officiers [426] wurde der Vater, der bis dahin zögernd in der Ferne gestanden hatte, abgeführt; der Sohn wurde, als er dieses gewahrte, dringender, unter Thränen beschwor er den Officier, ihn nur einige Minuten mit dem Vater einschließen zu lassen, ein kurzes Commandowort war die darauf folgende Erwiderung; als die Gensd’armen eben Hand anlegten, den laut Jammernden gewaltsam fortzuschaffen, kam der Commandant des Castells und fragte nach der Ursache dieses Auftritts; der junge Mann wandte sich rasch um und wiederholte die zweimal abgeschlagene Bitte; von Mitleid ergriffen, befahl ihm der Commandant zu folgen und schritt selber voran nach der Zelle, in welcher der Verurtheilte die letzten Stunden seines Lebens zubrachte. – Als sie in das weite und hohe Gemach eintraten, saß Oppermann vor einem Tischchen, auf dem eine die Gegenstände umher nur dürftig beleuchtende Lampe brannte; er schien gebetet zu haben, die gefalteten Hände waren auf die Kniee, das Haupt auf die Brust herabgesunken, er hatte die Augen geschlossen und schien das Oeffnen der schwer sich in den Angeln bewegenden Thür kaum zu bemerken, erst als ihn der Sohn laut weinend umschlang, richtete er sich empor. – „Mein Sohn, mein lieber Sohn!“ – war Alles, was er sagen konnte. – „Oppermann,“ redete ihn der Commandant nach einer Pause in weichem Tone an, „ich habe Eurem Sohne erlaubt, die Nacht über bei Euch zu bleiben. – Habt Ihr sonst noch irgend einen Wunsch, so sagt es mir. Für den Fall, daß Ihr das heilige Abendmahl zu genießen wünscht, ist ein Prediger bereit, es Euch zu reichen.“ – Der Angeredete dankte gerührt für die ihm durch die Vereinigung mit dem Sohne erwiesene Güte und bat, den Geistlichen zu schicken, da er sich zum Tode vorzubereiten wünsche. Der Commandant verließ das Gemach, in welchem bald darauf der Prediger erschien; der einfache schmucklose Tisch wurde zum Altar, nach einer kurzen Beichthandlung empfingen Vater und Sohn knieend das Abendmahl; der von seinem Mitleid für die schlichten frommen Landleute überwältigte Diener Gottes konnte seiner inneren Bewegung dabei so wenig Herr werden, daß er nach kaum beendeter heiliger Handlung eilends das Gemach verließ.

Vater und Sohn verbrachten den Rest der Nacht in ernstem Gespräch; kein Schlaf kam in ihre Augen. Als der Morgen zu dämmern begann, trat Oppermann an’s Fenster; sein Blick suchte über die die Aussicht versperrenden Dächer des Castells hinweg die Himmelsgegend, unter der das heimathliche Dorf lag, aus dessen Frieden er gerissen und in dem nach wenig Stunden eine Wittwe um ihn weinen sollte. – „Mein Sohn,“ sprach er mit feierlichem Tone, „es beginnt zu tagen, die Zeit, welche ich noch zu leben habe, ist nach Minuten zu zählen. Ich sterbe frohen Muthes, denn ich sterbe für eine gute Sache, für die noch viele wackere deutsche Männer ihr Leben einsetzen werden. Ich gehe aber dem Tode mit der Zuversicht entgegen, daß der Tag der Freiheit für unser armes Vaterland ebenso gewiß anbrechen wird, wie nach der eben weichenden Nacht jener helle Streif am Himmel den Tag verkündet, der mir den Tod bringt. Jener ersehnte Tag wird auch Deine Ketten lösen; geschieht das, dann nimm Dich vor Allem Deiner Mutter an; wie weit sich die Rache der Gewalthaber auch auf unser Eigenthum erstreckt, kann ich nicht ermessen; Gott wird darin sorgen. Führt Dich das Geschick einst auch mit dem Herzoge zusammen, so sage ihm, daß ich freudig und mit einem Segenswunsche für ihn auf den Lippen gestorben sei.“

Oppermann hatte kaum geendet, da verkündete schon ein aus dem Hofe des Gefängnisses dumpf herauftönender Trommelwirbel das Antreten des Commando’s, welches die Verurtheilten zum Tode führen sollte. Nach einer Pause, während der sich Beide still weinend umarmt gehalten hatten, erschien ein Officier, gefolgt von mehreren Gefangenwärtern, und meldete, daß es Zeit zum Aufbruch sei. Oppermann machte sich sanft von dem Sohne los, reichte ihm resignirt mit dem einfachen: „Lebe wohl, mein Sohn“ – nochmals die Hand und schritt dann mit emporgehobenem Haupte dem Officier aus seinem Kerker voran.

Nachdem sich die Thür hinter den Abgehenden geschlossen hatte, sank der zurückbleibende Sohn vom Schmerze überwältigt auf den Stuhl; – ohne Bewegung saß er lange da; im Hofe drunten, in den Gängen des weitläufigen Gebäudes war es ungewöhnlich still geworden, – plötzlich jagte ihn eine aus der Entfernung dumpf herüberschallende Gewehrsalve, davon leise die Scheiben des vergitterten Fensters klirrten, aus seinem dumpfen Hinbrüten auf, – dann wurde es wieder still um ihn her, – es war vollbracht, wieder waren „auf der Forst“ bei Cassel der Freiheit zwei Opfer gefallen.


Nachdem die am 7. März 1812 zur Eisenstrafe „begnadigten“ Genossen Oppermann’s und Hagen’s fast zwei Jahre lang, an Händen und Füßen geschlossen, die Straßen der königlichen Residenz Cassel durchwandert hatten, öffnete der von den Alliirten am 18. October 1813 auf Leipzigs Feldern errungene Sieg über Napoleon auch ihre Kerker und erlaubte ihnen die Rückkehr in die Heimath. – Als Herzog Friedrich Wilhelm, fast der einzige deutsche Fürst, der keinen Augenblick vor dem Usurpator das Haupt beugte, am 13. December in das Land seiner Väter zurückkehrte, da stand auch, mit ihrem Pfarrer an der Spitze, die Dorfschaft Oelper zu seinem Empfange vor dem Thore Braunschweigs. Umbraust von nicht enden wollendem Jubel erblickte der Herzog auch das Häuflein Bauern, und eine Thräne erglänzte in seinen Augen, warm drückte er den ihm zunächst Stehenden die Hände und empfing dann ein von dem Pastor verfaßtes Gedicht, eins der schönsten in dem reichen Liederkranze, der sein kurzes thatenreiches Leben verherrlicht hat, und in welchem auch derer, die in jenen Tagen der schweren Noth wegen ihrer Liebe zum Vaterlande in schweres Leid geriethen, mit den Worten gedacht ist:

„Wir waren Dein im grausen Sturm der Zeit,
Als fern von uns in engen Todesbanden
Die, die Dich liebten, kein Erbarmen fanden,
Als Greis und Weib und Kind in bangem Gram
Vergebens weinten, – ach, kein Retter kam!
Wir harrten Dein und trugen still das Leid,
Wir waren Dein im grausen Sturm der Zeit!“

Ein halbes Jahrhundert ist über all diesem Leid und all dieser Freude dahingerauscht. – Am 1. August 1859, dem Jubeltage des Gefechtes bei Oelper, standen in dem den Sohn Friedrich Wilhelm’s umgebenden Kreise der Feiernden abermals die Einwohner des Dorfes; – aber es war ein neues Geschlecht; von denen, die einst treu zu dem Vater gestanden hatten, lebte, so viel uns bekannt, nur noch Einer, der jüngere Oppermann, die Uebrigen schlummerten bereits unter dem grünen Rasen jenes stillen Kirchhofes, dessen schwarze Kreuze von der Anhöhe ernst auf das an jenem Tage zum Festplatze umgewandelte Schlachtfeld herabblickten. Dem braven Manne, der fern „auf der Forst“ bei Cassel im vergessenen Grab ruhet, mögen diese Zeilen der Erinnerung geweiht sein.

C. St.


Der Mustang.
Von Balduin Möllhausen.

Als Ferdinand Cortez die ersten Pferde in Mexico einführte, ahnte er gewiß nicht, daß er den Grund zu einer namhaften Bereicherung des amerikanischen Thierlebens legte, einer Bereicherung, groß genug, um später Zweifel aufsteigen zu lassen, ob das Pferd nicht mit zu den auf dem neuen Continent einheimischen Thieren gehöre. Und doch ist der Mustang oder das verwilderte Pferd, welches die Steppen zwischen dem Mississippi und den Rocky-Mountains, vorzugsweise in den südlicheren Breiten, ferner die Wüsten in den mexicanischen und neumexicanischen Provinzen in Heerden zu vielen Tausenden durchschwärmt, nur ein in jenen Regionen einheimisch gewordener Fremdling.

Auch die einst so mächtigen Stämme der Azteken, Tolteken und Chichimeken, als sie beim Anblick der nach ihrer Meinung unverwundbaren, mit den eisenbekleideten Reitern verwachsenen Ungeheuer entsetzt zurückbebten, dachten wohl wenig daran, daß gerade diese Ungeheuer den letzten Resten ihrer Nachkommen und andern ihre Stelle einnehmenden Völkerschaften zu einer Quelle des Unterhaltes und, bis zu einem gewissen Grade, auch des [427] Reichthums werden würden. Ja, eine Quelle des Unterhalts und des Reichthums, denn der gezähmte Mustang wird nicht nur von den nomadisirenden Nationen zum Lasttragen verwendet und giebt den wilden Jägern der Steppe die Mittel an die Hand, den Büffel zu jeder Zeit und mit leichterer Mühe zu erlegen, sondern er dient auch zur Speise, wenn Schnee und Eis oder der gewaltige Prairiebrand das Wild weit, weit abwärts gescheucht haben.

Dem golddurstigen Emigranten, der Californien, jenes Eldorado des Westens, aufsucht, dem einsamen Jäger, der planlos die unabsehbaren Grasfluren durchstreift, und Expeditionen, die, mit ernsten Aufgaben beschäftigt, einem fernen Ziele entgegen streben, flößen die Mustangs oft Schrecken ein. Nicht als ob das verwilderte Pferd, welches den Anblick des Menschen scheut, diesem unmittelbar verderblich werde, nein, gewiß nicht; aber wenn nach mühevollem Marsch die weißen Zelte einladend in der grünen Ebene schimmern, der erschöpfte Wanderer seine Glieder auf dem weichen Rasen ruhesuchend behaglich streckt und dehnt, dann schweifen seine Blicke oft mit Besorgniß in die Ferne, und Furcht ergreift ihn, wenn er am Horizont die wogende, unbestimmte Bewegung einer Heerde dieser wilden Renner entdeckt. Aufmerksam beobachtet er die von derselben eingeschlagene Richtung, prüft sorgfältig die Leinen der gepflöckten Thiere und treibt die frei umherlaufenden in die Nähe des Lagers, um sie im Fall der Noth sogleich in der durch die zusammen gefahrenen Wagen gebildeten Einfriedigung bergen zu können.

Wehe ihm aber, wenn er diese Vorsichtsmaßregeln verabsäumte, und eine Heerde der unbändigen Rosse, gestachelt von unbesiegbarer Neugierde oder angelockt durch das Wiehern furchtsamer Stuten, mit donnerndem Getöse an seinem Lager vorbeistürmt! Was sind dann Leinen und Pflöcke, was die Peitschen der Hüter, welche die eigene Heerde wachsam umkreisen! Die Leinen zerspringen wie schwache Fäden, die Hüter verlieren ihre Gewalt, die losgebrochenen, von panischem Schrecken ergriffenen Flüchtlinge schließen sich der wilden Jagd an, und eh’ eine halbe Stunde vergeht, sind Mustangs und zahme Pferde, Maulthiere und zuweilen auch die Rinder am fernen Horizont verschwunden. – Entsetzt schaut der Wanderer seiner entflohenen Habe nach; die Rinder findet er wohl am folgenden Tage, in weiten Zwischenräumen zerstreut in der Ebene, der Pferde und Maulthiere aber wieder habhaft zu werden, gelingt ihm nur in den seltensten Fällen.

Unsere Karawane, bestehend aus vierzehn achtspännigen Maulthierwagen und siebenzig Soldaten, Arbeitern, Packknechten und wissenschaftlichen Mitgliedern, hatte die Lagerstelle am Canadian-Fluß verlassen und zog so fröhlich und guter Dinge über die bethaute Prairie, als wenn es für sie weder Julihitze noch Steppenbrände, weder Comanche-Räuber noch Mustangheerden gegeben hätte. Wir Reiter befanden uns an der Spitze des Zuges und unterhielten uns angelegentlich mit dem Führer der Expedition, dem bekannten Delawaren Si-ki-to-ma-ker oder schwarzen Biber, der gar mancherlei Erlebnisse aus seinem abenteuerlichen Jagdleben mitzutheilen wußte und mir mehrfach mit der ernstesten Miene versicherte, daß ich trotz meiner breiten Schultern die Flathead- und Blackfeet-Scalpe, selbst in getrocknetem Zustande, nicht auf einmal zu tragen vermöchte, die er in den letzten zwanzig Jahren von den blutigen Schädeln der erschlagenen Feinde gestreift habe. Mochten diese Angaben auch etwas übertrieben sein, so konnte der schwarze Biber doch immer auf den Namen eines der sichersten und erfahrensten Führer auf dem ganzen nordamerikanischen Continente Anspruch machen, der wegen seiner Verschlagenheit von seinen Feinden ebenso sehr gefürchtet wurde, als seine weißen Freunde ihn wegen seiner Gewandtheit und Unermüdlichkeit als Jäger und seiner umfangreichen Sprachkenntniß liebten. Es war also hinlänglich Grund für uns vorhanden, die nähere Bekanntschaft des großen und berühmten Delawaren zu suchen, und so viel wie möglich aus seinen Mittheilungen zu lernen.

Wir hatten ihm eben nach besten Kräften eine Erklärung des elektromagnetischen Telegraphen gegeben und ihn von der geistigen Ueberlegenheit der weißen Race zu überzeugen gesucht, indem wir versicherten, daß mittelst eines langen Drahtes Menschen, wenn auch hundert Meilen von einander entfernt, zu einander sprechen könnten, als Einer der Gesellschaft ihm rieth, den Comanches einen derartigen Telegraphen zu beschreiben. Ein eigenthümliches Lächeln glitt bei dieser Aufforderung über des halbcivilisirten Indianers Züge, und nachdem er etwa eine Minute lang sinnend auf seinen Sattelknopf geschaut, erwiderte er: „Vor einiger Zeit ich erzählen viele fremde Dinge in den Dörfern der Kiowahs und Comanches, ich erzählen viele fremde Dinge, die ich selbst mit meinen Augen gesehen. Ich erzählen von eisernes Pferd mit Feuer und Rauch im Leibe und das laufen auf eisernen Stangen schneller wie die Antilope. Die Krieger, die Weiber und Kinder, Alle lachten mich aus und nannten mich einen großen Lügner. Ich will nie wieder erzählen dergleichen Dinge, am allerwenigsten von Eueren Telegraphen.“

„Warum aber gerade davon nicht?“ lautete die nächste Frage.

„Warum?“ fragte Si-ki-to-ma-ker zurück, indem er uns der Reihe nach mit schlauem Ausdruck ansah; „warum? Wohlan, weil ich es selbst nicht glaube, und ich denken, daß Ihr die größten Lügner, die jemals auf dem Erdboden wanderten.“

Das Lachen über diese freimüthige Aeußerung war noch nicht verstummt, da richtete sich der Indianer, der stets im Sattel hing, als ob ihm seine schmächtige Gestalt zu schwer wäre, hoch auf und heftete seine Blicke auf eine ferne langgereckte Schwellung der Prairie, die in der Nähe des Flusses hügelähnlich auslief. Seine Nasenflügel spreizten sich weit, und ein ungewöhnliches Feuer leuchtete aus seinen Augen, während wir Uebrigen ihn voller Spannung beobachteten und aus seinem Mienenspiel die Ursache solch auffallenden Benehmens zu errathen strebten.

„Ich will Euch etwas erzählen, das Ihr nicht glauben, das aber keine Lügen sind,“ hob er an, den Schritt seines Pferdes mäßigend. „Seht Ihr dort drüben die Staubwolke, die sich dem Canadian zu bewegt?“

„Natürlich,“ hieß es zurück, „wir sehen den Wirbelwind, der die Bodensenkung zu seinem Wege gewählt hat.“

„Wahrhaftig, es sieht wirklich aus wie ein Wirbelwind,“ versetzte Biber, „genau wie ein Wirbelwind; daran hätte ich nicht gedacht, Goddam, müßt dergleichen schon vielfach gesehen haben. Will Euch aber sagen, daß es kein Wirbelwind, wären sonst Grashalmen mit dem Staub vermischt.“

Wir schauten schärfer hinüber, vermochten aber in der Entfernung, die beinahe eine englische Meile betrug, weiter nichts zu unterscheiden, als oben die leichte fliehende Staubwolke.

„Was ist es denn?“ fragte endlich Einer, der ein gewisses Mißvergnügen darüber empfand, die wahre Ursache nicht sogleich errathen zu können.

„Mustangs sind es,“ versetzte Biber gelassen, „Büffel laufen nicht so schnell.“

Kaum hatte er ausgesprochen, so erschien auf der Bodenschwellung, als ob seine Worte hätten bewahrheitet werden sollen, ein weißes Pferd, dem etwa ein Dutzend schwarzer und brauner Gefährten in langer Reihe folgte.

„Ihr thut besser, für Eure Maulthiere zu sorgen,“ fuhr der Delaware zu unserm Wagenmeister gewendet fort, der in einiger Entfernung hinter uns ritt. „Es mich gar nicht überraschen, wenn der weiße Führer dort drüben seine Richtung hierher nehmen und einige von Euren Gespannen sich ihm anschließen.“

Der Wagenmeister sprengte zurück, und fast gleichzeitig setzte sich auch der Schimmelhengst in Bewegung. In langem Trabe eilte er seiner Heerde voraus, die sich in dichten Massen hinter ihm nach der Anhöhe hinaufgedrängt hatte und gleich ihm schnaubend, wiehernd und mit emporgereckten Schweifen ihre ungetheilte Aufmerksamkeit unserer Karawane zuwendete. Die hintersten Thiere drängten die vordersten, der Führer wollte keins bei sich vorbeilassen, der stolze Trab verwandelte sich in einen wilden Galopp, und donnernd kamen sie einhergestürmt, um in weitem Bogen die Wagen zu umkreisen.

Unsere Reitthiere bebten und bissen auf die Kandaren, während der Athem sich geräuschvoll ihren Nüstern entwand, und nur mit Mühe vermochten wir sie zurückzuhalten, sich den Mustangs zuzugesellen, die sich mit Windeseile näherten. Die Zugthiere vor den Wagen waren in aller Eile gefesselt worden, doch hinderte das nicht, daß ein Gespann mit seinem Wagen losbrach und im tollsten Lauf auf den Schimmelhengst losstürzte, der nunmehr schon in gleicher Höhe mit uns angekommen war. Wohl sprengten einige Reiter den Flüchtlingen nach, wohl behielt der kaltblütige Fuhrmann seinen Sitz auf dem Sattelpferde, doch was waren hier menschliche Kräfte im Vergleich mit der unwiderstehlichen Gewalt der bis zur Tollwuth entsetzten Thiere! Der Wagen mit unsern werthvollsten astronomischen Instrumenten schien verloren zu sein, denn nur

[428]

Mustangs in der Prairie.
Nach der Natur aufgenommen von Fred. Kurz.

[429] noch eine kurze Strecke trennte ihn von der feindlichen Heerde, die plötzlich ihre Richtung geändert hatte und vor uns vorüber einem Gehölz im Thale des Flusses zueilen wollte.

Es war ein prachtvoller Anblick, den stolzen Hengst zu beobachten, wie er im Vollgenuß seiner Freiheit ähnlich einem Vogel dahinschoß, wie eine Anzahl seiner erfahrensten Untergebenen, eine lange Reihe bildend, ihm auf dem Fuße nachfolgte, und an diese sich erst die Hauptheerde, die aus mehreren Hundert Mitgliedern bestand, anschloß. Doch der Eindruck, den diese Scene hervorrief, wurde durch den Gedanken geschwächt, daß wir Gefahr liefen, den unersetzlichen Theil unserer Bagage in zertrümmertem Zustande wiederzufinden.

„Ich setze den Fall, wir retten den Wagen,“ sagte Biber, sobald der Schimmelhengst in der Entfernung von ungefähr hundert und funfzig Schritten vor uns vorübersauste, und als er das letzte Wort gesprochen hatte, da stand er auch schon auf der Erde und folgte mit der angelegten Büchse den Bewegungen des stattlichen Thieres. Im nächsten Augenblick krachte der Schuß, der Schimmelhengst überschlug sich und blieb regungslos auf dem Rasen liegen, der schwarze Biber aber saß wieder zu Pferde und galoppirte mit wildem Geheul auf die Heerde los, welchem Beispiel wir natürlich, so weit es in der Kraft unserer Lungen lag, folgten.

Der Wagen war gerettet; die Thiere, zahme wie wilde, stutzten, und als die Leute wieder Herr über die Flüchtlinge geworden waren, da stoben die erschreckten und ihres Führers beraubten Mustangs auseinander und jagten in kleinen Gruppen nach verschiedenen Richtungen davon. Eine Heerde von etwa zwanzig Mitgliedern verschiedenen Alters und Geschlechts hatte die ursprüngliche Richtung beibehalten und näherte sich vollen Laufs dem Strome, und zwar an einer Stelle, wo nicht weit von dem kleinen Pappelgehölz im Laufe der Zeit durch die wandernden Bisonheerden eine verhältnißig bequeme Fuhrt hergestellt worden war.

Diese Fuhrt nun mußten die Comanches beständig im Auge behalten und zu ihren Zwecken auserkoren haben, denn die fliehenden Mustangs befanden sich kaum dem Gehölz gegenüber, da brachen fünf oder sechs nackte braune Reiter aus demselben hervor und gelangten, nach einigen mächtigen Sätzen ihrer kraftvollen Renner, mitten unter sie. Die Verwirrung, die das plötzliche Erscheinen der Reiter in der kleinen Heerde hervorrief, und die wilden Bewegungen, mit welchen die geängstigten Thiere zu entkommen suchten, ließen sich kaum mit den Augen verfolgen. Ich sah nur über der dichten Gruppe zottiger, langbemähnter Steppenpferde die nackten Oberkörper der kühnen Jäger und die hoch emporgehobenen Fäuste mit den regelrecht geschwungenen Lasso’s, und im nächsten Augenblicke schon stürzten sich die bäumenden Rosse, unbekümmert, ob ihre scharfen Hufe die Gefährten mit verderblicher Gewalt trafen, blindlings in die sandigen Fluthen des Canadian.

Nur die Reiter waren auf dem Ufer zurückgeblieben, und zwei Mustangs, die ohnmächtig, aber mit wilder Wuth gegen die unzerreißbaren, aus geschmeidigem Leder geflochtenen Lasso’s kämpften und die ihre Luftröhren umschließenden Schlingen immer fester zugezogen. Wir ritten hinüber, um das fernere Verfahren der wilden Jäger genauer in Augenschein zu nehmen, und kamen gerade an, als die schwer röchelnden Gefangenen niederstürzten und ihre Glieder wie zum letzten Todeskampf ausstreckten. So lange hatten sich die beiden Reiter, die mittelst des um den Sattelknopf geschlungenen Lasso’s ihre Opfer hielten, nicht gerührt. Kaum aber lagen dieselben auf der Erde, so überließen sie es ihren wohlgeschulten Pferden, die Leinen straff zu halten, sprangen zu den Mustangs hin und fesselten ihnen mit unglaublicher Gewandtheit die Vorderhufe zusammen, worauf sie ihnen die Schlingen anderer bereit gehaltener Lasso’s um die Unterkiefer schnürten.

Nach diesen Vorkehrungen erst gestatteten sie es mit Hülfe ihrer Cameraden den Thieren, so viel Luft zu schöpfen, wie nöthig war, das Leben nicht ganz entfliehen zu lassen, und da dieselben sehr bald wieder Symptome von ungebrochener Wuth zeigten, so hauchten sie ihnen mehrere Male in die geöffneten Nüstern, wanden die an den Unterkiefern festgeschnürten Leinen mit einem Knoten zaumähnlich um die Nasen und stellten sich dann so über sie hin, daß sie beim Auffpringen auf deren Rücken zu sitzen kommen mußten.

Vorsichtig wurden sodann die Schlingen von den Beinen und vom Halse gelöst, und empor schnellten die beiden Mustangs, als ob sich in jedem einzelnen ihrer Glieder eine stählerne Sprungfeder befunden hätte. Das ungewohnte Gewicht der Reiter schien die entsetzten Thiere förmlich zu betäuben, denn fast eine Minute lang standen sie steif und unbeweglich wie Statuen da, dann aber begannen die von den buschigen Stirnhaaren verschleierten Augen wild und unheimlich zu funkeln; die mittelst der scharfen Schlingen an die Brust gepreßten Köpfe und die gekrümmten Hälse verschwanden fast in den dichten flatternden Mähnen, die langen Schweife peitschten die schlagenden, mit weißem Schaum bedeckten Seiten, die zierlichen Hufe bohrten sich tiefer in den Rasen, und die ungewöhnlich stark behaarten Beine zitterten krampfhaft und knickten mehrfach in den Gelenken. Die schlanken Reiter aber, nur bewaffnet mit schweren Geißeln, saßen so fest, als wenn sie mit den kurzen gedrungenen Körpern der Mustangs aus einem Stück gegossen gewesen wären; ihre sonst so finstern Physiognomien leuchteten vor Entzücken und innerer Erregung, und wie eiserne Drähte drängten sich die angespannten Sehnen ihrer hageren Glieder hervor.

Jetzt fielen die Geißeln klatschend auf die in Schweiß gebadeten Seiten. Die Mustangs versuchten es, sich zu bäumen, woran sie aber durch den schmerzhaften Druck über ihren Nasen gehindert wurden; sie warfen sich auf den Boden und schnellten wieder empor, aber eher hätten sie einen blutdürstigen Panther von ihrem Rücken zu entfernen vermocht, als diese umsichtigsten und gewandtesten aller Steppenreiter. Hieb auf Hieb sauste auf die kämpfenden Thiere nieder, und wildes, durchdringendes Jauchzen und Gellen aller Comanches erfüllte die Luft. Da bemächtigten sich die Furien der Angst und des Entsetzens der Mustangs; nur noch einen einzigen mächtigen Sprung führten sie aus, und dann stürmten sie unaufhaltsam und mit einer solchen Eile davon, daß man sie mit einem Pfeil hätte vergleichen mögen, der eben die straffe Sehne des Bogens verlassen. Die kühnen Reiter wie deren zurückgebliebene Gefährten setzten aber noch lange ihr ohrzerreißendes Jauchzen fort. –

Der schwarze Biber hatte die grausame Scene so lange schweigend und mit strahlendem Gesicht beobachtet. Sobald aber die beiden Reiter hinter einer wogenförmigen Erhebung des Bodens verschwunden waren, forderte er uns auf, den vorangezogenen Wagen nachzueilen. Als dann Einer unserer Gesellschaft den Wunsch äußerte, die Rückkehr der Pferdebändiger abzuwarten, da entgegnete er lachend: „Ihr mögt warten, zwei Stunden, oder bis Mittag, oder bis Abend; sie nicht heimkehren, bis die Mustangs zahm oder todt. Oft die Mustangs auch nur dumm werden, und dann ihr Fleisch der einzige Lohn für die Mühe. Comanches aber sehr klug, sie lieber die Mustangs todt reiten, als ihren Geist brechen. Dummer Mustang nicht zu gebrauchen.“

So sprach der große Delaware, und den Comanches zum Abschied mit der Hand winkend, lenkte er sein Pferd gegen Westen. Noch einen letzten bedauernden Scheideblick warf ich auf den stolzen Schimmelhengst, der durch des schwarzen Bibers mörderische Kugel geopfert worden war, und trabte dann meinen vorangeeilten Gefährten nach.


Zwei Welten.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Hugo’s erster Weg am nächsten Morgen war es, sich nach einem anständigen deutschen Gasthause zu erkundigen. Einestheils vermuthete er dort billigere Zeche und andererseits wollte er sich lieber einem Landsmanne, als einem der kalten Gesichter, wie sie ihm in der „Office“ des amerikanischen Hotels entgegenstarrten, anvertrauen. Schnell genug war er auch nach einem leidlich aussehenden Hause gewiesen, und die behäbige Gestalt des Wirths, welche ihm in der düstern, aber reinlichen Schenkstube entgegenkam, [430] brachte einen nur freundlichen Eindruck auf ihn hervor. Indessen mußte er bei dem Verlangen nach Logis für einige Zeit sich einer Musterung seines Aeußeren, wie einer Examination über sein Gepäck unterwerfen, und erst als Beides befriedigend ausgefallen schien, ward er mit dem Versprechen, daß ein passendes Zimmer bereit gemacht werden solle, zum Sitzen eingeladen und nach Wer und Woher gefragt. Das Zimmer war bei der frühen Morgenstunde noch leer, und der junge Mann beschloß ohne Weiteres die Gelegenheit wahrzunehmen, um ein Urtheil über seine Aussichten zu erlangen. Er bestellte zur Einleitung des weitern Gesprächs Bier, für sich wie für den Wirth, und begann dann dem Letzteren in kurzen Worten seine kaum geschehene Ankunft im Lande, seine Unkenntnis der Verhältnisse, wie seine Gedanken über einen künftigen Broderwerb mitzutheilen, gab eine Andeutung seiner vorhandenen und noch zu erwartenden Geldmittel, deren Verbrauch vor Gründung einer Existenz er indessen nicht abwarten dürfe, und bat dann den „Landsmann“ um Abgabe seiner ungeschminkten Meinung über die sich bietenden Aussichten, wie möglicherweise um einen Rath.

Der Wirth hatte ihn, ohne eine Miene zu bewegen, angehört und schob jetzt den Schirm seiner Mütze, welche den Tag über nicht von seinem Kopfe zu kommen schien, aus der Stirn. „Sind Sie denn katholisch?“ fragte er. Hugo schüttelte befremdet den Kopf und erkundigte sich nach dem Grunde der Frage.

„Ja, dann wäre vielleicht eher etwas zu machen gewesen,“ erwiderte der Erstere und begann mit dem Finger nachdenklich Figuren auf den Tisch zu zeichnen; „die Katholiken allein haben unter den Deutschen eine besondere Schule, und der Pfarrer könnte wohl etwas für Sie thun; damit ist es nun aber nichts. Die übrigen Deutschen schicken ihre Kinder in die amerikanischen Freischulen und geben auch auf anderweites Lernen nicht viel. Unter den Amerikanern könnte sich wohl, wenn Sie die Kenntnisse dazu besitzen, manche Gelegenheit zu einer Anstellung für Sie finden, aber Sie müßten eben Bekanntschaften und Empfehlungen haben, ohne die es nicht geht. Es ist eine traurige Geschickte in Amerika, wenn Einer nicht sein richtiges Geschäft hat, zu dem er hier wieder greifen kann, und ich habe schon manchen tüchtigen Menschen, der nichts weiter konnte, als was man drüben auf Schulen und Universitäten lernt, verlumpen sehen – ich sag’ es Ihnen frei, und gleich jetzt, damit Sie sich keine großen Hoffnungen machen, an denen Sie nur Zeit und Geld verlieren können! Versuchen Sie Ihr Heil,“ fuhr er aufsehend fort, „besuchen Sie die Präsidenten in den verschiedenen Schulanstalten, vielleicht haben Sie irgendwo ein ganz besonderes Glück, denn ohne das soll sich ein völlig Fremder und noch dazu ein Deutscher auf nichts Rechnung machen!“

Hugo sah in das Gesicht des Mannes, in dem zwar wenig Theilnahme, aber die volle Aufrichtigkeit der Ueberzeugung geschrieben stand, und wie ein Gespenst trat es zum ersten Male vor ihn, daß er doch kaum leichtsinniger hätte handeln können, als sich auf Gerathewohl den Verhältnissen eines unbekannten Landes anzuvertrauen – nur im Hintergrunde seiner Seele noch standen einzelne unbestimmte Geschichten von jungen Leuten, ähnlich ihm, die hier in andere Broderwerbe übergegangen und ihr Glück darin gemacht hatten; aber er klammerte sich unwillkürlich, wie an den einzigen sichtbaren Halt, daran. „Und giebt es denn nicht irgend einen andern Weg, auf dem ein junger Mann mit gutem Willen sich zu einer neuen Existenz verhelfen könnte?“ fragte er, nur mühsam seine innere Stimmung verdeckend, „ich wäre doch gewiß nicht der Erste, der, ohne gerade ein Handwerk gelernt zu haben, sich hier forthelfen würde!“

„Der Erste allerdings nicht und gewiß auch nicht der Letzte – Sie haben sogar noch vor Vielen voraus, daß Sie, wie Sie sagen, fertig im Englischen sind,“ erwiderte der Wirth, langsam seine Mütze rückend, „von denen aber hat noch Keiner sich in ein fertig gemachtes Nest hineinsetzen können, wie Sie es wollen. Es kostet für Leute Ihrer Art zweierlei, um sich hier einen Weg zu schaffen: zuerst Alles ausstreichen und vergessen, was drüben einmal gewesen, und sodann sich hier geduldig jeder Lehrzeit unterziehen, wenn sie vorläufig nur das nackte Leben bringt, denn hier giebt es keine Arbeit, die einen Menschen schändet. Manche freilich kommen niemals aus der Lehrzeit heraus, eben weil sie sich nicht dem neuen Lande mit Allem, was sie sind und haben, ergeben können und immer noch mit zehnerlei Gefühlen und dergleichen an ihrer Vergangenheit hängen; das sind die Menschen, die sich endlich hier das Leben nehmen oder, wenn sie es fertig bringen, wieder nach Deutschland zu kommen, drüben Amerika schlecht machen; der ordentliche Mensch mit richtigem Verstande und kräftigem Willen aber merkt ganz geschwind selber, wenn er über die Lehrzeit hinaus und für das Land reif geworden ist, und was ihn erst am meisten gedrückt hat, das wird ihm nachher zum Mittel, um sich überall seinen Weg zu schaffen. Wie Sie mich hier sehen, war ich der Nächste zum Ober-Zollinspector, als ich Anfang der dreißiger Jahre froh sein mußte, mit heiler Haut aus Amt und Heimath zu entkommen; ich wurde zuerst in New-York eine Art Küfergehülfe, wenn ich auch nur in meiner Wein- und Spirituosen-Kenntniß das Zeug dazu hatte, und dankte noch Gott für das neue Brod – jetzt hat mein Sohn mein hier später errichtetes Weingeschäft sammt den Weinbergen bei der Stadt übernommen, und ich habe das Gasthaus wie eine Art Ruheposten behalten.“ Er rückte wieder nachdenklich an seiner Mütze, während der junge Mann vor einem Wirrsal von Gedanken, welches die derbe Rede in ihm hervorgerufen hatte, zu keinem eigenen Worte zu gelangen vermochte.

„Ich habe Ihnen da mehr gesagt,“ begann der Sprecher nach einer kurzen Pause, „als ich sonst überhaupt sage, da bei grünen Eingewanderten selten ein Rath viel nützt; Sie haben aber offenherzig zu mir gesprochen, obgleich Sie noch Geld im Sacke haben, und so habe ich Ihnen geantwortet. – Ich will Ihnen sogar noch etwas mehr sagen,“ fuhr er fort, einen langsamen Blick über das ganze Aeußere des Gastes laufen lassend; „Sie könnten hier möglicherweise als Sprachlehrer auftreten und ein paar Schüler gewinnen, dabei aber in ewiger Zeit nicht aus dem Elende herauskommen, wie überhaupt das ganze Gelehrtenwesen hier keinen Boden hat, wenn es nicht als Geschäft mit einer eigenen Schule oder dergleichen betrieben wird, und dazu fehlt Ihnen die Kenntniß der richtigen Manier, was wir hier den „Humbug“ nennen, und mangeln Ihnen wohl auch die Mittel. Wollen Sie hinter sich werfen, was hinter Ihnen liegt, und Ihre Lehrzeit frischweg anfangen, so habe ich bei mir selbst eine Stelle als Barkeeper für Sie, das heißt als ein Mann, der hier die Gäste bedient, aber mich auch sonst in jeder Weise im Hause vertritt. Sie haben etwas an sich, das mir gefällt und mir Vertrauen macht, und stellen zugleich eine rechte Person vor. Sie aber werden dabei geschwinder das ganze amerikanische Leben kennen lernen und sich für jede Art von Geschäft fixer machen, als in irgend einer andern Stellung – geben Sie mir einmal jetzt keine Antwort!“ unterbrach er sich, als plötzlich ein tiefes Roth in Hugo’s Gesicht trat, und ein eigenthümliches Lächeln glitt über das wohlgenährte, faltenreiche Gesicht des Sprechenden, „ich kann mir vorstellen, daß Ihnen der Vorschlag kommt, wie ein Donnerwetter um Weihnachten. Es wird jedenfalls gut sein, wenn Sie sich erst ruhig im Hause einrichten und sich das Leben hier ansehen, auch in Gottes Namen ein paar Versuche zu einem andern Unterkommen machen. Ich bin die letzten Tage allein fertig geworden, da ich nicht jedem beliebigen Menschen meine Sachen anvertrauen mag, und werde es auch noch zwei oder drei Tage länger können. Also,“ setzte er mit dem früheren Lächeln, sich langsam erhebend, hinzu, „nehmen Sie einmal den Porter mit sich, der Ihr Gepäck hierher schaffen wird, und trösten Sie sich vorläufig damit, daß, wenn Alles fehlschlägt, Sie wenigstens eine Stellung haben können, die Ihnen das tägliche Brod giebt!“ – Hugo befand sich, um seine Uebersiedelung bewerkstelligen zu können, auf dem Wege nach seinem bisherigen Hotel, hätte aber vor dem Drange der in ihm kämpfenden Empfindungen und Vorstellungen kaum die Richtung eingehalten, wenn er nicht mechanisch dem ihm beigegebenen Begleiter gefolgt wäre. Es hatte ein solches Gepräge der Wahrheit auf jedem Worte gelegen, welches der Wirth gesprochen, daß er sich der Wirkung derselben, trotzdem sich sein ganzes Gefühl gegen eine praktische Anwendung erhob, nicht entziehen konnte; es war sichtlich reines Wohlwollen gewesen, was dem Manne seinen letzten Vorschlag dictirt, und doch empfand diesen Hugo wie eine Beleidigung, wie eine Verletzung seiner innern Würde. Ungerufen trat die stolze, glänzende Erscheinung des Mädchens, deren Familienadresse er hierher gefolgt war, vor ihn, und nun dachte er sich selbst daneben als – ersten Aufwärter eines kleinen Gasthauses! Und dennoch stand wieder etwas in seiner Erinnerung von den trüben ersten Jahren eines Jeden, der ohne bestimmten Plan in das sonderbare Land kommt, etwas, das mit der „Lehrzeit“ seines Rathgebers völlig übereinstimmte, und zugleich klang ihm das: „hier schändet keine Arbeit!“ von Neuem in die Ohren [431] – und was sollte er auch beginnen, wenn sich die Vorhersagungen seines neuen Freundes in Bezug auf die Erlangung einer Lehrerstellung bethätigten? In einem Zwiespalt seines Innern, wie er ihn noch nie so peinigend empfunden, erreichte er sein letztes Nachtquartier und ordnete das Wegschaffen des Gepäcks an. Für den Tischler, welcher das Hotel mit ihm zugleich verlassen gehabt, hinterließ er die Angabe seines jetzigen Aufenthaltes und trat sodann den Rückweg an.

Mit einem stillen Nicken empfing ihn der Wirth und ließ ihn nach einem kleinen, aber freundlichen Zimmer im zweiten Stock geleiten; Hugo achtete indessen kaum auf seine neuen Umgebungen; er fühlte sich in seinen Entschlüssen und seinem Urtheile so unsicher, daß vor der Unruhe in ihm die äußeren Eindrücke nur halb zu seinem Bewußtsein gelangten, und kaum schloß sich hinter dem heraufgeschafften Gepäck die Thür, als er sich auf den Stuhl am Fenster warf und sich frei seinen innern Regungen überließ. Er wollte erst Mangold’s Rückkehr erwarten, dessen gesunder Verstand oft Alles ersetzte, was dem Handwerker an feinerem Gefühle abgehen mochte, ehe er irgend einen weitern Schritt that; aber es währte wohl noch eine Stunde, welche der Wartende, bald in Träumereien versinkend, bald ungeduldig das Zimmer durchmessend, verbrachte, ehe das aufgeweckte Gesicht des Gefährten in der geöffneten Thür erschien.

„Richtig schon Standquartier genommen – nun, ich bin auch nicht faul gewesen!“ rief dieser eintretend. „Zweierlei Neues, Hugo! Zuerst also habe ich Arbeit und darf mich ohne Schande wieder im Spiegel besehen – es ist zwar in der Tischlerei eine sonderbare Manier hier zu Lande, vor der ein Meister in Deutschland die Krämpfe bekommen würde, aber ein richtiger Soldat muß sich in Alles finden, wie unser Unterofficier sagte, und ich wünsche nur, daß Du einen so schnellen Treffer hast, als ich!“

„Hab’ ihn gehabt, Heinrich,“ erwiderte der Andere mit einem leichten Zucken um den Mund, „hatte schon vor länger als einer Stunde eine Stellung.“

„Du?! wo denn um Gotteswillen in der Geschwindigkeit?“

„Unten im Gastzimmer hinter dem Schenktische!“

Heinrich sah den Freund einen Augenblick mit großen Augen an. „Barkeeper?“ fragte er dann, und eine Mischung des verschiedensten Ausdrucks klang in dem Worte.

„Barkeeper, Heinrich, und wenn Du zum Biere kommst, darfst Du mich herunterputzen, wenn ich Dir nicht schnell genug aufwarte!“

Der Tischler begann seine Nase zu streichen. „Wenn das Spaß war, Hugo, so war es unrecht,“ sagte er langsam, „als Ernst aber noch viel mehr. Ich weiß, daß der Barkeeper die Hauptperson in einem Hause ist, wenn er nur den Mann dazu vorstellt, und habe in New-York einen preußischen Officier hinter der Bar gesehen, vor dem ich mehr Respect bekam, als wenn er in der Uniform gesteckt hätte. Dir hätte ich freilich den Anfang nicht vorschlagen mögen, und nun sage mir nur, was davon wahr ist!“

„So viel, daß es wahrscheinlich meine erste und letzte Ressource ist, wenn der Wirth die hiesigen Verhältnisse kennt!“ rief Hugo unruhig aufspringend und von Neuem das Zimmer durchmessend.

„Und warum kann es nicht irgendwo mit einer Lehrerstelle etwas sein?“ fragte der Tischler, mit den Augen den Bewegungen des Gefährten folgend.

„Weil ich unter den Amerikanern nirgends ohne Empfehlung ankomme – einfach, und gerade wie anderswo auch!“

„Und warum läßt Du Dich denn nicht empfehlen?“ erwiderte der Andere trocken. Hugo blieb stehen und sah den Frager mit ernstem Blicke an. „Nun ja,“ fuhr dieser gleichmüthig fort, „so ist es, wenn man die Leute nicht ausreden läßt. Zum Zweiten also hatte ich Dir zu berichten, daß selbiger John Winter, welcher auf der bewußten Karte steht, ein Kaufmannsgeschäft hier in der Stadt hat, daß ich das Schild selbst gelesen habe, und ich meine nun, daß eine Empfehlung wohl das Wenigste ist, was der Mann zu thun verbunden wäre. Du hast seine Tochter halb vom Tode gerettet, hast mit einem Grafen um sie schlimmen Spectakel gehabt und bist auf eine bestimmte Einladung hierher gekommen –“

Der Referendar wandte den Blick nach dem Fenster, und ein leichtes Roth der Erregung trat langsam in sein Gesicht. Eine kurze Weile schien er mit sich selbst zu kämpfen. „In der Stadt – im Geschäfte, das läßt sich eher thun,“ sagte er endlich zögernd, „Gott mag nur wissen, ob der Mann überhaupt etwas von der Karte weiß oder jemals von mir gehört hat. Indessen sei bedankt, Heinrich,“ wandte er sich, wie in gewonnenem Entschlusse, nach dem Freunde zurück, „und da es wahrscheinlich der einzige Schritt ist, den mir das Schicksal als Wahl läßt, so sei er auch sogleich gethan! Sage mir, wo ich Dich später treffen soll!“

„Alle Wetter, ich warte hier auf die Entscheidung!“ erwiderte der Tischler; „werde aber dabei meinen Sehnsuchtsschmerz nach dem ersten Glase Bier seit acht Tagen stillen! “

Zehn Minuten später bog der Referendar in die ihm bezeichnete Straße ein und fand schon von Weitem unter der Zahl der übrigen Handlungsfirmen, welche die Häuser bedeckten, den gesuchten Namen. Es war eins der gewöhnlichen rohen Backsteingebäude, bereits von Alter schmutzig braun geworden, dem er sich zuwandte, und mit einem leisen Kopfschütteln stellte er damit den Rang, welchen die Familie in Berlin beansprucht, zusammen. Unwillkürlich hatte er indessen seine europäische Gesellschafts-Haltung angenommen und von Allem, was in diesem Augenblicke seine Seele bewegte, fühlte er am klarsten, daß ihn selbst die drängendste Lage nicht vermögen werde, sich hier einer Selbstdemüthigung zu unterziehen.

Der untere Raum des Hauses, welcher sich durch drei breite Thüren nach der Straße öffnete und nur durch diese sein Licht empfing, war zum Theil durch Ballen und Fässer eingenommen; im Hintergrunde desselben aber zeigte sich durch eine Glasthüre eine geräumige „Office“, welche durch die Rückseite des Gebäudes ihr Licht empfing, und der junge Mann zauderte nach einem kurzen Rundblick nicht, dorthin seinen Weg zu nehmen.

Von den drei Personen, welche an einzelnen Schreibepulten beschäftigt waren, hob sich bei dem ruhigen Oeffnen der Thür nur das Gesicht eines alten Graukopfs, der, sobald Hugo nach dem Geschäftsherrn fragte, lautlos nach einem sorgfältig gekleideten Manne wies, welcher neben einem großen eisernen Geldschranke mit der Durchsicht von Papieren beschäftigt zu sein schien, jetzt aber bei der Nennung seines Namens langsam den Kopf drehte.

Der Eingetretene erkannte sofort die schon einmal gesehenen Züge und trat mit einer leichten Verbeugung heran. „Ich hatte das Vergnügen, Mr. Winter, Ihnen auf einer Alpentour bei Ersteigung des Mont en Vert im Chamouny-Thale zu begegnen,“ sagte er; „keinenfalls werden Sie sich wohl meiner entsinnen; indessen führte mich das Schicksal an demselben Tage mit Miß Winter zusammen; ich hatte auch die Ehre, diese Bekanntschaft bei einer ministeriellen Soirée in Berlin zu erneuern, sowie später Ihre Karte zu erhalten, und so wollte ich nicht verfehlen, da mich eine eigenthümliche Verkettung der Umstände hierher führt, Ihnen wenigstens meine Aufwartung zu machen!“

Winter hatte einen kurzen forschenden Blick über das Aeußere seines Besuchs geworfen, griff sodann nach der Karte, welcher Hugo seine eigene beigefügt, und zog einen Stuhl im Bereiche seiner Hand heran. „Setzen Sie sich, Sir,“ sagte er, das kalte Auge nicht von dem Gesichte des jungen Mannes lassend; „sind Sie nur zufällig hier, oder gedenken Sie länger in der Stadt zu verweilen?“

„Ich mochte sagen Beides!“ lachte Jener, ohne sich einer leichten Befangenheit erwehren zu können, „ich habe den Plan, wie so viele Andere, mir in Ihrem Lande eine neue Existenz zu gründen; ich glaube auch die nöthige Befähigung dafür zu haben, und will nun sehen, wie sich die Verhältnisse für mich anlassen.“

Der Kaufmann verneigte sich leicht; sein Gesicht war um einige Schatten kälter und zurückhaltender geworden.

„Sie können mir vielleicht sagen, Mr. Winter,“ begann Hugo nach einer Pause, die wie Blei auf ihm gelastet, von Neuem, „ob eine Möglichkeit vorhanden ist, bei einer der hiesigen Lehranstalten anzukommen? Ich glaube den Anforderungen für verschiedene Fächer entsprechen zu können und würde darin einen ganz annehmbaren Anfang für mich sehen!“

„Ich bin leider außer Stande, Ihnen mit einer Auskunft zu dienen,“ war die Erwiderung, „ich habe nicht die geringste Verbindung mit diesen Instituten; indessen dürften wir hier kaum Mangel an Lehrern haben.“

(Fortsetzung folgt.)
[432]
Blätter und Blüthen.

Zwei gute Stiefmütter. Vor etwa zwei Jahren lud mich ein Kohlenhändler ein, in seinem Kohlenhofe eine Naturmerkwürdigkeit zu sehen. Er führte mich in einen Schuppen, in welchem ein Pinscherhund ein Wochenbett hielt. Von seinen zwei Jungen war das eine von derselben Race wie die Mutter, das andere war zu meinem Staunen eine dunkel gestreifte junge Katze von gleicher Größe. Der Besitzer erklärte mir nun dieses eigenthümliche Familienverhältniß in folgender Weise.

Weil er die sämmtlichen jungen Hunde nicht aufziehen mochte, hatte er sie bis auf einen ersäufen lassen. Zufällig fanden seine Leute am folgenden Tage unter einem Holzstoß ein junges Kätzchen, welches kaum die Augen geöffnet und sich wahrscheinlich aus der Nachbarschaft dahin verlaufen hatte. Da das Thierchen schön war und noch viel zu jung, um allein fressen zu können, kam man auf den Gedanken, seine Ernährung dem Hunde zu übertragen, der sich auch sogleich willig der neuen Mutterpflicht unterzog. Es war ein eigenthümlicher Anblick, den Hund zu sehen, wie er beide so verschiedene Junge mit gleicher Liebe säugte und mit der einen Vorderpfote das saugende Kätzchen zärtlich an sich drückte, während es behaglich schnurrte. Auf weiteres Befragen erfuhr ich, daß der Hund von Jugend auf an die Gesellschaft von Katzen gewohnt war. Wahrscheinlich belästigte ihn schon das Uebermaß der Milch, als ihm das Kätzchen gebracht wurde, denn daran, daß er dasselbe wirklich für eines seiner verlorenen Jungen gehalten haben sollte, ist bei der bekannten Klugheit der Hunde doch wohl nicht zu denken. Die Erziehung des Kätzchens ging ohne Störung vor sich, und zwischen demselben und seiner Stiefmutter bildete sich ein dauerndes zärtliches Verhältniß.

Ein Freund, dem ich diese Beobachtung mittheilte, erinnerte sich eines ähnlichen Falles, wo aber eine Katze zwei Feldhasen erzogen hatte, und zog auf meinen Wunsch über diesen noch ungleich interessanteren Fall bei den betreffenden Personen genaue Erkundigungen ein, deren Ergebniß ich hier mittheile.

In dem etwa eine Wegstunde von Mainz entfernten Dorfe Gonsenheim, das in der neuern Zeit durch Gemüsebau wohlhabend geworden ist, hatte im Jahre 1796 ein Knabe, mit Namen Veit Becker, auf dem Felde zwei ganz junge Häschen gefangen und brachte vergnügt seine Beute nach Hause. Dem Knaben schien nichts leichter, als die Häschen mit Milch aufzuziehen, aber alle Versuche, sie zum Trinken zu bewegen, waren ohne Erfolg. Da verfiel der alte Becker auf den glücklichen Gedanken, der Katze, welcher man einige Tage früher ihre sämmtlichen Jungen genommen hatte, die Häschen zur Pflege anzuvertrauen. Der Versuch gelang über Erwartung: die Katze, obgleich die geborne Feindin aller Nagethiere, adoptirte die beiden Findlinge und nährte und pflegte sie bis zu ihrer Großjährigkeit mit der treuesten mütterlichen Sorgfalt. Auch hier dürfte die Stiefmutter wohl zunächst durch die schmerzhafte Ueberfüllung ihrer Milchdrüsen dazu veranlaßt worden sein, an den ihr völlig fremden Jungen Mutterpflichten zu üben, denn wir wissen, daß unter anderen Verhältnissen die Katzen im Felde den jungen Hasen eifrig nachstellen. Bei der großen Verschiedenheit in der Lebensweise der Mutter und ihrer Adoptivkinder konnte es nicht an eigenthümlichen Familienscenen fehlen, die der Katze fortwährend große Verlegenheit bereiteten. Die entarteten Kinder wollten sich durchaus nicht dazu entschließen, Fleisch zu fressen, eine von der Mutter heimgebrachte Maus wurde von den jungen Hasen mit der größten Gleichgültigkeit behandelt, sie zeigten nicht das geringste Talent zur Jagd, dagegen eine Lust, ihre Mägen fortwährend mit Klee, Gemüse und anderer roher Pflanzenkost anzufüllen, die der besorgten Mutter oft ein wahres Entsetzen erregte.

Da die Häschen frei im Hause umher liefen und bisher noch keinen Versuch gemacht hatten, zu entfliehen, glaubte der junge Veit ihnen auch einmal einen Vorgeschmack der Freiheit geben zu müssen, die damals ohnehin als neuester Modeartikel von Frankreich aus bei uns eingeführt worden war. Der Vorsicht wegen band er sie jedoch an einen Bindfaden und führte sie so in das Feld. Dort gefiel es den Hasen so gut, daß sie sich losrissen und alle Bemühungen des Knaben, sie wieder einzufangen, glücklich vereitelten. Doch der kleine Veit wußte sich zu helfen, er eilte nach Hause, packte schnell seine Katze auf und trug sie auf das Feld, wo ihre entflohenen Kinder noch im Genusse der neu errungenen Freiheit sich fröhlich auf einem Kleeacker herumtummelten. – Kaum hatte die Katze ihre Stiefkinder erblickt, so ließ sie ihre lockende Stimme erschallen, und siehe da, auf der Stelle sprangen die Häschen herbei und folgten munter spielend ihrer Stiefmutter nach Hause, zum Staunen Aller, die diesen sonderbaren Aufzug erblickten.

Von nun an wurden die Hasen jedoch sorgfältig verwahrt und erlangten bei gutem Futter bald eine solche Körperfülle, daß es der alte Becker gerathen fand, sie zu schlachten und in Mainz auf den Markt zu bringen, wo seit der Herrschaft der französischen Volksbeglücker die Hasen, und in deren Ermangelung auch die Katzen, bereits ein theuerer Tafelluxus geworden waren.

G.


„Da werden Weiber zu Hyänen.“ Welche entsittlichenden Folgen der jetzige Bürgerkrieg in Amerika hat, geht unter Anderem aus einem scheußlichen Factum hervor, welches die letzten amtlichen Untersuchungen zu Tage gefördert haben. Die Schlacht von Bull’s Run hat einen solchen Berserkerrausch im ganzen Süden hervorgebracht, daß die Leichen der nördlichen Soldaten ausgegraben und auf das Abscheulichste verstümmelt wurden; die gesammelten Schädel aber wanderten nach den südlichen Staaten, um dort als Trinkgefäße verarbeitet zu werden – es scheint, daß es zum Ehrenpunkt für jede fashionable Lady wurde, einen solchen Pokal in ihrem Boudoir zu haben. Eine ganze Partie gesammelter Knochen der Feinde aber wurde in Schmuckgegenstände verwandelt, welche die weniger begünstigten Ladies zierten. Die Unions-Regierung in Washington hat jetzt natürlich Maßregeln getroffen, um die Gräber ihrer Gefallenen zu schützen.


Gellert’s Tagebuch aus dem Jahre 1761 wird in nächster Zeit nach der Originalhandschrift, die sich im Besitz des Verlagsbuchhändlers Herrn T. O. Weigel in Leipzig befindet, zum ersten Male veröffentlicht werden. Das Jahr 1761 war für Gellert ein recht trauriges und durch körperliche Leiden schwer beängstigtes, aber dies Tagebuch ist ein beredtes Zeugniß dafür, wie sich sein kindliches, gottergebenes Gemüth, sein lauterer und echt christlicher Sinn inmitten der Leiden bewährte.


  1. Cutwater, die vordere aufsteigende scharfe Kante des Kiels.
  2. Cavendish, amerikanischer Kautabak.