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Die Gartenlaube (1862)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 17.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung)

„Die Gräfin war vergiftet; es war nicht mehr zu bezweifeln. Die Erzieherin war nicht mit den Anderen im Sterbezimmer gewesen; sie nicht, die treueste Pflegerin der Verstorbenen. Und gerade, als ich auf sie das Gespräch gebracht, war der alte Friedrich so einsylbig, so zurückhaltend geworden. Und dann – sie war nur als Erzieherin der Schwestern des Grafen da, und doch – es fiel mir auf einmal glühend heiß auf das Herz – und doch war sie allein und durch die verborgene Thür in das Cabinet des Grafen gekommen, sogar, als sie ihn dort nicht fand, in das geheime Zimmer nebenan, in dem sie mich getroffen hatte. Sie konnte so ohne Weiteres zu ihm kommen, ihn aufsuchen. Sie mußte mit ihm vertraut sein, eigenthümlich vertraut. Und auf der anderen Seite wieder, hatte nicht dennoch der Graf in jenen wenigen Worten, die ich aus seinem Gespräche mit dem Arzte vernommen, vielleicht unwillkürlich, aber deutlich, gerade auf sie einen entsetzlichen Verdacht geworfen? Und wirklich unwillkürlich? Vielleicht nur unbedachtsam in meiner Nähe. Als ihm diese einfiel, hatte er mit dem Arzte das Zimmer verlassen, um ganz ungestört mit ihm weiter reden zu können.

Meine Gedanken verwirrten sich. Meine Phantasie zeigte mir das Entsetzlichste. War Ida erst Nebenbuhlerin, dann Mörderin geworden? Es war nicht möglich. Aber der Graf? Wir waren Freunde, ich hatte in ihm den stolzesten Mann, den Mann der untadelhaftesten Ehre kennen gelernt. Aber war es nicht vielleicht blos der Stolz des Edelmannes, die äußere Ehre des Standes gewesen? Und – die Macht der Leidenschaft ist eine furchtbare, und sie ist um so furchtbarer, je verbrecherischer die Leidenschaft ist, und wie leicht kann ein junger, vornehmer, reicher Edelmann ein armes, bürgerliches Mädchen bethören! Und Ida war schön, und sie war allein und heimlich zu ihm gekommen, in der Stunde des Todes seiner Gattin! – Ich hatte in der ganzen langen Nacht keinen Augenblick Schlaf.

Der Graf hatte mir sagen lassen, er werde erst am andern Morgen zu mir kommen. Aber Ida hatte mir ihren Besuch noch für den Abend versprochen. Ich erwartete sie. Ich wartete in fieberhafter Aufregung auf sie. Sie kam nicht. Niemand war zu mir gekommen. Es war auch ruhig im Schlosse geblieben während der Nacht. Als der Tag graute, hörte ich einen Wagen wegfahren, zehn Minuten nachher einen zweiten, eine Viertelstunde später einen dritten. Sonst vernahm ich nichts. Um die Frühstückszeit kam der alte Friedrich zu mir, mir das Frühstück zu bringen. Er sah erschöpft und zugleich verweint aus, er mußte die ganze Nacht gewacht haben, und es mußte dem alten treuen Diener etwas sehr schwer und hart an das Herz getreten sein.

„Der Herr Graf läßt sich entschuldigen.“ sagte er. „Er hat heute früh plötzlich abreisen müssen, ohne von Ihnen Abschied nehmen zu können.“

„Der Graf ist abgereist?“ mußte ich fragen, das Wort „reisen“ betonend.

„Ja.“

„Allein?“

„Nur mit Dienerschaft.“

„Und wohin?“

„Der Herr Graf will eine größere Reise antreten. Sie können denken, daß es ihm unmöglich sein muß, länger in diesem Schlosse zu bleiben.“

„Ich hörte drei Wagen fortfahren.“

„In dem dritten war der Herr Graf.“

„Und in dem ersten?“

„Die Gerichtsbeamten. Sie hatten die ganze Nacht verhandelt.“

„Und in dem zweiten?“

„Die Gouvernante der jungen Gräfinnen.“

„Auch sie ist abgereist?“ Ich mußte mir fast übermenschliche Gewalt anthun, um meine furchtbare Aufregung nicht zu verrathen.

„Ja,“ antwortete er halblaut.

„Und wohin sie?“

Dem alten Manne stürzten die Thränen aus den Augen.

„In das Criminalgefängniß.“

„Friedrich!“

„Die gnädige Frau ist vergiftet. Das Fräulein, die Gouvernante ist die Giftmischerin, die Mörderin.“

„Das Fräulein –?“

„Sie soll es sein. Nein, nein, sie ist es. Sie kann es ja nur sein. Nur sie allein war um die Kranke. Sie hat sie gepflegt und ihr die Arzneien gereicht, den Thee, den Zucker, die Suppen –“

„Aber warum? Warum hat die Unglückliche Mörderin werden können?“

Er zuckte die Achseln. „Ich weiß nichts, gar nichts.“ Er wollte nichts mehr wissen.

„Hat sie ein Bekenntniß abgelegt?“ fragte ich ihn noch.

„Nein.“

Mir wollte doch ein Stein vorn Herzen fallen. Ich fragte

[258] ihn nicht weiter. Ich blieb noch zwei Tage im Schlosse und sah nur den alten Friedrich, der mir aber nichts mehr erzählte und den ich auch nichts mehr fragte.

Am dritten Tage konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich fürchtete, in der Einsamkeit wahnsinnig zu werden. Ich mußte fort, auf die Gefahr hin, ergriffen, erschossen zu werden. An meinem Leben war mir nichts mehr gelegen. Ich wurde gefangen; schon nach wenigen Tagen. Die Polizei war damals allmächtig und allwissend, wenn es politischen Verbrechern galt. Wäre ich ein Räuber oder Mörder gewesen, ich hätte entkommen können.

Mir wurde als Hochverräther der Proceß gemacht. Damals war Jeder ein Hochverräther. Selbst das Volk war gleichgültig dagegen geworden. Das Regiment der Zeit hatte schnell die Rechtsbegriffe zu verwirren gewußt. Ich war mit gleichgültig geworden. Da vernahm ich in meiner Haft von der Vergiftung der Gräfin –; von dem Proceß, der ihrer Mörderin gemacht werde; von der unbegreiflichen Flucht dieser Mörderin aus ihrer strengen Haft.

Die Liebe zum Leben erwachte wieder in mir. Ich entfloh. Es kostete mir wenige Mühe, vieles Geld. Solches Regiment mußte von feilen Schurken bedient werden. Ich suchte zuerst die unglückliche Mörderin auf, fand sie aber nicht. Ich warf mich in die badische Revolution. Darauf – darauf kam ich hierher. Ich habe jetzt Alles erzählt. Und nun frage ich Sie: Ist die Unglückliche eine Mörderin, kann sie es sein?“

Ich mußte mir dieselbe Frage stellen. Aber er hatte mir nicht Alles mitgetheilt. Er hatte mir nicht gesagt, daß er die Unglückliche liebte; er hatte mir verschwiegen, daß er sie später wiedergesehen hatte. Diese Erzieherin Ida, das Mädchen, das mit ihm aufgewachsen, mit ihm auferzogen war, und jene Schwester Marcella aus dem Kloster Diessenhofen, die er ja auch Ida genannt hatte, sie waren, darüber konnte nicht der mindeste Zweifel sein, eine und dieselbe Person. Und endlich, daß sie sich schuldig erklärt habe, das hatte er selbst angedeutet.

„Sie haben sie später wiedergesehen?“ fragte ich ihn doch.

Er wich ebenfalls einer Antwort aus.

„Giebt das, was ich Ihnen mitgetheilt habe, Ihnen kein klares Bild für ein Urtheil?“

„Nein. Sie selbst haben ja kein bestimmtes Urtheil, und Sie waren unmittelbarer Zeuge.“

„Aber ein befangener. Indeß – ich muß Ihr Urtheil haben, und Sie müssen Alles wissen. Ja, ich habe sie später wiedergesehen.“

„Und was sagte sie Ihnen?“

„Sie erklärte sich schuldig.“

„Unter Mittheilung bestimmter Thatsachen?“

„Nein. Sie verweigerte mir jede thatsächliche Auskunft.“

Ich mußte ihn fragend ansehen. Er kämpfte mit sich, ob er ganz offen gegen mich sein solle. Sein verschlossener Charakter litt es wohl nicht.

„Ich versichere Ihnen,“ sagte er, „ich konnte keine einzige Einzelheit von ihr erfahren.“

„Sie haben auch sonst über Ermittelungen der Untersuchung keine Nachricht erhalten?“

„Man hat mir nur mitgetheilt, daß nach der Flucht der Unglücklichen die Acten zurückgelegt sind. Das Resultat der Untersuchung ist heimlich gehalten.“

„Gegen Ihren Freund, den Grafen, war also keine Untersuchung eingeleitet?“

„Nein. – Und nun Ihr Urtheil!“ wiederholte er.

Ich sah, wie er es mit Spannung erwartete. Aber ich konnte mir keins bilden.

„Eitelkeit und Schwäche eines Weibes sind groß,“ antwortete ich ihm. „Die Verführung vermag noch mehr über sie.“

„Sie halten sie also für schuldig?“

„Ich habe gar kein Urtheil.“

„Sie können sie für schuldig halten, ohne daß sie verführt war?“

„Nein.“

„Der Graf hatte sie also verführt! Und sie allein wurde zur Untersuchung gezogen? Er nicht?“

Ich zuckte die Achseln.

„Es war damals eine Zeit der höchsten Corruption und Feigheit der Gerichte. Und – ich kann kein Urtheil fällen, aber darf ich Ihnen meine Vermuthung aussprechen?“

„Ich bitte auch darum.“

„Ihr Freund war ein Schurke, innerlich ein vollendeter Lump, ein um so größerer und gefährlicherer, je mehr er äußerlich den braven Edelmann, den vollendeten Mann von Ehre machen konnte. Der durch ihre Heftigkeit und ihren Jähzorn ihn quälenden Frau war er müde, wenn auch seine Heuchelei äußerlich ein leidliches, selbst gutes Verhältniß aufrecht zu erhalten wußte. Eine Leidenschaft für die schöne Erzieherin kam hinzu. Er konnte diese nicht gewinnen, so lange seine Frau lebte. Die Frau mußte beseitigt werden. Die Geliebte mußte Mitschuldige werden, sie war dann sein willenloses Opfer. Denn die Bürgerliche, die arme Erzieherin seiner Schwestern zu heirathen, daran dachte der vornehme, stolze Graf wohl nicht. So ist die Gräfin vergiftet. Wollen Sie einen besonderen Anhalt für meine Vermuthung?“

Er nickte mit dem Kopfe. Sprechen konnte er nicht.

„Er liegt in den wenigen Worten, die Sie den Grafen in seinem Cabinete mit dem Arzte sprechen hörten. Er sah durch diesen die Vergiftung errathen. Durch das Gericht mußte sie vollständig festgestellt, mußte noch mehr entdeckt werden. Er suchte sofort die ganze Schuld auf die Erzieherin zu wälzen. Ein Mann von Ehre hätte von der treuen, hingebenden Pflegerin der Gattin jeden Verdacht zu entfernen gesucht. War er selbst unschuldig, so konnte zudem die bloße Entdeckung der Vergiftung nicht auf einmal einen Verdacht in ihm begründen, von dem er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Um vollständig, ohne Rückhalt den gemeinen Denuncianten machen zu können, verließ er mit dem Arzte das Cabinet, an dessen Seite er Sie wußte. Dabei rechnete er auf den Edelmuth der Armen, die er zur Verbrecherin gemacht hatte und die er dann verrieth, und auf seinen hohen Stand, seine Verbindungen, die schlechten Gerichte.“

Ich hatte ihm nur eine Vermuthung, aber wohl unwillkürlich im Tone wachsender innerer Ueberzeugung, ausgesprochen. Er war sehr ergriffen und kämpfte noch einmal mit sich, ob er mich ganz zum Vertrauten machen solle. Aber es handelte sich um die geheimsten Gefühle des verschlossenen Mannes. Er konnte sich nicht entschließen.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er kurz. „Ich muß die Gedanken sammeln, die Sie in mir angeregt haben. Ich darf Sie wiedersehen?“

„Sie werden mir immer willkommen sein.“

Er verließ mich. –

Er suchte mich seitdem öfter auf. Aber nie kam er wieder auf jene Sache zurück. Er mochte wohl manchmal das Bedürfniß fühlen, sein Herz ganz gegen mich auszuschütten, und mochte auch gar mit dem Vorsatze, es zu thun, zu mir gekommen sein, aber entschließen konnte er sich nicht, einen Entschluß auszuführen vermochte er nicht. Ich sah dennoch in sein Inneres und sah darin die innige, brennende, herzliche Liebe zu dem Mädchen, das er, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, von früher Jugend an geliebt hatte und von dem sein Herz sich nicht losreißen konnte, obwohl er sie für eine Verbrecherin, für eine Ungetreue, für eine Mörderin und Vergifterin hielt und halten mußte. Aber mußte er sie dafür halten? Konnte sie nicht, trotzdem daß so viele Anzeichen gegen sie sprachen, daß sie selbst sich für schuldig erklärte, konnte sie nicht dennoch unschuldig sein? Sie liebte ihn, wie er sie liebte, sie hatte ein edles Herz; sie war als Mörderin verdächtig geworden, angeklagt, verhaftet; sie war aus der Haft in einer Weise entkommen, die nur die eine Deutung zuließ, daß der Graf sie befreit habe; dann war sie vor der Welt seine Mitschuldige. Konnte sie so die Hand eines braven, edlen Mannes annehmen, der zudem wahrscheinlich seinem Stande nach eben so hoch über dem armen Bürgermädchen stand, wie jener Graf? Und wie leicht hatte sie dann, um Bitten zu entgehen, die sie nicht anders von sich abwehren konnte, um den Qualen des eigenen liebenden Herzens zu entgehen, zu der mit einem Male Alles abschneidenden Unwahrheit greifen können, dem Geliebten sich als Verbrecherin darzustellen, als die Verbrecherin, die sie in den Augen der Welt doch einmal war und blieb? Es war ein Heroismus; aber giebt es denn in der Welt eine große und heldenmüthige Aufopferung, deren das liebende Herz des Weibes nicht fähig wäre? – Er wurde unruhiger, wenn er es mir auch mehr zu verbergen suchte. Die Ungewißheit war seine größte Unruhe. Er hatte Schritte gethan, um zu einer Gewißheit zu gelangen. Wie wenige Schritte hatte er als Flüchtling thun können! In einer Angelegenheit, in der er keinen Menschen zum Vertrauten machen durfte, hatte er sich nach allen Seiten hin gefesselt sehen müssen.

[259] Ich bekam mehrere Male deutsche Zeitungen in die Hand, in denen ich unter den Ankündigungen folgende Aufforderung las: „I. S. wird an Diessenhofen erinnert und um Nachricht nach Z. gebeten.“ I. bedeutete Ida, Z. Zürich. Den Hausnamen der Gesuchten kannte ich nicht. Aber es blieb mir kein Zweifel, daß die Aufforderungen von Roth ausgingen. Ich sprach nicht mit ihm darüber. Ich konnte ihm ja nicht helfen.

So kam das Ende des Jahres 1858, der Anfang des Jahres 1859. Amnestie! hatte es seitdem täglich geheißen. Alle Welt forderte, alle Welt erwartete sie; Deutschland, Europa, wer an Recht, wer an Bildung glaubte. Die Flüchtlinge selbst konnten am wenigsten an sie glauben; sie erwarteten sie am schmerzlichsten. Sie mußten warten bis zum Jahre 1861. Doch – da hatten sie nicht mehr darauf gewartet; nur Wenige vielleicht. Unter den Wenigen war Roth! Wir hielten noch das so Manche enttäuschende Zeitungsblatt in der Hand, da kam er eilig zu mir.

„Gehöre ich zu den Amnestirten?“ rief er.

Er hatte ein Recht zu der Frage. Noch jetzt, im Jahre 1862, streitet man sich, wer amnestirt sei und wer nicht.

„Ich denke,“ antwortete ich ihm.

„Darf ich in die Heimath zurückkehren?“

„Das ist eine andere Frage.“

Ich setzte ihm meine Bedenken auseinander. Auch sie sind noch heute nicht sämmtlich gelöst.

„Wird man, wenn ich zurückkehre, mich einsperren?“

„Nach dem Willen des Monarchen könnte man es nicht. Aber die Staatsanwälte und Gerichte in jenem Lande –“

„Gleichviel. Ich muß hin, noch heute.“

Er reiste ab, an demselben Tage. Ich sehe ihn noch, wie er Abschied von mir nahm. Ich hatte ihn zum Bahnhof begleitet, das schöne, blasse Gesicht war geröthet vor Erwartung, in seinen Augen glänzte Hoffnung. Vor dem Einsteigen nahm er mich noch einen Augenblick auf die Seite. Er mußte, wenn auch nur mit wenigen Worten, nur mit Andeutungen, das volle Herz gegen mich ausschütten.

„Ich muß sie aufsuchen. Sie wissen, wen ich meine. Ich werde sie finden, sie kann keine Schuldige sein. Nein, nein! Und dann kehre ich mit ihr hierher zurück. Hierher! O, wie schön wird mir dann die freie Schweiz sein!“

Er reiste ab. Seit zwölf Jahren hatte er nichts von ihr gehört, gar nichts, wo, wie sie lebte, ob sie lebte.

Ich hatte einmal an der russischen Grenze einen Kosaken gesehen, dessen siebenundzwanzigjährige Dienstzeit zu Ende war. Er hatte die ganzen siebenundzwanzig Jahre an der preußischen Grenze gestanden und in dieser ganzen langen Zeit von den Seinigen, die er in der Heimath zurückgelassen, nicht die mindeste Nachricht erhalten. Am folgenden Morgen sollte er die Rückreise in die Heimath antreten. Er freute sich darauf wie ein Kind, denn er hatte eine Frau und ein Kind zurückgelassen. Die Frau war damals zwanzig, das Kind anderthalb Jahre alt gewesen. Ach, wie wird meine Frau sich freuen, wenn sie mich wiedersieht! Sie war so schön und hatte mich so lieb! Und mein Kind! Es war auch so schön! Ob es wohl recht groß geworden ist? – Er selbst war ein Greis geworden. – Der arme Mann sollte weder Frau noch Kind noch Heimath wiedersehen. Er war, um vor seiner Rückkehr in das ferne Kosakenland noch einmal einen recht guten, süßen Schnaps zu trinken, nach Preußen gekommen und hatte sich heimlich über die Grenze stehlen müssen. So mußte er auch heimlich in der Nacht zurück. Da hatten die Grenzkosaken, gestern noch seine Cameraden, ihn für einen preußischen Schmuggler gehalten und todtgeschossen. Der arme Mann! War er wirklich so arm, der Mann? Was hätte er in seiner Heimath gefunden? Eifersucht und Haß, Bosheit und Tücke, Streit und Hader; das hätte er gefunden in seinen alten Tagen, in der Stunde seiner Ankunft, bis hin zu seinem Grabe. – Der alte Grenzkosak wollte mir nicht aus dem Sinn kommen, als mein Freund abreiste, als er fort war, als ich nichts von ihm hörte. Hören sollte ich bald von ihm. Was ihm begegnet war, dem Amnestirten in der Heimath? Zwei einfache Bilder werden es dem geneigten Leser zeigen. –

In einer kleinen, durch Wald und Gebirge von dem Verkehr der großen Welt abgeschnittenen Landstadt lag, von einem freundlichen Gärtchen umgeben, ein hübsches, kleines Haus. In einem hübschen, freundlichen Zimmer desselben saß, umgeben von zehn oder zwölf Kindern, eine Frau, welche im Anfange der dreißiger Jahre stand und noch sehr schön war. Aber ihre Schönheit war jene unbeschreibliche, jene unendlich zarte, feine, durchsichtige Schönheit einer kranken, in ihrer Krankheit dahin zehrenden Frau.

Die Kinder waren frische, fröhliche Mädchen von sechs bis zehn Jahren. Sie strickten, einige näheten auch schon. Sie waren hier in einer Privatschule der kranken Dame, das sah man. Die Nachmittagsstunden der Schule – und es war Nachmittag - waren zu jenen Arbeiten bestimmt. Die Lehrerin überwachte sie, unterwies, half. Sie erzählte dabei den Kindern hübsche Geschichten, freundliche Märchen, die Kinder erzählten sie sich unter sich. Lehrerin und Kinder liebten sich, auch das sah man.

Die Stunde wurde unterbrochen. Eine hübsche Frau, in dem Alter der Lehrerin, trat in das Zimmer, das zugleich die Schulstube und die Wohnstube der Lehrerin war. Die Frau hatte etwas auf dem Herzen. In Gegenwart der Kinder konnte sie es nicht sagen. Die Lehrerin gewahrte es.

„Hören wir auf,“ sagte sie zu den Kindern. „Es ist doch bald vier Uhr.“

Die Kinder standen auf, nahmen ihre Sachen und gingen. Jedes Einzelne gab der Lehrerin freundlich die Hand.

„Gute Nacht, Fräulein! Bis morgen!“

Jedem Einzelnen erwiderte sie freundlich: „Gute Nacht, mein liebes Kind! Bis morgen!“

Die Kinder waren fort. Die beiden Frauen waren allein.

„Du hast mir etwas zu sagen, Marie, ich sehe es Dir an.“

„Ja, Johanna.“

„Und Du zögerst doch? Du hast nicht den Muth?

„Mir ist in der That so eigen –“

„Es ist etwas Unangenehmes? Sprich es aus, was es auch sei.“

„Es ist, so wie es ist, nur etwas Gleichgültiges. Vor einer Viertelstunde kam ein Fremder bei uns an.“

Die Lehrerin durchzuckte etwas. Sie that sich Gewalt an, keine Unruhe, keine Bewegung zu zeigen.

„Und?“ fragte sie.

„Er erkundigte sich nach Dir.“

„Nach mir? Er nannte meinen Namen?“

„Er nannte ihn und fragte, wie lange Du hier seist, wie Du lebtest, ob Du fremde Besuche empfingest?“

„Wen fragte er?“

„Meinen Mann.“

„Und was antwortete ihm dieser?“

„Er erzählte ihm kurz, wie Du vor zwölf Jahren hier angekommen seist und krank in unserem Gasthofe habest verweilen müssen, wie ich während Deiner Krankheit mit Dir befreundet geworden, wie wir Dich Alle lieb gewonnen, und wie Du auf unser Zureden Deinen Plan, in der größeren Hauptstadt eine Stelle als Lehrerin anzunehmen, aufgegeben und hier eine Schule gegründet hättest. Mein Mann sollte ihm noch weitere Auskunft geben. Ich wartete es nicht ab, denn ich mußte hierher eilen, Dich zu benachrichtigen.“

„Wie sah der Fremde aus?“ fragte die Lehrerin.

„Er ist ein kleiner häßlicher Mensch; freundlich, aber nur um so unangenehmer.“

Die Lehrerin mußte sich mehr zusammen nehmen, um eine innere Unruhe zu verbergen.

„Kannst Du ihn in Deinem Gedächtnisse unterbringen?“ fragte die Wirthin.

„Ich sinne vergeblich nach.“

„Er kam mir vor, wie ein Polizeispion.“

Die Lehrerin war wieder vollkommen gefaßt und ruhig, und sie war es von selbst geworden, ohne einen Zwang, den sie sich hätte auflegen müssen. Sie saß einem kleinen Spiegel gegenüber, in welchem sie ihr feines, weißes, krankes Gesicht gesehen hatte, jenen wunderbar schönen und traurigen Todtenglanz, wie Himmelsglanz der himmelblauen Augen. Ein erhabener, stiller, milder Muth erfüllte ihr Wesen, gleichsam der Gedanke: Was mir noch kommt, es kann mich nur erlösen, erhöhen!

„Und der Polizeispion hat Dich erschreckt, Marie?“ sagte sie laut zu der Freundin.

„Ich kann es nicht leugnen.“

„Du konntest nicht dafür, Marie. Es war meine Schuld. Ich habe Dir nie von mir, von meinem früheren Leben etwas gesagt. [260] Es war stillschweigend zwischen uns abgemacht, daß wir nicht davon sprachen. Du öffnetest mir Dein ganzes Herz, Dein ganzes Leben, und schlosst mich mit meiner völligen Verschlossenheit in Dein treues, argloses Herz ein. Da kommt heute plötzlich der häßliche Polizeispion und fragt nach mir. Laß ihn, Du sollst Alles von mir erfahren, Marie; mein Herz und mein Leben sollen so klar und so offen vor Dir liegen, wie die Deinigen vor mir liegen. Und bald. Ich habe vielleicht nur noch Wochen zu leben. Aber bis dahin, Marie, sieh mir in die Augen, nur in die Augen. Siehst Du ein Verbrechen darin?“

„Nein, nein, Johanna, Du brave, Du reine Seele.“

„Und doch, Marie – Aber nein. Wenn Du Alles von mir weißt, dann sollst Du es Einem mittheilen, und dann – Du hast mich dann ja begraben – werdet Ihr Beide mich ja nicht verdammen. – Da kommt der Fremde. Du hattest Recht, es ist ein häßlicher, freundlicher, kriechender Mensch. Er ist gewiß ein Polizeispion. Willst Du hier bleiben, Marie, während er mit mir spricht?“

„Wie Du es wünschest, Johanna.“

„So bleibe.“

Ein kleiner, häßlicher, freundlicher, kriechender Mensch trat in das Zimmer. Er stutzte, als er die zweite Frau sah, die Wirthin des Gasthofes, in dem er abgestiegen war, die er bei seiner Ankunft schon gesehen hatte. Gleich darauf lächelte er freundlich.

„Madame hat mich angekündigt. Desto besser, so kann ich ohne Umschweife zur Sache kommen und mich kürzer fassen.“

Er wandte sich an die Lehrerin, immer freundlich. „Sie heißen Johanna Neumann, mein Fräulein?“

„So nenne ich mich, mein Herr. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?“

„Ich werde sogleich die Ehre haben, es Ihnen zu sagen. Vorher möchte ich mir nur die Frage an Sie erlauben, ob Ihnen eine Dame Namens Ida Schade bekannt ist?“

Er sah die Gefragte scharf bei der Frage an. Sie ertrug ruhig seinen Blick. Kein Zug in ihrem Gesichte veränderte sich. Sie erwiderte ihm mit gleicher Ruhe:

„Mein Herr, wozu richten Sie diese Frage an mich?“

„Ich bemerkte schon, mein Fräulein, ich würde sogleich die Ehre haben, es Ihnen zu sagen.“

„Und wer sind Sie, mein Herr?“

„Auch das, mein Fräulein, werde ich –“

Die Lehrerin unterbrach ihn strenge. „Mein Herr, ich will von Ihnen gar nichts erfahren. Verlassen Sie mich auf der Stelle.“

Der Fremde blieb freundlich, wie zuvor. „O, mein Fräulein, ich hätte Ihnen vielleicht doch eine angenehme Nachricht zu bringen. Hätten Sie die Güte dieses zu lesen?“

Er zog ein Zeitungsblatt hervor und legte es vor ihr auf den Tisch. Er bezeichnete mit dem Finger eine Stelle. Sie erbebte doch leise. Sie hatte etwas gelesen, was sie nicht erwartet hatte. Sie war auf etwas ganz Anderes gefaßt gewesen.

„Es überrascht Sie, mein Fräulein?“ fragte der Fremde.

Sie hatte vergessen, daß sie dem Menschen schon die Thür gewiesen hatte.

„Nein, mein Herr,“ antwortete sie.

„Sie hatten es schon gelesen?“

„Nein, mein Herr.“

„Ah, so haben Sie es wohl nicht genau oder nicht vollständig gelesen. Erlauben Sie, daß ich es Ihnen vorlesen darf?“

Er nahm, ohne ihre Antwort abzuwarten, das Zeitungsblatt und las:

„I. S. wird an Diessenhofen erinnert und um Nachricht von A. H. gebeten, der wieder in der Heimath ist.“


(Schluß folgt.)


Hamburger Bilder.

Von E. Willkomm.
Nr. 2. Auf der Bleichenbrücke.

Wie in allen großen und volkreichen Städten ist auch in Hamburg das Leben auf Straßen und Plätzen ein mannigfach wechselndes und nach den Stadtvierteln sehr verschiedenes. Im Nordostende, wo durch den großen Brand des Jahres 1842 einige glänzende Straßen mit luxuriös eingerichteten Häusern entstanden, wohnt jetzt größtenteils die vornehme, d. h. die reiche Welt, und das hastige Drängen und Treiben der Geschäftsleute, der Händler und Ausrufer aller Art verliert sich hier nach und nach oder wird doch nicht störend. Dagegen wimmeln alle Straßen und Plätze, die den Neubau begrenzen, zum Theil auch dieser selbst noch von handeltreibendem und geschäftigem Volk. Charakteristisch für das Volksleben sind besonders die zahlreichen Landungstreppen an den breiteren Fleethen, wo täglich Hunderte von Kähnen und jenen schnellen Seglern der Elbe anlegen, welche die große Stadt mit Grünwaaren, Milch, Fischen, Kartoffeln, Geflügel und hundert anderen zur Ernährung ihrer Einwohner unentbehrlichen Gegenständen versehen. In dieser Hinsicht bieten alle den Hafen begrenzende Straßen von früh bis zum Abend ein höchst belebtes Bild eigenthümlichen und unterhaltenden Treibens, und von allen dem Verkehr offen stehenden größeren Plätzen ist keiner betrachtenswerther als der Hopfenmarkt, wo der Gemüse-, Obst- und Fischhandel seinen Hauptsitz aufgeschlagen hat und alle Arten von Hökern ihre Einkäufe machen.

Eine ganz besondere Art Menschen sind die Hamburger Fischfrauen. Ihr Ruf und Ruhm ist ein alter und verbreitet sich weit über das Weichbild der reichen Handelsrepublik. Es ließen sich von diesen originellen Persönlichkeiten viele Geschichten erzählen, doch müssen wir damit zurückhalten, theils weil das Idiom, in dem allein sie erzählt werden können, der Mehrzahl unserer Leser kaum verständlich sein würde, theils weil gerade die originellsten Auslassungen dieser derben Naturkinder zart empfindende Seelen leicht unangenehm berühren dürften.

Jede hökernde Persönlichkeit hat in Hamburg ihre besondere Region, wo sie entweder allein oder mit einigen Befreundeten, welche gleiche Rechte in Anspruch nehmen, herrscht. Fremde Eindringlinge werden da so leicht nicht geduldet, wenigstens dürfte dies erst nach langen, lauten und harten Wortkämpfen, denen sich möglicherweise auch Beweise fühlbaren activen Widerstandes zugesellen könnten, möglich sein. Ergießt sich nun diese Unzahl meistentheils laut schreiender Straßenhändler durch alle Quartiere der Stadt, dann entwickelt sich ein ganz neues, buntes und gewöhnlich sehr munteres Leben. Die Brodhändler, welche früh am Morgen zuerst ihre Kunden mit frischem Gebäck versorgen, je nach Wunsch und Geschmack der Einzelnen, haben um die Zeit, wo der Handel der Ausrufer beginnt, ihre Morgengeschäfte beendigt. Sie verhalten sich stets schweigsam, denn es gebricht ihnen an Zeit. Auch gestattet ihr Handel kein Feilschen. Da sie immer die Ersten in jedem Hause, auf jeder Etage sind, welche den Bewohnern derselben etwas bringen, so übernehmen sie in der Regel auch die Rolle des Weckers. Das Klopfen oder Klingeln des Brodmanns sagt der Köchin des Hauses, daß es für sie und ihre Mitdienstboten hohe Zeit sei, sich den Armen des Schlafes und den süßen Träumen, die Morpheus über ihr ruhendes Haupt fortflattern läßt, durch einen schnellen Entschluß zu entreißen.

In jedes Haus, in alle Keller, in Gänge, Höfe, auf Säle und Plätze dringen die unermüdlichen, vor keinem Hindernisse, vor keinem Begegnisse, vor keiner noch so finstern, steilen und engen Treppe zurückschreckenden Händlerinnen, diese mit heiserer Fistelstimme ihr ewiges: „Kantüffeln (Kartoffeln), söte (süße) Kantüffeln!“ rufend, jene in länger gezogenen und breiteren Tönen frische junge Gemüse anbietend. Keine Händlerin aber schreit lauter und tapferer, als die stämmige Fischverkäuferin, der man es schon von Weitem ansieht, daß sie sich für eine Person von Wichtigkeit hält, und daß sie genau weiß, was sie will. In der Regel zeigt sie entschlossene, derbe Gesichtszüge von energischer Farbe, die ihr nicht immer die scharfe Luft auf dem Wasser angeblasen hat.

Diesen Händlerinnen könnte man den Beinamen der singenden geben, denn ihr Ruf hat stets durch die Eigenthümlichkeit des

[261]

Auf der Bleichenbrücke.
Nach der Natur gezeichnet von Julius Geißler.

Tonfalles eine geringe Ähnlichkeit mit höchst mißlungenen Gesangesversuchen. Bald hoch, bald niedrig, bald laut, bald leise, bald knarrend, bald schmelzend, bald gellend, bald jauchzend, bald scharf prononcirt, bald zaghaft zitternd entringt er sich hundert und aberhundert Kehlen und lockt die harrenden Freunde und Freundinnen der eßbaren Bewohner des Meeres und der Flüsse an Fenster und Thüren. Jeder Hausbewohner erkennt seinen Händler an der Stimme, an der Originalität der Melodie, welche die zungengewandten Verkäuferinnen sich selbst dazu erfunden haben. Stinte werden anders ausgerufen als Dorsche und Schellfische, Steinbutten anders als Schollen, Zungen anders als Elb- und Seebutt. Der Ruf: „Bütt, labendige Bütt!“ kann ein musikalisches Ohr zur Verzweiflung bringen, wenn er sich stundenlang von Minute zu Minute in immer gleichem Tone wiederholt.

Wird die Waare rasch verkauft, so gönnt sich die Händlerin das Vergnügen einer Unterhaltung mit solchen Begegnenden, von denen sie weiß, daß sie ihr Rede stehen. Ein passender Ort zu solcher Zwiesprach findet sich immer, namentlich mitten in der belebten Stadt. Namentlich verweilen die Händlerinnen gern auf den zahlreichen Brücken, welche über die vielen Fleethe führen, und von denen die meisten stattliche und hohe Steingeländer tragen. Hier giebt es gewöhnlich auch an heißen Tagen etwas Luftbewegung, auf der Wasserstraße selbst gleiten Nachen, Jollen, Schuten, Torfewer und andere Fahrzeuge hin und her, und diesem und jenem Schiffer läßt sich ein Scherzwort zurufen, das sicher nicht unerwidert bleibt. Auch gewähren die meisten Brücken hübsche Aussichten, oder man kann die zahlreichen Vorüberwandelnden mustern und sie der schonungslosesten Kritik unterziehen. Und gewöhnlich sind ganz besonders die Fischverkäuferinnen ebenso beißende Kritiker, als sie das Anpreisen ihrer eigenen Waare meisterhaft verstehen, [262] die sie jedoch höchst ungern einer Kritik unterwerfen lassen. Am lebhaftesten ist natürlich der Verkehr auf denjenigen Brücken, welche die großen Hauptstraßen unter einander verbinden und gleichsam in das Herz der Stadt führen. Als solches hat man die Umgebungen der Börse und der Bank zu betrachten, die alltäglich von vielen tausend Geschäftsleuten oder von deren Abgesandten und Beauftragten besucht werden. Auch liegen mehrere Posten in der Nähe, die zu gewissen Stunden des Tages von harrenden Menschen förmlich belagert werden, um Briefe, die mit der amerikanischen, australischen oder ostindischen Post angekommen sind und deren Ausgabe mit Ungeduld erwartet wird, in Empfang zu nehmen.

Auf eine dieser vielbesuchten Brücken, die „Bleichenbrücke“, führen wir den Leser. Sie verbindet zunächst die Straßen „große Bleiche“ und „Neuerwall“, führt in ihrer Verlängerung als „Adolphsbrücke“ unmittelbar nach Bank und Börse und weiter über die „Börsenbrücke“ in die vom Brande nicht berührte Altstadt. Nach Westen vermittelt sie den Verkehr mit dem Straßengewirr der stark bevölkerten Neustadt. Sie bildet also einen wichtigen und stets sehr stark belebten Uebergang über das breite Bleichenfleeth, in dessen Nähe nach Westen zu der Brand des Jahres 1842 erlosch.

Von der „Bleichenbrücke“ blickt man südwärts auf alte Gebäude von wenig anziehender Bauart, über deren Dächer in der Ferne der höchste Thurm der alten Hansestadt, der Michaelisthurm mit seiner gewundenen Treppe, im Durchsicht emporragt. Nach Norden ruht das Auge auf lauter neuen, hohen, gewaltigen Gebauten aus, welchen der stumpfe Thurm des Stadtposthauses ein malerisches Relief giebt. Hier, wie an vielen anderen Punkten der großen Stadt, spaziert gewöhnlich eine junge oder doch noch für jung geltende Vierländerin auf und ab, am linken bloßen Arm, den bis zum Ellenbogen ein weißes Hemd lose umfängt, ein zierliches Körbchen mit duftenden Blumen, in der rechten Hand einige Sträußchen, die um die Zeit, wo die ersten Erdbeeren zu reifen beginnen, sich in schöne große zwischen Blättern ruhende Erdbeeren verwandeln. Das niedliche Kind, das mit seinen drallen Waden gewaltig coquettirt, auch weiß, zu welchem Zwecke sich glänzende, sanft blaue Augen gebrauchen lassen, versäumt es nicht, jedem vorübergehenden Herrn den Weg mit den Worten zu vertreten: „Sträußchen, Herr?“

Der Handel mit Sträußchen allein mag wenig ergiebig sein, denn eingeborene Hamburger haben gewöhnlich große Eile, wenn sie straßauf, straßab gehen, und lassen sich ungern in ihren Geschäftsgängen stören. Nur jugendliche Flaneurs und müßige Fremde, deren Zahl in der guten Jahreszeit allerdings sehr bedeutend zu sein pflegt, sind weicheren Herzens und setzen die Sträußchenverkäuferinnen, sei’s auch nur, um ihre auffallend originelle Tracht bequemer mustern zu können, in Nahrung. Einträglicher mag der Blumenhandel selbst sein, welcher die Vierländerinnen in die Häuser Vornehmer und Geringer führt. Sie verstehen ihre in der That ausgesuchte und vortreffliche Waare meisterlich anzupreisen und besitzen nebenbei meistentheils auch jenes geschickte Talent des Quälens, das am sichersten zum Ziele führt. Der Gequälte kauft, um doch wieder Ruhe zu bekommen.

Neben die Vierländerin, die einem galanten Käufer eben noch einen schmachtenden Blick nachwirft, pflanzt sich jetzt ein starker, vierschrötiger Mann. Er trägt ein gut erhaltenes Schurzfell, eine kurze Tuchjacke mit vielen großen silbernen Knöpfen und einen sehr glatt gebürsteten Cylinder. Es ist ein Quartiersmann, eine gar wichtige Persönlichkeit in Hamburg; denn den Quartiersleuten muß der Kaufmann und Rheder unendlich großes Vertrauen schenken. Unter seiner Controlle stehen die zahlreichen Arbeiter verschiedenster Art, deren der große Handelsverkehr einer Seestadt nicht entbehren kann. Dieser seiner Stellung sich bewußt, zeigt der Quartiersmann auch meistenteils ein ernstes Gesicht. Einen Scherz indeß zu rechter Zeit verachtet er auch nicht, selbst wenn er zu derben Entgegnungen führt.

Der Quartiersmann hat Zeit. Er will vermuthlich nach einer der Posten gehen, um Briefe für ein Handelshaus in Empfang zu nehmen, oder er hat sonst eine Bestellung, aber die Stunde ist noch nicht gekommen, und da kann man ein wenig „snacken“ (plaudern). In solchen Momenten ist der Anruf einer Fischhändlerin ganz am Platze. Eine der stattlichsten schreitet auf den Quartiersmann zu, dessen Geschmack ihr nicht unbekannt ist. Sie stellt ihre Körbe mit den Fischen neben sich, legt die Tracht dazu, stemmt beide Arme in die Seite und spricht zu dem phlegmatisch sich zu ihr hinwendenden Manne, der bequem am Geländer lehnt:

„Schenne (schöne) fette Brassen, Hansen? Oder lütte Brataale? Ock springende Stint’ heff’ ick! Man billig, Hansen, spottbillig!“

Hansen fragt ruhig nach dem Preise, findet diesen aber selbstverständlich zu theuer und bietet deshalb gar nicht. Damit jedoch ist die Fischfrau nicht zufrieden. Sie will ihre Waare durchaus los werden, was auch nöthig ist, denn die Brassen sind nicht schön, die Stinte nicht springend, die Bütt haben sogar einen ziemlich scharfen Geruch, den selbst der frische Luftzug auf der Brücke nicht ganz verweht. Nur die langen, dünnen Aale winden sich in dem sandigen Bette, das die Grausame ihnen trotz des Thierschutzvereins bereitet hat, damit sie ihr unterwegs nicht entschlüpfen.

Widerspruch vertragen nur wenige Fischfrauen. Sie halten sich für infallibel wie der heilige Vater in Rom, aber sie sind nicht so höflich und mild wie dieser. Der geringste Tadel – und einen solchen erlaubt sich der Quartiersmann auf nochmals erfolgte Anrede – setzt sie in Feuer und Flamme. Das rothe Gesicht wird noch röther, die Lippen zittern, das rollende Auge der Erzürnten verkündigt ein entsetzliches Unwetter. Aber der Zorn versetzt ihr den Athem. Die schwer Gekränkte muß erst Luft schöpfen, um ihre Rede besser in Fluß zu bringen. Da kommt zum Glück ein Störenfried dazwischen, der die Erbitterte durch seinen Ruf besänftigt. Auch ihn, den heisern Ueberall und Nirgends, kennt die robuste Frau von der Holzbrücke am breiten Fleeth. Sie weiß, der geizige Aaron von der dritten Elbstraße ist nicht sehr eigen. Ihm also wendet sie sich zu uno bietet ihm die halb verdorbenen Fische mit der unschuldigsten Miene von der Welt und mit einer Liebenswürdigkeit an, die dem schlauen Quartiersmann ein heiteres Lächeln entlockt.

Aaron läßt die Redselige sich aussprechen. Dann hebt er ein Stück der Waaren, mit denen er hausirt und bis in den späten Abend hinein rastlos die Straßen durchwandert, ohne die trocken werdende Zunge durch einen frischen Trunk zu erquicken. Sein allbekannter Ruf, den er Jahr aus, Jahr ein erklingen läßt, bleibt sich immer gleich:

„Allerhand Band kooft, ’nen Schilling die Ehl’ (Elle)! Nasse Waare! Billige Waare! Natt, natt, natt, natt! (naß.) Ko-o-o–oft!“

Die Fischfrau kauft jedoch nicht, der Quartiersmann eben so wenig, die Vierländerin lacht sehr schalkhaft, und Aaron schlürft, seinen Ruf wiederholend, vorüber, um die Bleichen hinunter in der belebteren Fuhlentwiete sein Heil zu versuchen.

Lärmender geht es an vielen Straßenecken und auf den größeren Plätzen zu. Hier siedeln sich spätestens in der zehnten Morgenstunde verschiedene Karrenhändler an, die ohne Ausnahme dem auserwählten Volke Gottes angehören, das sich der Verheißung nach gemehrt hat und noch mehren soll wie Sand am Meere. Die ambulanten Karrenhändler übertrifft an Rührigkeit, Lebendigkeit und Redseligkeit kein anderer Erdgeborener. Sie sind in ihrer Art die vollkommensten Geschöpfe Gottes auf dieser Welt, doch mögen sie nicht immer dem Ebenbilde ganz gleichen, nach dem sie geschaffen wurden. Der Karrenhändler hat Alles, was Menschen brauchen können, und was er feilbietet, sieht gewöhnlich sehr bestechend aus und ist fabelhaft billig. Portemonnaies, die auch in den, wohlfeilsten Laden das Stück zwölf Schillinge oder eine Mark kosten, bekommt man hier für 3 und 4 Schillinge. Gehandelt wird nicht. Karrenhändler sind die einzigen jüdischen Kaufleute, die streng auf feste Preise halten. Findet sich als Nachbar oder feindseliges Gegenüber ein noch billigerer Verkäufer ein, so besiegt ihn der um eine Kleinigkeit theuerere Händler durch die Kraft seiner Stimme und nimmt im Nothfalle einen Mitschreier an, mit dem er dann die herrlichsten Duette anstimmt.

Um Karrenhändler bilden sich stets Gruppen. Viele schauen, hören, lachen, Andere kaufen und verlocken noch Andere zu gleichem Thun, und da alle Gegenstände weit unter dem Werthe verschleudert werden, so ist Abends, wenn die Schatten sich verlängern, die Karre leer. Schreien kann der glückliche Kaufmann freilich nicht mehr, selbst das Reden wird ihm sauer, aber sein Gesicht strahlt vor Glück und Wonne, denn er kehrt mit gefüllter Börse nach Hause, um am nächsten Tage irgendwo anders mit ganz andern Handelsartikeln das lucrative Geschäft mit gleichem Glücke fortzusetzen.

Giebt es nicht Scandal in Folge etwa eintretender Mißhelligkeiten, was bisweilen, verhältnißmäßig aber doch selten, vorkommt, [263] so kann der unparteiische Wanderer im Vorübergehen sich göttlich amüsiren. Denn dann kommt die Polizei, es sammeln sich Hunderte, und das Lärmen und Schreien schließt entweder mit sanfter Abführung des heftigsten Schreiers, oder man schließt, zur Versöhnung durch den Vermittler ernstlich ermähnt, Frieden, und das lustige Intermezzo löst sich in Wohlgefallen auf.




Die Geschwindigkeit des Gedankens.
Von W. Wundt.

Es ist eine ganz verbreitete Meinung, daß das Denken sehr schnell geschieht. Wir reden vom Flug der Gedanken, und gedankenschnell ist die sprüchwörtliche Bezeichnung für Alles, was schneller ist, als wir messen können. Aber es wird erlaubt sein, die Frage auszuwerfen: Was berechtigt uns zu der Behauptung, daß das Denken so schnell sei? Daß die gewöhnliche Meinung das Denken für schneller hält als alles Andere, ist natürlich nicht der geringste Beweis, denn der wissenschaftliche Beobachter hat schon hundertfältig erfahren, wie gewaltig die gewöhnliche Meinung über die Dinge von einer richtigen Kenntniß derselben verschieden zu sein pflegt. Nichts kann in der That falscher sein, als unsere Vorstellung von zeitlichen und räumlichen Verhältnissen, sobald diese einmal über oder unter jener Grenze liegen, welche unserer unmittelbaren Anschauung gesetzt ist. So wenig wir uns eine Anschauung bilden können von den Millionen Meilen, welche die Himmelskörper von einander entfernt sind, ebenso wenig können wir uns etwas darunter denken, wenn von Hunderttheilen, ja selbst von Zehntheilen einer Secunde die Rede ist.

Wir sind gern geneigt, Zeiträume für unendlich klein oder doch für unmeßbar klein zu halten, die in Wirklichkeit noch recht gut gemessen werden können, ja, deren Größe im Vergleich mit manchen andern auch noch meßbaren zeitlichen Vorgängen sich als eine sehr bedeutende herausstellt. Ein lehrreiches Beispiel sind in dieser Hinsicht gerade jene Vorgänge, die mit der Gedankenbildung im nächsten Zusammenhang stehen, die in der Entwicklung des Seelenlebens ihr vorausgehen – die Vorgänge der Empfindung und der Bewegungsleitung in den Nerven.

Vom Empfindungseindruck, der auf das äußere Ende der Sinnesnerven geschieht, meinten noch vor kurzer Zeit selbst die Physiologen, er pflanze sich mit unmeßbarer Geschwindigkeit bis zum Gehirn fort; ebenso glaubte man, der Bewegungsimpuls, der auf das Ende des bewegenden Nerven im Gehirn ausgeübt wird, setze im selben Moment auch schon die Muskeln in Zusammenziehung. Und doch ist nichts unrichtiger; genaue Messungen haben ergeben, daß die Geschwindigkeit des Nervenprincips im Vergleich zu vielen anderen Vorgängen nur eine sehr mäßige genannt werden kann. Während das Licht in einer Secunde 42,100 Meilen, die Elektricität im Kupferdraht 62,000 Meilen zurücklegt, hat der Empfindungs- und Bewegungsvorgang im Nerven des lebenden Menschen nur die Geschwindigkeit von 61½ Meter in der Secunde, d. h. er ist 5 Millionen Mal langsamer als das Licht und 7 Millionen Mal langsamer als die Elektricität, die sich im Kupfer bewegt.

Es variirt darnach aber, wenn man die Länge der Nerven im menschlichen Körper in Rücksicht zieht, die Zeit, welche ein Empfindungseindruck braucht, um bis zum Gehirn oder Rückenmark zu gelangen, ungefähr von 1/600 Secunde und weniger bis zu 1/68 Secunde. Der Eindruck auf die Haut des Fußes braucht, bis er in’s Rückenmark gelangt, mehr als das Zehnfache der Zeit, welche der Lichteindruck auf’s Auge nöthig hat, um zum Gehirn zu kommen. Wenn aber auch der Eindruck auf die Haut des Fußes im Rückenmark angelangt ist, so ist er damit noch nicht in’s Bewußtsein erhoben; hierzu muß er sich erst das ganze Rückenmark entlang bis zu jenen im Gehirn gelegenen Centralorganen fortgepflanzt haben, an welche die Aeußerungen des Bewußtseins und der Willkür gebunden sind. Würde im Rückenmark die Leitungsgeschwindigkeit der Empfindung nur ebenso groß sein, als man sie im Nerven fand, so müßte schon ein Zeitraum von 1/40 bis 1/30 Secunde verfließen, bis der Eindruck auf die Haut des Fußes wirklich zum Bewußtsein käme. Es läßt sich aber mit Sicherheit sagen, daß noch eine viel längere Zeit verfließt. Das Rückenmark ist nämlich keineswegs eine bloße Ansammlung oder ein gemeinsamer Stamm jener Nerven, die aus ihm hervorgehen, sondern es ist ein selbstständiges Centralorgan ähnlich dem Gehirn, das in gewissen ihm eigenthümlichen Leistungen vom Gehirn unabhängig ist. Wenn man niedere Wirbelthiere, bei denen ein tieferer Eingriff nicht so schnell durch die Störung der Athmung und des Blutumlaufs tödtlich ist, enthauptet, so dauern gewisse Verrichtungen fort, die als die niedersten Stufen physischer Verrichtung angesehen werden müssen. Wenn man nämlich die Thiere reizt, indem man ihre Haut kratzt oder ätzt, so führen sie einfachere oder verwickeltere Bewegungen aus, welche die Entfernung des Reizes zum Zweck zu haben scheinen. Man nennt diese Bewegungen Reflexbewegungen. Ueber die Geschwindigkeit, mit welcher die Eindrücke sich im Rückenmark fortpflanzen, kann man nur Aufschluß erhalten, wenn man die Zeit bestimmt, welche verfließt vom Stattfinden eines Empfindungsreizes bis zum Stattfinden einer Reflexbewegung. Diese Messung ist ausgeführt worden und hat ergeben, daß das Nervenprincip im Rückenmark sich nicht mit der Geschwindigkeit wie in den Stämmen und Zweigen der Nerven bewegt, sondern eine sehr beträchtliche Verlangsamung erfährt. Es braucht die Leitung der Empfindung und Bewegung im Rückenmark ungefähr das Zwölffache der Zeit, welche die Fortpflanzung der gleichen Vorgänge in den Nerven nöthig hat, so daß das Nervenprincip im Rückenmark nicht mehr als etwa 5 Meter in einer Secunde zurücklegt.

Der äußere Eindruck, der erst durch das ganze Rückenmark zum Gehirn geleitet werden muß, würde demnach beim erwachsenen Menschen bis zu einem Dritttheil einer Secunde und mehr bedürfen, bevor er wahrgenommen wird; und eine verhältnißmäßig ebenso lange Zeit nimmt ohne Zweifel die Leitung der Eindrücke im Gehirn in Anspruch. Man kann sich von dieser langsamen Bewegung des Nervenprincips in den Centralorganen auf die einfachste Weise überzeugen, wenn man beobachtet, wie die Menschen erschrecken. Wenn im Concert plötzlich die Pauken einfallen, oder wenn im Theater unerwartet geschossen wird, so geschieht das Zusammenfahren der Damen regelmäßig eine merkliche Zeit, nachdem man den Schall gehört hat. Solche Zeitunterschiede aber, die wir auf diese Weise noch unmittelbar sinnlich wahrnehmen, können nicht wohl kleiner sein als höchstens 1/5 Secunde.

Wenn wir schon den einfachen Vorgängen im Bereich des Nervensystems, welche blos in der Leitung oder Uebertragung von Empfindungen und von Bewegungsimpulsen bestehen, eine ganz merkliche Zeitdauer zukommen sehen, so ist dies sicher auch vorauszusetzen bei den eigentlichen Thätigkeiten des Geistes, bei der Bildung von Vorstellungen, von Gedanken. Im Vergleich zu der bloßen Empfindungsleitung sind dies ja schon sehr verwickelte Processe, die aus einer Menge einfacherer Vorgänge sich aufbauen. Nehmen wir z. B. eine Gesichtsvorstellung, so sehen wir dieselbe zunächst hervorgehen aus einer größern oder kleinern Zahl von Lichteindrücken auf’s Auge, die eine gewisse Fortpflanzungsgeschwindigkeit bis zum Gehirn bedürfen. Hier aber werden erst die Lichteindrücke gesammelt, indem die Farben und die Umrisse des gesehenen Gegenstandes aufgefaßt werden. Das so entstandene Bild des Gegenstandes wird endlich in das allgemeine Schema der uns geläufigen Vorstellungen an der gehörigen Stelle eingefügt und so in’s Bewußtsein erhoben. So sind selbst bei der Anregung uns schon geläufiger Vorstellungen immer mehrere auf einanderfolgende Processe erforderlich, ehe die Vorstellung wirklich ins Bewußtsein treten kann. Noch ganz anders verhält es sich, wenn unsere Seele durch neue Anregungen der Sinne mit noch nicht in ihr vorhanden gewesenen Vorstellungen oder Ideen bereichert wird. Wir wissen wohl, daß oft blitzähnlich ein neuer Gedanke in uns aufschießt, der vielleicht im Stande ist, mit einem Schlag ein uns zuvor dunkles Gebiet in’s hellste Licht zu setzen. Wir meinen dann, die Idee sei auch mit einem Schlag in uns entstanden, und wir denken dabei nicht an die stille Vorbereitung, die jenem plötzlichen Aufleuchten oft lange vorangegangen ist, und die manchmal, ohne [264] daß wir davon wußten, den ganzen Mechanismus unseres Denkens beschäftigt hat. Diese stille Vorbereitung läßt sich keinem zeitlichen Maß unterwerfen, denn wir wissen nicht, wo sie anfängt, wir wissen nur, wo sie aufhört.

Handelt es sich um vergleichbare Messungen der Geschwindigkeit des Denkens, so können demnach hierzu nur bereits geläufige Vorstellungen oder Gedanken gewählt werden, die in bestimmter Reihenfolge mit einander verknüpft sind. Aber es ist noch eine weitere Einschränkung zu machen. Man beobachtet leicht an sich selber, daß die Schnelligkeit des Denkens und Vorstellens je nach Stimmung und äußerem Antrieb sehr veränderlich ist. Wenn wir zählen, ohne daß uns eine bestimmte Geschwindigkeit im Zählen gerade vorgeschrieben ist, so zählen wir bald schnell, bald langsam, entweder aus bestimmter Ursache, manchmal aber auch ohne zu wissen, warum. Das Zählen ist die Aneinanderreihung einer Zahlvorstellung an die andere, die Geschwindigkeit des Zählens ist in diesem besondern Fall Geschwindigkeit des Denkens. Es würde aber hier keinen Werth haben, ohne Weiteres die Geschwindigkeit zu messen, da, was einmal gemessen ist, sich für ein anderes Mal doch nicht gültig zeigt. Dagegen giebt es Eins, was gemessen und zu einem vergleichbaren Maß benutzt werden kann. Alles, was sich mit verschiedener Geschwindigkeit zu bewegen vermag, hat nämlich eine gewisse Grenze der Schnelligkeit, über die hinaus die Bewegung nicht mehr zu beschleunigen ist. Ein Dampfwagen kann bekanntlich langsam und schnell gehen, aber eine Schnelligkeit giebt es, die er bei der vorhandenen Construction der Maschine nie übertreffen wird. Dasselbe muß auch für das Denken seine Gültigkeit haben. Für jeden einzelnen Menschen muß es eine gewisse Schnelligkeit des Denkens geben, über die er bei der gegebenen Beschaffenheit seines Geistes niemals hinauskommen kann. Wie aber die eine Dampfmaschine schneller geht als die andere, so wird wahrscheinlich auch jene größte Geschwindigkeit des Denkens nicht bei allen Menschen genau die gleiche sein; die geistigen Organisationen sind so verschieden, als der Bau einer Maschine nur sein kann, ja bei denselben Menschen mag die Geschwindigkeit des Denkens sich verändern, denn der menschliche Geist ist nie und nimmer derselbe, der er schon einmal gewesen ist.

Der Gedankenmesser.

Wie ist es nun möglich, die Zeit des schnellsten Gedankens zu messen? – Ich habe eine Methode ausfindig gemacht, mittelst welcher diese Messung sehr leicht und in kürzester Zeit ausgeführt werden kann. Die Hülfsmittel, die man zu derselben bedarf, sind so einfach, daß Jedermann sie leicht sich verschaffen und an sich und an Andern die Geschwindigkeit des Denkens beobachten kann. Jedes größere Uhrpendel ist nämlich zu diesen Messungen brauchbar. Das Ende B des Pendels lasse man vor einem getheilten Kreis vorbeigehen. Ungefähr in der Mitte des Pendels befestige man eine Wagerechte Metallstange s s (etwa eine dicke Stricknadel), welche, wenn das Pendel nach M hinschwingt, gegen eine seitlich angebrachte kleine Glocke g aus Glas oder Messing anschlägt. Diese Glocke ist oben an einem Haken so aufgehängt, daß das Ende der Stange sie nur eben berühren kann, sie weicht daher alsbald, nachdem sie angeschlagen ist, zurück, ohne der Bewegung einen erheblichen Widerstand entgegenzusetzen. Man kann die Glocke auf- und abwärts verschieben, damit der Beobachter nie weiß, in welchem Moment der Bewegung des Pendels der Schall wirklich stattfindet.

Hierbei ergiebt sich nun das merkwürdige Resultat, daß der Zeiger des Pendels, der vor dem getheilten Kreis schwingt, im Moment des Schalls der Glocke nie an dem Ort gesehen wird, an welchem er wirklich vorbeigeht, während er auf die Glocke schlägt, sondern immer um mehrere Scalentheile von demselben entfernt. Bei ungezwungener Beobachtung sehe ich meistens den Zeiger, bevor ich den Pendelschlag höre, der Pendel scheint mir also etwa bei einer Stellung a b an die Glocke zu schlagen, bei welcher in Wirklichkeit die Stange s s noch beträchtlich von derselben entfernt ist. Wenn ich aber die Aufmerksamkeit vorwiegend dem Schall des Pendelschlags zuwende und im Moment, wo derselbe eintritt, die Stellung des Zeigers abzulesen suche, so sehe ich diesen erst, nachdem ich den Schall gehört habe, und zwar um ungefähr ebensoviel später, als ich ihn vorhin früher gesehen hatte, der Pendel scheint bei einer Stellung c d an die Glocke anzuschlagen, bei welcher die Stange s s sich schon wieder beträchtlich von derselben entfernt hat. Es kommt lediglich auf die Beschaffenheit der Aufmerksamkeit an, ob man zuerst sieht und dann hört, oder ob man zuerst hört und dann sieht, und man ist so, wenn man gelernt hat seine Aufmerksamkeit willkürlich zu lenken, im Stande, eine beträchtliche constante Verschiedenheit zwischen seinen eigenen Beobachtungen zu erzeugen.

Diese Beobachtungen am schwingenden Pendel ergeben nun unmittelbar die absolute Größe der Zeit, welche der schnellste Gedanke zu seinem Entstehen und Verschwinden bedarf, denn die Geschwindigkeit des Pendels in jedem einzelnen Theil seines Weges läßt sich sehr leicht aus seiner Schwingungsdauer berechnen, und es läßt sich auf diese Weise aus dem Weg, der zwischen der Stellung des Pendels, wo der Schall wirklich stattfand, und der Stellung desselben, wo er gehört wurde, liegt, genau die Zeit bestimmen, welche vom Bewußtwerden des Schalleindrucks bis zum Bewußtwerden des Gesichtseindrucks verfließt. Dies ist aber unmittelbar die kürzeste Zeit, in welcher zwei Vorstellungen sich folgen können, oder die Zeit des schnellsten Gedankens.

Die in der beschriebenen Weise angestellten Versuche ergeben, daß 1/8 Secunde als der mittlere Zeitraum für den schnellsten Gedanken sich betrachten läßt. Dieser Zeitraum ist noch etwas kleiner als das schnellste Zählen, denn beim schnellsten Zählen kommt 1/5 Secunde auf die einzelne Zahl, er ist aber beträchtlich größer als die Zeit, die wir zur Scheidung der Eindrücke eines und desselben Sinnes bedürfen. Bei den tiefsten Tönen der musikalischen Scala sind wir im Stande, die einzelnen Schallschwingungen noch durch das Ohr zu unterscheiden, ebenso können wir Geräusche, die mit sehr großer Geschwindigkeit sich folgen, von einander trennen; es läßt sich auf diese Weise unter günstigen Verhältnissen der geschieden wahrgenommene Einzeleindruck bis zur Dauer von 1/60 Secunde begrenzen. Die Zeit hat aber keine Beziehung zur Thätigkeit unseres Geistes, denn die Schwingungen eines Tons oder die Stöße eines Geräusches sind immer nur Theile einer einzigen Vorstellung.

Die Zeit, die wir für die Schnelligkeit des Gedankens gefunden haben, ist keineswegs unveränderlich; die Zeit von 1/8 Secunde läßt sich nur als das Mittel aus einer größern Zahl von Beobachtungen betrachten. Aber man sieht diese Zeit bei einem und demselben Menschen kleinen Schwankungen unterworfen. Der Hauptgrund hiervon scheint zu sein, daß wir unsere Aufmerksamkeit keineswegs immer gleichmäßig anzuspannen im Stande sind. Außerdem aber ist die zunehmende Uebung bei derartigen Beobachtungen vom größten Einflusse, sie bedingt eine anfangs schneller, später nur noch sehr langsam erfolgende Schärfung der Beobachtungen, und es scheint, daß man sich dabei immer nur einer gewissen Grenze der Feinheit annähert, die man nie vollständig erreicht. Freilich findet man bei verschiedenen Menschen constante individuelle Verschiedenheiten.

Diese individuellen Verschiedenheiten in der Zeit, die zwischen Gehör- und Gesichtsvorstellung verfließt, sind vom höchsten Interesse. In ihnen ist uns erst ein directes Maß gegeben für die Denkgeschwindigkeit der einzelnen Menschen. Durch [265] unsere leicht herzustellende Untersuchungsmethode entscheidet sich hier auf die kürzeste Art, ob Jemand die Brücke der Gedankenverbindungen langsam überschreitet, oder ob er in kühnem Schwung sie überspringt. Hier ist das einfache Prüfungsmittel gefunden, mit dem Jedem bis auf ein Tausendtheil einer Secunde augenblicklich gesagt werden kann, wie schnell seine Zeit geht, – ob der schwerfällige Gang seiner Vorstellungen nur allmählich sich kleine Gebiete erobert, oder ob der leichte Flug seines Denkens in Momenten ihn eine Welt übersehen läßt …

Es ergiebt sich aus unsern Beobachtungen noch eine andere wichtige Thatsache. Schon Aristoteles hat sich die Frage ausgeworfen, ob wir zwei Dinge zugleich denken können. Aber er hat diese Frage nicht mit Sicherheit zu entscheiden vermocht, und so ist sie seit zweitausend Jahren schwebend geblieben. Hypothesen sind zwar in dieser Beziehung aufgestellt und auf die Hypothesen sogar Systeme gegründet worden, aber ein entscheidender Beweis für die eine oder für die andere Ansicht hat gefehlt. Dieser Beweis ist uns jetzt gelungen. Denn könnten wir uns zwei Dinge gleichzeitig vorstellen, so müßten wir auch im selben Moment den Pendel sehen, wo wir den Pendelschlag hören. Aber das Bewußtsein faßt immer nur einen einzigen Gedanken, eine einzige Vorstellung. Wo es den Anschein hat, als wenn wir gleichzeitig eine Mehrheit von Vorstellungen besäßen, da täuscht uns eine sehr rasche Aufeinanderfolge. Das Bewußtsein ist nicht ein unbegrenzter Raum, in welchem eine bunte Masse neben einander liegt, sondern wohlgeordnet an einem einzigen Faden aufgereiht, bewegt sich bald langsam, bald schneller durch dasselbe die Linie der Gedanken. Einer wird nach dem andern aus dem dunkeln Raum der unbewußten Seele heraufgezogen und verschwindet in dem Moment wieder, wo sein Nachfolger in’s Licht getreten ist. In jenem dunkeln Raum der Unbewußtheit, dort freilich liegt unendlich Vieles beisammen, wovon wir nicht die leiseste Ahnung haben, dort ist die wahre Gedankenfabrik,

Wo die Schifflein herüber-, hinüberschießen,
Die Fäden ungesehen fließen.

Aber wenn das Meisterstück, der Gedanke, fertig vor das Auge tritt, dann ist es ein Ganzes, an dem Keiner die Fäden mehr zählen wird, aus denen es zusammengewebt ist. –




Die erste Probefahrt durch die Londoner Untergrund-Eisenbahn.

London ist, wie die Liebe, eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Ich für meinen Theil habe von dem unterirdischen, überirdischen und gewöhnlichen London auf ebener oder vielmehr hügeliger Erde schon unendlich viel gesehen, gelesen und geschrieben, aber meine unterirdische Eisenbahnreise unter London hin machte ich mit allen Gefährten zum ersten Male. Es war die erste Versuchsreise mit gewöhnlichen Sterblichen von der Oberwelt, denen nicht nur freie Fahrt, sondern auch, im Falle eines mit dem Leben bezahlten Unglücks, unentgeltliches Begräbniß zugesichert war. Außerdem erwartete die Ueberlebenden ein Frühstück mit Champagner am nördlichen Ende der unterirdischen Eisenbahn.

Die Sache war, daß gewöhnliche Bewohner durch eine erste Fahrt Vertrauen auf das vielfach verdächtigte Unternehmen begründen helfen sollten. Wie alles Neue findet auch die unterirdische Londoner Eisenbahn ungemein viel bittere Feinde. Obgleich die Menschen immer nach „Fortschritt“ schreien, brüllen die Meisten doch gern vor Zorn, wenn ihnen wirklich ein wesentlicher Fortschritt, der sie aus der dämlichen Gewohnheit ihres philiströsen Daseins aufstört, zugemuthet wird. In wie schlechtem Rufe die neue Eisenbahn stand, erfuhr ich gerade da am meisten, als ich mit dem Omnibus nach dem Westend-Ende derselben fuhr, um die erste Fahrt mitzumachen.

Als wir in Oxfordstreet vor den neuen gemauerten Thürmen vorbeifuhren, frug ein Fremder aus der Provinz: „Bitt’ um Entschuldigung, was mag dieser seltsame Bau dort bedeuten?“

Der Angeredete, der täglich zwei Mal vorbeifährt, antwortet, ohne hinzusehen: „Drainage, Sir, Drainage.“

„Bitt’ um Verzeihung,“ fällt ein Herr daneben ein, „nichts von Drainage, sondern „levels“.“[1]

„Levels? Bitt’ um Verzeihung, was für levels?“

„Nichts von levels, sondern shafts,“[2] – neue Erklärung.

„Schaft?“ zwitscherte eine Dame. „Gott bewahre! Mir hat man gesagt, ’s soll ’n Monument für ’n Prinzen Albert werden.“

„Dafür sind über 100,000 Pfund gesammelt, für Prinz-Albert-Monumente zu Dutzenden; aber er braucht keins mehr. Er hat für mehr als hundert Wohlthätigkeits-, Kunst- und Bildungs-Anstalten den Grundstein gelegt, und die erste Weltindustrie-Ausstellung war seine Idee, und da – draußen – haben Sie’s gesehen? – die neue Ausstellung ist seine Idee. Ich will Ihnen sagen, was diese Thürme bedeuten. Stationen für die Stadtposttelegraphennetze.“

„Sehr gütig, Gentlemen,“ sagt der Dumme aus der Provinz, „aber das kann’s Alles nicht sein. Ich habe viel von der unterirdischen Eisenbahn gehört. Die muß hier unten weg laufen. So schließ’ ich von meiner Karte. Und so hab’ ich meine eigene Vermuthung: diese Thürme haben etwas mit der Bahn unten zu thun.“

„Richtig,“ platzte ich heraus, „ganz richtig. Es sind Schacht- oder Licht- und Luftthürme für die Untergrund-Eisenbahn.“

„Schacht-, Luft- und Lichtthürme für da unten? Lächerlich! Da unten giebt’s weder Licht noch Luft. Nichts als Dampf und Tod.“

„Und Wasser in Menge.“

„Ja, gehörig. Die Arbeiter unten tragen alle Jacken von Kork.“

„Jacken von Kork? Mein Gott – wozu denn?“

Ein ernsthafter, feierlicher Gentleman in weißer Cravatte fiel hier salbungsvoll ein: „Meine feste Ueberzeugung ist, daß Erd’ und Wasser uns gegeben wurden, um darauf, nicht unter denselben zu reisen, und daß jeder gottlose Versuch, diese göttliche Bestimmung zu verletzen, vom Himmel bestraft wird.“

„Ich bin eben auf dem Wege, die erste Probefahrt mitzumachen,“ platzte ich unwillig gegen die gottlose Frömmigkeit der weißen Cravatte heraus.

Ich weiß nicht mehr, was sie Alles sagten, lachten und höhnten, bis ich in Paddington[3] ausstieg und mich hier auf dem tiefen, stadtgroßen Bahnhofe der großen Westbahn zurecht fragte.

Ganz im nordöstlichen Winkel des Personenperrons entdeckte ich eine klein aussehende, schwarze, gähnende runde Oeffnung. Das ist die Untergrundbahn, hieß es. Kaum groß genug, wie es schien, daß ein langer Mann mit Angströhre drin stehen oder eine crinolinirte Unschöne in der Quere Platz finden könnte. Ganz in der Nähe betrachtet wurde sie freilich größer, blieb aber entschieden zu klein für die gewöhnlichste Locomotive. Richtig. Darum haben sie ungewöhnliche für diese Maulwurfsgänge. Da steht eine vor dem Eingange, doppelt so lang, als jede andere, die ich bisher gesehen, mit gar keinem hervorragenden Schlot, dafür aber doppelt so dünn und schlank und mit einer wunderbaren Fähigkeit, wie ich hernach sah, Dampf auszupuffen, oder es ganz zu lassen, ohne dadurch an Kraft zu verlieren. In der That steckt sie, sobald sie im Tunnel zu thun hat, ihre Pfeife in die Tasche und arbeitet, ohne zu rauchen.

Nach etwa einer halben Stunde standen vielleicht ein halbes Hundert Herren um dieses seltsame Monstrum und beäugelten es mit prüfenden Blicken.

„Wenn wir nur erst beim Champagner-Frühstück im großen Nord-Hotel säßen,“ bemerkte Einer der Herren.

„Also ’s giebt ganz gewiß Champagner?“ frug ein Anderer, der ganz besonders ängstlich aussah.

„Sicherlich, und mehr als wir trinken können.“

„Wie so?“

„Nun, es ist für Alle gedeckt, und Sie werden doch nicht glauben, daß wir Alle lebendig hinkommen?“

[266] Der Aengstliche wurde blaß, aber unter allgemeinem Gelächter wieder roth, so daß er sein Mißtrauen gegen die seltsame, lange Locomotive im Vertrauen auf die Andern und den Champagner aufgab und in die inzwischen vorgeschobenen, offenen Wagen mit einstieg. Es waren blos Kasten auf Rädern mit hölzernen Bänken, unten mit Strohmatten beteppicht. Um uns Muth einzuflößen, erfuhren wir, daß erst nur eine kleine Ein- und Rückfahrt zwischen der ersten Station unter Edgeware Road gemacht werden sollte. Unser Locomotiv-Maulwurf hörte also plötzlich auf zu zischen und zu spucken, er unterdrückte seine Gefühle, hielt den Dampf-Athem an und schob uns ganz zärtlich und spielerig einige hundert Fuß in den Abgrund hinein.

Abgrund! Es klingt so schauerlich. Und der Abgrund, der Tunnel sieht doch so hübsch aus in seiner ewigen, glänzenden Gasbeleuchtung, in der man jeden Stein des meisterhaften Mauergewölbes sehen und bewundern kann. Und dann die lange, enge, lichte Schlucht! Das ebene Hinrollen ohne Puffen, Zischen, Pfeifen und Puhsten. Es war ein ganz eigenthümliches Gefühl, das ich weiter nicht schildern kann. In einigen Minuten waren wir allerdings schon am Ziele, aber da drangen neue Empfindungen von der breterbedeckten Station herab. Wir sahen und hörten das Stampfen und Rollen der Oberwelt durch die Ritzen, durch welche Tageslicht und Menschenaugen neugierig herabforschten voller Wunder, daß hier unten Maulwürfe mit Dampf durch die Erde fahren.

„Den Rückweg wird mein Drache wie ’ne gewöhnliche Locomotive machen,“ rief der Treiber.

Sofort schrillte es durch den Tunnel, dicht an unseren Ohren, wie drei Dutzend aufkreischende weibliche Discant-Gurgeln. Dampf und heiße Asche umpfauchten uns erstickend, tosend, rasend wie in einem echt russischen Dampfbade. Einige ängstliche Naturen schrieen aus Leibeskräften dazwischen, der Ingenieur und die bereits Eingeweihten lachten -– und ehe wir uns recht besannen, flogen wir auch schon wieder heraus an’s Tageslicht, um zu erfahren, daß sich Directoren und Ingenieur blos den Spaß gemacht hatten, uns auf diese Weise den hohen Werth der Untergrund-Locomotive recht anschaulich zu machen, die Wohlthat der Erfindung, mit der Locomotive ohne Dampfentwickelung nach außen zu fahren.

Nun galt es die ganze Fahrt bis in den großen Nordbahnhof mit stiller Locomotive. Still fuhren wir wieder eine Strecke, bis wir vor einer noch unfahrbaren Stelle hielten. Hier mußten wir in einem Schachtthurme auf die Oberwelt steigen, etwa zweihundert Schritte auf der Straße im lieben Tageslichte gehen, um dann wieder zu neuer Fahrt hinabzuklettern. Letzteres war für die Meisten nicht leicht. Dünne, schwankende Breter über einer düsteren Unterwelt nahmen uns auf. Von hier sollten wir an einer senkrechten Eisenleiter hinabklettern. Mehrere erklärten sofort, daß sie dies nicht wagen könnten. Diese wurden denn auf die „Wiege“ gebracht, d. h. ein zwischen glatten Pfosten und Bretern in Flaschenzügen hängendes Parterre, auf welchem künftig die Passagiere auf den verschiedenen Stationen rasch und leicht auf- und hinabgelassen werden. Die Wiege war aber offenbar noch nicht fertig. Wenigstens mußte das einfache Bret mit lauter „Stehsitzen“ doch wohl ein Geländer haben, weil sich sonst das Publicum, wenn es etwas „voll“ ist, an den Rändern mehr oder weniger scheuern und quetschen wird, indem es zwischen den Pfosten und Bretern auf- oder abgleitet, wie es mir und mehreren Anderen nicht zum Vortheil meines Rockes und Rückens ging.

Plötzlich hören wir eine Stimme: „Das ist nicht der rechte Schacht. Der fährt nach Westen. Bitte wieder einzusteigen.“ Einer von der Compagnie gab aber Befehl, daß man ein paar Minuten warten solle, um den Herren just die verschiedenen Abtheilungen einer unterirdischen Station zu zeigen. Wir nahmen also zunächst die beiden Perrons für Hin- und Her-Passagiere in Augenschein, dann die Schuppenräume für Locomotiven und Waggons zum Anhängen und als Reserve, den Untergrund-Thurm, dessen Inneres eine Wendeltreppe aufnehmen sollte, sonstige ausgemauerte Löcher und Höhlen für Wärter, Inspectoren, Telegraphie etc., Alles unter Steinpflaster, Straßen und Häusern ausgewühlt, wasserdicht ausgemauert und mit „ewigen Lampen“ erleuchtet.

In der Flaschenzug-Wiege wieder aufgewunden, aber diesmal in zwei Abtheilungen, wurden wir etwa hundert Schritt weit vor eine senkrecht in dunkeln Abgrund führende eiserne Leiter geführt und gebeten, so rasch als möglich hinunter zu steigen, da hier der einzige Weg nach dem unten wartenden Zuge sei. Auf einer senkrecht, schnurgerade in einen dunkeln Abgrund führenden Leiter eine Höllenfahrt zu machen, das war für Viele von uns eine starke Zumuthung. Aber es half, nichts, entweder – oder. So kletterten wir denn auch mit raschem Entschlusse dicht hinter einander unterweltwärts, von den Füßen dicht über uns mit Stiefelanhängseln behagelt und stets bedacht, daß sie auf unsere ängstlich anklammernden Hände treten würden, so dicht über einander kletterten wir – Jeder mit allen Vieren – in die neue, nicht Dante’sche Unterwelt. Mein dicker Nachbar über mir trug den Regenschirm quer im Munde, wie ein apportirender Pudel. Die Einfahrt war noch in Arbeit in verschiedenen Etagen, von denen die Maurer und Kärrner aus verschiedenen Entfernungen und Lichtern spöttisch auf unsere gymnastischen Künste hereingrinsten. An einigen Stellen war’s eng, so daß mein Nachbar über mir mit dem quer im Munde getragenen Parapluie hängen blieb und nach einigem Zerren und Zausen sich genöthigt sah, den Schirm aus den Zähnen in die Tiefe fallen zu lassen.

Da unten aber war’s fürchterlich! Mit Hülfe von ein paar armseligen Lichtern mußten wir durch eine nur theilweise gewölbte, unten noch lehmige, zähe, mit Wasserpfützen aufleuchtende Schlucht bis zu dem harrenden Zuge weiter und zwar im gefährlichsten Gänsemarsch auf einem platschigen, schlüpfrigen Brete. Ein dicker Gentleman, der vor uns ausglitschte und mit einem Plump und Platsch mit Bauch und Nase in den Unterweltsbrei fiel, ward sofort von den dicht Nachtretenden, lebendig von lebendiger Decke, begraben. Die nun folgende Scene war das grausigste, lehmigste Gemisch des Schrecklichsten und Komischsten. Lessing oder ein Anderer hat gesagt: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.“ Hier hatten wir’s so schön durcheinander, als hätte der Chemiker Eins in dem Andern vollständig aufgelöst, wenn überhaupt in einer solchen Tiefe noch vom Erhabenen die Rede sein kann. Dieses vielstimmig-mißtönige Schreckensgeheul und Geknete während der verschiedenen Grade der Auferstehung und des Ausgrabens eigener und fremder lebendiger Gliedmaßen, und dann der neue Schreckensruf, als mit furchtbar rasch wachsendem dumpfen Donnergebrüll ein Zug heranbrauste, vor oder hinter uns, – ich will diesen Augenblick des Entsetzens nicht ausmalen. Glücklicherweise schrie ein Mann vorn aus Leibeskräften, daß der gewöhnliche Zug mit ausgegrabener Erde diese Schlucht gar nicht passire.

Wie wir bei Lichte aussahen, braucht Niemand so genau zu erfahren. Aber es muß doch sehenswerth gewesen sein; denn als wir später mit unsern „Ueberziehern“ aus der Unterwelt an’s Tageslicht kamen, blieben die Leute stehen und hatten ihre kannibalische Freude an uns Gnomen oder unterirdischen Erdmännern. Selbst die rothjackigen, numerirten Mitglieder der „Stiefelwichs-Brigade“ blieben ohne Erbarmen und nahmen sich mit ihren sonst immer hülfreichen Bürsten weder unserer Kleider, noch der Stiefeln an.

Wir erreichten den harrenden Zug, machten wieder eine kleine unterirdische Eisenbahnreise, stiegen wieder durch eine enge Oeffnung senkrecht an’s Tageslicht, marschirten bis zum nächsten Schacht, kletterten noch einmal hinunter und fuhren von da an endlich mit ordentlichem Dampf, auf ordentlichen Schienen durch den erleuchteten Tunnel an’s Ziel im ungeheueren Bahnhöfe der großen Nordbahn an King’s Croß, ohne besondere Abenteuer zu erleben oder Todte zurückzulassen. Aber zu bewundern gab’s genug unterwegs. Obgleich ich weder ein Bau- noch ein Maurermeister bin, hatte ich doch eine Idee von den ungeheueren Schwierigkeiten und der Schönheit dieser meilenlangen Eisenbahn-Tunnels. Die sichtbaren Mauerschichten, die graziösen, massiven Curven, Bogen und Wölbungen, die oben, wie man uns sagte, bis drei Fuß hoch unter den Straßen und Häusern aufsteigen – (je nach Unebenheit des Bodens) während sie horizontal fortlaufend manchmal bis 10 und 14 Fuß sinken – dieser unter der Erde, unter London hinlaufende Heroismus des Unternehmungsgeistes nöthigte uns höhere Achtung ab, als der stolzeste Kasernenbau in Berlin mit seinen elektrischen Drähten, die sie mit dem königlichen Schlosse zu einem Organismus des Vertrauens verbinden.

An Stellen, wo das Mauerwerk ungewöhnliche Lasten von oben und den Straßenverkehr tragen muß, hat es die Form eines Apfels mit einem Loche durch; ringsum, auch unten, zehnfaches Gemäuer, das nie geringer wird, als sechsfach. Diese sechs- bis zehnfachen Mauerschichten sind von außen mit wasserdichten Stoffen und außerdem von dichten Asphalt-Schichten umgeben, so daß [267] durchaus kein Wasser eindringen kann. Es ist das Werk der ausgesuchtesten Arbeiter, von denen Jeder wöchentlich 2–3 Pfund (13 bis 20 Thaler) verdient. Die Arbeiter an Bogen und Wölbungen bilden die höchste Aristokratie ihres Gewerks und verachten es, an irgend einer Arbeit Theil zu nehmen, wo gerade Steine gerade aufeinander gemauert werden.

Der ganze Bau ist, soweit er vollendet, durchaus trocken, rein, hell und durch gute Ventilation mit stets gesunder Luft versehen. Von den ungeheueren Kosten, Beschwerlichkeiten, Mühen und Genialitäten, womit auf diesem unterirdischen Wege Cloaken, Gas- und Wasserröhren, elektrische Telegraphen und sonstiges unterirdisches Aderwerk unterbunden, verlegt, oben oder unten wieder hergestellt werden mußte, wußten uns Directoren Wunderdinge zu erzählen. Alles ist bis jetzt geglückt und gelungen.

Wir waren am Ende, blickten aber in eine noch großartigere Fortsetzung hinein, die eben angefangen war. Diese soll unter dem dicksten, dichtesten London hin (nur an tiefen Stellen auf der Erde) die große Nordbahn mit der Victoria-Eisenbahn-Station im Westende verbinden und unter der Themse hin in den großen Südost-Bahnhof münden, von wo man nach dem Krystall-Palaste, nach Dover und beinahe überall hin fahren kann. Die dichten Eisenbahnnetze, die nun London von allen Seiten, über und unter den Straßen und Häusern umstricken, laufen dann nicht nur ringsum, sondern auch in allen Richtungen der Windrose auseinander nach Tausenden von Stationen und Städten bis hoch in den schottischen Norden und über’s Meer hinweg durch Röhren, unter denen Seeschiffe hinwegsegeln, sogar auf Inseln hinüber. –

Unser Champagner-Frühstück um drei Uhr (natürlich mit abgelegten „Ueberziehern“ aus der Unterwelt) war prachtvoll. Nur möcht’ ich Niemandem, der nicht darauf eingeübt ist, rathen, um drei Uhr mit Champagner zu frühstücken, da man während der nächsten 24 Stunden nie mehr recht weiß, welche Zeit es ist.




Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 3     Die Gemsjäger.

Gar Mancher von den Tausenden und Abertausenden von Touristen, die von Albions weißen Küsten, aus grün Erin, aus der sandigen Mark oder aus den leichtsinnigen Städten des Frankenreichs im Hochsommer den gletscherumfangenen Paradiesen des Berner-Oberlandes oder den schauerlich-prächtigen, wilderhabenen Thalschluchten Graubündens, der Wiege des jungen Rheins, zueilen, um sich einmal in echt reiner Alpenluft zu baden, von der Gletschermilch, die der große Schiller in seinem Tell erwähnt, zu trinken und neuen Lebensmuth zu schöpfen, trägt sich mit gar wunderlichen Hoffnungen und Erwartungen von all den Wundern und Seltsamkeiten, welche ihm das vielgepriesene und auch viel geschmähte schweizerische Hochland darbieten soll. Wäre die gute Schweiz an Wundern auch so reich, wie das Buch von tausend und einer Nacht, es würde dieses noch bei weitem nicht ausreichen, um all diesen bizarren und sanguinischen Erwartungen auch nur zur Hälfte ein Genüge zu leisten. Der langbeinige Engländer, der leichtfüßige Franzose, der neugierige Yankee und selbst der gemüth- und phantasiereiche Deutsche, vorausgesetzt, daß sie die Schweiz noch nie gesehen haben, sind häufig schon beim ersten Ueberschreiten der Grenze sehr enttäuscht, ja manchmal förmlich entrüstet, weil es der spröden Mutter Natur nicht gefällt, ihnen von zehn zu zehn Schritten eine neunhundert Fuß hohe Felswand zu präsentiren und darüber hinab einen donnernden Gebirgsstrom im kühnsten Bogen springen zu lassen, daß er in der Luft zerstäubt, wie etwa der Staubbach im Lauterbrunnen-Thale. Eben so deconcertirt hat der Verfasser dieser Zeilen die genanten Leutchen auch schon oft gesehen, wenn sie auf stattlichem Dampfer den Thuner- und Brienzer-See hinauffahren und selbst mit dem besten Operngucker die lustigen Gemsheerden nicht erblicken können, von denen sie daheim so viel Schönes haben erzählen hören, und von deren tollen Sprüngen sie doch ein so vorzügliches Divertissement erwartet hatten. Sind ja diese beiden lieblichen Wasserbecken von himmelanstrebenden Gebirgsstöcken und Felswänden umschlossen, die anscheinend ganz bequem einigen Tausenden der interessanten Thierchen Kost und Logis darbieten könnten, und ist doch von alledem auch nicht die blässeste Spur zu sehen, wenn nicht etwa ein gutmüthiger Geißbube sich der Schaulustigen erbarmt und seine Heerde zahmer Alpenziegen den Ungeduldigen in Sicht getrieben hat, welch letzterer Umstand, namentlich in frühern Zeiten, wo treuherziger Glaube noch so viel zur Verschönerung der Welt beitrug, zuweilen die Reputation dieser Vorposten des Hochgebirges rettete, die sonst im angedeuteten Sinne nicht einmal den gerechtesten Anforderungen eines wohlerzogenen Menschen, der für sein gutes Geld reist, mehr entsprechen.

Doch nur nicht verzagt! – ’s ist mit den Gemsen, wie mit den Wasserfällen: das Hochgebirge kann allerdings damit aufwarten; nur kostet der Anblick der erstern weit mehr Mühe, weit mehr Muth und einen schwindelfreiem Kopf, als der Bewohner der Ebene es sich gewöhnlich vorstellt. Die schnellfüßige Antilope des Hochgebirges durchstreift noch immer in kleinern oder größern Heerden die Alpen, aber nur die einsamsten und höchsten Reviere derselben, und nur der, dem es gegeben ist, mit rüstigem Muthe und nie erschlaffenden Sehnen die schroffen Wände der Gebirgsstöcke zu erklimmen, und der nicht zu fürchten hat, daß auf scharfem Grate, den mehrere tausend Fuß tiefen Abgrund unter sich, um sich nichts als das blaue Aethermeer und den Geieradler, der einsam in diesem Ocean schwimmt, der Schwindel ihn packe und rettungslos hinunterstürze in die gähnende Kluft, darf sich mit einiger Bestimmtheit der Hoffnung hingeben, die herrlichen Thiere auf schmalem Grasbande weiden zu sehen und die Wachtgeiß bewundern zu können, wie sie auf erhöhtem Felsvorsprunge scharf nach allen Seiten auslugt, um die nahende Gefahr auf stundenweite Entfernungen zu erspähen und durch schrillen Pfiff, dem Räubersignale gleich, die Genossen zu benachrichtigen. Bemerkt ihn aber diese Schildwache, dann ist auch in kurzer Zeit die ganze Gesellschaft gespensterhaft schnell verschwunden, wenn nicht gerade Zufall und Ortslage es fügten, daß sie in sausender Jagd über das stundenlange Eisfeld hinfliegt. Das macht, die Menschen haben den klugen schönen Thieren, die noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts selbst die weniger unzugänglichen Bergkämme so reizend belebten, mit so unerbittlicher Mordlust nachgestellt, daß sie jetzt ganz zurückgedrängt sind in die wildesten Einöden und mit Ausnahme des Winters, wo sie in den tiefergelegenen Wäldern Schutz gegen die Unbilden der Witterung suchen, fast immer nur in der nächsten Nachbarschaft des ewigen Schnees hausen.

Wenn der Tag anbricht, oder der Mond besonders hell scheint, da steigen die Gemsen wohl an den Bergwänden nieder und suchen sich bequemere, aber immer nur solche Weideplätze auf, welche rings von Felsen geschützte Grasplätze darbieten; von 9–11 Uhr halten sie ein wenig Siesta, steigen um Mittag wieder grasend in die Höhe und ruhen dann bis gegen 4 Uhr schon wieder in der Nähe der Gletscher, oft sogar auf dem blanken Firn, von ihrer Tagfahrt aus, um später denselben Weg noch einmal hin und zurück zu machen. Besonders munter sind die flinken, mit unglaublicher Klettergewandtheit begabten Thiere im Herbste und im Vorwinter, wo sie sich an den schroffsten Abgründen und auf den schärfsten Felskanten in toller Lust umhertreiben, sich mit den Hörnchen gegenseitig hinunterstoßen und die hübschesten Scheinkämpfe aufführen. Wo die nächste Base der Gemse, die selbst vorzüglich kletternde Alpenziege, sich nicht mehr hingetraut, in den unzugänglichsten Grasplätzen der steilsten Hörner, auf jenen oft kaum fußbreiten Steinbänken, die sich bandartig um die jäh abstürzenden Felskuppen winden, bewegt sich die Antilope des Gebirges mit einer Leichtigkeit und Grazie, mit einer Spannkraft der Sehnen, die an’s Fabelhafte streift. Munter, zierlich gebaut, von höchst klugem Aussehen, ist die im Sommer rehfarbene, im Winter fast schwarze Gemse mit den zierlichen, feingebogenen und glänzend polirten Hörnchen, besonders in aufgescheuchtem Zustande, von überraschender Schönheit; da werden ihre Muskeln elastisch und stramm wie Stahlfedern, und mit dem Sturm an Schnelle wetteifernd, geht’s in herrlichen Sätzen über Kluft und Eis. Man hat am Monterosa einmal eine von einer Gemse übersprungene Kluft gemessen, und das Resultat dieser Messung hat nicht weniger denn 24 Fuß [268] ergeben. Von eben so vorzüglicher Organisation, wie ihre Muskeln und Sehnen, ist auch das Geruchsvermögen der Gemsen: sie wittern den Jäger, der im Winde steht, auf ungeheuere Entfernungen und gebehrden sich dabei viel unruhiger, als wenn sie ihn wirklich zu Gesicht bekommen. Verirrt sich ob der Flucht eine Gemse an eine Felswand, wo sie weder vor- noch rückwärts mehr kann, so bleibt sie nicht etwa rathlos stehen, sie mißt kurz entschlossen den nächsten Absprung, versucht das Unmögliche möglich zu machen, und ein Sprung in den Abgrund, in welchem sie rettungslos zerschellt, ist das Ende. Ist der Jäger das einzige sich ihr darbietende Hinderniß, um auf schmalem Felsbande, das zum Abgrunde führt, wieder umzukehren, so schießt sie pfeilschnell zurück, und der Jäger mag sich nur schnell auf den Bauch legen, wenn er nicht von dem heranstürmenden Thiere in die Tiefe geschleudert werden will. Thut er dies aber, so setzt das Thier einfach über ihn weg. Selbst im Hinunterstürzen verliert die kluge Gemse nicht ihre Geistesgegenwart, und wenn sie mitten im Falle noch einen Vorsprung an der jähen Felswand bemerkt, so rudert sie mit Leib und Füßen und beschreibt im Sturze eine krumme Linie, um die Zacke zu erreichen, was ihr auch nicht selten gelingt.

So ist das Thier beschaffen, dem die Menschen, die der Titel unseres Aufsatzes bezeichnet, bis in seine letzten Verstecke auf schwindelnden Pfaden nachstellen, es trotz seiner wunderbaren Eigenschaften, trotz seiner Windesschnelligkeit, Scheuheit und schlauen Vorsicht oft dennoch überlisten und als gute Beute zu Thal schleppen, freilich aber fast immer schließlich ob des verwegenen Spieles den jedesmaligen Einsatz, das Leben, einbüßen. So wurden die zwei berühmtesten Gemsjäger des Glarnerlandes, David Zricki von Mollis, und Kaspar Blumer von Glarus, nachdem sie viele Hunderte von Gemsen erlegt, trotz ihrer staunenswerthen Kaltblütigkeit und Klettergewandtheit zuletzt die Opfer ihres zur dämonischen Leidenschaftlichkeit hinaufgegipfelten Jagdtriebes. Der Erstere wurde sechsunddreißig Wochen lang vermißt, und Niemand wußte, ob der siebenundfünfzigjährige, rüstige Mann noch am Leben sei. Endlich wurde sein von Geiern und Füchsen zernagtes Gerippe auf einem Hügel der steilen Auernalp gefunden. Der Mann mußte furchtbar gelitten haben; denn nach einem gebrochenen Fuße und der Lage des Ortes, wo man seine Reste fand, zu schließen, hatte er sich nach einem Sturze noch weit hergeschleppt und war nach vergeblich abgefeuerten Nothschüssen dem Hunger und der Kälte erlegen. Blumer stürzte am Vorderglärnisch über eine ungeheuere Felswand, wo sein zerschellter Leichnam erst im darauffolgenden Sommer aufgefunden wurde. Bekannt ist die Geschichte von dem Berner Jäger, der auf dem vielbesuchten Grindelwaldgletscher in eine verdeckte Eisspalte fiel, ohne Schaden zu nehmen auf den trockenen Grund gelangte und durch die finstere Höhlung, welche dem festen Boden nach ein dem Gletscher entfließender Bach gebildet, mit unsäglichen Mühen an den Rand der Eiswüste gelangte, und zwar an eine Felswand, über die der Bach sich als Wasserfall stürzte. Solche Glücksfälle sind aber selten, und schon öfter hat es sich begeben, daß ein auf ähnliche Art Verunglückter Stunden, ja Tage und Nächte lang in solchen Gletscherspalten aushalten mußte, bis es den Jagdgenossen gelang, ihn mittelst Stricken und Stangen wieder an’s Tageslicht zu fördern. Glücklicher als die Meisten war der berühmte und berüchtigte Gemsenwürger Marcus Colani, von Pontresina im Bündnerlande. Dieser seltsame und unheimliche Geselle, der sich ein ganzes ungeheures Jagdrevier usurpirt hatte, in welches kein anderer Jäger sich so leicht hinwagte und in dem er ganze Rudel halbzahmer Gemsen hegte, erlegte bis zu seinem sechsundsechzigsten Jahre nicht weniger denn 2800 Stück dieser Thiere, eine Anzahl, die von keinem andern Jäger vor und nach ihm erreicht worden ist. Dieser Jägerfürst starb ruhig in seinem Bette, freilich in Folge der Strapazen eines mit dem Naturforscher Dr. Lenz unternommenen, von dem Letztern sehr romantisch geschilderten Jagdabenteuers.

Die angedeuteten Gefahren sind jedoch nicht die einzigen, die den Jäger auf seinen verwegenen Fahrten bedrohen. Der fürchterlichste Feind des Jägers ist unstreitig der Nebel, der ihn oft, wenn er sich in die höchste Gletscherwildniß verstiegen hat, plötzlich überfällt und bei seiner außerordentlichen Dichtigkeit ihm kaum einen Blick vor- oder rückwärts gestattet. Da mag’s denn allerdings schlimm bestellt sein um den Mann, der, über schwindelndem Abgrunde hinschreitend, sich tappend auf dem kaum fußbreiten Pfade zurückfinden, oder auf dem weiten Gletscherfelde die vom Schnee trügerisch versteckte Spalte ausmeiden muß. Das ist buchstäblich ein Gang auf der schmalen Grenze zwischen Tod und Leben, und es gehört all die Kaltblütigkeit und der kaum begreifliche Spürsinn dieser an den rauhen Brüsten der Gebirgsnatur aufgesäugten Bursche dazu, um sich aus all diesen Fährlichkeiten herauszuwinden. Häufig suchen sie aber in solchen Fällen eine nothdürftig sichere Stelle auf und bringen, mittelst des Strickes, den sie immer mit sich zu führen pflegen, an eine Felszacke festgebunden, um nicht im Schlafe in den Abgrund zu stürzen, die Nacht in der nächsten Nachbarschaft der Geier und Adler zu. Das ist aber ein gar kühles Nachtlager auf die magere Suppe, die er sich in der mitgeführten eisernen Kelle bereitet hat, und gar oft muß sich der Jäger mittelst stundenlangen Umherlaufens oder dadurch, daß er einen schweren Stein hin und her trägt, vor dem Erfrieren schützen. Unser Bild stellt einen Berner Jäger dar, dessen Erlebnisse unter seinen Freunden und den Fremden, denen er oft als Führer diente, lange Zeit vielfach besprochen wurden. Auch er hatte sich, um nicht in den Abgrund hinunterzustürzen, in der Nacht an einen Fels angebunden, und seine Schilderung, wie er sorglos an der jähen Felswand sein Nachtquartier bezogen und trotz der Gefährlichkeit seines Bettes im Schatten der vom Monde beleuchteten Felsen ruhig entschlummert war, hatte etwas so Grausiges, daß man förmlich Athem schöpfte, wenn er seine Erzählung beendete.

Auch die nachfolgenden, in größeren Kreisen bisher noch nicht bekannt gewordenen Abenteuer dürften einen Beitrag für die Gefährlichkeit dieses Jägerhandwerks liefern.

„Ich ging,“ – so erzählte vor wenigen Tagen der ehemalige Gemsjäger und tüchtige Bergkundige Matthias Hefti von Glarus dem Verfasser dieser Zeilen – „als fünfzehnjähriger Bube ohne Vorwissen meiner Eltern nach der Bächialp (steiles Gebirge im Glarnerlande), um Gemsen zu jagen. Meine Mühe und mein Suchen waren vergeblich: die schlauen Thiere hatten mich gewittert, ich hatte ihnen den Wind nicht abzugewinnen gewußt und als ich den Kamm des Gebirges keuchend erreichte, da hatte ich das Vergnügen, ein kleines Rudel von fünf Stück wie der geschmierte Blitz so schnell den jenseitigen Abhang hinunterjagen zu sehen. ’s ist ein verfluchtes Ding, solches Nachsehen, und in wahrhaft lebensgefährlicher Stimmung trat ich, da der Abend schon nahte, meinen Rückweg an. Er führte mich zuerst eine Runse hinunter, wo das bröckelnde Gestein jeden Augenblick unter meinen Füßen wich, so daß ich im Grunde eher hinunter rollte, als ging, und dann auf ein nicht gar zu steil abgedachtes Plateau, auf dem zum Troste, wenn etwa üble Witterung den ganzen Heimweg unmöglich machen sollte, eine einsame Sennhütte stand. Den Ort hatte ich mir beim Hinaufsteigen genau gemerkt, und es war mir nicht entgangen, daß, nach den Blutspuren und andern Ueberresten zu schließen, da vor wenigen Tagen erst ein Schwein geschlachtet worden sein müsse. Dummer Weise, aber hatte ich die Hütte gleichwohl leer gefunden; sie mußte von den Insassen kürzlich erst verlassen worden sein, wie das auf den Alpen etwas eben nicht Außergewöhnliches ist. Wie ich nun so, in allerhand unerfreuliche Gedanken vertieft, die Halde hinabschlendere und gegen die verlassene Hütte hinschaue, da taucht aus dem hereinbrechenden Dunkel plötzlich eine niegesehene Figur vor mir auf, aus deren rundem Kopfe zwei Augen wie feurige Kugeln hervorleuchten. Freundliche Absichten schien das nicht eben heimelig aussehende Ding nicht zu haben, denn just war’s eben noch hell genug, daß ich die langen, schneeweißen Fangzähne bequem betrachten konnte, die es mir zum Willkommen vorwies. Sage Dir, Freund, es war ein kritischer Moment das, und meine jungen Beine wurden ordentlich dünn unter mir. Lache nur! ich schwöre darauf, Du hättest unter ähnlichen Umständen von Deinen Gehwerkzeugen den flinkesten Gebrauch gemacht. Hätt’s auch gethan, wenn nur der Rückweg nicht so mörderlich steil gewesen wäre, daß an ein schnelles Fortkommen nicht zu denken war. Na, die Verzweiflung hat wohl schon manchen Helden gemacht, und so reiße ich denn nicht ohne beträchtlichen Schlotter meine Büchse von der Schulter, ziele scharf nach der Brust des fortwährend die Zähne fletschenden Thieres, drücke los und sehe, wie die Bestie ein paar Mal über und über schlägt. Der Schuß hallt wie ein Donnerwetter an den Felswänden hinter mir wieder, habe aber keine Zeit, lange darauf zu horchen, denn in das hübsche Rollen mischt sich ein so verfluchtes Geheul, daß mir die Ohren noch heute davon gellen. Weder vor noch hinter mich sehend, wie ein vom Geier

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Nachtquartier eines Gemsjägers.
Nach einer Originalzeichnung von H. Jenny.

verfolgtes Schaf, renne ich an der Hütte vorbei und den Berg hinunter. So schnell bin ich, glaub’ ich, in meinem Leben nur noch ein einziges Mal bergab gekommen. Werde Dir später erzählen, bei welcher Gelegenheit. – Als ich daheim mit kleinmüthiger Miene die Geschichte erzählte – es waren, wie das in den Bergdörfern häufig der Fall ist, mehrere Nachbarn bei uns zu Abendsitz – da beschloß man sogleich am andern Morgen nach der Alp zu gehen und nachzusehen, welchem Ungeheuer ich das Lebenslicht ausgeblasen habe. Meine Schilderung mochte wohl etwas ungenügend lauten, und das weckte nur noch mehr die Neugierde der Gebirgsleute. Rüstig machte man sich auch mit Tagesanbruch auf den Weg, und was fand man? – Dicht bei der Sennhütte lag meine Jagdbeute, mit durchschossener Brust, steif und starr zum Eiszapfen zusammengefroren, und ein mächtiger, ausgewachsener männlicher Luchs war’s, der sich ohne Zweifel von der Metzelsuppe der Sennen seinen nachträglichen Antheil hatte holen wollen.

„Das andere Mal,“ so fuhr mein origineller Erzähler fort, „das andere Mal, wo ich noch beförderlicher aus der Höhe in die Tiefe gelangte, war, daß ich mit meinem einige Jahre ältern Bruder mich eines Morgens früh zur Jagd nach dem schrecklich steilen Vorderglärnisch aufmachte. ’s ist ein Steigen dort, sag’ ich Dir, daß Dir darob nicht nur Hören und Sehen, sondern selbst das Mark in den Knochen vergehen würde. So auf einem Felsband hinzuschleichen, das fast so schmal ist, wie Dein Strumpfband, [270] neben Dir auf der einen Seite die glatte, senkrechte Felswand, über Dir den blauen Himmel und wieder neben und unter Dir das drei-, viertausend Fuß tiefe blanke Nichts, das könnte unter gewissen Umständen auch den solidesten Kopf zur Unzeit wirblig machen, und halten die Knochenwände das Gehirn nicht fest, ergreift Dich der Schwindel, dann ist’s, als wenn Dich ein Gespenst bei den Beinen packe, und Du fährst zur Tiefe ohne Testament und Absolution.

Nun, ich bin ein Glarner, und wir, mein Bruder und ich, krabbelten so ziemlich wohlbehalten bald durch Runsen, wo die liebe Gotteswelt bei jedem Schritte unter uns wegkollerte, bald über das dichte Filzwerk der Legföhren empor, bis wir endlich zu einem schon mit einem Lappen ewigen Schnees belegten, zwar verwettert steilen, aber eine ziemlich regelmäßige, schiefe Ebene bildenden Abhang geriethen, der unten in einen mit allerhand kleinem Steingerölle halb angefüllten Kessel auslief. Da hinauf mußten wir, um den scharfen Kamm oben überschreiten zu können, jenseits dessen in schmaler, tiefer Schlucht, ein sehr besuchter Wechsel der Gemsen sich befand. Meist auf allen Vieren kriechend, wie ein Dachdecker am Kirchthurmdache hängend, kletterten wir unverdrossen an der scharfen Seitenkante des Abhangs aufwärts, wobei uns die da und dort aus dem Schnee hervorragenden spitzigen und bröckeligen Steine einen gar nicht zu verachtenden Anhaltspunkt boten. Nach einer guten halben Stunde eifrigen Kletterns waren wir endlich oben und besahen uns verschnaufend die Gelegenheit. Neue Verlegenheit! Die Kante des Gebirgsabsatzes bestand aus einer wohl an zehn Fuß hohen, glatt abstürzenden Felsmauer, die uns, von unten gesehen, kaum als drei Fuß hohes, leicht zu überkletterndes Felsband erschienen war. Diese Mauer, an die wir so recht eigentlich mit der Nase angerannt waren, zog sich eine Strecke Weges in gerader Richtung längs der Höhe der Halde hinlaufend fort, dachte sich aber weiter rechts wieder schräg ab und schien dort leichter zu übersteigen. Der Weg nach jener niedrigeren Stelle war anscheinend so schwierig nicht, wenn wir uns dicht an die Felsmauer hielten, zu deren Füßen die matten Sonnenstrahlen einen schmalen Streifen Grundes freigeschmolzen hatten. Wir schritten daher bedächtig vorwärts und dann, als es abwärts ging, rasch dem Uebergangspunkte zu. Da ging’s nun freilich von selbst abwärts, durch die staubartige, aber tiefe Lage des trockenen Schnees. Auf einmal aber fing’s über unsern Köpfen an zu brausen und zu tosen, als wenn die Kielfedern von tausend Lämmergeiern uns umschwirrten. „Herrgott, die Staublauine! halt den Kopf in die Höhe, sonst erstickst Du!“ schrie mir mein Bruder zu, und das war Alles, was ich durch den infernalischen Lärm noch hören konnte, denn nachher vergingen mir buchstäblich alle Sinne. Mein letztes Gefühl war, als wenn ich aus einer Bombe geschossen durch alle Lüfte dahin führe, und dann nichts mehr! – Als ich wieder erwachte, war’s von einem nichts weniger als sanften Griffe, mittels dessen mein erfahrenerer und gewandterer Bruder mich vom Rande des Abgrundes zurückriß, an welchen die von unsern eigenen Füßen aufgeweckte Lauine mich nach einem unfreiwilligen Sprunge von dreihundert wohlgemessenen Schweizerfuß ganz bequem in einen klafterhohen Haufen lockeren Schnees hingelegt hatte. ’s war ein ganz eigenthümliches, sakrisches Gefühl, das mich überkam, als ich endlich mit Mühe den Antheil des immer noch wie feiner Staub umherwirbelnden Schnees aus den Augen gewischt hatte und nun in die bodenlose Tiefe unter mir hinuntersah. Wär’ die Lauine ein Kanonenschuß gewesen, so hätt’s kaum ein Loth Pulver mehr gebraucht, um mich wie eine Granatenbüchse über den kesselförmigen Fluhsatz hinüber und weiter in’s Bodenlose hinunterzublasen.“

„Für diesen Tag ist Dir denn doch der Appetit nach Gemsbraten vergangen, alter Freund, und Du hast’s gemacht, wie nach dem glorreichen Schuß auf den Luchs?“ sagte ich zu dem Erzähler, von einem humoristischen Schauder über dessen gefährliche Luftfahrt erfaßt.

„Meinst?“ entgegnete er in seiner eigenthümlichen, langgedehnten Weise. „Damals, als ich den Luftsprung machte, war ich kein fünfzehnjähriger Laffe mehr! Mein Kirschwasserfläschchen war zwar ob der eiligen Fahrt in Stücken gegangen, dem Bruder seines aber wohlbehalten mit ihm unten angelangt. Nachdem wir uns den Schnee nothdürftig aus den Kleidern geklopft – was, beiläufig bemerkt, gar keine leichte Sache war, weil der Lauinenstaub merkwürdig zähe sich festsetzt – nahmen wir ein Jeder einen herzhaften Schluck, machten uns auf’s Neue an das Erklimmen der Halde, die jetzt zum guten Theile rein gefegt war, und kamen glücklich oben an. Zwei Stunden später zappelte richtig ein ganz ordentlicher Bock auf dem Boden, den mir mein Bruder von der entgegengesetzten Seite her vor den Lauf trieb, und wir hatten schließlich alle Ursache, mit unserm Tagewerke, trotz des kleinen Unfalls, ganz zufrieden zu sein.“

So der wackere Matthias Hefti.

(Schluß folgt.)




Lichtblicke aus Tyrol.

Immermann schrieb das „Trauerspiel in Tyrol“, in welchem er bekanntlich den muthigen Kämpfer Andreas Hofer und sein tragisches Ende feierte. Die Vorgänge, die wir im Folgenden unseren Lesern schildern wollen, würden wir ein „Lustspiel in Tyrol“ nennen (denn an komischen und lächerlichen Scenen fehlt es nicht), wäre nicht der Hintergrund ein so ernster, und der Ausgang des Kampfes um ein so edles Gut, wie die politische und religiöse Freiheit, um welche es sich dabei handelt, für jetzt noch unentschieden. Wir beschränken uns in unserer Darstellung wesentlich auf Südtyrol, theils wegen des besondern Interesses, welches jetzt dieser äußerste Vorposten unseres deutschen Vaterlandes im Süden für jeden deutschen Patrioten haben muß, theils weil wir durch besondere Gunst der Verhältnisse über den Kampf zwischen Licht und Finsterniß gerade in diesem Theile des schönen Landes im Besitz einer Menge authentischer Nachrichten und Documente sind.

Der Held unseres Dramas, der Mittelpunkt und Träger der geistigen Bewegung zu Gunsten der Aufklärung und wahrhaften constitutionellen Freiheit ist, wie für Nordtyrol der Reichstagsabgeordnete Dr. Pfretzschner, für Südtyrol der bereits auch in anderen deutschen Blättern mehrfach genannte Dr. Joseph Streiter, Bürgermeister in Botzen, geworden. Dieser ebenso durch seine hervorragende Intelligenz und dichterische Begabung, wie durch die Energie seines Willens und seine glühende Liebe zu dem großen deutschen Vaterlande merkwürdige Mann wurde am 8. Juli 1804 in Botzen geboren, der Sohn eines Kaufmannes. Sein Lebensgang ist ein interessanter Beleg dafür, wie gerade unter dem stärksten Druck ein strebsamer Geist sich oft um so energischer entfaltet. Das Drama, das wir nun schildern wollen, hat seinen Prolog, und zwar im eigentlichsten Sinne des Wortes. Die Aufregung, welche das Patent des Kaisers vom 8. April 1861, die völlige Gleichstellung der Confessionen, bei den Geistlichen und einem großen Theil der Bevölkerung Tyrols hervorrief, die von den Geistlichen veranstalteten Bittgänge zu verschiedenen Marienbildern, um Tyrol vor dem Unglück der Glaubensfreiheit zu bewahren, der Bauernlandtag in Innsbruck, die lächerlichen Mißtrauensvota gegen die Reichstagsabgeordneten Dr. Pfretzschner und Baron Ingram, die Riesendeputation, die geradenwegs zum Kaiser in die Hofburg nach Wien ziehen wollte und nur durch die Klugheit des Statthalters Fürsten Lobkowitz zurückgehalten wurde, das Alles sind bekannte Vorgänge. Aber das Licht der Aufklärung hatte doch auch an vielen Orten und in manchen Herzen Tyrols gezündet. Eine Gelegenheit, ihm weiter Bahn zu machen, bot sich an dem Namensfeste des Kaisers am 4. October, zu dessen Feier im Theater zu Botzen Dr. Streiter einen Prolog dichtete. Dieser Prolog ist nicht blos ein prächtiges Belegstück einer wirklichen Dichtergabe, ein ebenso rührender als überraschender Beweis, welche tiefe Wurzeln deutscher Geist und deutsche Bildung auch in dem fernsten Süden unseres Vaterlandes schlagen konnten, sondern auch den Tyroler Verhältnissen gegenüber eine jugendfrische, männlich freie und muthige Geistesthat. Er schildert, begleitet von lebenden Bildern, das Wirken der Dichtkunst für die Freiheit. Wir müssen uns hier begnügen, nur den Schluß dieser trefflichen Dichtung wiederzugeben:

Und siehe, was der Weisen Mund uns pries,
Der Dichter sang, der Seher kündete,
Es ist gewährt, frei ist das Wort und frei

[271]

Sein geist’ger Bruder auch, der Glaube, frei
Wir haben selber es erlebt, was wir
Den späten Enkeln kaum beschieden glaubten,
Wir selbst, wir fühlen ebenbürtig uns
Den deutschen Männern an der Spree und Isar,
Wir wissen es, daß man am Donaustrand
So wacker denkt, so offen spricht und handelt,
Wie es des Deutschen Art seit Armin’s Zeit.
Heil Ihm, des Größten Spender und des Besten –
Es bleibt fortan für immer unser Theil –
Dem Vater seines Volks, dem Kaiser Heil!

Diesem Prolog folgte sehr bald der erste Act des schönen Lichtdramas. Ein Richtfest im eigentlichen Sinne des Wortes bot dazu die Veranlassung. Am 10. November, dem Geburtstage Schiller’s, sollte die von Herrn Ludwig Riedinger, einem Augsburger, für Botzen hergestellte Gasbeleuchtung zum ersten Male ins Leben treten und dieser Eintritt festlich begangen werden. Unter die Feierlichkeiten war auch ein Festscheibenschießen mit aufgenommen, welches bei solchen Gelegenheiten in Tyrol nie fehlen darf.

Dr. Streiter, der dazu aus eigenen Mitteln einen Preis von 30 Thlr. gestiftet hatte, lud dazu die Vorsteher des Botzener Hauptschießstandes durch folgendes Schreiben ein:

„Die Eröffnung der Gasbeleuchtung in hiesiger Stadt bietet einen frohen Anlaß, diesen Tag als ein Fest der ganzen Bevölkerung zu begehen. Das Licht, das künftig auf unseren Straßen die Nacht nahezu in Tag verwandelt, hat etwas Sinnbildliches: man erinnert sich an das geistige Licht, das uns eben auch in diesem Jahre beglückte; wenige Monate früher gewährte uns kaiserliche Huld die Wiedergeburt unseres staatlichen Lebens und die Befreiung der Gewissen von jeder unwürdigen Schranke. Licht zumal ist der Name der Himmelstochter, die den großmüthigen Geist unseres Kaisers vermochte, uns das Patent vom 8. April zu geben; es verbürgt jedem Staatsbürger die Freiheit des Denkens und Forschens. Lassen Sie mich die Wonne, die ich darüber empfinde, mit Ihnen durch gemeinsamen Jubel feiern, lassen Sie uns die Fahnen schwingen, die Böller lösen und ein stürmisches Hoch ausbringen dem Spender jener Freiheit, welche die Grundlage und Vorbedingung jeder andern bildet. Alle seien eingeladen, die gleich mit uns fühlen, und auch jene, die auf der Gegenseite standen, willkommen, denn durch die Theilnahme an unserer Freude erklären sie sich als die Unseren.

Verschmähen Sie nicht die kleine Gabe, die ich Ihnen zu diesem Zwecke hierbei anbiete; erhält doch jede ihren wahren Werth nur durch den Zweck, dem sie geweiht, und dieser ist, gestatten Sie mir es noch einmal zu sagen, die Begrüßung des Lichtes, das seinen milden Schimmer über uns ausgießt, eine Feier der frohen Erinnerung an das Patent vom 8. April.“

Die zwei Hauptbesten (Preise für die besten Schüsse) waren auf eine deutsche und eine österreichische Fahne geheftet, mit den Devisen: „Deutschland hoch!“ und „Oesterreich hoch!“

Jeder unbefangene Leser kann in diesem ursprünglich keineswegs für den Druck bestimmten Schreiben nichts Anderes erblicken, als eine edle Kundgebung der Freisinnigkeit und des Patriotismus. Der wie gewöhnlich durch den Botzener Hauptschießstand an die übrigen Schießstande des Landes verbreiteten Einladung war aber an gar mancher Stätte kein freundlicher Empfang beschieden. Den Reigen eröffnete ein benachbarter Freiherr, Oberschützenmeister, Bürgermeister und Freischaarenhauptmann. Mit Entrüstung wies er in den „Tyroler Stimmen“ eine solche Entweihung des Schützenwesens von sich. Gleich nach ihm ruft ein Kanonikus, Senior und Schützenveteran aus dem Jahre 1796: „Brüder, schändet Eure alte Schützenehre nicht!“ Und nun stürzt die ganze Schaar ihnen nach und lärmt und lästert in offenen Briefen über den „freigeisterischen Streiter“, über seine „gottlose“ Anpreisung der Befreiung der Gewissen, sein „hochverrätherisches“ Hoch auf Deutschland u. s. w. „Der wahre Patriot,“ schreibt ein Schützenmeister, „wählt zu seiner Fahne die heiligsten Herzen Jesu und Mariä, seine Fahnenträger sind ihm die katholischen Priester“. In Telfs wird sogleich ein Trutzschießen veranstaltet, dessen erste Bestfahne die Devise trägt: „Herz Jesu und Mariahilf hoch!“ und ein „offener Protest“ verfaßt, der da anhebt: „Mit wahrer Entrüstung hören wir, was die Stadt Botzen aus dem Schießstände zu machen im Sinne habe.“ In dem benachbarten Lana ladet ein gräflicher Oberschützenmeister zu einem „Gedenkschießen der alten tyrolischen Schützenehre“ ein. Die drei Hauptfahnen dabei sollen eine päpstliche, eine österreichische und eine tyrolische sein mit den Devisen: „Hoch Se. Heiligkeit Papst Pius IX.!“ „Hoch Se. Majestät der Kaiser! „Unbesiegt, weil einig im Glauben!“ Ausgeschlossen von diesem Schießen sind alle jene Schützen, welche sich bei dem Schießen vom 10.–14. November in Botzen betheiligen. Es kommt Zuzug nach Lana, der auf seiner Fahne die Devise trägt: „Auf, nach Lana weiter, wir sind keine Streiter.“ In Botzen selbst verweigert die Pfarrgeistlichkeit die Beleuchtung des Pfarrthurms, dem Gymnasium und der Mädchenschule wird verboten, den Maskenzug mit anzusehen, und als Gegendemonstration gegen diesen wird eine Glaubensprocession veranstaltet, wie denn auch schon die Gasbeleuchtung selbst als eine „gottlose Neuerung“ verschrieen worden ist. Trotz alledem und alledem verlief dieses in den Annalen Botzens nicht nur, sondern wir dürfen sagen ganz Tyrols Epoche machende Fest nicht nur ohne Störung, sondern gestaltete sich zu einem wahren Volksfest, an dem Jung und Alt, Arm und Reich den innigsten und freudigsten Antheil nahm. Schon am Vorabend wurde die Feier im Theater durch eine Festvorstellung mit einem trefflichen von Dr. Weller gedichteten Prolog eingeleitet. Er erinnert im Eingang an die vor zwei Jahren auch hier stattgefunden Säcularfeier des Geburtstags des großen Dichters, schildert ihn selbst als Spender des Lichtes für sein Volk, und bringt so die Feier dieses Tages mit dem Lichtfeste für Botzen in sinniger Weise in Verbindung.

In der Frühstunde des 10. verkündigten die heitern Klänge der Regimentsmusik von „König der Niederlande“, welche die Hauptstraße der Stadt durchzog, den Beginn des Festes. Nachdem die Gäste aus Trient, Meran, Eppan[WS 1] und Kaltern angekommen, erfolgte in der Mittagsstunde im Saale des in allen seinen Räumen dichtgedrängten Schießstandsgebäudes und in Gegenwart des Generals Grafen v. Castiglione und sämmtlicher Stabs- und Oberofficiere die feierliche Uebergabe der Bestfahnen, wobei Bürgermeister Streiter folgende Rede hielt, die wir unseren Lesern als eine höchst bedeutungsvolle Kundgebung eines echt deutschen und freisinnigen Patriotismus unverkürzt mittheilen müssen:

„Meine Herren! Die Fahnen, die ich Ihnen zum heutigen Festschießen übergebe, tragen Deutschlands und Oesterreichs Farben. Es gab eine Zeit, in der das deutsche Banner wehte von der Eider bis zur Adria, von den Ardennen bis zur Weichsel, es war eine große, herrliche Zeit, und Habsburgs Fürstenhaus gab damals dem deutschen Reiche viele seiner edelsten Kaiser. Aeußere und innere Feinde mit einander trugen sie zu Grabe. Doch siehe da, eben als der Zwiespalt eingenistet, als Deutschlands Landkarte zerstückt schien für immer, da erhob sich das deutsche Volk wieder mit Muth und Kraft, um das fremde Joch abzuschütteln, es erhob sich wie ein Mann in lebendigem Gefühle der nationalen Einheit, es war einig im heiligen Zorn über seine Fesseln, einig im Entschluß, sie zu brechen, einig in der That, die auf den Höhen des Montmartre seine Standarten pflanzte. Die Oesterreicher erinnern sich daran mit Stolz, daß sie mitfochten in den blutigen Schlachten, die das Schicksal Deutschlands entschieden; die schwarz-gelbe Fahne gründete sich ein unverwüstliches Denkmal in der Geschichte Europa’s. Seit jenen Tagen des Ruhmes wurzelt in den Herzen jedes wahren Oesterreichers, jedes echten Deutschen von Neuem die Ueberzeugung, daß Oesterreich unzertrennlich von Deutschland, daß beide von der Vorsehung, welche des Landes Lage und seine Stämme schuf, bestimmt sind, ihr Schicksal zu theilen, daß ihnen eine Bahn angewiesen im Fortschritt der Cultur und Gesittung. Zu den alten Banden kam noch ein neues. Oesterreich erlebte eine Wiedergeburt, und in dem Augenblick, in dem es sich aufzulösen schien in seine vielen Racen und Stämme, fand sich, auf manches mißglückte Streben nach einem Einigungspunkt in abgelebten Formen, ein Gut, woran alle Völker des weiten Reiches mit gleicher Wärme hangen, ein Gut von unschätzbarem Werthe, weil es seinen Bestand für immer sichert. Es ist die durch seine Verfassung, durch des Kaisers heiliges Wort gewährte Freiheit. Sie ist es auch, meine Herren, die einen unzertrennlichen Bund zwischen Deutschland und Oesterreich schließt. Was dort die deutschen Stämme als ihr edelstes Eigenthum erkennen, wofür sie ihr Blut einzusetzen bereit sind, das erblicken sie auch hier durch ein gleiches Gesetz, durch ein auf den gleichen Grundfesten ruhendes Recht verbürgt, die gleiche Sorge für die Erhaltung dieser Krone des Glückes befestigt den Bestand von Deutschland und Oesterreich. Darin wurzelt die Hoffnung des Gedeihens der Zukunft, darin die Gewähr der Einigkeit, die eine Nation von 40 Millionen Menschen und einen [272] Staat von so verschiedenen Bestandtheilen unbesiegbar macht, darin die Lösung der großen Aufgabe, wodurch das Wohl nicht blos eines einzigen Volkes, sondern auch der Nachbarstaaten gefördert wird. Der Ruf nach einem einigen Deutschland ist fürder kein hohler Schall, seine Einheit keine bloße Chimäre der Schriftsteller und Poeten, sie hat einen reellen Boden, eine feste Grundlage für ein wohnliches Haus unserer Zeitgenossen und Enkel. Lassen Sie uns denn, da den Schmuck unseres Festes die Fahnen Deutschlands und Oesterreichs bilden, auch den unzertrennlichen Bund der Einigkeit zwischen beiden feiern!“

Die Rede schloß mit einem Hoch auf den constitutionellen Kaiser Franz Joseph. Oberschützenmeister Peter von Mayel erwiderte sie mit kurzen kernigen Worten, ebenso durchweht von dem warmen Gefühl für die Einigkeit des deutschen Volkes, und schloß mit einem Hoch auf die deutsche Treue, die deutsche Bruderliebe, die deutsche Einigkeit. Der darauf einfallende Sängerchor pries die Tyroler Schützen in einem Liede von H. Gilm als „Deutschlands Grenzsoldaten“, als seine „Gemsenwacht“, worauf unter Begleitung von Böllerschüssen die Nationalhymne angestimmt ward. Dann folgte der Umzug mit den Fahnen und zwei Musikchören durch die Gassen der Stadt. Um 1/2 1 Uhr begann das zu Ehren des Unternehmens der Gasanstalt vom Magistrat veranstaltete Festmahl, an welchem auch die Spitzen der Militär- und Civilbehörden und der Bürgermeister von Meran Theil nahmen. Kurz vor drei Uhr setzte sich der lange maskirte Festzug in Bewegung, in zwei Abtheilungen mit höchst sinnigem Humor, über dessen Einzelnheiten wir auf die Schilderungen der Illustrirten Zeitung verweisen müssen. Die sich zudrängende Menschenmenge war unübersehbar und konnte sich dreist mit der Schaar der Glaubensprocession messen. 20,000 Loose zu einer für die Armen zu veranstaltenden Lotterie waren sehr bald vergriffen; die Lotterie warf einen Reingewinn von ungefähr 2000 fl. ab. Mit einbrechender Dunkelheit schwamm die Stadt wie durch Zauberschlag in einem Lichtmeer, bei welchem das Gas verschwenderisch gespendet und zu großen Transparents benutzt war, besonders auf dem Johannesplatze. Dieser Platz wurde später noch mit bengalischem Feuer erleuchtet, und dabei sang die Botzener Liedertafel Arndt’s deutsches Vaterland! Arndt’s deutsches Vaterland, von Tyroler Stimmen gesungen: „Ist’s Land der Schweizer, ist’s Tyrol? Das Land und Volk gefiel mir Wohl; 0 nein, 0 nein, sein Vaterland muß größer sein, das ganze Deutschland soll es sein,“ das muß Vater Arndt noch in seinem Grabe gefreut haben!

Weniger Freude hat, so scheint es, an dem ganzen Feste, und besonders an dem Festschießen der Statthalter, Fürst v. Lobkowitz, gehabt. Als Landesoberschützenmeister sprach er, wenn auch in sehr milder Weise, seine Mißbilligung und den Wunsch aus, die Tyroler möchten durch Eintracht stark und die Schießstätten nur „harmloser Schützenfreude“ gewidmet bleiben. Ja, wenn es sich nur mit der Harmlosigkeit thäte, sobald einmal der Kampf zwischen Finsterniß und Licht, zwischen tausendjährigem Aberglauben und fortgeschrittener Erkenntniß entbrannt ist! Doch griff diesen Wink von hoher Stelle in kluger Weise der Bürgermeister von Meran, Dr. Putz, auf, an Gesinnung unserem Streiter ebenbürtig, ein wackerer Mitstreiter. Er lud die Schützen auf den 1. December zu einem „Eintrachtschießen“ nach Meran. Es kamen zwar zumeist nur die Botzener, aber es war doch ein schönes Fest der Eintracht, wenigstens zwischen zwei Städten, diesen lieblichsten Perlen im Städtekranze Südtyrols. Auch bei diesem Feste wehte die deutsche Fahne vereint mit der österreichischen, hielten beide Bürgermeister Reden voll des edelsten Patriotismus, erklang von der Liedertafel Arndt’s deutsches Vaterland.

Diesem Eintrachtsfeste in Meran, das man also in mancher Beziehung nur ein scheinbares nennen konnte, folgte bald darauf wieder ein wirkliches in Botzen. Graf Castiglione, dieser tapfere Krieger, der die Tyroler in 26 Gefechten zu Kampf und Sieg geführt hat, ein edler, freisinniger, durch seine Leutseligkeit allgemein beliebter Mann, war vom Kaiser zum Inhaber des Regiments Tyroler Kaiserjäger ernannt worden. Die Stadt Botzen feierte diese ihrem Commandanten widerfahrene wohlverdiente Ehre durch ein Freischießen, welches sie ihm am 8. December veranstaltete, und Graf Castiglione erwiderte diese Freundlichkeit, indem er der Stadt am 12. December ein glänzendes Festmahl gab. Bei beiden Gelegenheiten fehlte es nicht an mancherlei schönen Kundgebungen eines freisinnigen Patriotismus. „Kein Streben nach rückwärts, kein Sonderbund,“ sprach unter anderm Dr. Streiter bei Castiglione’s Festmahl in seinem Toaste auf die Armee, „sondern vorwärts mit vereinten Kräften. Unsere wackere Armee, sie sprach es laut aus. fühlt dies ebenso gut, als wir Bürger. Hoch die österreichische Armee!“ Dem Festschießen zu Ehren des tapfern Generals in Botzen folgte am 15. December ein zweites, welches Graf Wickenburg in Eppan[WS 2] gab, und am 16. ein drittes, welches der Trienter Schießstand veranstaltete.

Uebrigens stehen diese Vorgänge in Südtyrol keineswegs ganz vereinzelt da, beschränken sich auch nicht blos auf Lichtfeste und Scheibenschießen. Die Einweihung des ersten protestantischen Friedhofs in Meran am 10. December durch den protestantischen Geistlichen Dr. von Oettingen[WS 3] aus Dorpat, unter großer Theilnahme der Meraner Bürger, die Bildung einer vor der Hand freilich nur aus fremden Gästen bestehenden evangelischen Gemeinde ebendaselbst, die Grundsteinlegung der ersten evangelischen Kirche in Bregenz am 14. December, die Aufführung des Urbildes des Tartüffe Ende desselben Monats auf dem Theater zu Innsbruck, schon an sich ein Ereigniß, noch bedeutungsvoller durch die dieselbe begleitenden lebhaften Demonstrationen, das Erscheinen eines neuen liberalen Blattes, der Innzeitung, mit dem Beginn des neuen Jahres, welches gleich in seiner ersten Nummer der Partei der Ultramontanen und Rückwärtsler mit tapfern Mannesworten den Krieg auf Leben und Tod ankündigt – das Alles sind nicht blos morgenröthliche Wolken, sondern bereits helle Strahlen der Morgensonne, die, einmal aufgegangen, Niemand in ihrem Laufe mehr aufhalten kann. Das Gefühl, welches wir übrigen Deutschen diesen Ereignissen gegenüber empfinden, ist zuerst und vor Allem eine heilige Freude über die hellleuchtende Flamme der Vaterlandsliebe auch in diesem fernen südlichen Gaue, dann die innigste Theilnahme an jedem Fortschritt der Siege wahrer Aufklärung, echt constitutioneller bürgerlicher und kirchlicher Freiheit. Wir hoffen und erwarten aber auch nun von der Kraft und dem Muthe der österreichischen Regierung, daß sie das Patent vom 8. April nicht blos auf dem Papiere stehen lassen, sondern es als Grundgesetz für alle Kronländer, Tyrol nicht ausgenommen, auch durchführen werde. Dann werden die Feinde des Lichts von selbst die Waffen strecken müssen, dann, aber auch nur dann wird Oesterreich mit dem übrigen Deutschland auf der Bahn des Fortschrittes ein unzertrennliches Ganzes bilden, und dann – aber auch nur dann – darf es in Zeiten der Noth und Gefahr auf Deutschlands Hülfe zählen.

W. L.





Blätter und Blüthen.



Schillerlotterie. Die Gründer dieses großen, nunmehr glücklich durchgeführten deutschen National-Unternehmens, Major Serre, der bekannte Reisende Alex. Ziegler aus Ruhla und Bürgermeister Dr. Hertel, werden in nächster Zeit öffentlich Rechenschaft über die Resultate der Lotterie ablegen. Der gewonnene Reinertrag übertrifft die kühnsten Erwartungen, und der Vorstand hofft, außer den Unterstützungen an Dichter, Schriftsteller, Maler, Musiker, Bildhauer, Architekten etc. sammt ihren hinterlassenen Wittwen und Waisen den längst gehegten Plan in Ausführung zu bringen und seinem Schaffen dadurch die nationale Weihe zu geben, daß eine „Deutsche Akademie“ begründet wird. Zu diesem Zwecke gedenkt der Vorstand 100,000 Thaler von dem Stammcapital abzuzweigen, dasselbe 20 Jahre lang Zins auf Zins und anderweitig zu verdoppeln und dann die Gründung dieses großen deutschen Instituts in’s Leben zu rufen.






Eine Schillpension. In der Nähe von Seesler bei Elmshorn in Holstein, schreibt man uns, wohnt ein Mann, der noch jetzt von der dänischen Regierung eine Pension bezieht, weil er einer von den Soldaten war, unter deren Säbelhieben der deutsche Held Ferdinand von Schill seinen Geist aushauchte. Schill war, vom Pferde gestürzt und schwer verwundet, in den Laden eines Bäckers geflüchtet, und hier wurde der Waffenlose von den Verfolgern getödtet. Der noch lebende und pensionirte dieser Soldaten heißt Lorenzen.





Kleiner Briefkasten.



Ernst A. in F. a. M. Nur ein wenig Geduld! Ueber den „Monitor“ werden wir auf authentische Grundlagen gestützte Mittheilungen machen. Aber Originalzeichnungen und Holzstöcke sind nicht so rasch und leicht für die Presse fertig, wie Clichés. Vorbereitet ist Alles, und Ihr, und wahrscheinlich aller unsrer Leser Wunsch wird möglichst bald befriedigt. Beachten Sie ferner, daß der Druck einer Nummer jetzt 3 Wochen Zeit in Anspruch nimmt.


  1. Wasserwage, Nivellirthürme und zehn andere Bedeutungen.
  2. Wieder ein vieldeutiges Wort ohne nähere Angabe: Schaft, Spitze, Stamm, Deichsel, Schacht, Stiel, Griff.
  3. Die „Untergrundbahn“ verbindet zunächst die beiden großen Hauptbahnhöfe der großen West- und großen Nordbahn unter vier Stadttheilen hinweg. Man arbeitet aber schon an weiteren Untergrund-Verbindungen, sodaß London an manchen Stellen aussieht wie ein aufgegrabenes Herculanum und Pompeji. Der erstere Bahnhof liegt im Stadttheile Paddington.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Eppom
  2. Vorlage: Eppom
  3. Alexander von Oettingen; Vorlage: Oettinger