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Die Gartenlaube (1862)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[401]

No. 26.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Die Thür hatte sich während der letzten Worte geöffnet und den Hausherrn eingelassen, der jetzt mit einem unmuthigen Blick nach der Sprecherin herantrat. „Laß uns allein, Carry,“ sagte er, „ich habe mit Deiner Schwester zu reden.“

„Ich weiß schon, Vater, aber ich wollte, ich hätte Dir meine Meinung zu sagen!“ erwiderte die Angeredete und eilte, mit einer kräftigen Kopfbewegung das Haar von der Stirn werfend, aus dem Zimmer.

„Ich danke Dir, meine Tochter, für die kurze Erledigung dieses nothwendig gewordenen Schrittes,“ sagte jetzt Winter, dem Mädchen die Hand entgegenstreckend, „ich wußte, daß ich mich in Deinem gesunden Sinne nicht verrechnen konnte, und die Zukunft wird Dir die vollste Genugthuung geben!“

Jessy sah ihm mit einem völlig theilnahmlosen Blicke in die Augen, und eine steife, eiskalte Hand legte sich auf die seinige; er schien indessen keins dieser Zeichen zu bemerken und fuhr angelegentlich fort: „Wir haben jetzt über das nächst Vorliegende zu reden. Mr. Graham als stricter Geschäftsmann will natürlich nicht eher zu dem beabsichtigten Arrangement mit mir die Hand bieten, ehe nicht durch Eueren Heiraths-Contract auch die nöthigen Bestimmungen über Dein Vermögen getroffen worden sind. Indessen liegen einige so bedeutende Geschäfte in meinen Händen, in welche ich ihn vor unserer Vereinigung nicht einweihen mag, daß meine Mittel nicht dafür ausreichen und der Vortheil mir so aus den Fingern schlüpfen müßte, wenn ich nicht in der kürzesten Zeit die nöthigen Baarfonds dafür anschaffen kann. Und doch wäre der Gewinn ein so bedeutender Anfang zu meiner Aufhülfe, Jessy! Ich sehe nun keinen vernünftigen Grund, Kind, warum der einmal beschlossene Schritt nicht auch in der kürzesten Zeit ausgeführt und Eure Hochzeit in den nächsten Tagen gefeiert werden soll – unsere Freunde erwarten seit Langem nichts Anderes. Es würde Dir völlig überlassen bleiben, ob eine geräuschvolle Fête oder eine stille Feier in der Familie den Tag bezeichnen soll; da aber Graham für die Einrichtung Eures künftigen Hauses längere Zeit gebrauchen dürfte, so ist er völlig damit einverstanden, daß Ihr die ersten Wochen hier in unserem Hause lebt. Das obere große Zimmer würde mit Leichtigkeit zu Eurem Schlafzimmer und das anstoßende als Sitting-Room eingerichtet werden; vielleicht dürfte Dir das sogar ein willkommener Uebergang in die neuen Verhältnisse sein –“

Ein energisches Kopfschütteln des Mädchens unterbrach seine Rede. Sie stand bleich, aber hochaufgerichtet vor ihm, und ihr Auge hatte sein volles Feuer wieder gewonnen. „Hat Mr. Graham seine ausdrückliche Zustimmung zu diesem Arrangement gegeben?“ fragte sie mit einer Bestimmtheit, welche den Alten die Augen weit öffnen machte.

„Ausdrücklich – weshalb gerade ausdrücklich?“ erwiderte er; „wie jeder Bräutigam hat er bereitwillig erklärt, daß er Allem zustimme, was seiner Lady recht sei!“

„So muß ich Ihnen Eins sagen, Sir!“ versetze sie, und ihre Stimme nahm einen harten Klang an, während es leise um ihren Mund fast wie Verachtung zuckte. „Ich bringe das Opfer meines ganzen Lebens und bringe es der Zukunft derer, die mir am nächsten stehen – aber nicht eines augenblicklichen Vortheils Ihres Geschäfts willen, Sir. Sie scheinen das, was ich zu thun bereit bin, völlig zu verkennen, sonst würde Ihnen das einfache Gefühl den nöthigen Zartsinn gegen mich gelehrt haben; Sie scheinen meine Opferfähigkeit als gute Chance zu betrachten, aus welcher möglichst schnell der größtmöglichste Gewinn gezogen werden muß, und Sie scheinen mich noch zuletzt recht gründlich lehren zu wollen, daß mein früheres Urtheil – selbst in dem Verhältniß des Vaters zur Tochter– keine Ausnahme erleidet!“ Ihre Augen verdunkelten sich, und eine plötzliche Aufregung schien sie übermannen zu wollen. Aber sie kämpfte kräftig die augenblickliche Schwäche nieder. „Was ich zu thun versprochen habe, werde ich in meiner Weise thun, Sir!“ fuhr sie fort, „und sollte Ihnen oder Mr. Graham eine meiner Anordnungen nicht conveniren, so bedarf es eben nur eines Wortes, um die heutigen Verhandlungen als ungeschehen zu betrachten. Ich werde für unsere künftige Wohnung selbst ein Haus in der Stadt auswählen, wie es meinen Anforderungen entspricht, ich werde mir zwei Zimmer darin nach eigenem Gutdünken einrichten lassen, wogegen Mr. Graham in allem Uebrigen seinem eigenen Geschmacke folgen mag. Dann werde ich den Tag bestimmen, der, ohne die geringste festliche Bezeichnung, mich in meine neue Heimath bringen soll, und liegt Ihnen daran, Sir, diesen Zeitpunkt möglichst nahe zu rücken, so senden Sie mir zu meiner Unterstützung den alten Henderson aus Ihrem Geschäft, von dem ich wenigstens hoffen darf, daß er mir ohne Selbstinteresse oder Nebenzwecke dienen wird!“ Sie neigte sich mit leichter Kürze und verließ, als wolle sie jeder Antwort ausweichen, raschen Schrittes das Zimmer.

Winter sah ihr einen Augenblick mit demselben unbeweglichen Gesichte nach, welches er während der ganzen Rede beibehalten hatte, und strich dann mit der Hand über die Stirn. „Ich bin zu hastig gewesen,“ murmelte er; „indessen ist die Hauptsache in Ordnung, denn sie hält ein gegebenes Wort für heilig, und nach abgeschlossenem Contract mag er suchen, mit ihr fertig zu werden!“ Er schritt langsam hinaus nach der Vorhalle und nach einer Viertelstunde [402] trat er in Graham’s Gesellschaft vor die Hausthür, wo soeben des Letzteren Pferd vorgeführt ward. Beide Männer drückten sich wie in abgemachter Sache die Hände, der Jüngere schwang sich in den Sattel und sprengte, respektvoll nach den obern Fenstern hinaufgrüßend, davon.

Wenige (engl.) Meilen den Fluß hinauf bildete eine breite Dampffähre die Verbindung zwischen beiden Ufern, und drüben breitete sich die volkreiche Handelsstadt aus, in welcher sich das Commissions- und Speditions-Geschäft von John Winter, sowie das Bank- und Wechselgeschäft von Charles B. Graham befand. Winter hatte sein Besitzthum auf dem diesseitigen Ufer als wenig bedeutende Farm bei seiner Verheirathung überkommen, hatte es erst bei zunehmendem Wohlstande mit dem jetzigen Hause und den verschiedenen Anlagen versehen, die Betreibung der geringen Landwirthschaft aber seinen wenigen Schwarzen unter Obhut seiner Frau überlassen, welche, in einfach ländlichen Verhältnissen erzogen, auch nur hierin ihre Befriedigung fand, und führte so, nach Art eines großen Theils der amerikanischen Geschäftsleute, ein völlig getheiltes Privat- und Geschäftsleben. Mit zunehmender Bedeutung war er bestrebt gewesen, seinen Kindern eine seiner Stellung gemäße Erziehung geben zu lassen; so war Jessy zu einer in fashionabeln Verhältnissen lebenden, verwittweten und kinderlosen Schwester seiner Frau gethan, Carry aber später in einer nahegelegenen sogenannten Akademie erzogen worden, und erst nach Jessy’s Rückkehr, die nach dem Tode der Tante erfolgte, war auch die jüngere Tochter wieder in’s elterliche Haus heimgekehrt. Ein noch jüngerer Sohn litt an fortdauernder Kränklichkeit, die ihn zum steten Gesellschafter der Mutter machte und nur mit großen Unterbrechungen ihn eine der städtischen Schulen besuchen ließ.

Das war es, was die Öffentlichkeit von Winter’s häuslichen Verhältnissen wußte; weniger aber war sie über das eigentliche Wesen seines Geschäftes klar, das ihm in verhältnißmäßig kurzer Zeit ohne sichtbare Glücksumstände zu einem nirgends bezweifelten Reichthume verholfen hatte. Man wußte, daß er viel mit Europa arbeitete; bei alledem waren seine Verschiffungen von kaum nennbarer Bedeutung, und sein gesammtes Comptoir-Personal bestand außer ihm nur in einem fast tauben Buchhalter und dem überall gekannten „alten Henderson“, einer Art Schreiber, der indessen ebenso Collector und Ausläufer für das Geschäft, als Factotum für Winter’s Privat-Angelegenheiten vorzustellen schien. Mit dem Buchhalter unter der Hand zu verkehren, war seines Gehörfehlers wegen kaum thunlich; Henderson aber zog bei jeder forschenden Frage eine fast kindliche Miene und sagte: „Da müssen Sie sich an Mr. Winter selbst wenden, ich weiß von nichts und thue nur, was mir aufgetragen wird!“ und so hatte die ältere Geschäftswelt sich an die darbietenden Unklarheiten gewöhnen müssen; war es doch genug, daß Winter selbst in kritischen Zeiten immer „gut wie Gold“ war; die jüngere Welt indessen zerbrach sich mit derlei Scrupeln noch weniger den Kopf, feierte die beiden Mädchen als Schönheiten und gute Partien, erklärte Jessy’s bekannte Sprödigkeit und eigenthümlichen Stolz mit dem doppelten Reichthume, welchen sie durch das Vermögen der Tante besaß, und drängte sich zu den einzelnen „Parties“, welche Winter im Laufe jeden Jahres in Oakhill gab.

Es war acht Tage nach der letztbeschriebenen Scene. In einer der Straßen, welche nur zu Privatwohnungen der kaufmännischen Aristokratie dienen und mit ihren grünumbuschten, von leichten Veranda’s gezierten Häusern eine Doppelreihe geschmackvoller Villen darstellen, standen in einem offenen, mit Orangerien und frischen Blumen geschmückten Eingänge ein alter, noch ungebeugter Mann und eine hellgebräunte Mulattin, Beide sichtlich in Erwartung von etwas Kommendem. „Und ich sage Ihnen, Mister, daß noch Niemand so etwas gesehen hat,“ sprach die Letztere wie in Fortsetzung einer begonnenen Rede, „und wenn Sie in der Logis-Einrichtung nicht eine verkehrte Wirthschaft angestellt haben, Sir, so will ich zeitlebens Baumwolle lesen!“

„Glaub’s, daß Ihnen als junge Frau die Einrichtung nicht behagen würde,“ nickte der Alte mit einem Seitenblick voll stillen Humors, „es wird aber doch so bleiben, sie hat einmal ihre Launen, wie Mr. Winter sagt.“

„Sie hat nicht ihre Launen, Mr. Henderson, und Sie sollten das am wenigsten nachsprechen!“ erwiderte die Farbige eifrig, „ich weiß noch ganz gut die Zeit, wo sie Ihnen oft ihren einzigen Vierteldollar zugesteckt hat, wenn Ihnen das Geld für Kautabak ausgegangen war –“

„Und Sie ihn mir wieder abjagen wollten!“ unterbrach sie der Andere mit ungetrübter Laune.

„Nun ja, Miß Jessy und ich waren eben noch Kinder!“ lachte das Mädchen, während ein reines Roth in ihre bräunlichen Wangen stieg; „ich möchte aber nur wissen, wer von üblen Launen bei ihr sprechen kann, wenn er es nicht eben nur darauf angelegt hat. Ich bin hier im freien Staate und könnte gehen, wohin ich wollte, aber ich möchte lieber drüben über dem Flusse mit auf dem Felde arbeiten, wenn’s sein müßte, als von ihr gehen!“

„Well, Flora,“ sagte Henderson mit plötzlich ernst werdendem Gesichte und gedämpfter Stimme, „wenn Sie sie denn lieb haben, so werden Sie gut thun, die Augen zuzumachen für Alles, was Sie hier sehen sollten, und so stumm zu werden, wie unser Buchhalter taub ist!“ Er nickte ihr mit einem bedeutungsvollen Blicke zu, und das Gesicht der Mulattin hob sich mit dem aufsteigenden Ausdrucke gespannter Neugierde.

„Sie meinen doch nicht, daß das auf die jetzige Art wirklicher Ernst werden soll?“ fragte sie halblaut und mit weit geöffneten Augen.

„Ich meine nichts und sage nichts!“ erwiderte er; „was hier oben Besonderes eingerichtet worden, ist auf ihre bestimmte Anordnung geschehen, und das ist Alles! Ich weiß aber, daß eine einzige unrechte Bemerkung schon mehr Unheil angerichtet hat, als sich jemals hat wieder gut machen lassen, und daß ein schweigsamer Mund noch niemals gefehlt hat!“

„Aber die doppelten Schlösser an ihren Zimmern, Henderson! er wird ja doch ihr Mann!“ flüsterte die Farbige.

„Sie sind’s nicht, die sich verheirathet!“ nickte der Alte entschieden, während er dennoch einen Seitenblick voll leichten Spottes nicht zurückhalten konnte; Flora indessen sah mit erregten Augen in’s Freie hinaus, und eine ganze Welt voll neuer Gedanken schien in ihr zu entstehen.

Da rasselte eine Equipage die Straße herab und hielt vor dem Hause; rasch herzueilend öffnete der Alte den Schlag, und Graham in sorgfältiger, steifer Toilette sprang heraus; ehe er sich aber noch umdrehen konnte, um die ihm folgende Dame zu unterstützen, hatte diese bereits den Boden erreicht und wandte den Kopf wieder nach dem Innern des Wagens. Es war Jessy in einfachster Straßentoilette. „Ich danke Dir herzlich für Deine Begleitung, Vater, aber damit sei es für alles Weitere genug!“ sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit. „Ich bedarf der Ruhe und möchte vor allen Dingen allein sein. Adieu, Carry!“ setzte sie in weicherem Tone hinzu, und in ausbreitendem Schluchzen lag die jüngere Schwester an ihrem Halse. „Besuche mich recht bald und recht oft!“ flüsterte sie dieser zu, als scheue sie sich, die Bewegung in ihrer Stimme laut werden zu lassen; dann aber riß sie sich kurz aus der Umarmung und bot mit einem kalten, ernsten Ausblick dem wortlos harrenden Graham ihren Arm.

Die Equipage rollte davon, und das Paar schritt dem Hause zu.

„Haben Sie die Decoration hier besorgt?“ wandte sie sich beim Erblicken des geschmückten Eingangs nach dem seitwärts folgenden Henderson, und ein halbes Unbehagen ging über ihr Gesicht.

„Es ist eine Aufmerksamkeit meiner Freunde, Jessy,“ versetzte Graham, und es war, als unterdrücke er ein Beben seines Tons; „es konnte Niemand glauben, daß nicht heute ein Tag des Glücks für mich sei!“

Sie antwortete nicht und reichte der ihr entgegenkommenden Mulattin die Hand, auf welche diese ihre Lippen drückte. „Laß das, Flora, und denke, ich sei heute nichts Anderes, als ich jemals war!“ wehrte sie leicht, „gehe voran nach meinen Zimmern, ich werde gleich selbst dort sein!“

Sie hatten die elegante „Halle“ betreten, und Jessy wandte sich mit einer bestimmten Bewegung der ersten Thüre zu, einen der beiden reich ausgestatteten Parlors öffnend, welche das Erdgeschoß des Hauses einnahmen. Sie machte sich nach ihrem Eintritte leicht von dem Arme ihres Begleiters los und hob mit ernster Ruhe den Kopf. „Haben Sie noch irgend einen Wunsch gegen mich auszusprechen, Sir?“ fragte sie. „Wo nicht, so wird das Abendessen zu rechter Zeit bereit sein, und ich werde Sie dabei erwarten!“

„Ich habe allerdings den Wunsch, einige Worte mit Ihnen zu reden!“ erwiderte er, sich nach der offengebliebenen Thür wendend und diese schließend. Dann zog er einen Stuhl herbei und deutete nach dem nächsten Fauteuil. „Setzen Sie sich einige Minuten, Jessy!“

[403] Sie nahm den angewiesenen Sitz ein, während Graham sich ihr gegenüber niederließ, aber der ausschauende Blick des Letzteren traf in ein völlig unerregtes, gleichgültiges Auge.

„Sie sind heute Mistreß Graham, das will heißen: meine Frau geworden, Jessy,“ begann er nach einer kurzen Pause, „wir haben einen Contract auf Lebenszeit gemacht, und ich bin ihn trotz der von Ihnen mir gestellten Bedingungen eingegangen. Ich möchte Sie nun aber fragen, ob wir es für die Dauer eines ganzen Daseins wohl ertragen werden, in einem Verhältniß neben einander herzugehen, das den peinlichsten Zwang in unser häusliches Leben führen, jede heimathliche Wärme, jede innere Befriedigung ausschließen, uns selbst aber für einander zu gegenseitigen Steinen des Anstoßes machen muß – und das Alles ohne eine Hoffnung auf jemalige Aenderung, als Abschluß dessen, was wir für immer vom Leben zu erwarten haben? Sie, Jessy, sind noch zu jung und ich noch zu wenig kalt für eine Zukunft, die nie einen Lichtstrahl böte, und darum muß ich trotz Allem sprechen, was Ihr eigenthümlicher Sinn Ihnen auch als künftige Selbstbefriedigung vorgemalt haben mag. Sie lieben mich nicht, Jessy, aber ich hoffe, Sie dürfen mich achten, und eine auf Achtung gegründete Zuneigung ist dauernder und für das praktische Leben mehr werth, als das Meiste von dem, was Liebe genannt wird. Diese Zuneigung mir aber von Ihnen zu erringen, müssen Sie mir erlauben, Jessy; in ihr liegt die einzige Hoffnung für unseren vereinten Weg, in mir allein haben Sie Ihr ganzes Leben zum Abschluß gebracht, und stoßen Sie mich kalt von sich, verweigern Sie jeden aufrichtigen Versuch, mich von meinen bessern Seiten kennen und so endlich in innigerer Vereinigung mit mir das Leben ertragen zu lernen, so haben Sie sich eben so elend gemacht, wie mich selbst! – Seien Sie vernünftig, Jessy, und glauben Sie doch nicht, daß ein Verhältniß überhaupt bestehen kann, wie Sie es sich ausgedacht!“ fuhr er lebendiger fort und suchte ihre Hand zu fassen; sie aber hatte sich bei seinen letzten Worten rasch erhöben.

„Bleiben Sie von mir, Sir!“ erwiderte sie mit aufblitzendem Auge und trat einen Schritt zurück. „Sie wissen das Elend voll zu malen, das uns erwartet, und dennoch haben Sie den Contract für Lebenszeit vollzogen, haben ihn angenommen, trotz der bündigsten Bedingungen meinerseits – warum, Sir, wenn es nicht unter dem einfachen Vorbehalte geschah, ein schwaches Mädchen zu betrügen, sobald es in Ihre Macht gegeben sei – und soll dies vielleicht die Achtung erzeugen, aus welcher sich eine Zuneigung für Sie entwickelt? Ich habe Ihnen die Abneigung, die in mir lebte, offen genug gezeigt – und Sie haben trotzdem meiner begehrt. Sie haben das gezwungene Opfer nicht verschmäht, das ich dem Glücke meiner Familie brachte, Sie haben mit Ihrem Ehrenworte versprochen, die widernatürlichsten Bedingungen zu halten – wenn nun wirklich der Mensch in Ihnen noch so viel Macht über den Geschäftsmann hat, daß die Folgen Sie elend machen können, so nehmen Sie jetzt auch hin, was Sie selbst hervorgerufen. Ich aber, verlassen Sie sich darauf, Sir, werde eher mein Leben verlieren, als zu einer Selbstentwürdigung meine Hand reichen!“

Graham hatte beim Beginne ihrer Rede langsam seinen Stuhl verlassen, und sein Gesicht zeigte jetzt wieder die gewöhnlichen steifen Züge. „Very well, Ma'am!“ erwiderte er, während ein leichter Ausdruck von Hohn um seinen Mund stand, „Sie wollen Ihren Einfall wirklich in Scene setzen; nun, so müssen wir erwarten, was die Zukunft bringt. Jedenfalls werden Sie mir erlauben müssen, meine Partie noch nicht verloren zu geben. Wenn ich Sie, schon der Dienstleute halber, beim Abendessen sehen dürfte, würde es mich freuen!“

Er hatte sich nachlässig dem Fenster zugewandt; Jessy aber schritt mit erhobenem Kopfe und fest auf einander gepreßten Lippen nach der Halle und dort die mit Teppichen belegte Treppe hinauf.

Oben öffnete sie die Thür zu einem als Sitting-Room elegant eingerichteten Zimmer, dessen offene Seitenthür den Blick in ein kleines Schlafgemach gestattete, und bedeutete wortlos die ihr entgegenkommende Mulattin, sie zu verlassen. Dann schloß sie die Thür ab, that Hut und Shawl von sich und wandte sich nach dem Schlafzimmer. Lautlos fiel sie hier an ihrem Bette in die Kniee und drückte das Gesicht in die Kissen; aber ihr ganzer Körper zuckte unter einem gewaltsam hervorbrechenden Schmerze, von dem Niemand erfahren durfte, als Gott und ihr eigenes Herz.




5. In’s neue Leben.

Im vierten Stocke eines großen amerikanischen Hotels befanden sich in einem kleinen Zimmer, das von der breiten Bettstelle darin zum größten Theile eingenommen wurde, zwei junge Männer. Der Eine benutzte den engen Raum, um nachdenklich auf und ab zu wandern; der Andere saß an einem schmalen Tische, starrte in das Licht der Kerze vor sich und pfiff halblaut eine Melodie, die er mit einem Trommeln seiner breiten Finger begleitete.

„So, hier wären wir also!“ unterbrach der Letztere plötzlich seine Unterhaltung, ohne indessen seine Stellung zu ändern, „und hoffentlich wird man einmal wieder eine Art Mensch werden können. Sechs Wochen auf dem Schiffe eingepökelt,“ begann er an den Fingern herzuzählen, „drei New-Yorker Tage und Nächte mit den Wanzen Krieg geführt und endlich in die Flucht geschlagen worden; acht Tage mit Dampf- und anderen Booten auf der Reise und keinen Laut vor den Ohren, als das englische Kauderwälsch, keinen Bissen im Munde, den eine vernünftige Creatur verschlucken würde, wenn sie nicht unter diesen Unmenschen verhungern müßte – gut! bis hierher und nicht weiter, sonst könnte man aus purer Alteration jetzt schon das Heimweh bekommen –“ er zog eine wunderliche Grimasse und preßte die zusammengeballte Hand fest auf den Tisch. Dann aber drehte er mit einem beobachtenden Blicke den Kopf nach dem Gefährten. „Noch immer nicht zu sprechen, Herr Referendar?“ fragte er nach einer kurzen Weile.

Der Angeredete hemmte seinen Schritt, blickte den Dasitzenden eine Secunde lang wie gedankenabwesend an und strich sich dann mit der Hand über das Gesicht. „Hast Recht, Heinrich, es kommt bei dem Grübeln jetzt am wenigsten heraus,“ sagte er, sich langsam auf den Rand des Bettes niederlassend, „aber die Gedanken, die sich jetzt erst mit einem Male einstellen, lassen sich kaum abweisen. Für unsere beiderseitige Existenz wäre es wahrscheinlich besser gewesen, wir wären in New-York geblieben –“

„Wenigstens kürzer und wohlfeiler!“ brummte der Andere.

„Richtig! indessen weißt Du, was mich hieher zog, und die Stadt ist groß genug, um Chancen jeder Art zu bieten – Du sollst auch unter keinen Umständen bereuen, daß Du mir treulich gefolgt bist, denn ich behalte wenigstens noch Geld genug, um Dich nöthigenfalls wieder nach New-York spediren zu können.“

„Heiliges –! das fehlt mir gerade noch, um desperat zu werden!“ unterbrach ihn Jener aufspringend. „Die Reise über das Wasser herüber hat er für mich bezahlt, gefüttert hat er mich bis hierher, und nun – aber warte einmal!“ Er trat dicht vor den Dasitzenden und legte beide Hände auf seine Schultern. „Ein Tischler, der sich zu helfen weiß, Hugo, findet in diesem Amerika seinen Verdienst überall, und im Lande drin oft noch besser, als in New-York, wo alles Fremde sitzen bleibt. Darum konnte mir’s nur recht sein, daß ich mit Dir hierher ging, und Gott gebe mir nur einen deutschen Meister und ein ordentliches Glas Bier. Ueber Deine Sachen hatte ich nichts zu sagen und nichts zu denken, aber ich wußte doch eins, von dem ich in New-York ganz absonderliche Beispiele gesehen. Wo der Handwerker hier fortkommt, hat der feine Mann mit aller Gelehrtheit oft Noth, und ich habe mein Gewissen, das schwer von alle dem Gelde ist, das ich Dir entzogen, damit getröstet, daß, wenn einmal eine Zeit eintreten sollte, wo – na und so weiter!“ unterbrach er sich mit einer raschen, halbverlegenen Kopfbewegung, „daß dann der Mangold auch da wäre, um jedenfalls als seine verfluchte Schuldigkeit Alles zu theilen, was er hat und verdient. – Das aber habe ich sagen müssen,“ fuhr er rascher fort, als fürchte er eine Unterbrechung, „damit ich Dir wenigstens wieder gerade in’s Gesicht sehen kann, und willst Du mich einen Esel nennen, so habe ich in Gottes Namen auch nichts dawider! So! und nun rede von Deinen Sachen!“

Er nahm seinen Sitz wieder ein; Hugo aber sah mit leicht zusammengezogenen Brauen vor sich nieder und blickte erst nach einer kurzen Weile, dem Tischler die Hand entgegenstreckend, auf. „Es ist gut, Heinrich, und Du hast jedenfalls praktischer geurtheilt, als ich,“ sagte er, den kräftigen Druck des Andern erwidernd; „ich weiß jetzt selbst kaum, was ich hier will. Da ist die Karte,“ fuhr er, langsam sein Portefeuille ziehend, fort, „die ich wie einen Schicksalswink betrachtete, als ich sie in Deinem Briefe fand, die mir auf der ganzen Reise ein Ziel gab, da ich nirgends ein anderes hatte, und der ich ohne einen andern Gedanken gefolgt bin, als daß es Wohl gleich sei, wo ich mein neues Leben beginne. Ueber dem Flusse, ein Stück drüben in’s Land hinein, soll jetzt die [404] Besitzung liegen; und nun – was will ich dort, oder in welcher Eigenschaft könnte ich mich einführen, selbst wenn sich meine Vermuthung über den Absender bestätigte?“

„Weiß doch nicht, ob es nichts helfen könnte, sich einmal die schöne Gegend zu besehen,“ erwiderte der Andere, sich nachdenklich die Nase reibend; „umsonst werden solche Einladungen nicht gemacht, und ich wenigstens ließe sie nicht aus, da wir doch einmal hier sind!“

„Und was weiter, Heinrich? Soll ich den Leuten sagen, daß ich im Augenblicke ohne Mittel für eine anständige Existenz bin und die erste beste Stellung, welche sich mir bietet, annehmen muß? oder den unabhängigen Mann spielen, damit ich mich später um so mehr bloß gebe?“

Der Tischler hob mit einem launigen Aufblicke den Kopf. „Du magst Deinen besondern Grund haben, nicht geringer als früher aufzutreten,“ sagte er, und in des Referendars Gesicht trat ein leichtes Roth, „ich denke aber doch anders! Wenn es die richtige Person war, von der die Karte kam, so war es auch damals ein Freundschaftswink, Dich aus dem Staube zu machen; und kommst Du jetzt nach der Ordre, um die schöne Gegend zu bewundern, so wird Niemand erwarten, daß Du erst Deine Capitalien flüssig gemacht hast!“

Der Andere schüttelte den Kopf und erhob sich rasch. „Du sollst Recht haben, Heinrich,“ rief er, „ich mag auch meinetwegen ein Narr sein, wie ich es in künftigen Verhältnissen nie sein würde; als Hülfsbedürftiger aber trete ich dort nicht auf!“ Er machte einen raschen Gang durch das Zimmer. „Es giebt hier Schulen, Gymnasien und Erziehungsanstalten, so viel ich gehört,“ fuhr er dann fort, „ich habe noch etwas mehr gelernt, als Jurisprudenz, und hoffe mir irgendwo als Lehrer eine äußerlich anständige Stellung zu schaffen; andernfalls finden sich vielleicht Chancen in den fremden Verhältnissen, von denen man jetzt noch nichts weiß – erst aber jedenfalls irgendwie festen Fuß fassen, ehe ich mich Leuten zeigen mag, die – –“ er fuhr sich mit der Hand in das dichte Haar und wandte dem Gefährten wieder den Rücken.

Da klangen von der dunkeln stillen Straße halbgedämpfte Orgeltöne herauf, der Tischler hob überrascht den Kopf und fuhr dann mit einem plötzlichen „’s ist ein Leierkasten, ein richtiger Berliner Leierkasten!“ in die Höhe. Einige Secunden lauschte er völlig starr, dann brach er wie verzückt los: „Hörst Du’s, Hugo? Hörst Du das Lied? ob denn da nicht ein Thüringer Kind in dem verkehrten Lande gleich losheulen möchte?“

Hugo hatte seinen Schritt angehalten und horchte mit gesenktem Kopfe den rein harmonirenden, sanften Klängen, die ihn mit einem Schlage wieder in die abendlichen Straßen von Berlin und sein früheres sorgenloses Leben versetzten; als aber die Wiederholung der Melodie begann, schloß sich ihr plötzlich eine helle Mädchenstimme in dem Corridore vor dem Zimmer an:

„Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?“

und Heinrich zuckte wie unter einem elektrischen Funken auf. „Das ist eine Thüringerin, o du gesegnetes Haus!“ rief er exaltirt und stand in der nächsten Secunde auch schon an der Thür. Der Referendar war neugierig herangetreten, als sich diese öffnete, und sah ein knappes frisches Dienstmädchen mit dem Reinigen der Treppe beschäftigt, aber halb erschrocken zurückfahren, als der Tischler mit der Bewegung zu einer raschen Umarmung auf sie zueilte.

Unwillkürlich lächelnd schloß der Lauschende das Zimmer. „Du wirst hier jedenfalls Dein Fahrwasser finden!“ murmelte er und warf sich auf den Rand des Bettes, und als Minute nach Minute verstrich, ohne daß Jener an das Zurückkommen zu denken schien, war er bald wieder seinen eigenen Gedanken verfallen, trat das Bild des hohen Mädchens wieder vor ihn, das während der langen Reise ihm wie ein leuchtender Zielpunkt vorgeschwebt und dem er sich doch jetzt, wie im plötzlichen Erwachen, so ärmlich und niedrig gegenüber gestellt sah, daß die Wirklichkeit seinen unbestimmten Träumen wie lebendiger Hohn in’s Gesicht blickte – begann er das, was er unterwegs über die Verhältnisse der Stadt gehört, auf’s Neue sich vor die Seele zu stellen und einen Plan zur möglichst raschen Ergründung aller für ihn vorhandenen Chancen zu entwerfen. Schon in Hamburg, beim Einwechseln seiner Baarschaft in amerikanisches Geld, hatte er mit Schrecken gesehen, wie diese nach dem Dollarfuße zusammenschmolz, und hatte deshalb bereits der Dampfschiffpassage die längere, aber bedeutend billigere Reise mit einem Auswandererschiffe vorgezogen. Nach dem Landen im New-Yorker Hafen aber erkannte er erst, wie weit alle seine Berechnungen hinter den wirklichen Ausgaben zurückblieben, und als er endlich, ohne nur daran gedacht zu haben, sich nach der Ueberfahrt von dem Tischler zu trennen, mit diesem das vorgesetzte Reiseziel erreicht, hatte er mit wirklicher Sorge die ihm noch übrig gebliebene Baarschaft durchzählt. Vor einem halben Jahre durfte er nicht auf die Uebersendung des Restes seines kleinen Vermögens rechnen, und noch einmal Vorschuß von Römer fordern, erschien ihm als ein Mißbrauch der Freundschaft, zu welchem er sich in der höchsten Noth kaum hätte verstehen können. Einmal indessen hätten auch bedeutendere Mittel ihr Ende erreichen müssen, und vielleicht war es recht gut, daß er gezwungen war, gleich rasch und bestimmt nach seiner künftigen Existenz zu sehen – der frische Jugendmuth hob sich wieder in ihm, konnte ihm doch bei dem fertigen Verständniß der Landessprache und seinem übrigen Wissen kaum ein einigermaßen erträgliches Unterkommen in der großen Stadt fehlen, und als nach fast einer halben Stunde der Tischler wie der Marder, der vom Taubenhaus kommt, in das Zimmer trat, vermochte er diesen mit einem gutgelaunten „Du fängst mit schönen Streichen an, Heinrich!“ zu empfangen.

„Ja,“ erwiderte der Angeredete, mit plötzlich ernstwerdendem Gesichte stehen bleibend, „ob es nicht wunderbar ist, daß der Mensch erst nach Amerika gehen muß, um sich das Rechte aus der Heimath zu holen! ’s ist eine Arnstädterin, und das Mädchen, Hugo – heirathe ich einmal, wenn der Stock nicht mehr beim Hunde liegt!“

„Beschlaf es noch einmal und sieh Dir morgen die Sachen bei Tageslicht an!“ lachte der Daliegende.

„An’s Schlafen soll es sogleich gehen,“ nickte der Andere, sich zugleich seines Rockes entledigend, „aber wegen des Uebrigen –

Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?“

sang er plötzlich und war mit einem Satze im Bette.

(Fortsetzung folgt.)




Der Bauernkönig.

Die dritte Session des preußischen Abgeordnetenhauses unter der neuen Aera, die von 1861, hatte begonnen, Alles war wohlbestellt: liberale Minister regierten; aber fast drei Jahr lang regierten sie schon, ohne daß sie einen rechten Fortschritt gemacht hätten; eine liberale Kammer befand sich mit ihnen im zärtlichsten Freundschaftsverhältniß, durchgehends von wasserblauer constitutioneller Farbe, und so gouvernirt wie amüsirt durch den liberalen Junker Georg von Vincke, den allgewaltigen Kammerkönig. Nur nicht drängen, nur nicht fordern! hieß es vom Ministertisch herunter; nur nicht drängen, nur nicht fordern! hallte das Echo in der Kammer zurück; nur nicht drängen, nur nicht fordern! murmelte etwas seufzend das Volk nach.

Da plötzlich tritt in diese Versammlung der preußischen Abgeordneten eine hagere Gestalt mit einem schneeweißen Kopf. Aller Augen richten sich auf ihn; General Vincke wirft ihm einen seiner eifersüchtigen Mephistoblicke zu; Graf Schwerin lugt unter der Brille nach dem alten Mann hinüber mit dem tiefgefurchten Gesicht, auf dem ein Gemisch von Selbstbewußtsein und Bitterkeit, Mißtrauen und Gram, tiefem Ernst und Listigkeit seinen markanten Ausdruck gefunden.

„Waldeck! Waldeck!“ raunt Einer dem Andern zu, und neugierig recken sich die Hälse. „Waldeck ist wieder in der Kammer!“

So fliegt’s durch alle Zeitungen wie eine der wichtigsten Kunden, und weit über die Grenzen Preußens hinaus wird die Bedeutung dieses Ereignisses gewürdigt, denn mit ihm zog nach zwölfjährigem Exil, nach jahrelanger Verfolgung, Verhöhnung und Beschimpfung, die alte Demokratie wieder in die parlamentarische Arena, ernster und erfahrener geworden, versöhnt mit dem Bestehenden

[405] und doch in ihrer Idee sich treu geblieben. Ja, da war sie nun wieder, die verwetterte Standarte der alten Demokratie, die aus einer wogenden Meinung eine strenge Schule, aus einer abstrakten Idee ein fester Körper von Fleisch und Blut geworden war – und gerade durch die Reaction, trotz ihr.

Benedikt Waldeck.

Jedermann fühlte, daß Waldeck, der nach mehrjährigem Zögern wieder ein Mandat angenommen, es deshalb gethan haben mußte, weil er etwas zu sagen hatte. Er war ein Haupt der Demokratie in Preußen, die seit dem Jahre 1858 wieder aufgelebt war und sich dem politischen Leben angeschlossen hatte, ohne anfänglich die Vertretung ihrer eigenen Sache zu verlangen. Sie hatte die wasserblauen Liberalen zu ihren Mandataren gemacht. Mit Waldeck’s Wiedereintritt in das parlamentarische Leben war es anders: jetzt war dieser der Mandatar seiner Partei und er hatte ihr die Losung für die nächste Zukunft zu geben.

Am 8. Februar 1861 schon bestieg Waldeck die Tribüne und sprach. Diese erste Rede, athemlos von der Versammlung mit angehört und von Beifall oft unterbrochen, war das gehoffte Ereigniß. Sie gab Vertrauen und contrasignirte den Versöhnungspact der Demokratie mit der Verfassung; sie klang den liberalen Ministern, dem Kammerkönig und den preußischen Girondisten wie Musik des Verdienstes in die Ohren; aber bei alledem tönte aus ihr doch die Idee der Demokratie hell und frisch heraus. „Drängen! Fordern!“ So klang der Refrain, und die Vinckeaner nickten in heimlicher Freude die Köpfe, daß ein Demokrat aussprach, was sie aus lauter Liebesgefühl auszusprechen sich scheuten, und die Demokratie zuckte elektrisch zusammen: Ja, drängen, fordern, was Recht ist und so viel wir das Recht dazu durch die Verfassung haben! Und im Lande, im Volke überall scholl es als mächtiges Echo zurück, wie tief und voll dem Herzen entstiegen: Ja, drängen, fordern, damit wir im liberalen Sumpf nicht stecken bleiben und Fortschritte mit der Verfassung machen!

So war durch Waldeck das Signal einer neuen Epoche der Demokratie gegeben, und der Gedanke seiner ersten Rede wurde bald darauf dem Programm der deutschen Fortschrittspartei, soweit es deren innere Politik betraf, einverleibt. Die Demokratie, die viel gelernt und glücklicher Weise auch viel vergessen hatte, war in die neue Fortschrittspartei aufgegangen, zum Zeichen, daß sie den revolutionären Boden von 1848 verlassen und den der gesetzlichen Reform betreten hatte.

Es lag etwas ungemein Versöhnendes gerade darin, daß Waldeck es war, der diesen Eintritt in die neue Bahn vermittelte. Er hatte von allen Führern der alten Demokratie wohl am meisten durch den Fanatismus der Reaction zu leiden gehabt; auf ihn vor Allem hatte sich der grimmige und blutgierige Haß derselben geworfen und ihn mit allen nichtswürdigen Mitteln um Freiheit und Ehre zu bringen gesucht. Wer entsinnt sich nicht noch des Hochverrathsprocesses, den ihm Herr von Hinckeldey auf Anstiften so elender Creaturen wie Ohm, Piersig und des noch jetzt im Preußenverein zu Berlin arbeitenden Gödsche im Jahre 1849 machen ließ? Das Bubenstück war so frech und gemein, daß zuletzt selbst der Staatsanwalt mit Entrüstung darüber sprach und Waldeck’s Freisprechung beantragte. Sie erfolgte zum stillen Grimm der Kreuzzeitung, und auch die verächtliche Aufforderung einiger Obertribunalsräthe an ihren demokratischen Collegen, wie ein Anrüchiger aus dem höchsten Gerichtshof der Monarchie zu scheiden, [406] blieb ohne Erfolg. Der Richter Waldeck hatte nichts mit dem politischen Charakter desselben, mit seiner Eigenschaft als demokratisches Haupt gemein. Nach wie vor sitzt Waldeck im Geheimen Obertribunal, dem er seit dem Jahre 1846 definitiv angehört, und kein Jurist als solcher wird leugnen, daß er eine Zierde desselben und seiner Wissenschaft ist. Das verhindert freilich nicht, daß ihn noch heut die preußischen Justizminister und viele Andere zum Teufel wünschten; aber Wünsche dieser Art giebt es frommer Weise in jeder Partei, und sie richten sich recht oft sogar selbst gegen die Minister.

Zwölf Jahre lang, von 1849 bis 1860, lebte Waldeck still und einsam lediglich seiner Rechtswissenschaft. Wie seine Partei, hielt er sich von allem politischen Leben Jahre lang fern; wie diese sammelte er neue Kräfte und blieb der Alte in seinem Glauben. Die Schule des Unglücks läuterte die Demokratie, befreite sie von ihren Irrthümern, verknüpfte sie inniger als zuvor mit dem wirklichen Leben.

Erst 1860 trat Waldeck wieder aus seiner Zurückgezogenheit heraus, indem er sich an dem deutschen Juristentag betheiligte. Ein Mandat lehnte er damals, wie die anderen Führer der Demokratie, noch ab – denn, wie gesagt, die Vincke’schen Liberalen hatten damals die Aufgabe der Zeit zu erfüllen. Erst als diese sich unfähig dazu zeigten, gab die Demokratie ihre passive Haltung auf, um vor Allem dem Ganzen, gewiß nicht um lediglich ihren Interessen zu dienen. Und dieser Waldeck, den die Reaction zu einem rothen Gespenst gestempelt hatte, vor dem alle Philister eine Zeitlang ein Grauen überkam und mit dem die Schulkinder wie mit dem schlimmen Nicolaus geschreckt wurden, dieser Waldeck trat nun auf wie ein ganz vernünftiger, ganz ungefährlicher Mann; die Philister schämten sich nun ihrer Angst und fanden, daß Waldeck gar kein so fürchterlicher Mensch sei; die Demokraten getrauten sich wieder, sich Demokraten zu nennen, nachdem der durch den Janhagel von 1848 entstandene und von der Reaction colportirte, anrüchige Nebenbegriff von Umstürzlern, Revolutionären und mordlustigen Communisten angesichts der wirklichen demokratischen Eigenschaften sich verloren hatte. Es dämmerte überall jetzt die Ueberzeugung auf, daß man einer politischen Gesinnung jeder Art dienen könne, ohne an seinem persönlichen Charakter dadurch beschädigt zu werden, und daß überall die Redlichkeit und Festigkeit der Parteimeinung von dem bloßen Maulheldenthum derselben zu unterscheiden sei.

So ist es gekommen, daß Waldeck heut bei allen seinen Gegnern in Achtung steht, denn man weiß es, er ist sich treu geblieben, in seinen Tugenden wie in seinen Schwächen – ein starrer Charakter, der lediglich das Ziel im Auge hat, dem er seit dreißig Jahren energisch nachgestrebt, und der niemals rechts und niemals links davon abweichen will, selbst wenn er dadurch an Popularität, vielleicht auch an praktischem Erfolg gewönne. Er ist eben ein alter Demokrat, der aus den Zeiten hervorgegangen ist, in denen die demokratischen Ideen erst zu geringer Klarheit im Volke gekommen waren und sich unreif meist nur in Studentendemonstrationen und literarischen Productionen äußerten. Mit echt westphälischer Zähigkeit bleibt Waldeck auf diesem Standpunkte; denn außer seinem Streben, die allgemeinen Principien der Demokratie in das Staatsleben einzuführen, richtet sich seit dreißig Jahren seine Hauptkraft darauf, die Freiheit der Gemeinde, des Bauers, als erste Bedingung staatlicher Freiheit, zur Geltung zu bringen.

Benedikt Waldeck ist am 31. Juli 1802 im alten Münster geboren, so daß er also seine Kindheit unter der Franzosenherrschaft verlebte, die mit der cäsarisch zugestutzten Einführung der Ideen der Revolution nicht eben Anstand nahm. Hier sind die Wurzeln der deutschen Demokratie überhaupt und auch die der Waldeck’schen Gesinnung zu suchen. Auf der Universität Göttingen, wo er mit Heinrich Heine zusammen Poesie und dramatische Scherze trieb, bildete er sich zum Juristen aus, und 1828 kam er schon als Oberlandesgerichts-Assessor nach Halberstadt, 1832 als Gerichtsdirector nach Vlotho in Westphalen, später nach Hamm als Oberlandesgerichtsrath und 1844 in das geheime Ober-Tribunal zu Berlin, dem er seit 1846 als Rath angehört.

Zu den Ideen aus der Franzosenherrschaft kamen selbstverständlich später die Einflüsse des verbotenen deutschen Liberalismus, der in Folge der Carlsbader Beschlüsse ein ziemlich die ganze gebildete Welt umfassender wurde und durch die Julirevolution wesentlich mit neufranzösischen Ideen gekräftigt, aber auch irritirt wurde. Wir deuten dies nur an, um damit zu sagen, daß Waldeck ebensowenig wie Anderen die politischen Grundsätze angeflogen sind, wie solche denn stets aus den Einflüssen der Zeit hervorgehen.

Mit instinctiver Zähigkeit hatte sich Waldeck – geleitet dabei unstreitig durch den angeborenen westphälischen Freisassensinn – schon in Vlotho mit den bäuerlichen Verhältnissen eingehend beschäftigt. Er faßte dieselben ganz den Ideen von 1789 gemäß auf, und in seiner ersten Schrift, „über das bäuerliche Erbfolgegesetz in Westphalen“, plaidirte er nicht nur für die freie Dispositionsbefugniß des Bauers über sein Eigenthum, sondern auch für die Stein’sche Agrargesetzgebung von 1807 – nebenbei gesagt, auch ein Resultat der französischen Revolutionsideen, wie alle Stein’schen Reformen und sonach wie das ganze damals neu errichtete Preußen. Insofern ist Preußen wirklich ein demokratischer Staat, unbeschadet, daß es ein königlicher ist.

Die angeführte Schrift machte viel Aufsehen und bestimmte die preußische Regierung, Waldeck’s Vorschläge zu prüfen. Er wurde sogar Mitglied der deshalb in Münster eingesetzten Commission, doch kam die Angelegenheit nicht zum Austrag. Im Jahre 1848 aber bewirkte Waldeck die Aufnahme eines darauf gerichteten Gesetzes in die Verfassung. Das war freilich nicht im Sinne der feudalen Aristokraten, sondern es war ein demokratische That; aber zufällig wurde sie außerdem auch sehr wohlthätig für die westphälischen Bauern und ist es bis heutigen Tages noch. Wie populär Waldeck sich durch alle diese Bestrebungen bei der ländlichen Bevölkerung gemacht hatte, deutet der Umstand an, daß man ihn damals, also in den 30er Jahren, in Westphalen allgemein nur den „Bauernkönig“ nannte.

In allgemeiner Beziehung äußerte sich die demokratische Gesinnung Waldeck’s auch in der Auffassung des Gerichtswesens. Er war es, der 1843 die Jubelfeier zu Soest anregte, wo von dem Richterstande das Princip gefeiert wurde, welches in der zehn Jahre zuvor erlassenen königlichen Verordnung des mündlichen und öffentlichen Gerichtsverfahrens in Bagatellsachen ausgedrückt war. Seine Rede bei diesem Feste machte durch seine begründeten Forderungen nach Justizreorganisation und Proceßgesetzgebung ungewöhnlichen Eindruck in den betreffenden Kreisen, und es war wohl ein schöner Triumph, als bald darauf diesen Forderungen entsprochen wurde und auch aus dem Gerichtswesen die alten feudalen Einrichtungen verschwanden. Das war auch wieder demokratisch, aber alle Welt, außer der Kreuzzeitung, findet es heut für sehr gut.

Die Bewegung von 1848 mußte natürlich von Waldeck, in welchem deren Geist schon längst gearbeitet hatte, mit großer Leidenschaftlichkeit erfaßt werden. Jetzt war ja die Zeit gekommen, da der Staat auf den Grundlagen der Demokratie reorganisirt werden sollte, da der noch bestehende mittelalterliche Feudalismus den Einrichtungen des bürgerlichen Rechtsstaates Platz zu machen hatte. Waldeck wurde in Berlin und anderwärts gewählt, und trat in die preußische Nationalversammlung, deren Vicepräsident er dreimal, zuletzt bei deren Auflösung, war.

Es gelang ihm, die verschiedenen Fractionen der Linken unter seiner Leitung zu einigen und damit das Haupt der Opposition in der Versammlung zu werden. Er nahm dadurch eine bedeutende Machtstellung ein, die ihm namentlich den Haß der Reaction zuzog. Und doch übte Waldeck immer nur einen mäßigenden Einfluß auf seine Partei aus, in der viel republikanische Tendenzen und wilde Leidenschaften herrschten. Durch geschickte Transactionen mit den Centren unter Unruh und Kirchmann schwächte er die meisten leidenschaftlichen Anträge der äußersten Linken ab und gewann für diese alsdann die Majorität. Unter den damaligen Umständen war es wohl ein Verdienst, so zu handeln, und doch an Ansehen und Popularität nicht einzubüßen.

Was nun Waldeck’s Thätigkeit in der Nationalversammlung von 1848 speciell betrifft, so dürfte heute von Seiten der Vernunft gar keine Anklage gerechtfertigt sein. Diese Thätigkeit war allerdings eine echt demokratische, aber sie war keineswegs revolutionär, noch unheilvoll, wie sich am besten durch die später folgenden Ereignisse herausgestellt hat.

Waldeck bewirkte die Einsetzung einer Verfassungscommission, deren Vorsitzender er wurde und welche die neue Constitution für Preußen entwerfen sollte. Ehe dieser Entwurf beendet war, erfolgte im November 1848 die Auflösung der Versammlung – [407] aber in der octroyirten Verfassung Manteuffel’s vom 5. December 1848 finden sich viele dieser zum Theil von Waldeck selbst gearbeiteten Commissionsentwürfe wieder vor. Waldeck entwarf ein Preßgesetz, das ebenfalls nicht zur Abstimmung kam; ferner die Habeas-Corpus-Acte, die angenommen ward; eine Aufruhr-Acte und eine neue Gemeinde-, Kreis- und Bezirks-Ordnung, die alle unerledigt blieben. Erfolgreich wirkte er auch für Aufhebung der aristokratischen Grundsteuerbefreiungen und, als entschiedener Gegner aller feudalen Vorrechte, gegen das Jagdrecht. – Darauf hat sich die Thätigkeit Waldeck’s in der Nationalversammlung von 1848 vornehmlich concentrirt, und sie macht dem Manne in Allem Ehre; kaum daß darin Spuren einer damals gewiß verzeihlichen leidenschaftlichen Ueberstürzung zu finden sind. Auch ist es ein schöner Zug Waldeck’s, daß er immer mit Liebe dieser constituirenden Versammlung von 1848 gedenkt, sie bei jedem Angriff vertheidigt, auf ihre Arbeiten als auf werthvolle zurückgreift. Gleich nach seinem Wiedereintritt in das parlamentarische Leben, 1861, stand er stolz für diese Nationalversammlung gegen die cynischen Angriffe des Kammerkönigs Vincke ein.

Zuletzt leitete er die energische Opposition des preußischen Parlaments gegen das Cabinet vom November. Er schloß sich dem Steuerverweigerungsbeschluß an und verfaßte die Anklageschrift auf Hochverrath gegen das Ministerium, präsidirt von demselben Cürassier-General Grafen Brandenburg, dem man kürzlich, Gott weiß wofür! ein Denkmal auf dem Leipziger Platz in Berlin gesetzt hat, just als sollte Waldeck, der alle Tage daran vorübergehen muß, damit geärgert werden. Wohl trat die Versammlung zuletzt über das äußerste formelle Recht, aber doch nur aus Nothwehr. Als auf einen Wink von Waldeck ein erbitterter Bürgerkrieg losbrechen konnte, da empfahl er Ruhe und passiven Widerstand. Heut’ lächeln wir über diesen, namentlich wenn wir der Bürgerwehr gedenken; aber daß allein die Selbstbeherrschung Waldeck’s und seiner Freunde ein unendliches Unglück verhütete, das darf ihm als Verdienst nicht vergessen werden.

Für die durch die octroyirte Verfassung im Februar 1849 berufene zweite Kammer wurde Waldeck nicht weniger als sechs Mal gewählt. Die Thätigkeit in dieser Versammlung war um so geringer, als das Ministerium absichtlich keine Arbeiten vorlegte und sich alles Interesse auch nur um die deutsche Frage drehte. Waldeck setzte zuletzt aber doch durch, daß dem Ministerium wegen des verhängten Belagerungszustandes ein Mißtrauensvotum gegeben wurde, in Folge dessen die Kammer Ende April aufgelöst wurde. Das Ministerium war aber inzwischen durch die sich vollziehende Auflösung des Frankfurter Parlaments mächtiger geworden, die Reaction faßte überall Fuß, und die unglücklichen Aufstände in Dresden und am Rhein boten ihr die vortrefflichste Gelegenheit, endlich den beschlossenen Vernichtungskrieg gegen die Demokratie zu unternehmen. Es mußte ein Hauptschlag sein, wenn es gelang, sie in ihrem mächtigsten Chef, in Waldeck, zu treffen, und da man rechtlich dem Manne nichts anhaben konnte, so sorgten die elenden Handlanger der Reaction, daß es mit der Lüge geschehen könne. Am 16. Mai 1849 verhaftete man ihn und klagte ihn des Hochverraths an; aber mehr als alles Andere sagte schon damals der Instinct dem Volke, daß nur die Bosheit und Niedertracht ihn dessen zeihen konnte. Und der Instinct war richtig – mit der Freisprechung Waldeck’s hatte die Demokratie eine Ehrenerklärung erfahren und an Moral außerordentlich vor der herrschenden Reaction gewonnen. Von diesem Zeitpunkt an ist auch ihre innere Kräftigung, ihr neues Leben zu datiren.

Die mit dem Jahre 1861 wiederbegonnene parlamentarische Thätigkeit Waldeck’s ist in Wahrheit eine Fortsetzung der früheren. Der alte Demokrat ist noch heute derselbe. Welche Folge seine erste Rede hatte, haben wir bereits erzählt. Waldeck war der Einzige seiner Partei in der Kammer von 1861, aber er griff nichtsdestoweniger rührig in die Verhandlungen ein. Die demokratische Reform der Gemeindeverfassung und der Agrarverhältnisse rief auch diesmal wieder all seinen Eifer wach, den man mit Unrecht seine Einseitigkeit, seinen Eigensinn nennt; gerade auf diesem Gebiet ist er der alte, zähe Demokrat von Verdiensten. So stimmte er 1861 gegen die Grundsteuer, polemisirte gegen die neue Militärorganisation, arbeitete an den Bergwerksgesetzen und an dem Bericht über das Handelsgesetzbuch und dessen Einführung. Auch forderte er die Wiederherstellung der Gemeindeordnung von 1850 und brachte in der nächsten Session, in der die Demokratie zahlreicher vertreten war und welche deshalb auch bald aus lauter Angst aufgelöst wurde, einen revidirten Entwurf derselben mit Motiven ein, ohne daß es ihm jedoch damals schon gelang, ihn zur Verhandlung im Plenum zu bringen.

Waldeck ist jetzt ein Mitglied der Fortschrittspartei, welche die Majorität des Abgeordnetenhauses bildet. Nicht in Allem harmonirt er mit ihr, und man beklagt sich manchmal im Stillen darüber, sieht den alten Mann oft mit Mißmuth seinen eigenen Weg gehen. Man hat Unrecht. Waldeck ist und bleibt der Träger eines fest ausgeprägten demokratischen Gedankens, der eigentliche Bildner der alten demokratischen Partei in Preußen. Wenn er manchen Bestrebungen, namentlich der jüngeren Demokratie, auch etwas fremd gegenübersteht, so muß man bedenken, daß er darum in der Idee mit ihr doch vollständig eins ist und durch sein Alter ein Recht hat, den Jüngeren ihre Specialitäten allein zu lassen, wie er die seinige noch immer jugendkräftig vertritt. Namentlich in der deutschen Frage, heut die Basis unserer Demokratie geworden, auf der alle ihre Sonderinteressen einheitlich ineinander laufen, steht Waldeck nicht durchaus auf dem Programm der deutschen Fortschrittspartei. Nichtsdestoweniger hat er in einer Rede vom 2. März 1861 über diesen Gegenstand sich klar und bezeichnend ausgedrückt. Er erkannte darin die Bestrebungen des Nationalvereins an, die Nothwendigkeit eines deutschen Centralparlaments, in dem aber auch Deutsch-Oesterreich vertreten sein soll; er erkannte das Anrecht Preußens auf die erste Rolle in Deutschland an, aber er meinte auch nicht mit Unrecht, es könne dasselbe erst dann verwerthen, wenn es in seinem Innern freiheitlicher entwickelt sei, und es müsse um seiner deutschen Mission willen also vor Allem darauf hinarbeiten, sich selbst erst besser – begehrlicher zu machen. Danach würde es nun wohl nicht so schnell mit dem neuen Deutschland gehen, welches das deutsche Volk an die Erben Friedrich’s des Großen übertragen möchte.

Schmidt-Weißenfels. 




Ein deutscher Heldentod in Siebenbürgen.

Fern im Osten, im schönen Siebenbürgerlande, wohnt ein deutsches Völkchen von beinahe 200,000 Seelen. Es könnte glücklich sein, arm ist es nicht, weder in materieller noch geistiger Beziehung, und der Geist der wahren Freiheit, den es vor siebenhundert Jahren als bestes Erbe aus der deutschen Heimath mitgebracht, er lebt in ihm noch fort, wie es auch in seinen Volksliedern singt:

„Wo weder Knecht
Noch Herrngeschlecht
Der freie Geist mag leiden.“

Aber, Ihr Männer und Frauen im großen deutschen Vaterlande, dieses brave Volk ist heimwehkrank, es bereut jetzt wie noch nie die Entfernung von der Heimath. Schon geht die ernste Sage durch’s Volk: Noch 100 Jahre, und der deutsche Volksstamm in Siebenbürgen ist erloschen; und was diesen Glauben noch bestärkt, ist der Umstand, daß von den 11 sächsischen Kreisen schon in dreien die Obergewalt in den Händen einer andern Nation ist. Und doch erfreute das Sachsenland sich von je wackerer Männer, von denen schon Mancher dem deutschen Namen Ehre machte.

Ein solcher ist’s auch, zu dessen Ende wir heute unsere Leser hinführen, ein Mann, den das Wohl seines Sachsenvolks schon als Jüngling begeisterte, der schon als Student sich als höchstes Ziel des Strebens die geistige Erhebung und echt deutsche Erziehung seines Volks setzte und der trotz all der Hemmschuhe und Querbalken, mittelst der man ihn im beliebten alten bequemen Geleise fest zu halten suchte, sich selbst treu blieb bis zu seinem tragischen Ende.

Dieser Mann ist Stephan Ludwig Roth, ein protestantischer Geistlicher zu Mediasch in Siebenbürgen, der im Revolutionskampfe 1849 von den Ungarn standrechtlich hingerichtet wurde.

[408] Roth war am 24. November 1796 in Mediasch geboren, wo sein Vater erst als Professor am Gymnasium und später als Pfarrer wirkte. Der so vielfach in Anspruch genommene Raum der Gartenlaube gestattet es nichts den ganzen Bildungsgang Roth’s bis zu seiner amtlichen und staatsbürgerlichen Thätigkeit hier zu verfolgen. Einige Hauptzüge desselben mögen genügen. Nachdem Roth auf dem Untergymnasium seiner Vaterstadt, dann auf dem Obergymnasium zu Hermannstadt sich für die theologischen Studien vorbereitet, bezog er 1817 die Universität Tübingen. Unbefriedigt von dem Geist, der dort die Theologie beherrscht, fand er, nach dem Schlusse seiner Universitätsstudien, in Pestalozzi einen Mann, wie sein Herz ihn sich ersehnt hatte. Er nahm eine Lehrerstelle in dessen Institut an und arbeitete hier im Stillen den Plan aus, nach der Weise, die er in Yverdun verehren gelernt, an der Bildung seines Volks von den untersten Classen an zu wirken.

Auf das Verlangen seines Vaters kehrte er im April 1820 in die Heimath zurück. Sein Wunsch, nun selbst Volksschullehrer zu werden und vor Allem ein tüchtiges Schullehrer-Seminar zu gründen, stieß jedoch nur zu bald auf die in Oesterreich eben so alten als landüblichen Hindernisse. Schon in Wien hatte Roth sich bemüht, eine Unterstützung für eine solche Anstalt zu erhalten, aber vergeblich, denn „man wäre einmal nicht für den Fortschritt.“ Ebenso vergeblich wandte er sich daheim an alle Landesstellen und einflußreiche Männer. Da wagte er noch einen letzten Versuch, er wandte sich direct an das Volk, er gab ein Schriftchen heraus unter dem Titel: „An den Edelsinn und die Menschenfreundlichkeit der sächsischen Nation in Siebenbürgen eine Bitte und ein Rathschlag.“ Auch hier fand er keinen Anklang. Die Zeit war für sein Ideal nicht reif. Erst jetzt, 40 Jahre später, weht auch in unseren Dorfschulen ein besserer lebendiger Geist.

So mußte Roth seinen Lieblingsplan aufgeben, er wurde, wie sein Vater es wünschte, im Jahre 1822 Lehrer am Mediascher Gymnasium und später Director desselben. Aber auch jetzt mußte er seine Pläne für eine Schulzeitung, sowie für Einführung des Turnens und Singens an Vorurtheil und Aengstlichkeit von Lehrern und Eltern scheitern sehen.

Einigen Ersatz für die vielen Täuschungen fand Roth in einer glücklichen Ehe mit einer Pfarrerstochter. Dieses Glück sollte auch nicht von zu langer Dauer sein. Im ersten Jahre seines Rectorats raubte der Tod ihm seine Gattin, ihm blieben drei unmündige Kinder. Im Jahre 1837 wurde Roth zum Pfarrer in Rimesch, 1847 zum Pfarrer in Meschen gewählt. Nachdem er seine häuslichen Verhältnisse durch eine zweite, ebenfalls glückliche Ehe, wieder mit einer Pfarrerstochter, geordnet, widmete er sich wieder ganz dem Wohle seines Volks, in Schrift, Wort und Predigt, mit Rath und That. Es fing gerade in dieser Zeit, zu Anfang der 40er Jahre, auch unter den Sachsen ein frisches, thatenkräftiges Leben an, ganz nach dem Sinn Roth’s; kein Wunder, daß Roth jetzt nicht nur anerkannt, sondern auch geliebt wurde, und bei wichtigen Angelegenheiten im Interesse des Volks hieß es: „Roth soll unser Sprecher sein.“ – Namentlich wirkte er begeisternd in dem „Vereine für Vaterlandskunde“. Auch die im Jahre 1845 so energisch betriebenen Einwanderungen, namentlich aus Württemberg, nach Siebenbürgen sind Roth’s Werk gewesen; es war nicht seine Schuld, daß kein würdiger Erfolg die ehrenwerthe Absicht belohnte. Nur sein Lieblingsplan, dem er so viele Zeit seines Lebens gewidmet, eine Schul- und Kirchenzeitung zu gründen für das deutsche Volksthum in Siebenbürgen, konnte nicht zur Ausführung kommen. Dennoch schreitet der edle Roth festen Muthes weiter, sein Programm für bessere Tage bewahrend. Da rücken die Vorboten der Stürme immer näher. Jedermann fühlt ihren Hauch. Es konnte daher Roth’s erster Gedanke nur der sein, sein Volk für die kommende Gefahr vorzubereiten. Zu diesem Zweck wollte er mit jüngern gesinnungstüchtigen Literaten seines Volkes Geschichtsbilder herausgeben. Der gute Gedanke fand vielseitigen Anklang, ward jedoch noch vor der Ausführung vom Sturme überholt. Das Jahr 1848 fing für Roth sehr traurig an, es raubte ihm zum zweiten Mal die treue Lebensgefährtin. Er schreibt aus dieser Zeit an einen Freund nach Kronstadt (der Brief ist vom 12. Januar 1848 datirt): „Ich habe, seit ich Euch verließ, meinen Vater verloren, meine kostspieligen Wirthschaftsgebäude hat man mir abgebrannt. Letzlich ist mir am 7. d. M. auch meine Frau im Kindbett gestorben, das jüngste Kind tauften wir den Tag nach ihrer Beerdigung, um mich stehen 5 unversorgte Kinder (das älteste 6. Kind, Sophie, war schon verheirathet), deren ältestes im 9. Jahre ist. Ich will mein Kreuz auf mich nehmen und tragen in Geduld, aber es ist doch schwer.“

In dieser Zeit, am 13. August 1848, strömten in Mediasch aus allen Gegenden sächsische Jünglinge zusammen, um einen deutschen Jugendbund zu stiften, zur Hebung des deutschen Volksthums in Siebenbürgen; als Mittel wurde das Turnen in Verbindung mit Schützen- und Fechtwesen und einem volksthümlichen Gesang bezeichnet; einstimmig wählten sie zu ihrem Vorstand Stephan Ludwig Roth, unter dessen Leitung sich der Bund organisirte. Roth schreibt über diesen Bund nach Kronstadt: „Der Jugendbund, der sich so ungemein nüchtern und begeistert zugleich betragen hat, ist letztlich meine Hoffnung, die schwere Garde, die zuletzt in’s Feuer soll. Für diese wollen wir Aelteren ja leben; sie sind unsere Zukunft, der Keim unserer Fortdauer. Wir Alten könnten von ihnen lernen das Volk lieben, wir könnten uns an ihrer Begeisterung erwärmen. Keimen diese Blüthen zur Frucht, unbesorgt können wir in’s Grab steigen, wir leben als Deutsche sicherlich fort, vielleicht schöner noch, als wir getraut zu wagen. Bei solchen Truppen ist man leicht Radetzki.“ – Viele von diesen Jünglingen traten freiwillig in das von der Nation errichtete sächsische Jägerbataillon, und manche Blüthe fiel auf dem Felde der Ehre. Dieser schöne Bund ward auch Morgenstern unseres Völkchens genannt. Möge er dieses Jahr 1862 im August, wo in Mediasch der Verein für Landeskunde, vereinigt mit dem neuen Gustav-Adolph-, dem neuen Sänger- und Turn-Verein, zusammentritt, möge er dort über dem Grabe Roth’s wieder aufgehen und uns leuchten zu allem Wahren, Schönen und Guten, sei es als Morgen- oder als Abendstern, der uns zu einem würdigen Ende führt.

„Ewigkeit geschwornen Eiden, Wahrheit gegen Freund und Feind;“ an diesem Ausspruch hielt Roth in allen Lebenslagen fest. Sein politisches Glaubensbekenntniß müssen unsere Leser vom rechten Gesichtspunkte betrachten. Es entsprang aus der geographischen Lage des Landes und seinem historischen Zusammenhang mit Oesterreich und durch dieses mit Deutschland, und war demgemäß folgendes: „Als Deutsche,“ sagt er, „zieht das Herz uns immer zu Deutschen. Ist Oesterreich uns feindlich, so ist Deutschland noch mehr entfernt. Ich als Geistlicher habe überdies geschworen, den Freunden des Kaisers ein Freund, seinen Feinden ein Feind zu sein. Die ungarische Nation entbindet mich meines Eides nicht, selbst in dem Falle nicht, wenn alle Unsere Bedingungen angenommen wären. Nun aber auch dies nicht der Fall ist, wird die Entscheidung um so leichter, dadurch aber, daß die österreichische Constitution liberaler ist, auch um so ehrenvoller!“ Volksvertrauen schickte ihn als Vertreter in die sächsische Nationalversammlung nach Hermannstadt, und Anerkennung seiner patriotischen Gesinnung berief ihn in das vom commandirenden General in Siebenbürgen, Freiherrn v. Puchner, errichtete Pacificationscomité, das die Brandungen der Zeit durch Volksmänner beschwichtigen sollte. Außerdem übertrug ihm das siebenbürgische Generalcommando noch andere wichtige Kreise im Interesse der „politischen Ordnung“, natürlich so, wie sie von dieser Seite damals eben aufgefaßt werden konnten.

So hatte Roth schon im November 1848 die höheren Befehle angenommen, und versah in Elisabethstadt die Stelle eines Commissär, von wo aus er auch schreibt: „Des Guten kann ich wenig thun, nur das ist mein Trost, daß ich einiges Böse verhindere. Dermalen erweiset sich Vieles als eitel, als vergänglich, als Schein, nach dem so viele mit Keuchen rennen, mit Sünden verlangen, mit Angst besitzen und – schnell verlieren. Brand, Tod, Flucht, Angst sind Predigten, die uns zum Bleibenden einladen, zu dem, was nicht vergeht. – Ich bin unendlich geplagt. Neulich machte ich in ein Dorf eine Expedition, wodurch ich 32 Pferde aus dem Brande und der Plünderung rettete. Sieben Stunden in einem fort war ich zu Pferde, der alte Bursche, hält es aus. Meine Kinder sind nahe von mir in Mediasch, ich kann sie nicht besuchen, Vaterlands- und Volksliebe steht höher denn Eigenliebe.“ Wieder schreibt er von Kokelburg: „Wie Sie sehen, schreibe ich aus Kokelburg; es ist Christtag, ein Festtag, an Gott habe ich gedacht und für seine Gnade zu danken gesucht. Zufall oder überschätzende Freunde haben es verursacht, daß ich mit Anfang November als Commissär in die obern 13 sächsischen Ortschaften des Comitats von Sr. Excellenz dem commandirenden Generale geschickt wurde.“

Daß Roth in diesen neuen Aemtern sehr bemüht war für die Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung, bemüht für Freund [409] und Feind, zeigt die Dankadresse, welche ihm der Elisabethstädter Magistrat überschickte, und daß er ein großer Freund seiner Nation, aber kein Feind der andern war, das beweist auch das ungarische Kind, welches im Meschner Walde gefunden und von Roth getauft und als Pflegekind aufgenommen wurde.

Am 18. Januar 1849 rückte der General Bem in Mediasch ein und war Herr des ganzen gleichnamigen Stuhls. Roth kehrte zu seiner Pfarre nach Meschen zurück, bald war ganz Siebenbürgen erobert. Die österreichische Armee rückte in die Walachei ein. Mit ihr zogen viele Sachsen, welche in der Nationalgarde gedient hatten. Die Freunde Roth’s suchten auch ihn zu bewegen, mit zu flüchten, doch umsonst, er antwortete ihnen entschieden: „Ich suchte in meinem Leben nur meine Unterthanen- und Bürgerpflicht zu erfüllen, habe Niemandem etwas Böses gethan und habe also auch Niemanden zu fürchten.“ Um jedoch vor rohen Mißhandlungen des Kriegsvolks geschützt zu sein, erwirkte er sich vom edlen Polen-General Bem, der Vielen das Leben schützte, eine Sicherheitskarte. So lang Bem in Siebenbürgen war, blieb er auch unangefochten, kaum aber hatte Bem Siebenbürgen verlassen, so mußte Roth als Opfer des Parteihasses fallen.

Am 21. April wurde er von einem ungarischen Officier mit zwölf Mann Bedeckung vom Pfarrhause zu Meschen aus den Armen seiner fünf Kinder gerissen und zunächst über Mediasch nach Schäßburg geführt. Hier traf er, mit Eisen an Hand und Fuß, unter Bedeckung an. Auf die Aufforderung des ihn begleitenden Officiers, den Mantel über die Eisen zu ziehen, erwiderte er: „Es kann sie Jedermann sehen, sie schänden mich nicht.“ Die innige Theilnahme seines Wirthes und die täglichen Besuche seines Freundes Dr. G. D. Teutsch, des jetzigen Directors am Gymnasium, that seinem trüben Gemüthe wohl. Gegen diesen äußerte er auch die prophetischen Worte: „Sie werden mich tödten.“ Nach einigen Tagen wurde er über Vasarhely nach Klausenburg geführt, wo er manche Verhöhnungen zu dulden hatte.

In Klausenburg wurde Roth in das städtische Gefängniß eingekerkert, wo außer einem Stuhl, einer Pritsche und spärlichem Lichte nichts zu finden war. Nur zweimal besuchten ihn theilnehmende Freunde. Der erste war Carl Maager (nachheriger Reichsrath) aus Kronstadt, der am 7. Mai 1849 von dem Regierungscommissär Chány nur mit Mühe und erst nachdem er diesem männlich die Wahrheit über Roth’s Leben und Thun dargelegt, die Erlaubniß dazu erlangen konnte.

Kaum hatte Maager die Einlaßkarte erhalten, so eilte er in den Kerker. Roth, in einen Mantel gehüllt, lag leidend auf der Pritsche und traute bei dem Eintreten des Freundes seinen Augen kaum; in wenigen Augenblicken schloß er ihn mit Thränen und den Worten in seine Arme: „Lieber, theurer Freund, Sie hat mein guter Gott mir gesendet. O wie oft habe ich an Sie gedacht! Sie sind der Erste, der mich in meinem Elend aufsucht, Sie sind ein Engel des Trostes, der mir Kraft und Stärkung bringt.“ Er theilte nun dem Freunde mit, wie er hier schon zehn Tage im Gefängniß sitze, ohne außer dem Gefangenwärter und Chirurgen einen Menschen gesehen zu haben. Mit tiefer Wehmuth sprach er von seinen fünf ganz verlassenen Kindern, das Vaterherz blutete über das Schicksal der Verwaisten. Seine älteste Tochter war in die Walachei geflüchtet, und so war kein theilnehmendes Herz, das die Stelle der Eltern vertreten hätte. Außer der Sorge für seine Kinder beschäftigte Roth lebhaft das Schicksal seines Völkchens. Er hatte an der Erstarkung, dem Wohlergehn seines Volkes fast sein ganzes Leben mit seltenem Eifer mitgearbeitet, und mußte es nun in seiner tiefsten Erniedrigung sehen. Dies Gefühl war ihm ein tödtendes. – – Auf Maager’s Anerbieten, ob er ihm in nichts nützlich sein könne, antwortete er: „Ich kann über all mein Thun und Lassen Rechenschaft geben, ich habe nichts gethan, was eine Strafe nach sich ziehen könnte. Mein gesetzliches Vorgehen ist sowohl durch den Befehl meiner Ernennung des h. Generalcommando, als durch die schriftliche Instruction für meine Amtsführung gerechtfertigt. – Was ich Sie aber freundschaftlichst bitte, ist: erwirken Sie die Erlaubniß, daß ich einige Bücher zum Lesen erhalte. Außer diesem Gebetbuche, welches mich bis jetzt noch vor Verzweiflung geschützt hat, habe ich keine Nahrung für meinen Geist. Bitten Sie weiter bei Chány, daß ich nur ja bald verhört und vor meine Richter gestellt werde; denn nichts ist peinlicher, als diese schreckliche Ungewißheit; und wenn Sie sehen, daß Ihre Bitte nicht ungnädig aufgenommen wird, suchen Sie dahin zu wirken, daß mir ein gesunderer, weniger feuchter Kerker angewiesen werde.“ Unter Thränen des innigsten Mitgefühls verließ Maager den unglücklichen Freund. Er eilte sogleich, um bei Chány für ihn zu bitten. Dieser war nicht zu sprechen, und so richtete Maager seine Bitten an den in Chány’s Begleitung befindlichen Raaber Bischof Tallian, der ihm seine eifrigste Verwendung für Roth versprach und ihm nicht nur Bücher, sondern auch die Erlaubniß erwirkte, den Tag über im Hofraume und im Zimmer des Kerkermeisters zu sein. Beruhigt reiste Maager weiter. –

Den zweiten Besuch erhielt Roth im Kerker vom Klausenburger evangelischen Pfarrer Gintz; als aber dieser später um die Erlaubniß eines zweiten Besuchs bat, verweigerte Chány es ihm mit den Worten: „Es geht Niemand mehr zu Roth; er ist nicht hier, Gesellschaften zu geben; Sie haben heute lange genug mit ihm gesprochen.“

Der 11. Mai 1849 war der Tag der Entscheidung von Roth’s Schicksal; das Bluttribunal in Klausenburg sprach das Todesurtheil über ihn aus. Um 2 Uhr Nachmittags wurde dasselbe verkündigt, und die 5. Nachmittagsstunde desselben Tages zur Vollstreckung des Urtheils bestimmt.

Bis zur Todesstunde ward Roth unter starker Militärbewachung ausgesetzt. Eine zahllose Menge Neugieriger umgab das unglückliche Opfer. Den Pfarrer Gintz ließ er zu sich bitten, er empfing ihn mit den Worten: „Nun, Herr Bruder, ich bin eben zum Tode verurtheilt worden und soll heute Nachmittag um 5 Uhr sterben. Erweisen Sie mir den Liebesdienst, diese wenigen Stunden bis dahin bei mir zu bleiben und durch Ihre Freundschaft und christliche Zusprache erleichtern zu wollen.“ Auf Gintz’s Befremden über diesen tragischen Ausgang antwortete Roth: „Auch ich habe diesen Ausgang nicht erwartet, – denn ich habe nichts gethan, was des Todes werth wäre, darum sehen Sie mich auch gefaßt und heiter. Mein Mittagsmahl hat mir wohlgeschmeckt. Ich fürchte den Tod nicht, nur meine lieben, unerzogenen Kinder betrüben mich.“ Bei diesen Worten füllten Thränen seine Augen. Gintz suchte wiederholt Gnade bei Chány zu erwirken, erhielt aber die gefühllose Antwort: Es befremde ihn sehr, daß man diese Bitte nur zu stellen wage, da der Mann nicht einen, sondern zehn Tode verdient habe. Er habe ja überall und schon seit längerer Zeit an der Vertilgung der ungarischen Nation gearbeitet, wie dies außer seinem letzten sündigen Thun auch seine Einberufung der Schwaben (die Einwanderung Deutscher in Siebenbürgen) beweise. Uebrigens könne er mit dem besten Willen am Urtheil nichts ändern, da jenes Gericht nicht unter ihm stehe, ja daß hier selbst Kossuth nicht helfen könnte. – Wir sehen, wie auch hier der politische Haß blind machte. Aber man hüte sich, zu rasch den Stein auf die blinden Kriegsrichter zu werfen. Dieser Haß ist durch Jahrhunderte gezogen worden, es ist der Haß, den das österreichische System in Italien wie in Ungarn gegen den deutschen Namen erweckte, und diesem Haß fiel auch Roth als ein unschuldiges, ja als das reinste Opfer. – Aber lernen von diesem Beispiel, lernen sollen die Ungarn, wie jede nach Freiheit ringende Nation, daß sie sich selbst schändet, wenn sie die Standrechtswaffe der Tyrannei in ihre Hand nimmt und anstatt RechtRache übt.

Während Gintz bei Chány war, schrieb Roth nachfolgenden Brief an seine Kinder, der von seiner seltenen Seelengröße das beste Zeugniß giebt:


            „Lieben Kinder!

Ich bin eben zum Tode verurtheilt worden und über 3 Stunden soll das Urtheil an mir vollzogen werden. Wenn mich etwas schmerzt, so ist es der Gedanke an Euch, die Ihr ohne Mutter seid und nun auch den Vater verliert. Ich aber kann dieser Macht, die mich zur Schlachtbank führt, keinen Widerstand leisten, sondern ergebe mich in mein Schicksal, wie in einen Rathschluß Gottes, bei dem auch meine Haare gezählt sind.

An Sophie schließet Euch Alle fest an und betrachtet sie als Eure Mutter. Seid gehorsam gegen Gott und ehrerbietig gegen Jedermann, damit es Euch wohlgehe, oder Ihr es wenigstens verdient.

Mit dem Vermögen, das ich in großer Unordnung hinterlasse, haltet Rath, damit Ihr Mittel in Händen habt zu Eurer Bildung. Es giebt noch viele gute Menschen, die Euch auch um Eures Vaters willen rathen und helfen werden. Meinen Schwägern [410] in Kleinschelken, Mediasch, Golvilág bringe ich in meinen letzten Augenblicken meinen Dank für Alles dar, was sie mir gethan haben, auch für das, was sie meinen Kindern noch thun werden.

Die Frau Lehrerin wird mir einen Gefallen thun, wenn sie so lange noch da bleibt, bis meine Habseligkeiten werden verordnet und jedes Kind unter einem Flügel sein wird. Das Theilamt wird ihr für ihre treuen Dienste gerecht werden.

Das ungarische Findelkind, welches ich zur Aufziehung aufgenommen, bitte ich ferner zu unterhalten. Nur wenn es die Eltern verlangen sollten, hätten sie ein näheres Recht dazu. Ich habe ohnedem keines mehr auf dieser Welt. Meiner Meschner Kirchenkinder, meiner Nimescher gedenke ich in Liebe. Lasse Gott diese Gemeinden reich an Früchten der Gottseligkeit werden, wie Fruchtbäume, deren belastete Aeste bis zum Boden hangen. Ich habe wenig an ihrer Veredelung gearbeitet und nur wenigen Samen ausgestreut. Möge der Herr der Ernte die Halme um so körnerreicher machen! Liebe habe ich gepredigt und redliches Wesen. Mein Tod möge meinen ausgestreuten Worten in ihren Herzen um so größern Nachklang verschaffen. Lebet wohl, lieben Leute!

Mit meiner Nation habe ich es wohlgemeint, ohne es mit den andern Nationen übel gemeint zu haben. Meine Amtirungen in Elisabethstadt und Kokelburg habe ich aus Gehorsam in einem höhern Willen geleitet. Dieses ist das politische Verbrechen, welches mir den Tod zuzieht. Eines Verbrechens bin ich mir nicht bewußt. Fehlgriffe könnten es sein, was ich gethan hätte, vorsätzlich gewiß kein Unrecht. Es freuet mich jetzt in meinen letzten Augenblicken, das Eigenthum und das Gut des Adels nach Möglichkeit geschützt zu haben.

Unter meinem Schreibtische befinden sich die Programme der herauszugebenden Schul- und Kirchenzeitung. Der Nationalkörper ist zerschlagen – ich glaube an keine äußerliche Verbindung der Glieder mehr. Um so mehr wünsche ich die Erhaltung des Geistes, der einmal in diesen Formen wohnte. Ich bitte daher meine hinterbleibenden Amtsbrüder, für die Ausführung dieser Zeitschrift zu sorgen, um Charakter, reine Sitten und Redlichkeit des Willens in dem Volke zu erhalten. Ist es aber im Rath der Geschichte beschlossen unterzugehen, so geschehe es auf eine Art, daß der Name der Vorfahren nicht schamroth werde.

Nur von den licitirten Sachen des Gál Miklos (siehe Protokoll) ist das Geld als Depositum bei mir. Das übrige Geld hat Commende. Ich schreibe dieses blos deswegen hier, um meinen ganz elternlosen Kindern nicht wissentlich Unrecht geschehen zu lassen. Ein guter Name ist von einem Vater auch ein gutes Erbstück. Dieses Geld, das ich gut versorgt hatte, mußte ich in die Brandsteuer für Mediasch geben, um diese Stadt zu retten. In der vorfindlichen Obligation von 1000 fl. C.-M. besteht mein Antheil aus dieser Summe. Ich hatte kein eigenes Geld zu geben, da man mir in Kokelburg meine ganze Baarschaft gestohlen hatte.

Die Zeit eilt. – Ob der kranke Leib meinen willigen Geist tragen werde, weiß ich nicht. Alle, die ich beleidigt habe, bitte ich um herzliche Verzeihung. Ich meinestheils gehe aus der Welt ohne Haß und bitte Gott, meinen Feinden zu verzeihen. Mein gutes Bewußtsein wird mich auf meinem letzten Gange trösten. Gott sei mir gnädig, führe mich in’s Licht, wenn ich im Dunkeln war, und lasse diese Voranstalten, die mich umgeben, meine Sühne sein für das, was ich in dieser Sterblichkeit gefehlt habe.

So sei es denn geschlossen – in Gottes Namen.

Klausenburg, am 11. Mai 1849.

Stephan Ludwig Roth,
evangel. Pfarrer in Meschen.

Nachträglich muß ich noch ansetzen, daß ich weder im Leben noch im Tode ein Feind der ungarischen Nation gewesen bin. Mögen sie mir, als dem Sterbenden, dieses auf mein Wort glauben, in dem Augenblicke, wo alle Heuchelei abfällt.

Idem ut supra.“

Bei der Rückkunft Gintz’s von Chány vernahm Roth mit edler Fassung, daß er auf keine Gnade hoffen dürfe. Auf Gintz’s Erinnerung, daß des Lebens letzter Augenblick wohl der Religion bedürfe, um mit Fassung das schwere Schicksal zu tragen, erwiderte Roth: „Ach, lieber Bruder, es hat auch in meinem Leben nicht an so Manchem gefehlt, worauf ich mit Beschämung und Reue zurückblicke. Nach höherer Vollkommenheit habe ich zwar allezeit gestrebt, aber Fehltritte mancher Art habe ich denn doch auch begangen und müßte, wenn ich nicht jenseits mehr Gnade als hier erwartete, vor der Ewigkeit zurückbeben. Doch ich getröste mich des Allbarmherzigen, der den redlichen Willen für die That nimmt und den verirrten aber reuevoll zurückkehrenden Sohn nicht verstößt, sondern mit Vaterarmen aufnimmt, und das macht mich im Angesicht des Todes ruhig.“ Hierauf las er aus Wimmer’s Hausaltar, aus dem Abschnitte „Christliche Sterbeschule“ das vierte Gebet mit solchem Nachdruck und Verklärung vor, daß selbst die umstehenden Officiere sich auf’s Tiefste erschüttert fühlten, und Einer im Drange des Gefühls zu der Aeußerung hingerissen wurde: „Nein, eine Seelengröße wie dieser Mann beweist, habe ich niemals wieder gesehen – wie schade, daß er so elend umkommen soll!“ Nach vollendetem Gebet blickte Roth auf die Uhr und sprach: „Noch vier Minuten habe ich, und da fällt mir noch die Berichtigung einer etwa möglichen falschen Ansicht meines politischen Thuns und Wirkens ein. Es mögen nämlich Viele sein, die da meinen, ich sei ein Feind der ungarischen Nation und habe aus Haß gegen sie mich wider sie gebrauchen lassen. Ich versichere Jeden, daß dem nicht so ist. Wenn ich gegen sie aufgetreten bin, so geschah es, weil ich der Ueberzeugung war, die Ungarn seien im Unrechte, und ich müsse dem meinem Könige geleisteten Eide treu bleiben. Ich verzeihe selbst denen, die meinen Tod so ungerechter Weise beschlossen haben, und damit diese meine Versicherung nicht flüchtig mit dem Laute verhalle, will ich sie als Postscript meinem Briefe an meine Kinder beifügen.“ Hierauf blickte er wieder auf die Uhr und sprach zu Gintz sich wendend: „Noch zwei Minuten! diese benütze ich, um Ihnen, theurer Freund und Bruder, meinen wärmsten Dank für Ihre Freundschaft darzubringen. Gott segne Sie dafür! Bewahren Sie mein Andenken, bis wir uns jenseits wiedersehen. Als Unterpfand meiner Freundschaft empfangen Sie dieses mein Gebetbuch, das mich in meiner Gefangenschaft getröstet und woraus ich auch in diesem letzten schmerzlichen Augenblicke Muth und Freudigkeit im Tode geschöpft habe.“

Indessen war die zur Execution bestimmte Compagnie unter das Gewehr getreten, und der anführende Officier trat mit den Worten hervor: „Wenn es gefällig ist, Herr Pfarrer, es schlägt eben jetzt Fünf.“ Worauf Roth sogleich aufstehend und nach seinem Hute greifend halb scherzend erwiderte: „Von gefällig sein, Herr Hauptmann, kann eben nicht die Rede sein, es wäre mir gefälliger zu leben, aber,“ fuhr er hohen Ernstes fort, „ich füge mich dem Befehle der Obrigkeit, die Gewalt über mich hat, und erblicke auch darin den Willen meines Schöpfers, nach dem Worte des frommen Apostels: Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott.“ Hierauf wendete er sich hervortretend an die versammelten Officiere und sagte mit hoher Würde: „Meine Herren Officiere, ich bitte Sie, hassen und verabscheuen Sie meine Nation nicht. Sie ist mit der Ihrigen zwar jetzt in Conflict gerathen, aber sie besitzt eine Fülle der schönsten Tugenden und wird der Ihrigen, wenn sie mild und schonend mit ihr verfahren, gewiß eine treue liebende Schwester sein.“ Worauf Einer in schönem Deutsch erwiderte: daß die ungarische Nation auch gewiß nichts Böses im Sinne hätte; und wenn die unsere nur Ergebenheit und Treue zeige, solle sie gewiß brüderlich behandelt werden.

Hierauf setzte sich der Zug in Bewegung, Roth wollte die Begleitung Gintz’s nicht annehmen, dieser begleitete jedoch den Freund bis zum letzten Ziel. Die ungeheuere Volksmenge, welche ihn begleitete, höhnte ihn mit Schimpf- und Scheltworten, worauf Roth zu Gintz sprach: „Nun, das ist ja der Lauf der Welt und ist viel frömmeren Menschen, als ich bin, ja selbst meinem Heilande nicht besser gegangen. Das gehört mit zur Prüfung, die ich zu bestehen hatte.“ Festen Schrittes und ungebrochenen Muthes ging Roth weiter. Auf der obersten Stiege, wo der Weg in das gegen Süden gelegene Thor der Citadelle führt, einen Augenblick stille stehend und seine Blicke über die Stadt und das schöne Samosthal werfend, sprach er zu Gintz: „Herr Bruder! wie schön ist doch Gottes Welt – und wie ganz eigenthümlich sieht sie aus, wenn man sie zum letzten Mal sieht!“ Tief ergriffen machte ihn Gintz aufmerksam, wie er ja bald die Herrlichkeit der Welt von einem höhern Standpunkt aus erblicken werde. „Ja wohl,“ erwiderte er, „hoffe ich das mit Zuversicht; mein Glaube an die Unsterblichkeit meiner Seele steht fest und ist der Stab, der mich jetzt aufrecht erhält. Wie unglücklich sind diejenigen, die hieran zweifeln können!“ In dankbarer Liebe gedachte er im Weitergehen [411] der herzlichen Theilnahme vieler Gönner in Klausenburg, die sich für seine Stellung bemüht hatten, er sagte: „Diese vielen Beweise von Freundschaft und Theilnahme, die ich hier erfahren, thun meinem Herzen ungemein wohl und würden gewiß zu einem günstigen Resultat geführt haben, wenn man nicht hier durchaus einen zweiten Robert Blum aus mir hätte machen wollen. Nun, es sei! Es soll mich wenigstens Niemand mit weniger Fassung als diesen sterben sehen.“

Oben auf dem Felek, dem Executionsplatz, angekommen, übergab Roth Gintz sein Schnupftuch mit der Bitte: „Lieber Bruder, tauchen Sie dieses Tuch in mein Herzblut und überschicken Sie es meiner ältesten Tochter.“ Hierauf wurde Stille geboten, und einer der Blutrichter verlas den Urtheilsspruch, bei dessen Beginn Roth zu Gintz sprach: „Hören Sie jetzt das Lügengewebe.“ Und als der Richter die Stelle las: „Der Verurtheilte hat die heilige Schrift mit dem Schwert vertauscht,“ rief er: „Das ist nicht wahr, ich habe nie ein Schwert geführt.“ Da alle Hoffnung auf Begnadigung geschwunden, ließ sich Roth auf’s Knie nieder und betete ein Vaterunser. – Seinen Hut rückwärts werfend, sagte er zum commandirenden Officier sich wendend: „Nun stehe ich zu Ihrem Befehle, Herr Hauptmann.“ Die Anordnung, ihm die Augen zu verbinden, wies er mit den Worten zurück: „Verzeihen Sie, auch als zum Tode Verurtheilter habe ich das Recht darüber zu bestimmen. Ich werde die Augen ohnehin bald auf immer schließen, bis dahin aber will ich Gottes schöne Welt schauen, so lang es mir nur möglich ist. Wohin soll ich mich stellen?“ – Auf dem angewiesenen Platz stand die hohe Gestalt des edeln deutschen Mannes mit über die Brust gekreuzten Armen, die schönen, geistvoll schwarzen Augen gen Himmel gewendet, – ein Anblick zum Beten. – Nun erscholl das schreckliche „Feuer!“ und in kurzen Zwischenräumen fielen drei Schüsse. Der erste traf den rechten Oberarm, den der Arme sogleich sinken ließ, ohne seine Stellung zu verändern. Der zweite traf die linke Lendengegend. Jetzt sank Roth auf’s Knie und bedeckte mit der linken Hand die Wunde, und in dem Augenblick fuhr die dritte Kugel durch das theuere Haupt. –

Lautlose Stille herrschte bei der unabsehbaren Volksmenge, als das Opfer gefallen war. Da trat der commandirende Hauptmann, hingerissen von der Größe des Augenblicks, von der Seelengröße des gefallenen Mannes, vor und rief mit bebender Stimme: „Soldaten! lernt von diesem Manne, wie man für sein Volk stirbt.“ –

Ein Jahr später, als wieder Ruhe im Lande war, wurde die irdische Hülle Roth’s durch seine Anverwandten in seine Vaterstadt Mediasch zurückgebracht und am 19. April 1850 in heimischer Erde auf dem Mediascher Friedhofe zur Ruhe gelegt.

Vier Jahre später (1853), nachdem die österreichische Regierung für die Erziehung der Kinder Sorge getragen, setzte sein Völkchen als ein Zeichen seiner Liebe und Dankbarkeit auf sein Grab ihm ein einfaches Denkmal. Ein desto reicheres bewahrt es in seinen Herzen, denn so lange das Sachsenvolk in Siebenbürgen noch nicht untergegangen ist, ja, so lange Deutsche in der Welt leben, wird ein so mannhafter und reiner Charakter unvergessen bleiben.


Menagerie-Bilder.

Nr. 4. Die Riesenelephanten.

Wie es in der Menageriesprache eine Masse von Ausdrücken überhaupt giebt, von denen die Naturgeschichte nichts weiß, so ist dies auch mit dem Wort „Riesenelephant“ der Fall. Der Naturforscher kennt diese Species nicht, desto besser der Menageriebesitzer und dessen Personal. Für sie ist jeder Elephant, welcher zur Menagerie gehört, wenigstens dem Publicum gegenüber, ein Riesenelephant, und fast eben so zahlreich sind die Rieseneisbären, und natürlich auch die Riesenlöwen u. s. w. Das Publicum ist eben gutmüthig genug, dergleichen hinzunehmen, wenn auch wohl bei Manchem der stille Wunsch aufkeimen mag, auch einmal einen ganz gemeinen Elephanten zu sehen.

Es möchte dies immerhin angehen, denn Klappern gehört, nach dem eigenen einst gegen mich gethanen Ausdruck eines berühmten Menageriebesitzers, auch hier zum Handwerk, und im Grunde kann man schon jedem Beschauer zumuthen, sich solche Bezeichnungen richtig zu deuten. Nicht zu billigen ist es aber, wenn, wie dies großentheils noch in den wandernden Menagerien geschieht, die gezeigten Elephanten als afrikanische erklärt werden. Sehr oft weiß allerdings der Erklärende, der „Explicateur“, nicht, was er thut, dann ist es aber Pflicht des Besitzers, ihm reinen Wein einzuschenken, denn dieser weiß recht gut, woran er ist. Aber man will das oft nicht, man weiß wohl, daß die gesehenen Elephanten immer asiatische sind, traut aber dem Publicum die Kenntniß der Unterschiede zwischen beiden Arten nicht zu und will nun mit der Vorführung eines „afrikanischen“ ein besseres Geschäft erzielen. Daß dadurch das Publicum gerade wieder von solchen „afrikanischen“ Elephanten überschwemmt wird, daran denkt man nicht. Eine anerkennenswerthe Ausnahme hat von jeher, in dieser Beziehung überhaupt, ein lange im Ausland gewesener Menageriebesitzer gemacht, nie ist mir in seiner großen Menagerie eine falsche Bezeichnung aufgefallen, obgleich er gerade der Freund vom „Klappern“ war, aber er wandte es eben blos in harmloser Weise, z. B. bei dem „Riesenelephanten“, an.

Kommt man gerade an dem Eröffnungstage einer Menagerie sehr früh in dieselbe, so kann man es wohl treffen, daß der etwa da befindliche Elephant so eben lackirt worden ist oder noch wird. Es war mir dies, als ich zum ersten Mal dazu kam, um so auffallender, als ich zwar immer, wenigstens sprüchwörtlich, von lackirten Affen gehört, aber noch keinen gesehen hatte, und nun einen dergleichen Elephanten sah, ohne davon gehört zu haben. Das Thier sah wenigstens ganz glänzend schwarz aus, fast wie ein gewichster Stiefel. Die Manipulation, welche diese Wirkung hervorbringt, besteht nämlich darin, daß das Thier über und über mit Oel, vielleicht mit einem Zusatz von Ruß oder dergleichen, überstrichen wird, und zwar zu dem doppelten Zweck, die Haut des Thieres geschmeidig zu erhalten und zugleich mit dem Aussehen vor dem Publicum zu paradiren. Zu dem Erstern hat offenbar die Nothwendigkeit geführt, denn die dicke Haut des Thieres würde sonst durch die zunehmende Trockenheit springen und wund werden. Zwar würden häufig Wasserbäder das Oel ersetzen und wären dem Thiere, das ja ein halbes Wasserthier ist, naturgemäßer, aber der Elephant ist immer sehr geneigt, Unfug zu treiben, und so könnte, da ja „Mißverständnisse“ nicht blos in der Politik, sondern auch bei Elephanten vorkommen können, derselbe in Folge eines solchen, statt sich, auch einmal das gerade anwesende Publicum begießen.

Wie begierig übrigens diese Thiere auf das Wasser, nicht blos zum Trinken, sind, davon will ich aus eigener Anschauung ein Beispiel erwähnen. Ich war einst gerade in der Kreuzberg’schen Menagerie mit Zeichnen beschäftigt, als ein furchtbares Gewitter losbrach. Der Regen goß in den üblichen „Strömen“, und die meisten der Thiere wurden durch die krachenden Donnerschläge in nicht geringe Aufregung versetzt. Nicht lange, so drang das Wasser von oben und unten in die Bude, von oben durch das Leinwanddach, von unten durch die Lücken in der Breterwand. Leider war der erste Rang nicht gedielt, sondern man wandelte auf Gottes freier Erde. So idyllisch dies sonst bei schönem Wetter war, so wurde es jetzt um so unangenehmer, da sich ganze Ströme bildeten, welche quer über den Raum rauschten und kaum zu überspringen waren. Der Elephant befand sich, angekettet wie immer an dem Hinterfuß, in der Mitte der Bude auf einer 2–3 Fuß hohen Bühne, und vor derselben sammelte sich jetzt das Wasser zu einem recht respectabeln Tümpel, der alsbald, so schmutzig wie er war, die Sehnsucht des Thieres erregte. Da dasselbe aber ziemlich bösartig war, so wurde es stets der Sicherheit des Publicums wegen sehr kurz angekettet, so daß es jetzt das Wasser im Stehen mit seinem Rüssel unmöglich erreichen konnte. Was that der Elephant? Er legte sich der Länge nach auf den Boden, so weit als möglich nach vorn, schob den Rüssel über den vordern Rand der Bühne herunter nach dem Wasser, obgleich er dasselbe seines niedrigen Stand- oder vielmehr Liegepunkts wegen nicht mehr sehen [412] konnte, füllte ihn an, und übergoß sich nun, immer im Liegen, den ganzen Körper fortwährend und mit dem unverkennbar größten Behagen mit der gelben Brühe, so daß sich nun um ihn selbst wieder eine neue Pfütze bildete. Der Anblick war in der That um so interessanter, je weniger schön es in „ästhetischer“ Beziehung war. Denn die Toilette des Elephanten litt natürlich nicht wenig, und als die Wärter sein Treiben bemerkten, so nöthigten sie ihn auch durch Andeutungen, welche kein Mißverständniß zuließen, zum Ausstehen. Kaum hatten aber die Störenfriede den Rücken gewandt, als der Elephant schon wieder auf der Seite lag und die verlorene Zeit durch um so größeren Eifer gut machen zu wollen schicn. Zuletzt, als der Regen nachließ und die Pfütze aufgebracht war, war es fast blos flüssiger Schlamm, den er noch sammelte, und man sah, daß es ihm, wie manchem Trinker, nur noch um etwas „Feuchtes“ zu thun war.

Viel besser sind in dieser Beziehung, wie überhaupt alle Thiere, so auch die Elephanten in zoologischen Gärten daran. Hier können dieselben ein Bassin zum Baden eingerichtet bekommen, und daher das Lackiren entbehren. Ich sage, sie können, denn der Elephant des Berliner zoologischen Gartens, welchen ich dort 1859 sah, hatte damals allerdings noch keins, wohl nur, weil sein einstweiliges Haus nicht an dem durchfließenden Wasser lag. Bei dem neuen Elephantenhaus wird man wohl diesem Mangel abgeholfen haben.

Gerade die Elephanten kann man übrigens nicht umhin zu bedauern, wegen der Langeweile, zu welcher sie gezwungen sind. Denn wenn man überhaupt annimmt, daß ein Thier zu diesem Gefühl fähig ist (und schon aus dem Gähnen läßt sich dies einfach schließen), so muß bei einem Geschöpf von so hoher Intelligenz, wie sie der Elephant besitzt, die Langeweile um so größer sein, wenn es zu dauernder Unthätigkeit und, was die Hauptsache, Bewegungslosigkeit verurtheilt ist. Denn das Letztere ist bei den angeketteten Thieren doch im Ganzen der Fall. Ein Affe in seiner lustigen Albernheit kann sich mit einem Strohhalme lange beschäftigen, wenn es sein muß. Nicht so der Elephant, seine ernste Natur verlangt gewissermaßen bei Allem einen Zweck. Der Berliner Elephant schlug sich auch stundenlang mit seinem großen Lumpen an Bauch und Seiten, immer im Kampfe mit den Stechfliegen; der Kreuzberg’sche Elephant riß, wo es immer ging, die Breter von den Wänden seiner Bühne, und hatte er endlich eins, wo möglich mit den Nägeln daran, losbekommen, so benutzte er es auch. Er packte es fest und begann nun damit ein gewaltiges Schaben am ganzen Körper, und während man es weithin rasseln hörte, schien ihm dies nur ein behagliches Krabbeln zu sein. Daß dem Thier seine Haut jucken muß, ist übrigens sehr begreiflich, denn aus dem fortwährenden Gemisch von Oel und Staub bildet sich auf der ohnehin dicken Haut eine förmliche Kruste, die gewiß nicht wenig beschwerlich ist.

Das gleichförmige Hin- und Herwiegen des Kopfes, oft auch des Vordertheils, welches man gewöhnlich bei den Elephanten in Menagerien beobachtet, scheint auch in Folge der Langeweile zu geschehen. Gleichwohl wollen mehrere Reisende dies auch bei den wilden Elephanten im freien Zustande beobachtet haben. Wenn dies der Fall, was dann eine Art Liebhaberei wäre, vielleicht aber auch wegen der Insecten geschieht, so macht es dort jedenfalls nicht den monotonen Eindruck, welchen diese Bewegung bei gefangenen Elephanten erregt, und die fast etwas Schwindelerregendes hat.

Bekanntlich kann man sich in Folge des altherkömmlichen Unterrichts als Kind einen Elephanten nur als den Inhaber sehr bedeutender Stoßzähne denken, um den Tiger, nachdem er denselben, wie billig, in die Luft geschleudert, damit durchbohren zu können. Fast immer aber wird man dann beim Anblick des ersten lebenden Elephanten gewaltig enttäuscht, denn statt der geträumten elfenbeinernen Hauer sieht man gewöhnlich kaum ein Paar kleine, nichts weniger als weiße Stifte zu beiden Seiten des Rüssels hervorragen, die zwar vom Erklärer als noch im Wachsen begriffen bezeichnet werden, da „das Thier noch jung sei“, die aber im Leben nicht größer werden. Denn die gezeigten Thiere sind fast ohne Ausnahme weibliche Elephanten, bei denen, d. h. den asiatischen, die Stoßzähne nur zu ganz geringer Entwicklung gelangen. Ja, selbst bei dem männlichen Elephanten kommt dies, wohl in Folge eines krankhaften Zustandes, nicht selten vor. Deshalb machte auch auf mich der endliche Anblick eines Elephanten mit vollständig entwickelten Stoßzähnen den Eindruck eines ganz neuen Thieres, oder wenigstens erst des fertigen. Es war dies der im Renz’schen Circus, und derselbe wurde später auch einzeln herumgeführt und gezeigt. Er gehorchte immer noch nur demselben Führer, einem Engländer; derselbe hatte aber in der Zwischenzeit, ehe ich den Elephanten zum zweiten Male sah, in Folge eines Sturzes sich ein Bein abnehmen lassen müssen und konnte sein Thier daher nicht mehr besteigen. Unglücklicherweise war dies gerade in der Zeit der Wuthperiode des Thieres geschehen, welcher bekanntlich die männlichen Elephanten alljährlich unterworfen sind, und während das wüthende Thier tobte und seine Fesseln zu sprengen drohte, schwebte sein Führer auf dem Schmerzenslager zwischen Tod und Leben. Einen eigenthümlich unheimlichen Eindruck machte es auf mich, als mir der Mann bei dieser Erzählung in einem Glaskasten die zersplitterten Knochen seines Beines zeigte, welche er sorgfältig aufgehoben hatte und mit sich herum führte.

Einen prächtigen Anblick bot übrigens dieser Elephant, als er noch zum Circus gehörte, wenn er, seinen Führer auf dem Nacken, mit leichtem Schritte in die Arena hereingerannt kam. Fast elastisch konnte man seinen Gang nennen, und es zeigte sich bei dieser Gelegenheit wieder, welcher Unterschied zwischen dem frei im Raume sich bewegenden und dem eingeschlossenen Thiere ist.

Natürlich muß bei einem so massigen Thiere der Transport immer große Schwierigkeit haben, und um diese zu beseitigen, sind die Besitzer auf verschiedene Arten des Transportirens gekommen. Einen sehr großen Elephanten, welchen ich vor vielen Jahren sah, brachte man dadurch von einem Ort zum andern, daß man ihn in einem von sechs Pferden gezogenen Wagen ohne Boden gehen ließ. Da der Wagen aber genau blos die Länge des Thieres hatte, so mag es schwierig genug für die Pferde und den Elephanten gewesen sein, immer den gleichschnellen Gang inne zu halten. Auch soll, wie mir erzählt wurde, der Elephant in einem Anfall von Eigensinn manchmal plötzlich stehen geblieben sein, wo es dann den sechs Pferden nicht möglich war, das Thier fortzubringen, ehe es wieder willig wurde.

Sehr oft werden die Elephanten auch einfach gefahren auf natürlich sehr massiv gebauten Wagen, welche zugleich den Transport auf Eisenbahnen sehr erleichtern. Die einfachste Art ist allerdings, wenn man den Elephanten seinen Weg selbst zu Fuß zurücklegen läßt, freilich wird dadurch oft viel Zeit eingebüßt im Vergleich zur Eisenbahn, und auch sonst hat diese Art und Weise ihr Unangenehmes. Noch im vorigen Jahre hatte sich, wie die Zeitungen berichteten, beim nächtlichen Transport ein Elephant von seinem Aufseher befreit, war querfeldein gerannt und zum Entsetzen des Nachtwächters in einem Dorfe erschienen. Der über das ihm fremde Ungeheuer entsetzte Wächter der Nacht wußte nichts Besseres zu thun, als Feuerlärm zu blasen, worauf die Bauern und glücklicherweise auch die Eigenthümer des Thieres erschienen, welche dasselbe vergeblich in einem benachbarten Walde gesucht hatten. Mir selbst klagte ein Elephantenwärter, wie viel er bei diesem Transport mit seinem Elephanten auszustehen habe. Einmal war es diesem, glücklicherweise auch in der Nacht, eingefallen, in ein Weizenfeld einzubiegen und sich da gütlich zu thun. Nicht eher, als bis er sich voll gefressen hatte, war er herauszubringen gewesen. Ein anderes Mal, wo der Führer in der Dunkelheit den Weg verfehlt und in einem Dorfe von dem Rücken des Elephanten aus an mehreren Fenstern im ersten Stock angeklopft hatte, um nach dem Wege zu fragen, hatte der Elephant bei dieser Gelegenheit einen ganzen Weinstock sammt Spalier von einer Wand abgerissen und mitgenommen, um die Blätter unterwegs zu verzehren. Es läßt sich begreifen, daß der Führer solchen Einfällen des gewaltigen Thieres gegenüber wenig oder nichts thun kann, wozu noch die Verantwortlichkeit gegen den Eigenthümer kommt, wenn dieser, wie oft, nicht dabei ist.

Schon die Größe des Thieres ist manchmal sehr störend. So sollte z. B. einst ein Elephant, welcher nach Leipzig zur Schau geführt wurde, vorher noch einmal in dem Dorfe Connewitz bei Leipzig übernachten. Aber die Thüre des dazu bestimmten Stalles war zu klein, um den Riesen einzulassen, da solche hohe Reisende in dem Gasthofe zu selten eintrafen. Doch siehe, was die Größe des Thieres verhinderte, machte dessen Intelligenz wieder möglich. Der Elephant ließ sich, dazu commandirt, auf die Kniee nieder, und auf diese Weise rutschend und sich möglichst bückend, gewann er den Eingang und andern Tages auf gleiche Weise den Ausgang.

[413]

Feines Mittagsmahl in der Menageriebude.

Von den Kunststücken der Elephanten zu sprechen, ist jedenfalls hier überflüssig, Jedermann kennt dieselben aus eigener Anschauung, denn sie sind ja fast immer dieselben. Mir ist immer das Hinlegen auf Commando das Interessanteste dabei gewesen, da dies so abweichend von dem aller andern Thiere ist, daß man, ohne es zu sehen, keinen rechten Begriff davon hat. Gewöhnlich wird dabei das Publicum belehrt, daß „nach der Naturgeschichte“ die Elephanten sich nicht hinlegen könnten und im Stehen schlafen müßten, was aber falsch sei, und nun erfolgt der Gegenbeweis. Natürlich fällt damit auch die berühmte Art des Fangens, nach welcher man den Elephanten sich an einen Baumstamm lehnen, einschlafen und den Stamm umhauen läßt, in ihr schmähliches Nichts zusammen.

Die erwähnten Kunststücke würden übrigens sehr leicht zu vervielfältigen oder wenigstens abwechselnder zu machen sein, wenn die Abrichter dabei etwas von der gewöhnlichen Routine abweichen wollten. Es scheint aber, als geschähe dieses Abrichten immer über einen Leisten, nur selten sieht man eine neue Kunstleistung des Elephanten oder auch nur eine neue Form derselben. Besonders das Komische könnte in diesem Fache viel mehr cultivirt werden und würde beim Publicum am meisten Glück machen. In dieser Beziehung war es z. B. eine äußerst originelle und glückliche Idee, als einst in einer einem Franzosen gehörigen Menagerie, welche auch nach Leipzig kam, bei der unvermeidlichen Mahlzeit des Elephanten ein Affe, ganz als Koch gekleidet, auf einem langen Bret zum Tische des gewaltigen Thieres heraufgetrippelt kam, um demselben die verschiedenen Gerichte zu präsentiren, wobei er nicht verfehlte, sich bei dem Ueberreichen jedesmal ein Stück, welches ihm gefiel wegzustibizen. Die kleine, trippelnde Gestalt mit dem weißen Anzug, dem langen Schwanz und dem ernsten, zum Ueberfluß mit weißer Kreide bemalten Gesicht sah im Gegensatz zu dem ruhigen Elephanten außerordentlich drollig aus, und ich habe es nicht unterlassen können diese Scene zu zeichnen.

Wie mechanisch übrigens auch ein Elephant seine Kunststücke ausführt, wenn er dieselben fortwährend zu wiederholen gewohnt [414] ist, davon wurde ich als Knabe einmal recht deutlich überzeugt. In der frühern van Aken’schen Menagerie befand sich auch ein Elephant, unter dessen Leistungen auch das gewöhnliche Aufheben mehrerer Geldstücke vorkam. Ehe er dieselben seinem englischen Führer, welcher auf seinem Nacken saß, überreichte, ließ er sie durch Schütteln aneinander klingen, zum Zeichen, daß er alle drei Geldstücke zusammen habe. Eines Morgens, als ich mich allein in der Menagerie sah, wandelte mich die Lust an, zu versuchen, ob der Elephant auch mir gehorchen würde. Ich zog mit einer gewissen Resignation einen Dreier aus der Tasche und warf ihn dem Riesenthiere hin, indem ich ihm dabei die englischen, durch öfteres Hören auswendig gelernten Worte zurief, welche zu diesem Kunststück gehören. Der Elephant hob richtig den Dreier auf. Statt ihn mir aber, wie mein Wunsch war, wieder zu geben, schüttelte er ihn unaufhörlich zwischen dem Rüssel, wahrscheinlich das Klimpern des einzelnen Stückes erwartend. Da der Dreier einen wesentlichen Bestandtheil meiner damaligen Capitalien ausmachte, so rief ich dem Thiere wiederholt mein Englisch zu, zur deutlichern Illustrirung die Hand ausstreckend, aber das Schütteln dauerte fort, eben so mein verzweifeltes Rufen, bis endlich der tragische Schluß damit eintrat, daß der Elephant den Dreier, vielleicht in Folge eingetretenen Krampfes im Rüssel, verlor und derselbe in eine Spalte zwischen den Dielen fiel. Ob der Elephant auf weitere Geldstücke wartete, weil er vielleicht-besser als ich wußte, daß mein Englisch nichts vom Wiedergeben erwähnte, sondern blos von drei Geldstücken sprach, oder ob er meine Person nicht respectirte, wer weiß es? Ich habe übrigens keinem Elephanten wieder Geld gegeben.

Es versteht sich natürlich von selbst, daß sich der Werth eines Elephanten für die Besitzer wandernder Menagerien bedeutend nach den Kunstleistungen des Thieres richtet. Ein Elephant, der „ausgezeichnet arbeitet“, ist ein viel werthvolleres Capital, als ein ungeschickter, wenn er auch wirklich schöner wäre. Eins kommt dabei oft auch mit in Frage, ob nämlich das Thier sich leicht an einen andern Führer gewöhnt. Manchmal lassen die Elephanten keinen andern als den ihnen bekannten in ihre Nähe, wie denn der erwähnte Krenzberg’sche Elephant nach jedem Menageriewärter, welcher ihm nahte, mit dem Rüssel schlug, so daß dieselben ihn mehr fürchteten, als die Löwen und Tiger. Andere Elephanten hingegen gewöhnen sich schneller an neue Personen und sind dann überhaupt gegen Fremde nicht bösartig. Vielleicht sind hiervon die verschiedene Erziehung, Neckereien, vielleicht aber auch Temperament die Ursachen; ich möchte auch vermuthen, daß die Abstammung aus verschiedenen Gegenden mit dazu beiträgt, denn da der Verbreitungsbezirk der indischen Elephanten immer noch ein sehr großer ist, so ist dies nicht undenkbar, zumal man unter den zur Schau gestellten Elephanten eine oft sehr große Formenverschiedenheit beobachten kann. Während einzelne fast formlos und wirklich häßlich aussehen, zeigen andere eine gewisse Schönheit, so seltsam dies vielleicht klingt, und dies waren gerade die Exemplare, deren Naturell am energischsten war.

Wenn alle Welt weiß, daß die zur Schau gestellten lebenden Elephanten wohl stets indische sind, da sie dort jederzeit zahm zu kaufen sind, während die afrikanischen so weit im Innern Afrika’s leben, daß, selbst wenn das Einfängen wilder gelänge, schon ihr Transport ungeheuere Schwierigkeiten verursachen würde; wenn dies Jedermann weiß: so wird doch gewiß Mancher fragen, wie es kam, daß doch die Karthager und später die Römer über so große Mengen von Elephanten verfügen und, wenn Mangel eintrat, denselben sehr schnell ersetzen konnten. Denn wenn es noch unmöglich sein muß, nur einen lebenden Elephanten aus dem Sudan durch die Sahara nach Nordafrika zu bringen, so ist bei den Massen, welche damals zum Kriege und später zu den Kämpfen im Circus gebraucht wurden, noch viel weniger daran zu denken. Aber Nordafrika war eben damals selbst noch ein an Elephanten überreiches Land, und die Karthager scheinen gar nicht weit gehabt zu haben, um in die Elephantenregion zu gelangen, denn Hamilkar Barkas, der Vater des Hannibal, wurde nach seiner Zurückkunft von Sicilien einmal eigens auf die Elephantenjagd geschickt; zugleich ein Beweis, für wie wichtig man den günstigen Erfolg hielt, da man den ersten Feldherrn des Staates persönlich damit betraute. Da man die Elephanten massenweise einfing, wozu bei ihrem heerdenweisen Leben immer Gelegenheit war, so ist höchst wahrscheinlich der Fang ein ähnlicher gewesen, wie noch jetzt in Indien, indem man nämlich die ganze Heerde in große feste Umzäunungen lockte und die Thiere dann einzeln, vielleicht auch schon mit Zuziehung gezähmter, bändigte. Durch die Karthager würde übrigens die Elephantenmenge kaum merklich verringert worden sein, selbst wenn der Staat noch länger bestanden hätte, denn ihnen als praktischen Kaufleuten war der Gebrauch des lebenden Thieres der Zweck beim Einfangen. Als aber die Römer die Herren dieses ganzen Gebietes wurden und die Circusschlächtereien im Großen begannen, da mögen sich die Mengen dieser imposanten Thiere, doppelt imposant durch ihre stets auch beim Weibchen schönen Stoßzähne, furchtbar schnell gelichtet haben, bis auch die letzten, die sich vielleicht bis an den Rand der Sahara geflüchtet hatten, das Aussterben dieses Thiergeschlechts in Nordafrika mit ihrem Blute in der Arena besiegeln mußten.

Noch jetzt machen sich die Folgen dieser localen Ausrottung bemerklich, indem es ohne Zweifel nicht so schwer wäre, afrikanische Elephanten nach der Küste des mittelländischen Meeres zu bringen und einzuschiffen, wenn es dergleichen noch in Nordafrika gäbe. So aber wird es vielleicht noch lange dauern, ehe dies mit einem solchen Thiere aus dem Innern dieses Erdtheils gelingt, und vielleicht ist es die große Wasserstraße, auf welcher uns die Nilpferde und Giraffen zukommen, vielleicht ist es der Nil, welcher uns Deutschen auch einen afrikanischen Elephanten zuführt.

L.





Rechtskunde für Jedermann.

Von Dr. jur. L. Erdmann.
2. Injurien.

Wenn man Jemanden eine Ohrfeige giebt, so kostet das nicht immer, wie noch hier und da geglaubt wird, die Summe von netto fünf Thaler, sondern diese Thathandlung fällt als mehr oder minder schwere Beleidigung unter ganz verschiedene strafrechtliche Gesichtspunkte, je nachdem der Empfänger ein dem Ertheiler Untergebener, ein Vorgesetzter, ein Fremder oder eine in Ausübung ihrer Amtspflicht begriffene Person ist. Sie bildet eine Art der Injurien und zwar der Realinjurien im Gegensatz zu den Verbalinjurien.

Die Injurie (eigentlich Unrecht im Allgemeinen) ist ein beabsichtigtes Vergehen gegen die Ehre eines Anderen und äußert sich entweder durch thätliche Angriffe oder durch Worte, woraus die obige Eintheilung hervorgeht. Indessen kann auch durch bloße Zeichen injuriirt werden.

Die Ehre ist das Band alles menschlichen Verkehrs und daher das höchste Gut des Menschen, vermöge dessen er allen Anderen gleich steht und einen Werth erhält, der von Jedem anerkannt werden muß, so lange er sich nicht selbst entwürdigt, also der Achtung verlustig und der Verachtung werth gemacht hat. Ist nun aber auch das Letztere der Fall, so darf doch die Verachtung nicht so zu Tage treten, daß die Persönlichkeit des Menschen verletzt wird, denn die Menschenwürde muß auch in dem Verbrecher noch geachtet werden, und eine gänzliche Ehrlosigkeit kennen die heutigen Gesetze nicht, wenn sie auch als Folge der Verbüßung gewisser Strafen oder eines Zustandes – z. B. des Bankerotts – den Verlust von Ehrenrechten, als etwa der Wählbarkeit zu Abgeordneten für die Landesvertretung oder zu Gemeindeämtern, sowie den Verlust von Titeln, Aemtern und Würden statuiren. Wer nun die Ehre eines Anderen absichtlich antastet, der begeht gegen ihn eine Injurie und wird deshalb auf den Antrag des Beleidigten oder auch anderer zu diesem Antrage berechtigter Personen bestraft.

Sehr schwer läßt sich aber ein genauer Begriff dessen, was Alles Injurie sein kann, feststellen, und die häufig aufgeworfene Frage, ob diese oder jene Handlung gegen einen Dritten eine strafbare Beleidigung sei, muß mit der Entgegnung beantwortet werden, daß hier Alles auf die äußeren Umstände, auf die Persönlichkeit [415] des Verletzenden und des Verletzten, auf deren Stellung zu einander, auf die am Orte herrschende Gewohnheit und allgemeine Ansicht, sowie auf die Gebräuche der Zeit ankomme.

Wenn man seinen Hut auf dem Kopfe hat und auch auf der Straße vor Niemand abnimmt, so ist das anderen Leuten gegenüber oft vielleicht eine Grobheit, jedoch keine Beleidigung im Sinne Rechtens; wenn man aber mit dem Hut auf dem Haupte in eines Anderen Zimmer, oder in eine geschlossene Gesellschaft tritt, so kann sehr leicht in diesem Benehmen eine Injurie liegen. Schilt ein Mann einen Straßenbuben, den er beim Beschädigen einer öffentlichen Anlage betrifft, so ist das keine Injurie, wenngleich der Rügende dem Buben etwas Unangenehmes zufügen wollte. Der gleiche Ausdruck würde einer anständigen Person gegenüber eine strafbare Beleidigung sein.

Ein Vater, der sein Kind, ein Lehrer, der seinen unartigen Schüler schilt oder leicht züchtigt, eine Hausfrau, die ihr Alles zerbrechendes Dienstmädchen eine dumme Gans nennt, begehen keine Injurie. Wenn Jemand in einem monarchischen Staate einen strengen Royalisten einen Republikaner und in einer Republik einen eifrigen Demokraten einen Monarchisten nennt, so wird in beiden Fällen eine Beleidigung angenommen werden können. Während früher die Benennung „Knecht“ für unser „Gesell“ oder „Gehülfe“ üblich war, möchten wir jetzt Keinem rathen, die löbliche Genossenschaft der Schuhmachergesellen Schuh- oder Stiefelknechte zu nennen.

Zur Injurie ist wesentlich erforderlich die Absicht, die Ehre eines Anderen zu kränken, ihm eine gewisse Verachtung zu beweisen. Der Beweis dieser Absicht liegt nun freilich bei vielen Beleidigungen schon in der kränkenden Handlung selbst, denn wer z. B. einem Andern – abgesehen von einem etwa gesetzlich zustehenden Züchtigungsrechte – eine Ohrfeige giebt, wird sich nicht damit entschuldigen können, daß er eine Kränkung des Geohrfeigten eigentlich nicht beabsichtigt habe. Der Fremde dagegen, welcher, der deutschen Sprache wenig kundig, von Studenten sehr häufig das Wort „Schwein“ für das in seiner Sprache „Glück“ bedeutende Wort gehört hatte und auf einem Balle eine Dame zum Tanze aufforderte mit der Frage: „könnte ich das Schwein haben?“ beging dadurch keine Injurie, weil ihm nicht die Absicht innewohnte, die Dame mit dem Namen des borstigen Thieres zu kränken.

Aus dem bezeichneten Erforderniß ergiebt sich, daß auch ironische Aeußerungen und bloße Zeichen strafbare Beleidigungen werden können, sobald sich nur die Absicht, die Ehre und Persönlichkeit Jemandes zu kränken, zu erkennen giebt. Mit Recht wurde daher jener bestraft, der höhnend zu einem Dritten geäußert hatte: „Sie sind ein großes Genie.“ Als er darauf, aus Aerger über die erlittene Strafe, seinem Gegner zugerufen hatte, er bekenne nun, daß dieser durchaus kein Genie sei, gerieth er wieder in Strafe.

Wer Jemandem unberufen die Zunge zeigt oder durch andere unanständige Gebehrden – etwa wie eine im Faust in der Hexenküchenscene angedeutet ist – Verachtung gegen ihn an den Tag legt, beleidigt ihn unzweifelhaft.

Die Injurien werden demnach begangen durch thätliche Mißhandlungen – welche auch in Handlungen liegen können, die sonst Liebesbezeigungen sind, wie z. B. ein Kuß, der Jemandem wider seinen Willen gegeben wird – durch Verachtung enthaltende Aeußerungen oder durch solche falsche oder entstellte Nachreden, welche dazu geeignet sind, die Ehre einer Person zu erschüttern. Solche Nachreden nennt man Verleumdungen.[1]

Der Beweis der Wahrheit des Nachgeredeten hebt den Begriff der Verleumdung auf und macht die Nachrede straflos, wenn sie nicht in beleidigender Form geschehen ist, denn Jeder hat das Recht und die Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Z. B. hat Jemand gestohlen und ist mehrfach bestraft worden. Ein Anderer sagt dies einem Dritten, der den Bestraften, indem er dessen Vergangenheit nicht kennt, eben zu seinem Cassirer machen will. Hier ist die Nachrede straflos. Wenn aber Jemand an öffentlichen Orten und gegen alle Welt mit Fingern auf den Mann deutet und laut erzählt, daß dieser einmal gestohlen und auf dem Zuchthause gesessen habe, so liegt hierin, wenn auch keine Verleumdung, doch eine grobe Injurie. Im ersteren Falle lag die Absicht vor, vor einem bedenklichen Subjecte zu warnen, im letzteren eine ganz unberechtigte Kränkung.

Ebenso verhält es sich mit dem directen Vorhalt einer wahren Thatsache. Ist man z. B. Jemandem Geld schuldig und zahlt es zur bestimmten Zeit nicht, so ist der Gläubiger im vollen Rechte, wenn er den Säumigen mahnt. Thut er dies jedoch laut in Gegenwart Anderer, so injuriirt er seinen Schuldner, denn seine Absicht geht nicht blos dahin, sein Geld zu bekommen, sondern er will auch den Schuldner vor den Zuhörern herabsetzen. –

Kein Geld zu haben ist durchaus keine Schande. Wenn aber Jemand, der uns eine Sache zum Verkauf anbietet, die wir nicht haben mögen, weil sie uns nicht preiswürdig erscheint, uns höhnend zuruft: „Ach, der hat kein Geld, der arme Mann!“ und dergleichen mehr, so ist dies – abgesehen von der Wahrheit oder Unwahrheit der Behauptung – gewiß ein injuriöses Benehmen.

Nicht blos direct, sondern auch in einer Folgerung kann eine Injurie ausgesprochen werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine gegebene Bedingung mit der daraus gezogenen Folgerung nicht in richtigem und rechtlichem Zusammenhange steht. So z. B. liegt keine Injurie vor, wenn man sagt: „Wenn Sie diese Sache gefunden haben und dem Eigenthümer nicht wieder geben, so sind Sie ein Dieb.“ Dagegen liegt eine Beleidigung in der Behauptung: „Wenn Sie Ihrem armen Schuldner nicht Nachsicht geben, so sind Sie ein Schuft.“ – Jede Art der Injurien setzt noch voraus, daß der Beleidigte in die Beleidigung nicht eingewilligt hat. Hat er dies gethan, so liegt keine Injurie vor, denn wem sein Wille geschieht, dem geschieht kein Unrecht. -– Es kommt dies im Leben oft vor, indem etwa Jemand sagt: „Nenne mich einen Esel, wenn dem nicht so und so ist.“ – Tritt das „wenn“ nicht ein und das Schimpfwort erfolgt, so ist es nicht strafbar.

Außer der gewöhnlichen, allen Menschen zukommenden Ehre giebt es nun auch noch eine sogenannte Standesehre, und es kann Etwas in Bezug auf dieselbe eine Injurie sein, was in Rücksicht auf die allgemeine Ehre diesen Charakter nicht haben würde. Zum Beispiel Jemand sagt von einem Officiere, daß er während der Schlacht in einem Graben sich verborgen habe. Wenn dies wahr ist, so läßt sich Nichts dagegen machen. Ist es aber erdichtet, so liegt in jenen Worten, abgesehen von dem ebenfalls beleidigenden Vorwürfe einer Pflichtwidrigkeit, schon deshalb eine Injurie, weil jeder Beweis von Feigheit einen Officier seines Standes unwürdig und ihn verächtlich machen würde. Das Gleiche, von einem friedlichen Civilisten, der mit der Schlacht nichts zu thun hatte, behauptet, würde, selbst wenn es nicht wahr wäre, keine Beleidigung begründen, weil es für ihn nicht schimpflich gewesen sein würde, wenn er seinen Leib den Kugeln nicht preisgeben wollte.

Zum Thatbestand der Injurie gehört es nicht, daß derjenige, der durch sie gekränkt werden soll, auch die Kränkung wirklich empfinde, denn man kann auch ein kleines Kind, einen Geisteskranken etc. injuriiren; ebenso wenig ist es erforderlich, daß man durch eine zugefügte Beleidigung wirklich schon Etwas an seiner Ehre in der Leute Augen verloren habe, denn schon der böse Wille der Verletzung der fremden Ehre, wenn er sich bethätigt hat, bedingt die Strafbarkeit.

Einen Verstorbenen kann man zwar eigentlich nicht beleidigen, denn er hat keine Persönlichkeit mehr, allein durch üble Nachreden über ihn indirect seine Angehörigen, und diese sind berechtigt dieselben zu rügen, weil sie mittelbar dadurch betroffen werden.

Auch Corporationen und ganze Stände können Gegenstand von Injurien sein, und es ist, nach einigen Gesetzbüchern, jedes Mitglied der Genossenschaft zu einem Strafantrage berechtigt. Bei der Verbreitung übler Nachreden ist der Weiterverbreiter dann straflos, wenn er seinen Gewährsmann nennen kann und die Nachrede in dem guten Glauben verbreitet hat, daß sie wirklich wahr sei.

Zu dem Antrag aus Bestrafung einer Injurie sind nächst dem Beleidigten berechtigt: der Vater (nach einigen Gesetzen die Eltern) für seine unmündigen Kinder, die Vormünder für ihre Mündel, der Ehemann für seine Ehefrau, der Vorgesetzte für den Dienstuntergebenen bei Amtsbeleidigungen. Ausnahmsweise kann auch nach einzelnen Gesetzbüchern eine Untersuchung ohne darauf gerichteten Antrag vorkommen, d. h. bei Pasquillen, öffentlichen Schmähschriften, bei thätlichen Beleidigungen gegen Eltern und Großeltern, sowie gegen Verschwägerte in aufsteigender Linie und wenn bei Verleumdungen die Absicht untergelegen hat, den Verleumdeten in Untersuchung und Strafe zu bringen. [416] Die Strafen der Injurien bestehen in Geld- und längeren oder kürzeren, schwereren oder leichteren Freiheitsstrafen, je nach der Art der Injurie selbst. Privatstrafen, wie sie das Römische Recht hatte, wonach der Beleidigte selbst die von dem Beleidiger zu zahlende Geldbuße bekam, kennen die neueren Gesetzgebungen nicht mehr. Widerruf, welcher früher mitunter sogar vor gehegtem peinlichem Halsgericht abgeleistet werden mußte, Abbitte und Ehrenerklärung haben die neueren Gesetze nicht beibehalten, und kennen nur eine öffentliche Strafe, der sich dann als Privatgenugthuung für den Beleidigten noch die Aushändigung einer Abschrift des Straferkenntnisses, bei öffentlichen Beschimpfungen die öffentliche Bekanntmachung des Strafurtheils auf Kosten des Beleidigers anschließt.

Mehrere Gesetzgebungen, wie z. B. die sächsische, preußische und bairische, erkennen ein Retorsions(Vergeltungs)recht bei dem größten Theile der Injurien an, so daß entweder, wer schimpft und sofort wieder geschimpft wird, wer eine Ohrfeige austheilt und sofort wieder eine empfängt, nicht auf Bestrafung klagen und verklagt werden kann, oder doch dem Richter die Befugniß eingeräumt ist, entweder gar keine oder eine mildere Strafe, als die sonst dem Vergehen angemessene, eintreten zu lassen.




Briefkasten


C. M. W. in Hildesheim. Wenden Sie sich an den „Arbeitgeber“ in Frankfurt a. M. – Die Redaction der Gartenlaube kann sich unmöglich damit befassen, Ihnen „Auskunft zu geben, wie Sie am besten in England oder auch Frankreich ein Engagement als Lehrer oder Reisebegleiter finden.“ Wenn eine solche Zumuthung ein ungebildeter Mann in besondrer Verlegenheit an uns stellte, so würden wir ihm vielleicht zu helfen suchen; wenn aber ein Candidat der Theologie mit einem solchen Ansinnen kommt, so verdient dasselbe als Gelegenheit zu der öffentlichen Bitte benutzt zu werden, die Redaction der Gartenlaube doch nicht als ein Auskunftsbureau für Privatangelegenheiten behandeln zu wollen.

B. in N. Lassen Sie die Todten ruhen! Der Gewalt gegenüber können derartige Erinnerungen wenig nützen, und für uns Alle bedarf es solcher Mahnrufe nicht. Denken Sie an jene heilige Nacht, als wir dem flüchtenden Freunde zum letzten Male die Hand drückten und uns das Versprechen gaben treu auszuharren, wie es auch kommen möge, und wie wir dann schieden - auf Nimmerwiedersehen! Seitdem trieb auch Sie das Schergenregiment eines Hinckeldey’s hinaus in die Fremde, auch Sie irrten jahrelang ohne Heimath, ohne sichern Heerd, ohne Ruh und Rast umher unter Menschen, die Sie nicht kannten und nicht liebten, aber jene Nacht haben wir Beide nicht vergessen, und Jeder von uns hat das Versprechen wahr gemacht – je nach seinen Kräften! Und noch sind die Muskeln nicht erlahmt, und noch ist das alte Feuer nicht erloschen! Wohl aber steigt in stillen Stunden oft der Wunsch in mir auf, wir möchten uns wieder einmal Aug’ in Aug’ gegenüberstehen und über Alles das klar machen, was in uns reif geworden seit jener Mitternachtsstunde und – was in uns abgestorben. Der Friedhof unserer Ideale dürste kein kleiner sein, und unter manchen seiner grünen Hügel dürften Träume und Hoffnungen schlummern, die, nur unter Thränen aus den Herzen gerissen, nun da unten ruhen - auf Nimmerwiedererwachen!

H. in W. Wir können nur zu der Mainz-Düsseldorfer Gesellschaft rathen. Fahren Sie mit dem Dampfer Adolph von Nassau und Sie werden in dem Conducteur des Schiffes, Herrn Pfaffenberger, einen ebenso intelligenten wie gefälligen und liebenswürdigen Cicerone finden, dem es eine Freude sein wird, Sie auf die vielen Schönheiten des herrlichen Rheins aufmerksam zu machen.

Dr. W. Siehe Siebdrat’s Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 11. August 1855. Leipzig, 1862, pag. 123.

A. Br. in Langenlonsheim. Stahlstichprämien zur Gartenlaube? Weiter nichts? Die Gartenlaube giebt das Jahr über in ihren Holzschnitten, die sämmtlich „von deutschen Künstlern ausgeführt“ sind, wie Sie von den Stahlstichen als etwas ganz Besonderes wünschen, so viele wirkliche Kunstblätter, daß sie in Beziehung auf die Illustrationen ihre Pflicht gegen ihre Leser vollkommen erfüllt. Die Gartenlaube kann nicht nur, sie muß sogar solche äußere Lockmittel verschmähen, womit andere Blätter das Publicum an sich zu ziehen suchen. Wer, wie Sie meinen, gern 15 bis 20 Sgr. mehr für den Jahrgang bezahlte, wenn ihm ein Kunstblatt dazu geboten würde, der wird offenbar besser thun, diese Groschen zurück zu legen, bis sie sich zu den paar Thalern summiren, welche nöthig sind, um sich nach freier Wahl und dem eigenen Geschmack eins der guten Kunstblätter zu kaufen, die man jetzt so billig haben kann. – Auch nicht auf Auskunftgeben in Privatangelegenheiten – und am allerwenigsten „gegen Franko-Einsendungen“!! – kann die Gartenlaube sich einlassen; betrifft eine solche Auskunft einen Gegenstand von allgemeinem Interesse, so ist sie noch allezeit gegeben worden.

Dr.O. L. L. in Jena. Wir haben für Ihre Novelle keine Verwendung. Sie wollen uns daher, um das Manuskript zurücksenden zu können, Ihre Adresse angeben, da Packete unter Chiffre von der Post nicht befördert werden.

K. G. M. in Hartau bei Zittau. Gegen den Hohn der Dänen helfen keine Thränen. – Sie müssens der Gartenlaube schon nachsehen, daß sie für den „verlassenen Bruderstamm“ in Schleswig-Holstein so lange das Wort führt, bis ihm geholfen ist. Sammeln Sie indeß eifrig für die armen Vertriebenen, die mit ihren Familien noch immer so viel Noth leiden, trotz alles gedruckten, geredeten und gesungenen deutschen Patriotismus, und thue das Jeder, so thut Jeder wenigstens Etwas, damit es besser werde; die geringe werkthätige Theilnahme in Deutschland für diese armen Schleswig-Holsteiner ist das niederdrückendste Gefühl für den in Wahrheit sehr „verlassenen Bruderstamm.“

X. Y. Z. Lassen Sie doch den alten Flottenverklopfer nunmehr in Ruhe seinen Kohl bauen. Ihr Artikel ist geradezu anwidernd, so häßlich verletzt er die Ihnen zu Theil gewordene Gastfreundschaft. Der alte Mann hätte Recht, wenn er künftig jedem solchen Besuch als der Schnüffelei verdächtig die Thür wiese.





Für Wilhelm Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“

sind ferner (bis zum 14. Juni) eingegangen: 11 Thlr. 21 Ngr. gesammelt bei einem Bankett am Vorabend der Fahnenweihe des Kreuznacher Turnvereins von deutschen Turnern und Bürgern, durch G. F. Bässer aus Oberstein; 2 Thlr. von B., G., K., B. – „dem Bauer, der im Wasser gräbt, vom Meeresgrunde Schiffe hebt“, durch Buchh. Scheel in Cassel; 2 Thlr. aus Eisenach; 2 Thlr. vom Rittergutsbesitzer Flemming auf Schmerkendorf, durch die Wienbrack’sche Buchhdlg. in Torgau; 6 Thlr. 4 Ngr. gesammelt von Mitgliedern des Nationalvereins in Crimmitzschau, durch Dr. O. Göbel; 3 Thlr. vom Mittwochskränzchen in Osnabrück, durch S.; 10 Ngr.; 1 Thlr. 16 Ngr. von F. M. in E, durch Enke in Erl.; 20 Ngr. von Iserlohn, durch Bädecker; 3 Thlr. 15 Ngr. gesammelt bei einem 2,5jährigen Dienstjubiläum, durch Apotheker E. Schroeder in Schmiedeberg; 1 Thlr. von einer Leserin der Gartenlaube in Berlin; 2 Thlr. von zwei Verehrern deutschen Erfindungstalents in Winsen a. d. L.; 3 Thlr. von Nienburg a. d. Weser; 3 Thlr. ges. in Frankenhausen, durch Fr. Gundelach in Leipzig; 20 Thlr. 1 Ngr. 3 Pf. gesammelt von der Expedition der Volks-Zeitung in Berlin, die noch ferner Beiträge entgegen zu nehmen bereit ist; 5 Thlr. von den Turngenossenschaften „Friesen“ u. „Hermann“ in Berlin, durch Otto Below; 1 Thlr. 5 Ngr. 6 Pf. von Lesern der Gartenlaube, bestehend aus sechs Magdeburger Lehrern, durch G. Schütz; 1 Thlr. gesam. in einer Privatgesellschaft zu Marggrabowa in Ostpreußen; 1 Thlr. von einer Leserin der Gartenlaube; 15 Ngr. von E. L. B. H. „Tropfen bilden das Meer“; 3 Thlr. von M., J. n. C. in L.; 10 Ngr. von G. T. in B.; – 33 Thlr. 25 Ngr. (5 Pfd. Sterl.) von Bornemann zu Bath in England. Gruß und Dank dem deutschen Landsmann.





Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen aus das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die nächsten Nummern des neuen Quartals werden unter Anderm enthalten: Ein Pirschgang auf Elephanten in den östlichen Hängen des Felsengebirges von Abyssinien. Bruchstück aus einem Briefe Sr. Hoheit des Herzogs von Coburg an einen Bekannten. Mit Abbildung - Der Untergang des preußischen Kriegsschiffes: Die Amazone – Schweizer Pensionen, von E. Kossak. Mit Abbildung – Die nordamerikanischen Trapper, von Bald. Möllhausen – Schwarz-Roth-Gold – Das Schützenfest in Frankfurt. Eine Reihe Schilderungen mit Abbildungen.

Unser Blatt bringt: Erzählungen von Etm. Hoefer, Levin Schücking, H. Schmid, Temme, Otto Ruppius etc. – Aus der Länder- und Völkerkunde – Jagd- und Reiseskizzen von Fr. Gerstäcker, Guido Hammer – Naturwissenschaftliche Mittheilungen von Bock, Carl Vogt, Schleiden, A. Brehm, B. Sigismund etc. – Beiträge von Berth. Auerbach – Biographien, mit vortrefflichen Portraits – Originalmittheilungen aus Amerika – Zeit- und Culturbilder von Prof. Ad. Stahr, Graf Baudissin, M. M. von Weber, Johannes Scherr, Schulze-Delitzsch, Ludw. Storch, Schmidt-Weißenfels, Max Ring, H. Beta – Populär-chemische und physikalische Berichte – Schilderungen industrieller Etablissements – Rechtskunde für Jedermann. Ferner die Tages-Ereignisse durch authentische Abbildungen und Originalberichte.

Deutsches Streben und deutsche Vaterlandskunde

werden durch künstlerisch ausgeführte Illustrationen, die von kernigen freisinnigen Darstellungen begleitet sind, würdig vertreten.

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.

'Ernst Keil in Leipzig.




  1. Das österreichische Gesetz bezeichnet als Verleumdung nur die Andichtung einen Verbrechens, welches eine Untersuchung veranlassen könnte.